Hanser E-Book
Das neue Leben
Roman
Aus dem Türkischen
von Ingrid Iren
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 1994
unter dem Titel Yeni Hayat bei
Iletişim Yayınları in Istanbul.
ISBN 978-3-446-25233-2
© Orhan Pamuk 1994
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München 1998/2016
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung eines Fotos von Daniel Josefsohn / DIE ZEITmagazin, März 1998
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur
Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Für Şeküre
»... die andern haben ja das nämliche gehört,
und keinem ist so etwas begegnet.«
Novalis, Heinrich von Ofterdingen
Eines Tages las ich ein Buch, und mein ganzes Leben veränderte sich. Auf den ersten Seiten schon bekam ich die Kraft dieses Buches innerlich so stark zu spüren, daß ich glaubte, mein Körper habe sich von Tisch und Stuhl, wo ich saß, gelöst und abgehoben. Aber trotz dieses Gefühls schien ich fester als eh und je mit meinem ganzen Sein und allen Fasern meines Körpers auf dem Stuhl am Tisch zu sitzen, und das Buch bewies seine ganze Wirkung nicht nur in meinem Geist, sondern in allem, was mich zu mir selbst machte. So kraftvoll war die Wirkung, daß ich meinte, mir sprühe beim Lesen aus den Seiten dieses Buches Licht entgegen, ein Licht, das meinen Verstand vollkommen stumpf und im gleichen Moment überaus glänzend werden ließ. Und mir kam der Gedanke, ich würde neu und anders werden in diesem Licht, und ich ahnte, es würde mich auf einen anderen Weg führen, dieses Licht, und ich nahm in diesem Licht die Schemen eines Daseins wahr, das ich später kennenlernen, mit dem ich vertraut sein würde. So saß ich am Tisch, wußte mit einem Zipfel meines Verstandes, daß ich dort saß, schlug die Seiten um und las immer neue Wörter auf immer neuen Seiten, während sich mein Leben veränderte. Aber die Hilflosigkeit, die ich nach einer Weile empfand, das Gefühl, kaum bereit zu sein für das, was mich erwartete, ließ mich mein Gesicht instinktiv abwenden von den Seiten, als wolle ich mich vor der Kraft schützen, die dem Buch entströmte. Da sah ich mit Schrecken, daß sich die Welt um mich herum von A bis Z verwandelt hatte, und verspürte eine bis dahin ungeahnte Einsamkeit. Ganz so, als sei ich allein geblieben in einem Land, dessen Sprache, Gewohnheiten und geographische Lage mir fremd waren.
Die Ratlosigkeit, die aus dem Gefühl des Alleinseins entstand, brachte mich plötzlich dem Buch noch näher. Es würde mir zeigen, was ich in diesem neuen Land, in das ich unverhofft hineingestolpert war, tun und lassen mußte, was ich zu glauben wünschte, was ich sehen, welchen Weg mein Leben nehmen wollte. Jetzt las ich das Buch, während ich Seite für Seite umblätterte, wie einen Wegweiser durch ein wildes, fremdes Land. Hilf mir, wollte ich sagen, hilf mir, damit ich das neue Leben finde, ohne Schaden zu nehmen. Doch ich wußte auch, daß dieses neue Leben aus den Wörtern des Wegweisers bestand. Einerseits versuchte ich beim Lesen jedes einzelnen Wortes, meinen Pfad zu finden, andererseits erfand ich selbst voller Staunen jedes einzelne jener Wunder der Phantasie, die mich dazu bringen sollten, meinen Weg zu verlassen.
Unterdessen lag das Buch auf dem Tisch und sprühte mir sein Licht ins Gesicht, doch schien es die ganze Zeit lang einer der wohlbekannten Gegenstände in meinem Zimmer zu sein. Und während ich voller Freude und Staunen dem vor mir liegenden neuen Leben, der Existenz einer neuen Welt entgegensah, spürte ich auch, daß dieses Buch, das mein Leben so unglaublich verändern sollte, eigentlich ein ganz normaler Gegenstand war. Und während mein Verstand allmählich seine Fenster und Türen den Wundern und Ängsten der neuen Welt öffnete, die mir die Wörter versprachen, dachte ich noch einmal über den Zufall nach, der mich zu diesem Buch geführt hatte, doch es blieb an der Oberfläche meines Verstandes, ohne tiefer einzudringen. Beim Weiterlesen schien mir die Hinwendung zu diesem Gedanken einer gewissen Angst zu entspringen – war doch die neue Welt, die mir das Buch eröffnete, so fremd, so seltsam und verwirrend, daß ich das Bedürfnis hatte, irgend etwas absolut Konkretes, Gegenwärtiges zu spüren, um nicht gänzlich in jener Welt verschüttet zu werden. Denn ich fürchtete mehr und mehr, in meiner Umgebung nichts mehr so vorzufinden, wie es gewesen war, wenn ich den Blick vom Buch lösen und mein Zimmer, meinen Schrank und mein Bett betrachten und einen Blick aus dem Fenster werfen würde.
Minuten und Seiten folgten einander, in der Ferne fuhren Züge, ich hörte meine Mutter aus dem Haus gehen und viel später zurückkommen; ich hörte das stete Dröhnen der Stadt, die Klingel des Yoghurtverkäufers, der an der Tür vorüberging, und die Automotoren und vernahm all die bekannten Geräusche als fremde Laute. Ich glaubte für einen Moment, es regne draußen, doch es war das Geschrei von seilspringenden Mädchen. Ich glaubte, das Wetter kläre sich auf, doch es klopften Regentropfen an mein Fenster. Ich las die nächste Seite, die übernächste, las weitere Seiten und sah das Licht, das über die Schwelle des anderen Lebens sickerte, sah mir bisher Unbekanntes und Bekanntes, sah mein eigenes Leben, sah den Weg, den mein Leben nun wohl nehmen würde...
Während ich nach und nach die Seiten umblätterte, drang eine Welt in mein Gemüt, von deren Existenz ich bis dahin nichts gewußt, keine Vorstellung, keine Ahnung gehabt hatte, und nistete sich dort ein. Viele mir bis jetzt bewußte und vertraute Dinge verwandelten sich in Kleinigkeiten, die keine Beachtung verdienten, unbekannte Dinge aber kamen aus ihrem Versteck hervor und sandten mir Signale zu. Wäre ich bei der Lektüre des Buches nach ihnen gefragt worden, so hätte ich wohl nichts über sie sagen können, denn ich erkannte beim Lesen, daß ich allmählich auf einem Weg ohne Umkehr war, ich spürte, daß mein Interesse für einige Dinge, die ich hinter mir ließ, erlosch, doch ich war so aufgeregt, so neugierig auf das vor mir offen liegende neue Leben, daß mir einfach alles, was existierte, der näheren Betrachtung wert schien. Als mich Neugier und Begeisterung so richtig packten und meine Beine zu schaukeln begannen, verwandelten sich Reichtum, Fülle und Vielfalt dessen, was auf mich zukam, in meinem Innern zu etwas, was mich erschreckte.
