Karen Rose

Todesspiele

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kerstin Winter

Knaur e-books

Über Karen Rose

Karen Rose, aufgewachsen in Washington, D. C., arbeitete viele Jahre als Lebensmittelingenieurin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Thrillern widmete. Ihre Romane sind preisgekrönte, internationale Topseller. »Todesschrei« und »Todesbräute« stürmten auch in Deutschland sofort die Top 20 der Spiegel-Bestsellerliste. »Todesspiele« ist der Abschluss der Trilogie um die Familie Vartanian. Karen Rose lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern im US-Bundesstaat Florida. Mehr Infos über die Autorin unter: www.karenrosebooks.com

Impressum

Die Originalausgabe dieses Buchs erschien 2009 unter dem Titel »Kill for me« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Book Group USA, Inc., New York.

 

 

Deutsche Erstausgabe März 2010

Copyright © 2010 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Antje Nissen

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-40295-5

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.


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Für Martin, weil du auch dann an mich glaubst, wenn ich es nicht tue.

 

Für Sarah, die trotz aller Hürden ihre Träume verwirklicht. Du inspirierst mich.

Prolog

Port Union, South Carolina, August.
Sechs Monate zuvor

Monica Cassidy spürte ein nervöses Flattern in der Magengrube. Heute würde es geschehen. Sie war sechzehn Jahre alt, und sie hatte lange darauf gewartet. Aber heute hatte das Warten ein Ende. Heute würde aus ihr eine Frau werden. Endlich. Und – ja, es war an der Zeit!

Sie bemerkte, dass sie nervös ihre Finger knetete, und zwang sich, damit aufzuhören. Beruhige dich, Monica. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Das ist doch etwas, na ja, Natürliches. Alle ihre Freundinnen hatten es schon getan. Manche sogar mehrere Male.

Und heute bin ich dran.

Monica setzte sich auf das Hotelbett und strich ein paar Erdkrumen von der Key-Card, die genau dort versteckt gewesen war, wo Jason es gesagt hatte. Sie schauderte erwartungsvoll, und ihre Lippen umspielte ein kleines Lächeln. Sie hatte ihn in einem Chatroom kennengelernt, und es hatte sofort zwischen ihnen gefunkt. Nun würde sie ihn endlich persönlich kennenlernen. Körperlich. Er wollte ihr einiges beibringen, das hatte er ihr versprochen. Er war schon auf dem College, also viel erfahrener als die linkischen Jungs, die im Gedränge auf den Schulfluren ständig nach Mädchen grapschten.

Endlich würde sie wie eine Erwachsene behandelt werden. Ganz anders, als ihre Mom sie behandelte. Monica verdrehte die Augen. Wenn es nach ihrer Mutter ginge, wäre sie mit vierzig noch Jungfrau. Aber zum Glück bin ich schlauer.

Sie grinste in sich hinein, als sie daran dachte, wie gründlich sie heute Morgen ihre Spuren verwischt hatte. Sie hatte so gut wie niemandem gesagt, wohin sie wollte. Und so würde Monica gänzlich befriedigt nach Hause zurückkehren, noch bevor ihre Mutter von der Arbeit heimkam.

Wie war dein Tag, Liebes?, würde Mom fragen, und sie würde antworten: Wie immer, ganz okay. Und sie würde sich wieder mit ihm treffen, sobald es ging. Denn sie war sechzehn Jahre alt, verdammt noch mal, und niemand würde ihr mehr sagen, was sie zu tun und zu lassen hatte.

Eine melodische Tonfolge erklang, und Monica wühlte hektisch in ihrer Tasche nach dem Handy. Sie sog scharf die Luft ein. Eine Nachricht von ihm.

Bist du da?, las sie.

Ihr Daumen zitterte, als sie die Antwort eingab. »Warte auf dich. Wo bist du?«, murmelte sie.

Meine Alten nerven. Komme ASAP. ILD, antwortete er. Wieder verdrehte sie die Augen. Seine Eltern wollten ihn nicht aus dem Haus lassen. Und das, obwohl er schon auf dem College war! Aber er würde bald kommen. Sie lächelte. Er liebt mich. Ja, er war all die Mühe wert.

ILDA, Ich liebe dich auch, sandte sie zurück und klappte das Telefon zu. Es war ein altes Handy, das nicht einmal eine Kamera hatte. Sie war die Einzige in ihrer Clique, mit deren verdammtem Handy man keine Fotos machen konnte. Oh, ihre Mom hatte eins mit Kamera – aber sie? Du kriegst ein neues Handy, wenn deine Noten besser werden.

Monica verzog höhnisch die Lippen. Wenn du wüsstest, wo ich gerade bin, dann würdest du nicht mehr so reden. Plötzlich wurde sie unruhig und stand auf. »Immer behandelst du mich wie ein Kleinkind«, murmelte sie, nahm ihre Handtasche und ging zum Spiegel über der Kommode. Sie sah gut aus, jedes Haar saß an seinem Platz. Ja, heute sah sie besonders hübsch aus. Und hübsch wollte sie für ihn sein.

Nein – heute wollte sie scharf sein. Monica wühlte in ihrem Täschchen und holte die Kondome heraus, die sie aus dem Vorrat ihrer Mutter entwendet hatte, den diese ohnehin nie benutzte. Das Verfallsdatum war jedoch noch nicht überschritten, also mussten sie noch zu gebrauchen sein. Sie sah auf die Uhr.

Wo blieb er bloß? Sie würde zu spät nach Hause kommen, wenn er nicht bald eintraf.

Die Tür öffnete sich knarrend, und Monica wandte sich mit dem raubtierhaften Lächeln um, das sie vor dem Spiegel geprobt hatte. »Endlich. Hi.« Doch dann erstarrte sie. »Sie sind nicht Jason.«

Es war ein Polizist. »Nein, bin ich nicht«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Bist du Monica?«

Monica hob das Kinn. Ihr Herz hämmerte. »Geht Sie das etwas an?«

»Du hast verdammtes Glück, Mädchen. Ich bin Deputy Mansfield. Wir suchen deinen ›Freund‹ Jason seit Wochen. Er ist in Wirklichkeit ein neunundfünfzigjähriger Perverser.«

Monica schüttelte den Kopf. »Das glaube ich Ihnen nicht.« Sie stürzte zur Tür. »Jason! Hau ab. Hier sind Bullen!«

Er packte sie an der Schulter. »Wir haben ihn bereits verhaftet.«

Wieder schüttelte Monica den Kopf, diesmal jedoch verwirrt. »Aber er hat mir doch gerade eine SMS geschickt.«