Mit Erschrecken sah ich in dem Licht, das mir aus dem Buch entgegenströmte, schäbige Räume, rasende Autobusse, müde Menschen, verblaßte Lettern, vergessene Ortschaften und gescheiterte Existenzen und Gespenster. Es ging um eine Reise, ständig ging es darum, alles war eine Reise. Ich sah einen Blick, der mir überall auf dieser Reise folgte, der an den unmöglichsten Orten vor mir aufzutauchen schien, dann wieder verschwand und sich suchen ließ, weil er verschwand, ein sanfter Blick, längst geläutert von Schuld und Sünde... Ich wünschte, dieser Blick sein zu können. Ich wünschte, in jener Welt zu sein, die dieser Blick sah. Ich wünschte dies so sehr, daß ich daran glauben wollte, in jener Welt zu leben. Nein, daran zu glauben war nicht nötig, ich lebte ja schon dort. Nachdem ich nun einmal dort lebte, mußte natürlich auch das Buch von mir sprechen.Und dies war so, weil jemand meine Überlegungen bereits vor mir gedacht und aufgezeichnet hatte.
Auf diese Weise wurde mir klar, daß es etwas ganz anderes sein mußte, was man mir in Worten zu verstehen gab. Hatte ich doch von Anfang an geahnt, daß dieses Buch für mich geschrieben worden war! Das war auch der Grund, warum mich jedes einzelne Wort des Textes im Innersten traf. Nicht, weil es wundervolle Wörter und brillante Ausdrücke waren, sondern weil mich das Gefühl gepackt hatte, das Buch spreche von mir. Woher dieses Gefühl kam, konnte ich nicht ergründen. Vielleicht aber fand ich’s heraus und vergaß es wieder, denn ich versuchte, zwischen Mördern, Unfällen, Toten und Zeichen des Verlustes meinen Weg zu finden.
So verwandelten sich beim Lesen und Weiterlesen meine Anschauungen in die Wörter des Buches und die Wörter des Buches in meine Anschauungen. Meine vom Licht geblendeten Augen konnten die Welt im Buch und das Buch in der Welt nicht mehr voneinander unterscheiden. Es war, als sei eine einzige Welt, alles Existierende, jede mögliche Farbe und Sache in dem Buch unter den Wörtern enthalten, und dennoch ließ ich während des Lesens glücklich und erstaunt alle nur erdenklichen Dinge in meinem eigenen Verstand Wirklichkeit werden. Lesend begriff ich, was mir das Buch zunächst flüsternd, dann hämmernd und schließlich mit rigoroser Gewalt zeigte und was wohl seit Jahren in den Tiefen meines Gemüts geruht hatte. Das Buch hob einen Schatz, der sich jahrhundertelang vergessen auf dem Grunde des Meeres befunden hatte, und ich wollte dem, was ich unter Zeilen und Wörtern entdeckte, erklären, daß es jetzt auch mir gehöre. Und irgendwo auf den letzten Seiten wollte ich sagen, dies hier sei auch mein Gedanke gewesen. Als ich später ganz und gar in die Welt des Buches eingetaucht war, sah ich zwischen Dunkelheit und Dämmerung, einem Engel gleich, den Tod hervortreten. Meinen eigenen Tod...
Auf einmal begriff ich, daß mein Leben unvorstellbar reich geworden war. In jenem Augenblick hatte ich keine Furcht davor, beim Betrachten der Umwelt, der Gegenstände, meines Zimmers oder der Straßen nicht das zu sehen, was das Buch beschrieb, mich bewegte nur die Angst, von dem Buch getrennt zu sein. Mit beiden Händen hielt ich es fest und sog, wie nach dem Lesen der Bildergeschichten in meiner Kindheit, den Geruch von Papier und Druckerschwärze ein, der aus den Seiten drang. Es war der gleiche Geruch.
Ich stand auf, ging zum Fenster, lehnte meine Stirn an das kalte Glas und schaute hinaus auf die Straße, ganz so wie in meinen Kindertagen. Der Lastwagen, der fünf Stunden zuvor, als ich am Nachmittag das Buch auf den Tisch gelegt und zu lesen begonnen hatte, am Bürgersteig gegenüber vorgefahren war, stand nun nicht mehr dort, man hatte Spiegelschränke, schwere Tische, Ständer, Kartons und Stehlampen abgeladen, und in der leeren Wohnung auf der anderen Seite war eine neue Familie eingezogen. Da es noch keine Vorhänge gab, konnte ich im Licht einer starken, nackten Glühbirne ein Elternpaar in mittleren Jahren, einen Sohn und eine Tochter in meinem Alter beim Abendessen vor dem Fernseher erkennen. Die Haare des Mädchens waren dunkelblond, der Fernsehschirm war grün.
Eine Zeitlang schaute ich den neuen Nachbarn zu; mag sein, das Zuschauen gefiel mir, weil sie neu waren; und das schien mir irgendwie Schutz zu bieten. Ich mochte der Tatsache, daß sich meine altvertraute Umwelt ganz und gar verändert hatte, nicht ins Auge sehen, doch weder waren die Straßen die alten Straßen noch mein Zimmer mein altes Zimmer, noch meine Mutter oder meine Freunde die gleichen Menschen, das wurde mir jetzt klar. Es mußte etwas wie Feindseligkeit, etwas Bedrohliches und Angsterweckendes an allem sein, das ich aber nicht genau benennen konnte. Ich zog mich einen Schritt vom Fenster zurück, wandte mich jedoch nicht wieder dem Buch zu, das vom Tisch her nach mir rief. Dort hinter mir, auf dem Tisch, da wartete das auf mich, was mein Leben aus der Bahn warf. Ich konnte ihm ruhig den Rücken kehren, der Anfang aller Dinge lag dort, zwischen den Zeilen des Buches, und ich würde von jetzt an jenen Weg beschreiten.
Die Trennung von meinem bisherigen Dasein ist mir wohl für einen Augenblick so schrecklich erschienen, daß ich, wie alle Menschen, deren Lebensweg durch eine Katastrophe unweigerlich verändert wird, Trost in der Vorstellung zu finden suchte, mein Leben würde auch weiterhin in seiner alten Bahn verlaufen und der Unfall, die Katastrophe oder was auch immer das Erschreckende war, sei gar nicht geschehen. Doch ich spürte das Vorhandensein des Buches, das hinter mir auf dem Tisch noch immer aufgeschlagen dalag, so stark, daß ich mir ein Weiterleben wie bisher einfach nicht mehr vorstellen konnte.
In diesem Zustand verließ ich mein Zimmer, und als mich meine Mutter später zum Abendessen rief, setzte ich mich wie ein Neuling, der sich einer noch fremden Umgebung anpassen möchte, an den Tisch und bemühte mich, eine Unterhaltung mit ihr zu führen. Der Fernseher war eingeschaltet, Kartoffeln mit Hackfleisch, Lauch in Olivenöl, grüner Salat und Äpfel als Nachspeise standen auf dem Tisch. Meine Mutter erwähnte die neuen Nachbarn, die gegenüber eingezogen waren, lobte mich dafür, daß ich den ganzen Nachmittag gearbeitet hatte, sprach über Geschäfte und Einkäufe, über den Regen, die Fernsehnachrichten und den Nachrichtensprecher. Ich liebte meine Mutter, sie war eine schöne, liebenswürdige, sanfte und verständnisvolle Frau, und ich fühlte mich schuldig, weil ich das Buch las und eine andere Welt als die ihre betreten hatte.
Wenn doch das Buch für jedermann geschrieben wäre, dachte ich einerseits, dann würde das Leben nicht so unerträglich hart und rücksichtslos weitergehen wie bisher. Andererseits war die Idee, dieses Buch sei nur für mich allein geschrieben worden, absurd für einen logisch denkenden Studenten des Ingenieurwesens, wie ich es war. Wie aber sollte dann alles wie bisher weitergehen können? Schon der Gedanke, das Buch sei etwas Geheimnisvolles, nur für mich Erfundenes, jagte mir Angst ein. Ich wollte meiner Mutter helfen, als sie später das Geschirr spülte, wollte sie berühren, wollte jene Welt in meinem Innern in das Jetzt und Hier übertragen.
»Laß nur, ich mache das schon, mein Lieber«, sagte sie.
Eine Zeitlang saß ich vor dem Fernseher. Ich hätte mich vielleicht in die dort gezeigte Welt hineinversetzen, vielleicht auch den Fernseher mit einem Fußtritt explodieren lassen können. Es war jedoch unser Fernseher in unserer Wohnung, dem ich zuschaute, eine Art Gott, eine Art Lampe. Ich schlüpfte in mein Jackett und zog die Straßenschuhe an.
»Ich gehe aus«, erklärte ich.
»Wann kommst du zurück?« fragte meine Mutter. »Soll ich auf dich warten?«
»Warte nicht. Sonst schläfst du vor dem Fernseher ein.«
»Hast du in deinem Zimmer das Licht ausgemacht?«
So ging ich hinaus, ging durch das Stadtviertel, in dem ich seit zweiundzwanzig Jahren lebte, durch die Straßen meiner Kindheit, als seien es Straßen voller Gefahren in einem fremden Land. Vielleicht gibt es ja auch einige Dinge, die aus der alten in die neue Welt herübergekommen sind, redete ich mir zu, während ich die feuchte Dezemberkälte einem Windhauch gleich auf meinem Gesicht spürte. Das würde sich jetzt zeigen, wenn ich durch die Straßen, über die Gehsteige ging, die mein Dasein zu dem meinen machten. Plötzlich wollte ich laufen.
Ich ging mit schnellen Schritten die dunklen Gehsteige entlang, zwischen riesigen Mülltonnen und Schlammpfützen hindurch, und erkannte mit jedem Schritt das Wirklichwerden einer neuen Welt. Auf den ersten Blick waren die Platanen und Pappeln meiner Kinderzeit noch die gleichen Platanen und Pappeln, doch die Kraft der Erinnerungen und Assoziationen, die ich mit ihnen verband, war verschwunden. Ich sah die müden Bäume an, die wohlbekannten zweistöckigen Gebäude, die schmuddligen Apartmenthäuser, deren Errichtung ich als Kind vom Fundament und der Kalkgrube bis zu den Dachziegeln verfolgt und in denen ich später mit den neuen Freunden gespielt hatte, nicht wie feste Bestandteile meines Daseins, sondern wie Fotografien, von denen ich nicht mehr wußte, wann und wo sie aufgenommen worden waren. Obwohl ich sie an ihren Schatten, ihren hellen Fenstern, den Bäumen in ihren Gärten oder auch den Lettern und Zeichen an ihren Eingängen erkannte, spürte ich nichts von der Wirkung der mir bekannten Dinge. Die alte Welt war dort, vor mir, neben mir, in den Straßen, war um mich herum vorhanden in den mir vertrauten Schaufenstern der Krämerläden, den noch brennenden Lichtern der Çörek-Backstube auf dem Bahnhofsplatz von Erenköy, den Kisten des Obst- und Gemüsehändlers, den Schubkarren, der Konditorei Leben, den schäbigen Lastwagen, den Schutzplanen und den dunklen, müden Gesichtern. Ein Stück von meinem Herzen war zu Eis erstarrt vor all diesen Schatten, die unter den Lichtern der Nacht leicht vibrierten. Das Buch trug ich bei mir, als würde ich eine Schuld verbergen. Ich wünschte, all diesen bekannten Straßen, die mich zu mir selbst machten, der Melancholie der nassen Bäume, den Neonlettern und den Lampen der Grünzeughändler und Schlachterläden, die sich in den Pfützen auf den Gehsteigen und auf dem Asphalt spiegelten, zu entfliehen. Ein leichter Wind wehte, Wasser tropfte von den Zweigen, ich hörte ein dumpfes Dröhnen und hielt das Buch für eine mysteriöse Gabe, die mir verliehen worden war. Angst packte mich, und ich wollte unbedingt mit jemandem sprechen.
Es war das Café Jugend auf dem Bahnhofsplatz, in das ich flüchtete, wo sich abends noch immer einige meiner Freunde aus dem Viertel verabredeten und dann hängenblieben, dem Fußballspiel im Fernsehen zuschauten oder miteinander Karten spielten. Am hinteren Tisch saß ein Student, der im Schuhgeschäft seines Vaters arbeitete, mit einem anderen Freund aus der Nachbarschaft zusammen, einem Fußballspieler der Amateurliga. Sie unterhielten sich lebhaft im Schein des schwarzweißen Fernsehlichts. Vor ihnen sah ich Zeitungen liegen, die Seiten durch das Lesen und Wiederlesen zerknittert, sah zwei Teegläser, Zigaretten und eine Flasche Bier, die sie vom Krämer gekauft und auf dem Sitz eines Stuhls versteckt hatten.Ich wollte unbedingt mit jemandem reden, lange und ausführlich, vielleicht sogar stundenlang, doch war mir sofort klar, daß es mit ihnen nicht möglich sein würde. Plötzlich überfiel mich eine Traurigkeit, die mich fast zum Weinen brachte, doch ich schüttelte sie stolz ab – den, der in meine Seele schauen durfte, würde ich mir nur unter jenen Schatten auswählen, die in der Welt des Buches lebten.
So war ich fast überzeugt davon, ganz und gar Herr meiner eigenen Zukunft zu sein, doch ich wußte genau, nun war es das Buch, das mich beherrschte. Es hatte sich nicht nur wie ein Geheimnis und eine Sünde in mir eingenistet, sondern mich auch in eine Stummheit getrieben, wie man sie im Traum erlebt. Wo waren sie, die mir glichen, mit denen ich reden konnte, wo war das Land, in dem ich den Traum finden konnte, der zu meinem Herzen sprach, wo waren die anderen, die das Buch gelesen hatten?