»Das war ich. Ich habe sein Telefon benutzt, weil ich mich vergewissern wollte, dass du hier bist und dass es dir gut geht.« Seine Miene wurde sanft. »Monica, du hast wirklich Glück gehabt. Da draußen tummeln sich verflucht viele Betrüger und Verbrecher, die nur auf junge Mädchen wie dich warten.«

»Er hat gesagt, er sei neunzehn und ginge aufs College.«

Der Deputy zuckte mit den Schultern. »Er hat dich angelogen. Komm – hol deine Sachen. Ich bringe dich nach Hause.«

Sie schloss die Augen. Wie oft hatte sie Reportagen über solche Fälle im Fernsehen gesehen? Und wie oft hatte sie sich von ihrer Mutter die typischen Ermahnungen anhören müssen? »Siehst du? Überall Perverse.« Monica seufzte. Das konnte doch nicht wahr sein, oder? »Meine Mutter bringt mich um.«

»Besser sie als der Kinderschänder«, sagte er. »Er hat bereits getötet.«

Monica spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. »Ernsthaft?«

»Mindestens zwei Mal. Na, komm. So schlimm wird es schon nicht werden. Mütter meinen es häufig nicht so ernst.«

»Haben Sie eine Ahnung«, brummte sie und nahm ihre Tasche. Ich bin erledigt. Ihre Mutter war immer schon extrem streng gewesen, und jetzt würde sie sie wahrscheinlich einsperren. Für immer und ewig. »O Gott«, stöhnte sie. »Das kann doch alles nicht wahr sein.«

Sie folgte dem Deputy zu einem Zivilwagen und sah die Leuchten des Armaturenbretts, als er die Beifahrertür öffnete. »Steig ein und schnall dich an«, forderte er sie auf.

Sie gehorchte. »Sie können mich doch einfach nur zur Bushaltestelle fahren. Meine Mom muss ja nichts erfahren.«

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu, bevor er die Tür zuwarf. Dann setzte er sich hinters Steuer, griff nach hinten und holte eine Flasche Wasser von der Rückbank. »Hier. Und nun entspann dich. Was wird dir deine Mutter denn schon Schlimmes antun?«

»Mich umbringen zum Beispiel«, murmelte Monica, schraubte den Verschluss ab und trank gut ein Drittel der Flasche aus. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie durstig sie war. Und hungrig, dachte sie, als ihr Magen zu knurren begann. »Sagen Sie, können Sie an der Ausfahrt bei McDonald’s halten? Ich habe heute noch nichts gegessen. Das zahle ich selbst.«

»Klar, kein Problem.« Er startete den Motor und fuhr auf den Highway, der zur Interstate führte. In wenigen Minuten hatte er die Strecke zurückgelegt, für die sie heute Morgen zu Fuß eine Stunde gebraucht hatte, nachdem der Fahrer, der sie mitgenommen hatte, sie an der Tankstelle an der Ausfahrt hinausgelassen hatte.

Monica runzelte die Stirn, als ihr schwindelig wurde. »Oha. Ich habe wohl mehr Hunger, als ich eben dachte. Da drüben ist …« Sie sah die goldenen Bögen im Seitenspiegel verschwinden, als sie auf die Interstate fuhren. »Ich muss dringend etwas essen.«

»Du kriegst später was«, sagte er kalt. »Jetzt halt einfach die Klappe.«

Sie starrte ihn an. »Halten Sie an. Ich will aussteigen.«

Er lachte. »Ich halte an, wenn wir da sind.«

Monica wollte den Türgriff packen, aber ihre Hand rührte sich nicht. Ihr Körper rührte sich nicht. Ich bin gelähmt!

»Du kannst dich nicht bewegen, nicht wahr?«, sagte er. »Keine Sorge. Das ist nur vorübergehend. Die Droge wirkt nicht ewig.«

Sie konnte ihn nicht mehr ansehen. Sie hatte die Augen geschlossen, und nun konnte sie sie nicht mehr öffnen. O Gott. O mein Gott. Was ist hier los? Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Mom!

»Hey. Ich bin’s«, hörte sie ihn sagen. Er telefonierte. »Ja, ich hab sie.« Er lachte leise. »Doch, sie ist hübsch. Und vielleicht ist sie sogar wirklich noch Jungfrau, wie sie behauptet hat. Ich bringe sie jetzt vorbei. Halte das Geld bereit. Bar, wie immer.«

Sie hörte einen Laut, ein ängstliches Wimmern, und begriff, dass es aus ihrer Kehle kam.

»Manchmal sollte man auf seine Mama hören«, sagte er spöttisch. »Jetzt gehörst du mir.«

1.Kapitel

Ridgefield House, Georgia,
Freitag, 2. Februar, 13.30 Uhr

Das Klingeln von Bobbys Handy unterbrach ihre Schachpartie. Charles’ Hand verharrte reglos über der Dame. »Musst du da rangehen?«

Bobby sah die Nummer auf dem Display und runzelte die Stirn. Es war Rocky, die von ihrem privaten Handy anrief. »Ja. Wenn du mich bitte entschuldigen würdest.«

Charles machte eine auffordernde Geste. »Bitte. Soll ich den Raum verlassen?«

»Sei nicht albern.« Bobby drückte auf Annehmen. »Warum rufst du an?«

»Weil Granville mich angerufen hat«, sagte Rocky gepresst. Im Hintergrund waren Straßengeräusche zu hören. Sie saß also in ihrem Auto. »Mansfield ist bei ihm im Lager am Fluss. Mansfield hat gesagt, er habe – angeblich von Granville – eine SMS bekommen, dass Daniel Vartanian Bescheid weiß und mit der Polizei anrückt. Granville sagt, er habe diese SMS nicht geschickt, und ich wüsste nicht, warum er lügen sollte.«

Bobby sagte nichts. Das war weitaus schlimmer als erwartet.

Nach einem Augenblick fügte Rocky zögernd hinzu: »Vartanian hätte sie nicht gewarnt. Er wäre einfach mit einem SWAT-Team dort aufgetaucht. Ich … ich denke, wir waren zu spät.«

»Wir waren zu spät?«, fragte Bobby beißend, und am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen.