Ich überquerte die Bahngleise, tauchte ein in die Seitenstraßen und zertrat die abgefallenen gelben Blätter, die auf dem Asphalt klebten. Auf einmal wurde ich zuversichtlich: Wenn ich immer so weiterliefe, ganz schnell weiterliefe, ohne anzuhalten, wenn ich auf Reisen ginge, dann könnte ich, so schien es mir, zu der Welt im Buch gelangen. Das neue Leben, dessen Leuchten ich in mir spürte, lag irgendwo in der Ferne, vielleicht in einem unerreichbaren Land, doch ich ahnte, daß ich ihm reisend näher kommen oder zumindest mein altes Leben hinter mir lassen konnte.
Als ich zum Ufer kam, war ich erstaunt über die tiefe Schwärze, in der sich das Meer zeigte. Wieso war mir nie zuvor das Dunkle, Harte und Erbarmungslose der nächtlichen See aufgefallen? Also schienen auch die Dinge eine Sprache zu besitzen, und dank der vorübergehenden Lautlosigkeit, in die mich das Buch hineingezogen hatte, begann ich jetzt, diese Sprache zumindest ein wenig zu verstehen. Ich fühlte plötzlich die Schwere des leise Wellen schlagenden Meeres in mir, genauso wie ich bei der Lektüre des Buches die Begegnung mit meinem eigenen unausweichlichen Tod gespürt hatte, doch es war nicht das Gefühl »Jetzt ist alles zu Ende«, das man wohl beim wirklichen Sterben empfindet, es waren im Gegenteil aufkeimende Neugier und die Unruhe eines Menschen am Anfang eines neuen Lebens.
Ich ging den Strand entlang, auf und ab. Als kleiner Junge war ich mit meinen Freunden aus dem Viertel nach den Südweststürmen hierhergekommen, und wir hatten zwischen den vom Meer haufenweise angetriebenen Konservendosen, Kunststoffbällen, Flaschen, Plastiksandalen, Wäscheklammern, Glühbirnen und Kunststoffpuppen nach irgend etwas gesucht, nach einem magischen Gegenstand aus einem Schatz, nach einem leuchtenden Objekt, nagelneu und gänzlich unbekannt. Für einen Augenblick war’s mir, als könne ich irgendeinen ganz normalen Gegenstand der alten Welt auswählen und ihn bei näherer Betrachtung mit meinem vom Licht des Buches erhellten Blick in das magische Etwas verwandeln, nach dem wir in meinen Kindertagen gesucht hatten. Aber gleichzeitig packte mich die Angst, das Buch habe mich in der Welt mutterseelenallein gelassen, so stark, daß ich glaubte, die finstere See werde plötzlich anschwellen und mich verschlingen.
Ich geriet in Panik und lief rasch davon, aber nicht, um mit jedem Schritt das Entstehen einer neuen Welt zu erkennen, sondern um so bald wie möglich in meinem Zimmer mit dem Buch allein zu sein. Im Laufschritt begann ich, mich als ein Wesen zu sehen, das aus dem Lichtstrom des Buches geformt war. Und das beruhigte mich wieder.
Ein guter Freund meines Vaters, gleichaltrig und wie er selbst viele Jahre bei der staatlichen Eisenbahn beschäftigt, hatte sich bis zum Inspektor hochgearbeitet und für das Eisenbahnmagazin Aufsätze über die Leidenschaft des Reisens mit dem Zug geschrieben. Er hatte nebenbei eine Serie, »Der neue Tag – Kinderabenteuer«, gezeichnet, betextet und herausgegeben. Tage, an denen ich Onkel Rıfkıs Geschenke, Pertev und Peter oder Kamer in Amerika, las und nach Hause gerannt war, um mich in eines der Bücher zu vertiefen, hatte es viele gegeben, doch alle diese Kinderbücher kamen stets zu einem Schluß. Wie im Kino standen dort immer die vier Buchstaben »Ende«, und beim Lesen hatte ich nicht nur die Grenzen des Landes erkannt, in dem ich zu sein wünschte, sondern mir war auch schmerzlich bewußt geworden, daß jenes zauberhafte Reich nur ein vom Eisenbahner Onkel Rıfkı erfundener Ort war. Dieses Buch aber, zu dem es mich jetzt in höchster Eile nach Hause trieb, damit ich es nochmals las, enthielt nur Wahres, das wußte ich, und deshalb bewahrte ich es in meinem Innern, deshalb erschienen mir die nassen Straßen, die ich im Laufschritt durchmaß, unwirklich und wie Teile einer unliebsamen Hausaufgabe, die man mir zur Strafe aufgebrummt hatte. Kam’s mir doch so vor, als erkläre das Buch, warum ich auf dieser Welt existierte.
Ich hatte die Bahngleise überquert und lief an der Moschee vorbei, da sah ich eine Pfütze und wollte sie überspringen, doch mein Fuß blieb hängen, ich stolperte und fiel auf dem schmutzigen Asphalt der Länge nach hin.
Rasch stand ich wieder auf und wollte weiterlaufen, als ein bärtiger Alter, der mich hatte stürzen sehen, sagte: »Du wärst ja fast gefallen, meinJunge, ist dir etwas passiert?«
»Ja«, sagte ich. »Mein Vater ist gestern gestorben.Heute haben wir ihn begraben. Er war ein Scheißkerl, hat immer gesoffen, meine Mutter geschlagen, wollte uns hier nicht haben. Ich habe jahrelang in Viranbağ gelebt.«
Wie war ich eigentlich auf den Ort Viranbağ, den »Trümmergarten«, gekommen? Vielleicht begriff auch der Alte, daß nichts von dem, was ich sagte, der Wahrheit entsprach, doch ich hielt mich plötzlich für äußerst klug. War es der Lüge wegen, die mir herausgerutscht war, oder des Buches wegen oder, viel einfacher, wegen des zunehmend törichter dreinschauenden Mannes? Das wurde mir nicht klar, aber ich redete mir zu: »Nur keine Angst, geh schon! Die andere, die Welt im Buch, das ist die wahre Welt!« Doch ich fürchtete mich.
Warum?
Weil ich von dem gehört hatte, was andere durchmachen mußten, nachdem sie wie ich ein Buch gelesen hatten und ihnen ihr Leben entglitten war. Mir waren Geschichten von Leuten bekannt, die in einer Nacht Die Grundsätze der Philosophie gelesen, jedes Wort darin für richtig befunden und sich am nächsten Tag der Neuen Avantgarde der revolutionären Proletarier angeschlossen hatten, drei Tage später bei einem Bankraub erwischt worden waren und für zehn Jahre einsaßen. Ich kannte auch andere Leute, die nach einer Lektüre wie Der Islam und die neue Moral zum Beispiel oder Der Verrat der Verwestlichung eines Nachts von der Kneipe zur Moschee gegangen waren und auf den eiskalten Teppichen, umweht von Rosenwasserdüften, begonnen hatten, geduldig auf ihren in fünfzig Jahren fälligen Tod zu warten. Und wieder andere kannte ich, die sich von Büchern wie Die Freiheit der Liebe oder Ich erkannte mich selbst hatten mitreißen lassen. Diese gehörten zwar vorwiegend zu den Menschen, die an die Sterne glaubten, aber auch sie erklärten voller Überzeugung: »Dieses Buch hat in einer einzigen Nacht mein ganzes Leben verändert!«
Es war eigentlich nicht diese Misere schrecklicher Möglichkeiten, was mich ängstigte, sondern es war die Furcht vor der Einsamkeit. Ich fürchtete mich, das Buch in meiner Torheit womöglich falsch verstanden zu haben, oberflächlich zu sein oder aber nicht sein zu können, also nicht so sein zu können wie jeder andere, oder an Liebe zu ersticken oder das Geheimnis aller Dinge zu wissen und lebenslang zu versuchen, dieses Geheimnis denen beizubringen, die es überhaupt nicht wissen wollten, und mich damit lächerlich zu machen, ins Gefängnis zu kommen, als Verrückter zu erscheinen und schließlich begreifen zu müssen, daß die Welt noch grausamer war, als ich angenommen hatte, und nie zu erreichen, daß hübsche Mädchen mich jemals liebten. Wenn das, was im Buch stand, wahr und das Leben so sein sollte, wie ich’s dort gelesen hatte, wenn so eine Welt möglich war, warum gingen dann immer noch alle in die Moschee, saßen träge und schwatzend im Kaffeehaus herum und hockten jeden Abend um diese Zeit vor dem Fernseher, um nicht vor Langeweile zu platzen, war das nicht absolut unverständlich? Diese Menschen zogen nicht einmal die Vorhänge ganz zu, denn auf der Straße konnte ja wie im Fernsehen etwas mehr oder weniger Interessantes geschehen, ein Wagen konnte vorbeirasen, ein Pferd wiehern oder ein Betrunkener losgrölen.
Wann mir bewußt wurde, daß eine Wohnung der zweiten Etage eines Hauses, in die ich lange Zeit durch die halbgeschlossenen Vorhänge hineinschaute, die des Eisenbahners Onkel Rıfkı war, kann ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich’s unbewußt wahrgenommen und sandte ihm nun am Ende eines Tages, an dem mein Leben durch ein Buch ganz und gar verändert wurde, einen Gruß zu. Ein merkwürdiger Wunsch kam mir in den Sinn – ich wollte jene Dinge, die ich während der letzten Besuche mit meinem Vater dort in der Wohnung gesehen hatte, noch einmal aus der Nähe betrachten: die Kanarienvögel im Käfig, das Barometer an der Wand, die säuberlich gerahmten Eisenbahnbilder, die Vitrine, zur Hälfte gefüllt mit Garnituren von Likörgläsern, Miniaturwaggons, Silberzeug, Bonbonnieren, Kontrolleurzangen und Eisenbahner-Verdienstmedaillen, zur anderen Hälfte mit vierzig, fünfzig Büchern, obendrauf der niemals benutzte Samowar und auf dem Tisch die Spielkarten... Ich sah das Leuchten des Fernsehers durch die halboffenen Vorhänge, doch nicht den Apparat selbst.
Plötzlich stieg ich, selbst erstaunt über soviel Mut, auf die Trennmauer des Grundstücks zwischen Garten und Gehsteig und erblickte nun den Kopf von Onkel Rıfkıs Witwe, Tante Ratibe, und dazu den Fernsehapparat. Während sie in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zu dem leeren Sessel ihres seligen Mannes saß und auf den Bildschirm blickte, hatte sie ganz wie meine Mutter den Kopf zwischen die Schultern gezogen, doch anders als meine Mutter, die strickte, paffte sie eine Zigarette.
Mein Vater war letztes Jahr an Herzversagen gestorben, der Eisenbahner Onkel Rıfkı schon ein Jahr zuvor, doch es war kein natürlicher Tod gewesen. Man hatte ihn eines Abends auf dem Weg ins Café erschossen, der Mörder konnte nicht gefunden werden, es war von Eifersucht die Rede, doch mein Vater hatte im letzten Jahr seines Lebens nicht an dieses Gerede geglaubt. Das Ehepaar hatte keine Kinder.
Als ich um Mitternacht kerzengerade am Tisch saß, lange nachdem meine Mutter eingeschlafen war, und in das Buch schaute, das, vom Ellenbogen bis zur Hand, zwischen meinen Armen lag, vergaß ich nach und nach erregt, begeistert und beglückt die verlöschenden Lichter der Stadt und des Viertels, die Melancholie der nassen, leeren Straßen, den Ruf des Bozaverkäufers, der ein letztes Mal vorbeiging, ein paar zur Unzeit krächzende Krähen, das geduldige Rattern eines langen Güterzuges, der nach dem letzten Vorortzug vorbeifuhr, die Mitternächte, unser Viertel und alles, was mich zu einem der Hiesigen machte, und ergab mich ganz und gar dem Licht, das dem Buch entströmte. Auf diese Weise verschwanden die Mittagsmahlzeiten,Kinoeingänge, Mitstudenten, Tageszeitungen, Sprudelwasser, Fußballspiele, Schulbänke, Dampfer, die hübschen Mädchen, die Vorstellungen vom Glück, meine zukünftige Geliebte, meine Ehefrau, mein Arbeitstisch, meine Morgen, Frühstücke, Busfahrscheine, kleinen Sorgen, nicht fertig gewordenen Statikaufgaben, alten Hosen, mein Gesicht, meine Pyjamas, meine Nächte, meine Wichsmagazine, meine Zigaretten, ja sogar das sicherste Mittel zum Vergessen, mein treues Bett, das gleich hinter mir wartete – verschwanden alle Dinge, die bis zu jenem Tag meinLeben und meine Traumbilder gewesen waren, samt und sonders aus meinem Verstand, und ich fand mich als Wanderer wieder, dort, in dem Land aus Licht.
Am nächsten Tag verliebte ich mich. Wie das Licht, das mir aus dem Buch entgegenströmte, erschütterte mich die Liebe und bewies mir in aller Deutlichkeit, daß mein Leben längst aus der Bahn geworfen worden war.
Gleich morgens nach dem Erwachen hatte ich nochmals all das am Tage zuvor Erlebte überdacht und sofort begriffen, daß jenes neue Land, welches sich vor mir auftat, keine vorübergehende Einbildung, sondern Wirklichkeit war, wie mein eigener Körper, meine Arme und Beine. Um die unerträgliche Einsamkeit zu überwinden, an der ich litt, nachdem ich unverhofft in diese Welt hineingeraten war, mußte ich die anderen, die mir Ähnlichen finden.
Nachts war Schnee gefallen, war vor dem Fenster, auf den Gehsteigen und auf den Dächern liegengeblieben. Weil das offene Buch auf dem Tisch von draußen her in ein erschreckend weißes Licht getaucht wurde, erschien es noch reiner und unschuldiger, was zugleich seine furchterregende Wirkung erhöhte.