»Also gut«, sagte Rocky schließlich. »Ich war zu spät. Aber nun lässt es sich nicht mehr ändern. Wir müssen davon ausgehen, dass das Lager am Fluss nicht mehr zu gebrauchen ist.«

»Verdammter Dreck«, murmelte Bobby und wand sich innerlich, als Charles tadelnd eine Braue hochzog. »Verschwinde über den Fluss, nicht über die Straße. Es fehlt gerade noch, dass du den Bullen in die Arme läufst. Ruf Jersey an. Er hat schon öfter Ladungen für mich transportiert.«

»Granville hat ihn schon angerufen, und er ist unterwegs. Das Dumme ist bloß, dass wir nur sechs im Boot unterkriegen.«

Bobbys Miene verfinsterte sich. »Jerseys Boot hat Platz für zwölf – mindestens.«

»Das große wird an anderer Stelle gebraucht. Er kann uns nur das kleine zur Verfügung stellen.«

Verdammt. Bobby warf Charles einen Blick zu, der interessiert lauschte. »Eliminiert, was ihr nicht transportieren könnt. Und seht zu, dass ihr nichts zurücklasst. Verstanden? Lasst nichts zurück. Versenkt alles im Fluss, wenn keine Zeit für andere Arrangements ist. Hinterm Generator liegen einige Sandsäcke. Den Rest bringst du her. Ich treffe dich am Dock.«

»Okay. Ich bin unterwegs, um aufzupassen, dass die beiden keinen Mist bauen.«

»Gut. Und hab ein Auge auf Granville. Er ist nicht gerade …« Bobby warf Charles einen Blick zu, der nun amüsiert wirkte. »Gefestigt.«

»Das ist mir klar. Eines noch, ich habe gehört, dass Daniel Vartanian heute bei der Bank war.«

Endlich einmal eine bessere Nachricht. »Und? Hast du auch gehört, was dabei herausgekommen ist?«

»Nichts. Das Bankfach war leer.«

Natürlich war es leer. Weil ich es schon vor Jahren leer geräumt habe. »Interessant. Aber darüber können wir später reden. Sieh zu, dass du zum Lager kommst, und ruf mich an, wenn du alles erledigt hast.« Bobby legte auf und begegnete Charles’ neugierigem Blick. »Du hättest mir sagen können, dass Toby Granville eine instabile Persönlichkeit ist, bevor er mein Geschäftspartner wurde. Dieser Spinner.«

Charles lächelte selbstzufrieden. »Dann wäre mir aber sehr viel Spaß entgangen. Wie macht sich deine neue Assistentin?«

»Gut. Sie wird immer noch ein wenig grün um die Nase, wenn sie Aufträge ausführt, aber das lässt sie sich vor den Männern nie anmerken. Und sie erledigt ihre Arbeit.«

»Schön. Das freut mich.« Er neigte den Kopf. »Und ist sonst auch alles in Ordnung?«

Bobby setzte sich zurück. »Das Unternehmen läuft bestens. Alles andere geht dich nichts an.«

»Solange meine Investitionen Erträge abwerfen, kannst du meinetwegen Geheimnisse haben.«

»Oh, du bekommst deine Dividende, keine Sorge. Dieses Jahr läuft recht gut. Die Gewinne liegen bei vierzig Prozent, und unsere neue Premium Line verkauft sich rasant.«

»Und doch hast du eben angeordnet, Ware zu eliminieren.«

»Diese Ware war ohnehin so gut wie hinüber. Also – wo waren wir?«

Charles setzte die Dame. »Bei Schachmatt, glaube ich.«

Bobby fluchte leise. »Ich hätte es wissen müssen. Du bist und bleibst ein Meister des Schachbretts.«

»Ich bin und bleibe der Meister«, korrigierte Charles, was Bobby instinktiv dazu brachte, sich etwas gerader aufzusetzen. Charles nickte, und Bobby musste den Ärger herunterschlucken, wie jedes Mal, wenn Charles die Zügel anzog. »Ich bin natürlich nicht einfach vorbeigekommen, um dich beim Schach zu schlagen«, fuhr Charles nun fort. »Ich habe Neuigkeiten. Heute Morgen ist ein Flugzeug in Atlanta gelandet.«

Unbehagen ließ Bobby frösteln. »Na und? In Atlanta landen tagtäglich Hunderte von Flugzeugen, wenn nicht sogar Tausende.«

»Stimmt.« Charles begann, die Schachfiguren in das Elfenbeinkästchen zu legen, das er stets bei sich trug. »Aber in diesem Flugzeug saß ein Passagier, an dem du ein besonderes Interesse hast.«

»Wer?«

Charles sah in Bobbys zusammengekniffene Augen und lächelte erneut. »Susannah Vartanian.« Er hielt die weiße Dame hoch. »Sie ist wieder in der Stadt.«

Bobby nahm Charles die Dame aus der Hand und versuchte, trotz des erneut aufkommenden Zorns gelassen zu wirken. »Sieh an.«

»Ja, sieh an. Das letzte Mal hast du deine Chance verpasst.«

»Ich habe es das letzte Mal gar nicht versucht«, fauchte Bobby trotzig. »Sie war nur einen einzigen Tag hier. Als der Richter und seine Frau begraben wurden.« Susannah hatte mit ausdruckslosem Gesicht an der Seite ihres Bruders gestanden, doch ihre Augen hatten sie verraten. Sie nach all den Jahren zu sehen … Der Sturm der Gefühle in Susannahs Blick war nichts gewesen im Vergleich zu dem brodelnden Zorn, den Bobby zu schlucken gezwungen war.

»Na, na, reiß meiner Dame nicht den Kopf ab«, sagte Charles gedehnt. »Sie wurde von einem Schnitzmeister in Saigon handgefertigt und ist im Gegensatz zu dir unersetzlich.«

Bobby legte Charles die Figur in die Hand, ohne auf die Spitze einzugehen. Beruhige dich. Wenn du wütend bist, begehst du Fehler. »Vergangene Woche ist sie zu schnell nach New York zurückgekehrt. Ich hatte keine Zeit, mich ausreichend vorzubereiten.« Es klang weinerlich, was Bobby noch wütender machte.

»Flugzeuge fliegen auch in die andere Richtung, Bobby. Du hättest nicht bis zu ihrer Rückkehr warten müssen.« Charles legte die Dame in die mit Samt ausgeschlagene Mulde seines Kästchens. »Aber anscheinend bekommst du jetzt eine zweite Chance. Und ich hoffe doch, dass du dieses Mal effektiver planst.«

»Darauf kannst du dich verlassen.«

Charles lächelte. »Reserviere mir einen Logenplatz, wenn es losgeht. Ich weiß eine gute Show zu schätzen.«

Bobby lächelte grimmig. »Die wirst du bekommen. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich habe eine dringende Sache zu erledigen.«

Charles erhob sich. »Ich muss ohnehin gehen. Man erwartet mich auf einer Beerdigung.«

»Und wer wird heute beerdigt?«

»Lisa Woolf.«

»Nun, dann hoffen wir, dass Jim und Marianne die Feier genießen. Zumindest müssen sie nicht befürchten, dass man ihnen die Story klaut. Endlich dürfen sie als Reporter mal in der ersten Reihe sitzen. Direkt am Familiengrab.«

»Schäm dich, Bobby.« Charles schüttelte mit gespielter Empörung den Kopf. »Wie kann man nur so etwas sagen.«

»Es ist wahr, und du weißt es. Jim Woolf hätte seine Schwester glatt selbst umgebracht, wenn ihm dafür die große Story sicher gewesen wäre.«

Charles setzte seinen Hut auf und nahm seinen Gehstock. Das Elfenbeinkästchen schob er sich unter den Arm. »Nun, dann ist der Unterschied zwischen euch ja gar nicht so groß.«

O doch, dachte Bobby, während Charles davonfuhr. Es geht mir wohl kaum um eine Story. Viel zu unbedeutend. Ein Geburtsrecht dagegen … nun, das war etwas vollkommen anderes. Aber nun war keine Zeit zum Träumen. Es gab viel zu tun.