Trotzdem gelang es mir, wie jeden Morgen mit meiner Mutter zu frühstücken, beim Duft von geröstetem Brot die Zeitung Milliyet durchzublättern und einen Blick auf die Kolumne Celâl Saliks zu werfen. Ich aß von dem Käse auf dem Tisch, als ginge alles seinen gewohnten Gang, und lächelte dem gutmütigen Gesicht meiner Mutter zu, während ich meinen Tee trank. Die Tasse, die Teekanne, das Löffelklirren, der Lieferwagen des Orangenhändlers auf der Straße, alles schien mir sagen zu wollen, das Leben werde weiterlaufen wie bisher, doch ich ließ mich nicht täuschen. Als ich beim Verlassen der Wohnung den schweren alten Wintermantel meines Vaters überzog, empfand ich keinerlei Unzulänglichkeit, so sicher war ich mir, daß sich die Welt von A bis Z verändert hatte.
Ich ging zum Bahnhof, bestieg den Zug, verließ den Zug, erreichte das Schiff, sprang in Karaköy auf die Landungsbrücke, drängelte mit den Ellenbogen, lief Treppen hinauf, sprang auf den Bus auf, kam in Taksim an und hielt auf meinem Weg zur Taşkışla für einen Moment inne und schaute den Zigeunern zu, die auf dem Gehsteig Blumen verkauften. Konnte ich wirklich annehmen, das Leben würde weitergehen wie eh und je, konnte ich vergessen, das Buch gelesen zu haben? Das kam mir plötzlich so erschreckend vor, daß ich einfach losrennen wollte.
Während des Unterrichts in Festigkeitslehre übertrug ich Figuren, Zahlen und Formeln, die an der Tafel standen, gewissenhaft in mein Heft. Wenn nichts an die Tafel geschrieben wurde, saß ich mit untergeschlagenen Armen da und hörte der sanften Stimme des kahlköpfigen Professors zu. Ob ich aber tatsächlich zuhörte oder nur so tat, als ob ich zuhörte wie alle anderen, und in Wahrheit nur einen Studenten der Fakultät für Bauwesen an irgendeiner Technischen Universität imitierte, wollte mir nicht klarwerden. Als ich nach einer Weile merkte, wie unerträglich hoffnungslos jene alte, uns wohlbekannte Welt geworden war, begann meinHerz schneller zu schlagen, mir wurde schwindlig, als kreise ein Blut- und Medikamentgemisch in meinen Adern, und ich spürte mit Wohlbehagen, wie sich die Kraft des Lichts, das dem Buch entströmte, von meinem Genick her allmählich über meinen ganzen Körper ausbreitete. Eine neue Welt hatte längst alles Existierende ausgelöscht und sogar die Gegenwart schon in die Vergangenheit verkehrt. Alle Dinge, die ich sah und berührte, hatten sich auf klägliche Weise überlebt.
Ich hatte das Buch zuerst in der Hand einer Architekturstudentin gesehen. Sie wollte von der Cafeteria im Erdgeschoß etwas kaufen und suchte in ihrer Tasche nach der Geldbörse, konnte aber die Tasche nicht gründlich durchsehen, weil sie etwas festhielt mit der anderen Hand. Es war ein Buch, und sie mußte es, um die Hand benutzen zu können, für einen Augenblick auf den Tisch legen, an dem ich saß. So hatte ich es dort mit einem kurzen Blick gestreift. Das war alles, das war der ganze Zufall, der mein Leben verwandelte. Danach hatte das Mädchen das Buch genommen und in seine Tasche gesteckt. Als ich das gleiche Werk nachmittags auf dem Heimweg wiedersah, ausgestellt auf einem Straßenstand zusammen mit alten Folianten, Abhandlungen, Lyrikbänden, Büchern über Astrologie und Liebesromanen und Thrillern, hatte ich es gekauft.
Sowie es zu Mittag läutete, liefen die meisten Studenten unseres Semesters zur Treppe, um sich rechtzeitig in die Schlange einzureihen, nur ich blieb still auf meiner Bank zurück. Ich wanderte durch die Korridore, ging hinunter zur Cafeteria, überquerte die Höfe, wanderte unter den Säulen entlang, betrat die leeren Unterrichtsräume, betrachtete durch die Fenster die verschneiten Bäume des Parks auf der anderen Seite, trank Wasser in der Toilette. Ich lief das ganze Gelände der Taşkışla ab. Das Mädchen war nicht zu finden, aber das beunruhigte mich nicht.
Nach dem Mittagessen nahm das Gedränge in den Korridoren zu. Ich ging durch die Flure der Architekturabteilung, betrat die Ateliers, schaute den Spielern beim »Münzen-Match« auf den Zeichentischen zu, setzte mich in einen Winkel, ordnete die Seiten einer zerfledderten Zeitung und las darin. Und wieder lief ich durch die Gänge, stieg Treppen hinauf und hinunter, hörte mir den Klatsch und Tratsch über Fußball, Politik und die Fernsehsendungen von gestern abend an. Ich mokierte mich mit einigen anderen über eine Filmdiva, die sich zur Mutterschaft entschlossen hatte, bot auf Wunsch Zigaretten und Feuerzeug an, hörte jemandem zu, der einen Witz erzählte, und gab bei alledem noch gutmütig Antwort, wenn mich irgendwann irgend jemand anhielt und fragte, ob ich diesen oder jenen gesehen hätte. Wenn ich keine Freunde zum Aufhalten, kein Fenster zum Hinausschauen oder kein Ziel zum Hingehen finden konnte, ging ich so rasch und entschlossen in irgendeine Richtung, als hätte ich etwas äußerst Wichtiges im Sinn und wäre sehr in Eile. Weil aber die Richtung, in die ich ging, gänzlich unbestimmt war, änderte ich sie manchmal, wenn mich die Tür zur Bibliothek aufhielt oder meine Schritte mich zum Treppenabsatz führten oder mir jemand begegnete, der von mir eine Zigarette erbat, oder ich schob mich ins Gedränge oder hielt auch manchmal an, um mir selbst eine Zigarette anzuzünden. Gerade als ich mir eine Bekanntmachung ansehen wollte, die erst kurz zuvor an einer Wandtafel angeheftet worden war, schlug meinHerz auf einmal schneller, raste im Galopp davon und ließ mich hilflos zurück: Da war sie, dort in der Menge, das Mädchen, in dessen Hand ich das Buch erblickt hatte, sie entfernte sich von mir, und – weshalb nur? – sie rief mich, langsam schreitend wie im Traum. Mein Verstand ließ mich im Stich, ich war nicht mehr ich – und wußte es sehr wohl. Ich ließ mich selbst zurück und lief ihr nach.
Sie trug ein Kleid in blasser Farbe, wie weiß und doch nicht weiß und auch von keiner anderen Farbe. Ich erreichte sie noch vor den Treppenstufen, und als ich sie nun von nahem ansah, traf einLeuchten mein Gesicht, so kraftvoll, wie es dem Buch entströmte, und doch ganz sanft. Ich weilte in dieser Welt und stand an der Schwelle des neuen Lebens. Ich stand dort am Fuß der schmutzigen Treppe und weilte im Leben des Buches. Solange ich in dieses Leuchten blickte, das wußte ich, würde meinHerz nimmer und nimmer auf mich hören.