»Tanner! Komm her. Ich brauche dich.«

Der alte Mann tauchte wie immer scheinbar aus dem Nichts auf. »Ja?«

»Wir bekommen unerwarteten Besuch. Bereite die Unterbringung von sechs weiteren vor.«

Tanner nickte. »Selbstverständlich. Während du mit Mr.Charles gesprochen hast, hat Mr.Haynes angerufen. Er wird heute Abend kommen, um sich für das Wochenende Gesellschaft zu besorgen.«

Bobby lächelte. Haynes war ein wichtiger Kunde – reich, pervers, verschwiegen –, und er zahlte bar. »Wunderbar. Wir haben, was er sucht.«

 

Charles hielt den Wagen am Ende der Straße an. Die Türmchen von Ridgefield House waren von hier aus noch zu erkennen. Das Haus war nahezu hundert Jahre alt und solide gebaut. Charles wusste architektonische Wertarbeit zu schätzen, denn er hatte schon an vielen Orten gewohnt, die nicht einmal Ratten als Zuhause bezeichnet hätten.

Bobby benutzte Ridgefield, um »Ware einzulagern«, und zu diesem Zweck war das Haus ideal. Es lag so einsam, dass die meisten Menschen im Umland es vergessen hatten. Der Fluss war recht nah, so dass man ihn nutzen konnte, aber nicht zu nah, falls das Wasser über die Ufer trat. Das Haus selbst war nicht groß, nicht schön oder alt genug, als dass es einen potenziellen Käufer interessiert hätte. Einfach perfekt.

Jahrelang war das alte, hässliche Gebäude für Bobby nicht in Betracht gekommen, aber mit der Reife war auch das Verständnis für das gekommen, was Charles schon lange zuvor gelernt hatte. Glänzende Verpackungen zogen Aufmerksamkeit an. Das Kennzeichen wahren Erfolgs ist die Unsichtbarkeit. Sich in aller Öffentlichkeit zu verstecken machte es möglich, die schillernden Wichtigtuer zu manipulieren. Sie sind meine Marionetten. Sie tanzen nach meiner Pfeife.

Die meisten Menschen reagierten mit Wut oder Hilflosigkeit, aber sie hatten keine Ahnung, was wahre Hilflosigkeit bedeutete. Sie fürchteten den Verlust der Reichtümer, die sie angehäuft hatten, und sie fürchteten ihn so sehr, dass sie ohne zu zögern ihren Stolz und ihren Anstand opferten, sogar die Moral, die in Wahrheit nichts als eine Farce war. Manche fielen schon beim kleinsten Schubser, und das waren die Leute, die Charles wirklich verachtete. Sie wussten wahrhaftig nicht, wie es war, alles – alles! – zu verlieren. Wie es war, wenn es kein Wohlgefühl mehr gab, keine Hoffnung auf Erlösung oder Erleichterung, wenn einem sogar viele der grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse versagt blieben.

Die Schwachen hatten Angst, ihren Besitz zu verlieren. Charles jedoch nicht. Wer einmal so tief unten gewesen war, dass er fast seine Menschlichkeit verloren hätte, der fürchtete sich nicht mehr. Charles hatte keine Angst.

Aber er hatte Pläne, und zu diesen Plänen gehörten auch Bobby und Susannah.

Bobby hatte eine höhere Ebene erreicht als die anderen. Charles hatte diesen raschen Verstand geformt, als Bobby noch jung und voller Wut gewesen war. So voller Hass und offener Fragen. Charles hatte seinen Schützling überzeugt, dass irgendwann die Chance auf Rache kommen würde, die Chance darauf, das Geburtsrecht einzufordern, das die Umstände – und gewisse Leute – Bobby vorenthalten hatten. Aber noch immer tanzte Bobby nach Charles’ Pfeife. Nur war Charles Meister darin, andere im Glauben zu lassen, die Melodie sei die eigene.

Er klappte das Elfenbeinkästchen auf, nahm die Dame aus der Mulde und betätigte die verborgene Feder, woraufhin sich eine kleine Schublade öffnete. Das Tagebuch lag oben auf den Dingen, ohne die er nie das Haus verließ. Nachdenklich blätterte er zur ersten freien Seite und begann zu schreiben.

Nun kommt die Zeit der Rache für meinen Schützling, denn ich will es so. Was ich vor vielen Jahren gesät habe, musste heute nur noch bewässert werden. Wenn Bobby sich an den Computer setzt und an die Arbeit macht, wird das Bild von Susannah Vartanian dabei zusehen.

Bobby hasst Susannah, weil ich es so will. Aber Bobby hat zumindest eine Person sehr richtig eingeschätzt: Toby Granville wird jedes Jahr unzuverlässiger. Manchmal korrumpiert die absolute Macht – oder besser: die Illusion einer solchen. Sollte Toby eine zu große Gefahr für uns werden, werde ich ihn töten lassen, so wie er für mich getötet hat.

Ein Leben zu beenden ist reine Macht. Jemandem ein Messer in den Bauch zu rammen und zuzusehen, wie er sein Leben aushaucht … ja, das ist Macht. Doch jemand anderen dazu zu bringen, eine Person zu töten, das ist Macht in Reinform. Tötet für mich. Ich spiele Gott.

Charles lächelte. Und ich amüsiere mich bestens dabei.

Ja, Toby würde bald sterben müssen. Aber es würde andere Toby Granvilles geben. Und irgendwann würde auch Bobby ersetzt werden. Nur ich werde weitermachen. Er schlug das Büchlein zu, schob es zurück und legte die Spielfigur wieder in ihre Mulde, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte.

Dutton, Georgia
Freitag, 2. Februar, 14.00 Uhr

Alles tat ihr weh. Sie hatte Schmerzen am ganzen Körper. Diesmal hatten sie sie gezielt auf den Kopf geschlagen und ihr in die Rippen getreten. Aber sie hatte durchgehalten. Monica presste die Lippen in grimmiger Zufriedenheit aufeinander. Sie würde weiter durchhalten oder vorher sterben. Sie würde sie dazu zwingen, sie zu töten, bevor sie sich noch ein weiteres Mal benutzen ließ.

Und dann würden sie sie als »Stückgut mit Mehrfachnutzen« abschreiben müssen.

Sie hatte an der Wand gelauscht und dabei gehört, wie sie sie so genannt hatten. Und ob ihr mich abschreiben könnt, ihr Schweine. Alles, sogar der Tod war besser als das Leben, das sie nun seit … wie lange schon führte?

Sie hatte keine Ahnung, wie viele Monate vergangen waren. Fünf, vielleicht sogar sechs. Monica hatte nie an eine Hölle geglaubt. Das hatte sich geändert.

Bald nach ihrer Ankunft in der Hölle hatte sie ihren Lebenswillen verloren, aber dank Becky hatte sie ihn zurückerlangt. Becky hatte immer wieder versucht zu fliehen. Sie hatten versucht, sie aufzuhalten und ihren Willen zu brechen, aber es war ihnen nicht gelungen. Becky war vorher gestorben. Monica hatte nur für kurze Zeit durch die Wand mit Becky flüstern können, doch diese Zeit hatte ihr Kraft gegeben. Und der Tod des Mädchens, das sie nie gesehen hatte, hatte ihren eigenen Lebenswillen neu geweckt. Entweder mir gelingt die Flucht, oder ich sterbe vorher.

Sie wollte tief einatmen, doch sofort durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Mindestens eine Rippe war gebrochen. Wieder kehrten ihre Gedanken zu Becky zurück. Sie konnte noch immer jeden dumpfen Hieb, jedes entsetzliche Knirschen der Knochen, jedes Stöhnen des Mädchens hören. Und genau das hatten sie gewollt. Sie hatten alle Türen geöffnet, damit jedes der Mädchen es hören konnte. Damit sie alle Angst bekamen. Ihre Lektion lernten.

Jedes Mädchen hier. Es mussten mindestens zehn sein, und sie alle befanden sich in unterschiedlichen Stadien der »Abschreibung«. Einige waren frisch eingearbeitet worden, anderen bereits Profis in dem ältesten Gewerbe der Welt. Wie ich. Ich will nach Hause.

Monica ruckte schwach an der Kette, der ihren Arm an die Wand fesselte. Ich werde niemals entkommen. Ich werde sterben. Bitte, Gott, lass es bald so weit sein.

»Los, beeilt euch, ihr Idioten. Wir haben keine Zeit für Blödsinn.«

Da draußen war jemand. Im Korridor vor ihrer Zelle. Die Frau! Monica presste die Kiefer zusammen. Sie hasste diese Frau.

»Macht schon«, sagte die Frau. »Los. Mansfield, bring die Kisten aufs Boot.«

Monica hatte keine Ahnung, wie die Frau hieß, aber sie war besonders schlimm. Schlimmer als die Männer – der Deputy und der Arzt. Mansfield war der Deputy – derjenige, der sie entführt und hergebracht hatte. Eine Zeitlang hatte sie geglaubt, dass er kein echter Deputy war, dass seine Uniform bloß Verkleidung war, aber sie hatte sich geirrt. Und als ihr das klargeworden war, hatte sie alle Hoffnung verloren.

Aber so brutal Mansfield auch war – der Doktor war noch schlimmer. Er war grausam, weil er andere gerne leiden sah. Der Ausdruck seiner Augen, wenn er sie folterte … Monica schauderte. Der Arzt war krank im Kopf, dessen war sie sich sicher.

Aber die Frau … sie war die Inkarnation des Bösen. Für sie war dieses Grauen hier, dieses sogenannte »Leben«, bloß ein Geschäft und jede Minderjährige hier Ware, die man ersetzen konnte. Und die man leicht ersetzen konnte, denn es gab immer genug dumme junge Mädchen, die sich aus der Sicherheit ihrer Familie weglocken ließen. Und in der Hölle landeten.

Monica hörte das Ächzen der Männer, als sie die schweren Kisten hochhievten. Was taten sie? Es folgte ein Quietschen. Aha, die fahrbare Trage mit den verrosteten Rädern. Auf diesem Ding machte der Arzt sie »wieder heil«, damit sie zurück an die »Arbeit« gehen konnten, wann immer ein »Kunde« sie zusammengeschlagen hatte. Allerdings war es auch häufig der Doktor, der sie zusammenschlug, dann konnte er sie gleich selbst vom Boden heben und auf die Trage legen. Sie hasste ihn. Aber sie fürchtete ihn noch mehr.

»Holt die Mädchen in zehn, neun, sechs, fünf, vier und … eins«, sagte die Frau nun.

Monica riss die Augen auf. Sie war in der Nummer eins. Sie blinzelte und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu sehen. Hier stimmte etwas nicht. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Jemand kam, um sie zu retten. Schnell. Beeil dich!

»Fesselt ihnen die Hände hinter dem Rücken und bringt sie einzeln raus«, fuhr die Frau barsch fort. »Haltet eure Waffen ständig auf sie gerichtet. Lasst bloß keine entkommen.«

»Und was machen wir mit den anderen?« Eine tiefe Stimme. Der Wachmann des Arztes.

»Bringt sie um«, kam die Antwort ohne Zögern.

Ich bin in Zelle eins. Sie bringen mich auf ein Boot und weg von hier. Von der Rettung, die nahte. Nein. Ich wehre mich. Bei Gott, entweder ich entkomme, oder ich werde sterben …

»Ich kümmere mich darum«, sagte der Arzt, dessen Augen so grausam waren.

»Gut«, erwiderte die Frau. »Aber lasst die Leichen nicht hier, sondern werft sie in den Fluss. Nehmt dazu die Sandsäcke hinter dem Generator. Mansfield, steh nicht einfach so rum. Bring die Kisten und die Mädchen aufs Boot, bevor es hier vor Bullen wimmelt. Und bring die Trage so schnell wie möglich zurück. Unser guter Doc braucht sie für die Leichen.«

»Ja, Sir«, höhnte Mansfield.

»Klappe«, sagte die Frau, deren Stimme mit wachsender Entfernung leiser wurde. »Los jetzt!«

Stille hing in der Luft, dann sagte der Arzt leise: »Kümmre dich um die anderen beiden.«

»Bailey und der Reverend?«, fragte der Wachmann in normaler Lautstärke.