Ich hätte das Buch gelesen, sagte ich ihr. Ich hätte das Buch in ihrer Hand gesehen und es dann gelesen, sagte ich ihr. Vor dem Lesen des Buches habe es für mich eine Welt gegeben, nach dem Lesen des Buches sei für mich eine andere Welt erstanden. Wir müßten jetzt miteinander reden, denn ich sei vollkommen allein geblieben in dieser Welt.
»Ich habe jetzt Unterricht«, sagte sie.
Mein Herz setzte zwei Takte aus. Vielleicht begriff das Mädchen, wie verwirrt ich war, denn sie dachte einen Augenblick nach.
»Gut«, meinte sie dann entschlossen. »Suchen wir uns einen leeren Raum und reden dort miteinander.«
Im zweiten Stock fanden wir einen leeren Raum. Beim Eintreten zitterten meine Beine. Mir wollte nicht einfallen, wie ich erklären könnte, daß ich die Welt erblickt hatte, die mir vom Buch verheißen worden war. Das Buch hatte wie flüsternd zu mir gesprochen, mir die Welt, in die es mich einließ, wie die Offenbarung eines Geheimnisses übergeben. Canan, sagte das Mädchen, sei ihr Name, und ich nannte ihr den meinen.
»Warum fühlst du dich angezogen von dem Buch?« fragte sie.
Ich wollte einer Eingebung folgen, Engel, und sagen: »Weil du es warst, die das Buch gelesen hat.« Wo kam bloß der Engel her? Nun war ich völlig verwirrt, ich bin immer verwirrt, aber dann hilft mir irgend jemand, vielleicht der Engel.
Ich sagte: »Mein ganzes Leben ist verwandelt, seitdem ich das Buch gelesen habe. Das Zimmer, die Wohnung, die Welt, worin ich zu Hause war, hörten auf, meinZimmer, meine Wohnung, meine Welt zu sein, und ich fühlte mich heimatlos in einer fremden Sphäre. Ich habe das Buch zuerst in deiner Hand gesehen, du mußt es gelesen haben. Erzähl mir von der Welt, in die du eingegangen, aus der du zurückgekehrt bist. Sag mir, was ich tun muß, um dorthin zu gelangen. Erklär mir, weshalb wir jetzt immer noch hier sind. Erklär, wie mir diese Welt vertraut sein kann wie mein eigenes Heim und meinHeim so fremd wie die ganze Welt.«
Wer weiß, was ich noch alles in der gleichen Ton- und Versart gesagt hätte, wenn meine Augen nicht plötzlich wie geblendet gewesen wären. Das bleischwere Schneelicht des Wintermittags drang von draußen so ebenmäßig gleißend herein, daß die Fensterscheiben des kleinen, nach Kreide riechenden Klassenzimmers wie aus Eis gemacht schienen. Ich schaute in ihr Gesicht, voller Angst, in ihr Gesicht zu schauen.
»Was würdest du tun, um in die Welt im Buch hineinzugelangen?« fragte sie.
Ihr Gesicht war blaß, ihre Brauen und Haare dunkelblond, ihr Blick sanft. Kam sie aus dieser Welt, dann hatte sie wohl eher aus den Erinnerungen an diese Welt Gestalt angenommen, kam sie aus der Zukunft, dann trug sie wohl mehr die Züge der Trauer und Angst. Ich schaute, ohne zu wissen, daß ich schaute, als ob ich fürchtete, daß sich die Wirklichkeit zeigen könnte, wenn ich sie noch länger ansah.
»Ich würde alles tun, um die Welt im Buch zu finden«, sagte ich.
Sie blickte mich liebevoll mit ungewissem Lächeln an. Wer oder was mußte man sein, um von einem so wunderschönen, von einem so reizenden Mädchen auf diese Weise angeblickt zu werden? Wie mußte man das Streichholz halten, wie die Zigarette anzünden, wie aus dem Fenster schauen, wie mit ihr sprechen, welche Haltung vor ihr einnehmen, auf welche Weise atmen? Solche Dinge werden einem niemals beigebracht an diesen Lehranstalten. Und deshalb winden sich Menschen wie ich in solch einer aussichtslosen Lage und versuchen, das Schlagen ihres Herzens zu verbergen.
»Was ist das alles, was du tun würdest?« fragte sie mich.
»Einfach alles...« meinte ich und lauschte schweigend meinem Herzschlag.
Warum, weiß ich nicht, aber mir kamen lange währende, unendlich lange Reisen in den Sinn, nicht enden wollende legendäre Regenfälle, trostlose Straßen, eine in die andere mündend, kummervolle Bäume, schlammige Flüsse, Gärten und Länder. Wenn ich sie eines Tages umarmen durfte, dann mußte ich in diese Länder gehen.
»Würdest du zum Beispiel auch den Tod ins Auge fassen?«
»Ja, das würde ich tun.«
»Auch wenn du wüßtest, daß man die Leser des Buches tötet?«
Ich versuchte zwar zu lächeln, weil der Ingenieuranwärter in meinem Innern meinte, es sei doch schließlich nur ein Buch, doch Canans Augen waren ganz auf mich gerichtet. So ließ mir der Gedanke, weder der Welt im Buch noch ihr selbst jemals näherkommen zu können, wenn ich jetzt etwas versäumte oder etwas Falsches sagte, keine Ruhe.
»Ich glaube nicht, daß mich jemand töten wird«, erwiderte ich, ohne draufzukommen, wen ich dabei imitierte. »Und selbst wenn es geschehen sollte, würde ich den Tod wahrhaftig nicht fürchten.«
Ganz kurz leuchteten ihre honigfarbenen Augen in dem kreidebleichen Licht, das zum Fenster hereinkam. »Glaubst du, es gibt diese Welt, oder ist sie nur Phantasie, erträumt und festgehalten in einem Buch?«
»Es gibt diese Welt«, sagte ich. »Du bist so schön, daß ich weiß, du kommst von dort.«
Mit zwei raschen Schritten erreichte sie mich. Sie nahm meinen Kopf in beide Hände, reckte sich und küßte mich auf den Mund. Einen Augenblick ruhte ihre Zunge auf meinen Lippen. Doch ehe ich ihren leichten Körper umfangen konnte, zog sie sich zurück.
»Du bist sehr mutig«, sagte sie.
Ich spürte Lavendelduft, den Duft von Lavendelwasser. Wie im Rausch ging ich einige Schritte auf sie zu. Zwei Studenten gingen draußen vorbei und schrien einander an.
»Hör mir jetzt bitte zu«, sagte sie. »Du mußt, was du mir erklärt hast, auch Mehmet erklären. Er hat die im Buch beschriebene Welt besucht und ist aus ihr zurückgekehrt. Er kommt von dort, begreifst du das? Doch er zweifelt daran, daß irgend jemand anders dem Buch Glauben schenken und sie aufsuchen könnte. Schreckliche Dinge hat er erlebt, glaubt an nichts mehr. Erklärst du’s ihm?«
»Wer ist Mehmet?«
»Sei in zehn Minuten am Eingang zu zweihunderteins, bevor die erste Stunde beginnt«, sagte sie noch und war plötzlich durch die Tür verschwunden.