»Still«, zischte der Arzt. »Ja. Aber mach es heimlich. Sie weiß nicht, dass die beiden hier sind.«

Die anderen zwei. Monica hatte sie ebenfalls durch die Wände gehört. Das Büro des Arztes war direkt neben ihrer Zelle, daher hörte sie eine ganze Menge. Der Arzt hatte eine Frau namens Bailey tagelang gefoltert, weil er einen Schlüssel wollte. Aber einen Schlüssel wozu? Und von dem Mann hatte er ein Geständnis verlangt. Was sollte der Reverend ihm beichten …?

Doch im nächsten Moment vergaß Monica den Reverend und Bailey. Plötzlich drangen von überallher Schreie und Schluchzer zu ihr. Lautes Kreischen, als ein Mädchen nach dem anderen abgeholt wurde. Bleib ruhig. Sie musste sich unbedingt konzentrieren. Jetzt kommen sie zu mir.

Aber sie müssen die Kette abmachen, bevor sie dir die Hände fesseln. Du hast ein paar Sekunden lang die Hände frei. Lauf weg, wehr dich, kratz ihnen die Augen aus, wenn es sein muss.

Aber noch während sie versuchte, sich Mut zuzusprechen, wusste sie, dass sie keine Chance hatte. Nicht, seit sie das letzte Mal verprügelt worden war. Und selbst wenn sie es aus der Zelle schaffte, was dann? Sie würde tot sein, bevor sie irgendeinen Ausgang erreicht hatte.

Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf. Ich bin erst sechzehn, und ich werde sterben. Es tut mir so leid, Mom. War-um habe ich bloß nicht auf dich gehört?

Dann krachte der erste Schuss, und sie fuhr entsetzt zusammen. Wieder Kreischen, Schreie der Todesangst. Aber Monica war zu müde zum Schreien. Sie war fast zu müde, um sich zu fürchten. Fast.

Noch ein Schuss. Noch einer. Ein vierter. Sie konnte seine Stimme hören. Der Arzt. Er verspottete das Mädchen nebenan.

»Komm, sprich ein Gebet, Angel.« Es lag ein Lachen in seiner Stimme. Monica hasste ihn, wollte ihn töten, wollte ihn leiden sehen. Er sollte erbärmlich und qualvoll sterben.

Ein Schuss. Angel war tot. Und vier andere.

Die Tür flog auf, und Deputy Mansfield erschien. Seine Miene war hasserfüllt. Mit zwei Schritten war er bei ihr, löste die Kette, die sie an die Wand fesselte. Monica blinzelte erschrocken, als er die Kette unsanft durch den Ring zerrte.

Sie war frei. Und doch noch immer gefangen!

»Los, komm«, knurrte Mansfield und zerrte sie auf die Füße.

»Kann nicht«, brachte sie hervor, als ihre Knie ihr nicht gehorchen wollten.

»Halt’s Maul.« Mansfield riss sie hoch, als wäre sie kaum schwerer als eine Puppe, und wahrscheinlich stimmte das inzwischen sogar.

»Moment.« Die Frau stand im Korridor vor Monicas Tür und hielt sich im Schatten, wie sie es immer tat. Monica hatte ihr Gesicht noch nie gesehen, aber sie träumte von dem Tag, an dem sie der Frau die Augen auskratzen würde. »Das Boot ist voll.«

»Wieso?«, hörte man den Doc aus dem Korridor. »Ihr habt erst fünf geholt.«

»Die Kisten haben viel Platz eingenommen«, erwiderte die Frau knapp. »Vartanian und die Polizei werden jeden Moment hier eintreffen, wir müssen also verschwinden. Knall sie ab und schaff die Leichen raus.«

Jetzt. Du musst nicht mehr kämpfen, nicht mehr versuchen zu fliehen. Monica fragte sich, ob sie den Schuss hören oder sofort tot sein würde. Aber ich werde nicht flehen. Diesen Gefallen tue ich ihnen nicht.

»Die da ist noch ganz okay. Sie kann noch einige Monate arbeiten – vielleicht sogar noch ein Jahr. Wirf ein paar Kisten über Bord und sieh zu, dass du Platz für sie schaffst. Wenn ich sie endgültig gebrochen habe, ist sie die beste Ware, die wir je hatten. Mach schon, Rocky.«

Rocky. Die Frau hieß Rocky. Monica prägte es sich ein. Nun trat die Frau näher an den Arzt heran und damit aus dem Schatten heraus, so dass Monica ihr Gesicht zum ersten Mal sehen konnte.

Sie blinzelte gegen das Schwindelgefühl an, als sie sich die Züge dieses weiblichen Ungeheuers zu merken versuchte. Falls es ein Leben nach dem Tod gab, würde Monica zurückkehren und dieses Weib so lange verfolgen, bis es als sabberndes Etwas in einer geschlossenen Anstalt landete.

»Die Kisten bleiben an Bord«, sagte Rocky ungeduldig.

Die Lippen des Arztes verzogen sich verächtlich. »Weil du das so entscheidest?«

»Weil Bobby es so entscheidet. Wenn du dich nachher nicht rechtfertigen willst, warum wir belastendes Material zurückgelassen haben, das uns alle in Schwierigkeiten bringen kann, dann solltest du jetzt den Mund halten und die Schlampe umbringen, damit wir verschwinden können. Mansfield, komm mit. Granville – tu es einfach, und zwar schnell. Und sorge um Himmels willen dafür, dass alle wirklich tot sind. Ich will kein Gekreische, wenn wir sie in den Fluss kippen und Bullen in der Nähe sind.«

Mansfield ließ Monica los, und ihre Beine gaben nach. Sie klammerte sich an die schmutzige Pritsche, während sich Mansfield und Rocky entfernten und der Arzt den Lauf der Waffe auf sie richtete.

»Machen Sie schon«, zischte Monica. »Sie haben die Lady doch gehört. Beeilen Sie sich.«

Der Mund des Mannes verzog sich zu einem falschen Grinsen, bei dessen Anblick ihr prompt übel wurde. »Du glaubst, dass es schnell gehen wird, ja? Dass du nichts merken wirst.«

Wieder krachte ein Schuss. Monica schrie, als der Schmerz in ihrem Kopf durch das grelle Brennen an ihrer Seite verdrängt wurde. Er hatte sie angeschossen, aber sie war nicht tot. Warum bin ich nicht tot?