Der Raum war leer, und ich blieb abwesend, wie zu Stein erstarrt zurück. So hatte mich noch niemand geküßt, niemand mich so angeschaut. Nun war ich vollkommen allein.Ich hatte Angst, ich würde sie vielleicht niemals wiedersehen. Meine Füße aber würden in dieser Welt niemals mehr fest auf dem Boden stehen. Ich wollte ihr nachlaufen, doch schlug mein Herz so heftig, daß ich fürchtete, der Atem würde mir ausgehen. Ein weißes, schneeweißes Licht hatte nicht nur meine Augen, sondern auch meinen Verstand geblendet. Des Buches wegen, mußte ich auf einmal denken und war mir zutiefst bewußt, wie sehr ich das Buch liebte, wie sehr ich dort in jener Welt zu sein wünschte, so daß ich fast in Tränen auszubrechen meinte. Was mich auf den Beinen hielt, war die Existenz des Buches. Ich war auch sicher, das Mädchen würde mich nochmals umarmen. Und ich dachte, alle Welt habe sich zurückgezogen und mich ganz und gar allein gelassen.
Stimmen kamen von dort, vom Fenster her, und ich schaute hinaus. Ein Häuflein Studenten aus dem Bauwesen bewarf sich unten am Rande des Parks laut schreiend mit Schneebällen. Ich blickte auf sie hinunter und begriff nicht, was ich sah. Jetzt war ich wirklich kein Kind mehr. Ich hatte mich selbst verloren.
Geschieht es, geschah es nicht allen von uns schon eines Tages, eines ganz gewöhnlichen Tages, daß wir annehmen, wir würden auf die altgewohnte Weise – den Kopf voller Zeitungsnachrichten, Autolärm und trauriger Worte, die Taschen voll alter Kinokarten und Tabakkrümel – durch diese Welt gehen, dann aber plötzlich erkennen, daß wir eigentlich schon lange ganz woanders hingegangen sind, daß wir im Grunde genommen gar nicht dort sind, wo uns unsere Schritte hinführten? Ich hatte mich doch längst verloren, war hinter den Fensterscheiben aus Eis, unter einem ausgeblichenen Licht in nichts zerronnen. Dann aber mußte ich, um irgendwo wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen, um in irgendeine Welt zurückkehren zu können, unbedingt ein Mädchen, dieses Mädchen umarmen, mußte ihre Liebe gewinnen. Wie schnell war dieser übergescheite Unsinn von meinem immer noch heftig klopfenden Herzen akzeptiert worden! Ich war verliebt und drauf und dran, mich dem maßlosen Wertmesser meines Herzens auszuliefern. So schaute ich auf die Uhr. Es blieben noch acht Minuten.
Wie ein Gespenst ging ich durch die hohen Korridore und fühlte auf ganz seltsame Weise, daß ich einen Körper, ein Leben, ein Gesicht, eine Geschichte besaß. Würde ich ihr in der Menge begegnen? Und wenn, was würde ich sagen? Wie sah ihr Gesicht aus? Ich konnte mich nicht erinnern. Ich betrat die Toilette neben der Treppe und trank Wasser, den Mund direkt am Hahn. Dann besah ich mir im Spiegel meine kurz zuvor geküßten Lippen. Mutter, ich habe mich verliebt, Mutter, ich verliere mich, Mutter, ich fürchte mich, und dennoch könnte ich alles für sie tun. Wer ist dieser Mehmet, werde ich Canan fragen, was macht ihm angst, wer sind sie, die die Leser des Buches töten wollen, ich fürchte mich vor nichts, und ja, auch du wirst dich nicht fürchten, wenn du das Buch verstanden hast und daran glaubst wie ich.
Während ich den vielen Menschen auf den Korridoren begegnete, merkte ich auf einmal, wie schnell ich ging, gerade so, als hätte ich etwas Eiliges zu erledigen. Ich stieg in den zweiten Stock hinauf, ging unter den hohen Fenstern zum Hof mit dem Wasserbecken entlang, ging und ließ mich selbst zurück und dachte dabei an Canan. Ich ging an dem Raum vorbei, wo ich jetzt Unterricht haben sollte, quer durch die Gruppe meiner Mitstudenten. Wißt ihr, auf welche Weise mich vor kurzem ein wunderbares Mädchen geküßt hat? Meine Beine führten mich mit raschen Schritten meiner Zukunft entgegen.In jener Zukunft lagen dunkle Wälder, Hotelzimmer, lila-bläuliche Traumbilder, Leben, Frieden und Tod.
Als ich drei Minuten vor Unterrichtsbeginn vor dem Raum 201 ankam, erkannte ich sofort, wer Mehmet war, noch bevor ich Canan sah. Sein Gesicht war blaß, er war groß und schlank wie ich, nachdenklich, zerstreut und müde. Ich erinnerte mich verschwommen daran, ihn vorher schon mit Canan gesehen zu haben. Er weiß mehr als ich, ging’s mir durch den Kopf, er hat mehr erlebt, ist auch einige Jahre älter als ich.
Wie er mich erkannte, weiß ich nicht. Wir gingen irgendwo an die Seite, auf eine Lücke zwischen den Schränken zu.
»Du sollst das Buch gelesen haben«, meinte er. »Was hast du darin gefunden?«
»Ein neues Leben.«
»Glaubst du daran?«
»Ich glaube daran.«
Sein Gesicht, sein Teint wirkte so matt, daß mir angst wurde vor seinen Erlebnissen.
»Hör mir zu«, sagte er. »Auch ich hatte daran geglaubt, hatte angenommen, jene Welt zu finden. Ich bin in Busse eingestiegen, bin aus Bussen ausgestiegen, bin von Stadt zu Stadt gefahren und habe gemeint, ich würde jenes Land, jene Menschen, jene Straßen entdecken. Glaub mir, am Ende steht nichts als der Tod. Man bringt die Menschen ohne jedes Mitleid um. Sogar in diesem Augenblick könnten wir verfolgt werden.«
»Mach ihm keine Angst!« bat Canan.
Wir schwiegen. Mehmet sah mich einen Moment so an, als kennten wir uns seit Jahren. Ich hatte das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben.
»Ich habe keine Angst«, erklärte ich und blickte Canan an. »Ich kann es zu Ende bringen«, fügte ich noch hinzu und gab mich dabei wie ein finster entschlossener Filmheld.
Canan mit ihrem unvergleichlichen Körper stand zwei Schritte von mir entfernt. Zwischen uns, doch näher bei ihm.
»Da ist nichts zu Ende zu bringen«, erwiderte Mehmet. »Ein Buch. Jemand hat sich hingesetzt und es geschrieben, eine Phantasie. Man kann nichts weiter tun als es nochmals und nochmals lesen.«