Er lächelte, als sie sich unter den Schmerzen wand. »Du warst mir ein Dorn im Auge, seit du hergekommen bist. Wenn ich Zeit hätte, würde ich dich in Stücke schneiden. Leider geht es nicht. Also sag Lebwohl, Monica.« Er hob die Waffe, fuhr jedoch herum, als fast gleichzeitig ein Schuss aus einer anderen Richtung von den Mauern widerhallte. Monica schrie erneut, als etwas Glühheißes schmerzhaft dicht an ihrem Schädel vorbeifuhr. Sie kniff die Augen zu und wartete auf den nächsten Schuss. Aber er kam nicht. Sie öffnete die Augen und blinzelte die Tränen zurück.

Er war fort, und sie war allein. Und nicht tot.

Er hatte sie verfehlt. Verdammt, er hatte sie verfehlt. Er war fort. Und er wird zurückkommen.

Aber sie konnte niemanden hören, niemanden sehen. Vartanian und die Polizei werden jeden Moment hier eintreffen. Das hatte die Frau gesagt. Monica kannte niemanden namens Vartanian, aber wer immer er war – er bedeutete ihre Rettung.

Zur Tür. Monica stemmte sich mühsam auf die Knie und kroch. Vorwärts. Immer weiter. Du schaffst es bis zum Korridor.

Sie hörte Schritte. Eine Frau, geschunden und blutend, die Kleider zerrissen, taumelte auf sie zu. Die anderen beiden, hatte der Arzt gesagt. Das musste Bailey sein. Sie war entkommen. Es gibt noch Hoffnung. Monica hob die Hand. »Hilf mir. Bitte.«

Die Frau zögerte nur einen Sekundenbruchteil, dann zerrte sie sie auf die Füße. »Vorwärts.«

»Bist du Bailey?«, presste Monica hervor.

»Ja. Nun komm schon, sonst stirbst du.« Zusammen taumelten sie durch den Korridor. Schließlich erreichten sie eine Tür und stolperten hinaus ins Tageslicht, das ihnen in den Augen schmerzte.

Bailey blieb abrupt stehen, und Monica verlor den Mut. Vor ihnen stand ein Mann mit einer Waffe. Er trug dieselbe Uniform wie Mansfield, und auf dem Schild auf seinem Hemd stand »Sheriff Frank Loomis«. Das war nicht Vartanian mit der Polizei. Das war Mansfields Chef, und er würde sie nicht davonkommen lassen.

So würde es nun also enden. Tränen liefen Monica über die wunde Haut, als sie auf den nächsten Schuss wartete.

Aber zu ihrer Verblüffung legte der Mann einen Finger an die Lippen. »An der Baumreihe entlang«, flüsterte er. »Dahinter ist die Straße.« Er zeigte auf Monica. »Wie viele sind noch drin?«

»Niemand mehr«, erwiderte Bailey in einem harschen Flüstern. »Er hat sie alle umgebracht.«

Loomis schluckte. »Lauft. Ich hole meinen Wagen und sammle euch an der Straße auf.«

Bailey hielt die Hand des Mädchens fest. »Komm«, flüsterte sie. »Nur noch ein bisschen durchhalten.«

Monica starrte auf ihre Füße, zwang sie, sich in Bewegung zu setzen. Noch ein Schritt. Und noch einer. Freiheit. Sie würde frei sein. Und dann würde sie sich rächen. Oder vorher sterben.

Dutton, Georgia,
Freitag, 2. Februar, 15.05 Uhr

Susannah Vartanian beobachtete im Seitenspiegel, wie das Haus, in dem sie aufgewachsen war, jede Sekunde kleiner wurde. Ich muss hier raus. Solange sie sich in diesem Haus – in dieser Stadt! – aufhielt, war sie nicht sie selbst. Sie war keine erfolgreiche New Yorker Staatsanwaltsgehilfin mehr, vor der andere größten Respekt hatten. Solange sie hier war, war sie ein einsames, verängstigtes Kind, das sich im Schrank versteckte. Ein Opfer war sie. Und Susannah hatte es verdammt satt, ein Opfer zu sein.

»Geht’s Ihnen gut?« Die Frage kam von dem Mann hinterm Steuer. Special Agent Luke Papadopoulos. Partner und bester Freund ihres Bruders. Luke hatte sie vor ungefähr einer Stunde hierhergefahren, und zu dem Zeitpunkt hatte die wachsende Furcht in ihren Eingeweiden in ihr den Wunsch erzeugt, er möge langsamer fahren. Nun, da es vorbei war, hoffte sie inständig, er möge Gas geben.

Bitte. Bringen Sie mich nur weg von hier. »Danke, alles in Ordnung.« Sie musste nicht aufsehen, um zu wissen, dass Papadopoulos sie musterte. Sie spürte das Gewicht dieses Blicks auf sich, seit sie den Mann vergangene Woche kennengelernt hatte. Sie hatte bei der Beerdigung ihrer Eltern neben ihrem Bruder gestanden, und er war gekommen, um ihnen sein Beileid auszusprechen. Und er hatte sie beobachtet. Wie jetzt.

Aber Susannah starrte in den Seitenspiegel. Sie wollte es nicht, wollte das Haus ihrer Kindheit nicht mehr sehen, aber sie konnte den Blick auch nicht abwenden. Die einsame Gestalt im Vorgarten zwang sie, weiter hinzusehen. Selbst aus der rasch zunehmenden Distanz konnte sie die Trauer spüren, die auf Daniels breiten Schultern lastete.

Ihr Bruder war ein großer Mann, genau wie ihr Vater einer gewesen war. Die Frauen ihrer Familie waren klein und zart, aber die Männer groß und kräftig. Und manch einer größer als die anderen. Susannah kämpfte die Panik nieder, die ihr seit zwei Wochen immer wieder die Luft abzuschnüren drohte. Simon ist tot, diesmal wirklich. Er kann dir nichts mehr tun. Oh, aber doch, er konnte es, und er tat es. Dass ihr Bruder Simon sie sogar noch aus dem Grab quälen konnte, war eine Ironie, die Simon verdammt gut gefallen hätte. Ihr ältester Bruder war wirklich ein mieses Schwein gewesen.

Nun war er ein totes mieses Schwein, und Susannah weinte ihm keine Träne nach. Da aber Simon zuvor noch seine – ihre! – Eltern umgebracht hatte, waren von den Vartanians nur noch zwei übrig geblieben. Nur Daniel und ich, dachte sie voller Bitterkeit. Die große glückliche Familie.

Nur sie und ihr älterer Bruder, Special Agent Daniel J. Vartanian, Georgia Bureau of Investigation. Einer der guten Jungs. Treuer Gesetzeshüter. Daniel hatte mit seinem Werdegang versucht, die Tatsache wieder wettzumachen, dass er Richter Arthur Vartanians Spross war. Genau wie ich.

Sie dachte an die Verzweiflung in seinem Blick, als sie ihn eben im Vorgarten des Elternhauses stehengelassen hatte. Nach dreizehn Jahren wusste Daniel endlich, was er getan und – noch wichtiger – was er unterlassen hatte.

Und nun wollte er Vergebung, dachte sie verbittert. Absolution. Nach zehn Jahren Funkstille wollte ihr Bruder eine Beziehung zu ihr aufbauen.

Und damit wollte er zu viel. Er würde mit dem, was er getan und nicht getan hatte, leben müssen. Genau wie ich.

Sie wusste, warum er vor vielen, vielen Jahren gegangen war. Daniel hasste dieses Haus beinahe so sehr wie sie. Beinahe.

In der vergangenen Woche, als sie ihre Eltern begraben hatten, war es ihr gelungen, dieses Haus zu meiden. Nach der Zeremonie war sie einfach gegangen und hatte sich geschworen, nie wieder zurückzukehren.

Doch ein Anruf von Daniel am Tag zuvor hatte sie wieder hergeführt. Nach Dutton. In dieses Haus. Um sich dem zu stellen, was sie getan und – noch wichtiger – was sie nicht getan hatte.

Vor einer Stunde hatte sie zum ersten Mal seit Jahren auf der Veranda gestanden. Es hatte sie jedes bisschen Kraft gekostet, das sie besaß, durch die Tür zu gehen, die Treppe hinaufzusteigen und das frühere Zimmer ihres Bruders zu betreten. Susannah glaubte nicht an Geister, wohl aber an das Böse.

Und das Böse lauerte in diesem Haus, in diesem Zimmer, und so war es schon immer gewesen. Auch nachdem ihr Bruder gestorben war. Beide Male.

Das Böse hatte sie eingehüllt, sobald sie das Zimmer betreten hatte, hatte die Panik in ihr entflammt, hatte einen Schrei in ihr aufsteigen lassen, aber sie hatte ihn hinuntergeschluckt. Mit letzter Kraft hatte sie die Fassade der Gelassenheit aufrechterhalten und sich gezwungen, den großen Wandschrank zu betreten, obwohl sie kaum etwas so fürchtete wie das, was sie darin vermutete.

Ihr schlimmster Alptraum. Ihre größte Schande. Dreizehn Jahre lang waren die Beweise in einer Schachtel in einem Versteck verborgen gewesen, ohne dass jemand sie dort vermutet hatte. Nicht einmal ich. Nach dreizehn Jahren war die Schachtel aus ihrem Versteck geholt worden. Ta-da.

Und nun lag sie im Kofferraum des Wagens, der Special Agent Luke Papadopoulos vom GBI gehörte. Daniels Partner und bester Freund. Papadopoulos brachte die Schachtel zum GBI in Atlanta, wo sie in der Asservatenkammer landen würde, sobald die Spurensicherung und die Detectives und die Staatsanwaltschaft den Inhalt wieder und wieder begutachtet hatten. Hunderte von Bildern, widerwärtig, obszön und sehr, sehr real. Sie werden es sehen. Und alle werden es wissen.

Der Wagen bog um eine Kurve, und das Haus war fort, der Bann gebrochen. Susannah lehnte sich im Sitz zurück und holte tief Luft. Es war endlich vorbei.

O nein. Für Susannah war es nur der Anfang und auch für Daniel und seinen Partner keinesfalls das Ende. Daniel und Luke suchten einen Mörder, der in der vergangenen Woche fünf Frauen aus Dutton umgebracht hatte. Einen Mörder, der seine Opfer dazu benutzte, die Obrigkeit auf die Spur von reichen Mistkerlen zu führen, die vor dreizehn Jahren Duttons Schülerinnen Schlimmes angetan hatten. Einen Mann, der aus persönlichen Gründen wollte, dass die Verbrechen dieser Truppe nach vielen Jahren öffentlich gemacht wurden. Einen Mann, der diese Truppe fast genauso hasste wie Susannah. Fast. Denn niemand konnte sie so sehr hassen wie Susannah. Es sei denn, es handelte sich um eines der anderen zwölf noch lebenden Opfer.

Bald werden die anderen Opfer es wissen. Bald werden alle es wissen.

Daniels Partner und besten Freund eingeschlossen. Er beobachtete sie noch immer. Seine Augen waren dunkel, fast schwarz, und es kam ihr vor, als sähe Agent Papadopoulos mehr, als er sehen sollte.

Nun, heute hatte er natürlich wirklich etwas zu sehen bekommen. Und das würden andere auch. Bald …

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie musste sich darauf konzentrieren, sich nicht zu übergeben. Bald würde man im ganzen Land an Kaffeemaschinen und Wasserspendern zusammenstehen und über ihr scheußlichstes Erlebnis tratschen.

Sie hatte in ihrem Leben bereits genügend Klatsch gehört, um genau zu wissen, wie so etwas lief. Hast du schon gehört? Dazu ein aufgesetzt schockierter Blick. Von dieser Gruppe Männer in Dutton, Georgia, die als Jugendliche vor dreizehn Jahren unzählige Mädchen unter Drogen gesetzt und vergewaltigt haben? Einer von ihnen hat sogar ein Mädchen umgebracht! Und dann haben sie Fotos von den Vergewaltigungen gemacht. Stell dir das nur mal vor – ist das nicht schrecklich?

Ja, schrecklich. Und sie würden betroffene Miene aufsetzen, die Köpfe schütteln und sich insgeheim wünschen, dass diese Fotos irgendwie ins Internet gelangten, so dass sie vielleicht »zufällig« einmal darauf stoßen könnten.

Dutton, würde dann jemand anderes nachdenklich murmeln. Ist das nicht das Kaff, in dem erst vor einer Woche mehrere Frauen ermordet worden sind?

Aber ja, würde ein anderer bestätigen. Und außerdem ist es Simon Vartanians Heimatstadt. Er war einer von den Vergewaltigern – er hat die Fotos vor dreizehn Jahren gemacht. Und er ist derjenige, auf dessen Konto die vielen schrecklich zugerichteten Toten in Philadelphia gehen. Ich habe gehört, dass ein Detective aus Philly ihn schließlich erschossen hat.

Siebzehn Menschen tot. Ihre Eltern eingeschlossen. Zahllose Leben vernichtet. Und ich hätte das alles verhindern können. Aber ich habe nichts getan. Mein Gott. Wieso habe ich nichts getan? Äußerlich blieb sie gefasst und kontrolliert, doch innerlich wiegte sie sich wie ein kleines, entsetztes Kind.

»Das muss sehr schwierig gewesen sein«, murmelte Papadopoulos.

Oh, na klar.