Eva Mozes Kor

DIE MACHT
DES VERGEBENS

mit Guido Eckert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

PROLOG

Ich kenne Hass. Ich weiß nur zu gut, wie er sich anfühlt, in allen Variationen. Wie er sich im Magen breitmacht, der Hass, und wie er nach und nach das Denken bestimmt. Und ich weiß, was es heißt, sich nach Rache zu sehnen.

Was würde geschehen?

Ich sehe mich heute noch, wie ich durch Oberbayern fahre. Auf dem Weg zu einem Mann, der als Lagerarzt in Auschwitz tätig war, also dort, wo ich meine Familie und meine Kindheit verloren habe – einem Kollegen von Dr. Mengele, jenem Mann, der mich erniedrigen, misshandeln und dem Tod ins Gesicht sehen ließ.

Habe ich schon gesagt, dass ich weiß, wie sich Hass anfühlt? Oh ja!

Ich werde durch Roßhaupten gefahren, ein malerisches Dorf im Allgäu, von Wiesen und Bergen umgeben, mit einer barocken Pfarrkirche mit Zwiebelturm, um die es sich konzentrisch bis an den Rand eines Bergsees ausbreitet. Es wohnen vielleicht 2000 Menschen dort. Und ich erinnere mich an meine Unruhe. An meinen Zorn: auf die Welt und ganz besonders auf Deutsche. Das Wort »Vergebung« existierte nicht in meinem Vokabular. Es war nicht mal ansatzweise in meinem Denken vorhanden. Alleine die Vorstellung, tatsächlich gleich einen Nazi aus Auschwitz zu treffen, war schon verrückt. Ich wurde von Kilometer zu Kilometer nervöser.

Vorher hatte ich mir alle möglichen Dokumentationen angesehen, die ich nur irgendwie in die Finger bekommen konnte, und dieser Mann, Dr. Hans Münch, war ein typischer Nazi. Groß, stattlich, wie man sagt. Auch noch als 82-Jähriger. Ein bisschen sah er aus wie Laurence Olivier in Der Marathon-Mann. Er machte mir Angst.

Aber es gab jetzt keinen Weg mehr zurück. Trotz aller Schlaflosigkeit, aller Skrupel, trotz aller Bedenken, ob die ganze Geschichte nicht in Tränen enden würde. Aber ich musste herausfinden, welche Viren oder Bakterien mir und meiner Schwester Miriam gespritzt worden waren. Miriam war daran erst ein Jahr zuvor gestorben, weil die Ärzte vor den ungewöhnlichen Nebenwirkungen kapituliert hatten.

Also musste ich diesen ehemaligen NS-Arzt treffen.

Ich habe eine Regel: Wenn ich einmal zugestimmt habe, etwas zu tun, dann ziehe ich das durch. Ich stehe zu meinem Wort. Außerdem wollte ich herausfinden, was in diesem Mann vor sich ging. Wie hatte er in diesem Lager arbeiten, wie hat er mit dem Grauen leben können? Wie konnte er nach Auschwitz weiterleben?

Ein nettes Haus, erinnere ich mich. Von einem gepflegten Garten umgeben. Und Dr. Münch öffnet mit einem freundlichen Lächeln die Haustür. Und schüttelt meine Hand.

Damit habe ich nicht gerechnet.

In meiner Vorstellung war dieser Kerl ein überheblicher Nazi, der mir armen Überlebenden hoheitsvoll eine Audienz gewährte – aber so ist er nicht. In meiner Vorstellung sind Deutsche ernst, niemand lächelt. Ich bin davon ausgegangen, ein Monster zu sehen: SS-Untersturmführer Hans Münch, Lagerarzt in Auschwitz, Handlanger Hitlers bei einem der größten Verbrechen der Menschheit.

Aber er ist nett. Ein höflicher alter Mann mit einem weißen Bart.

Während des Gesprächs umkreist uns ein aufgescheuchtes Fernsehteam, das meinen Besuch dokumentieren will, es sind gleich mehrere Kameraleute, Tontechniker da, was eine bizarre Szenerie ergibt, in diesem intimen Moment. Ein holländischer Produzent, der mir unentwegt zuzischt, wenn ich etwas Kritisches frage, dann breche Dr. Münch das Treffen schlagartig ab. Ein Kameramann beklagt das schlechte Licht.

Währenddessen verlässt der Nazi-Arzt mehrmals das Zimmer, um Kissen für mich zu besorgen. All das passt nicht zu meinem Vorhaben. Die Nacht davor war schlaflos. Ich verliere die Kontrolle.

»Warum bringen Sie mir so viele Kissen?«, frage ich.

»Ich möchte sichergehen, dass Sie gemütlich sitzen«, antwortet Dr. Münch.

Ein Nazi, der sich Gedanken darüber macht, ob ich bequem sitze, das ergibt keinen Sinn für mich. Ich befürchte, gleich zu verstummen, wenn ich ihn ausfragen soll. Ich fühle mich so unglaublich unvorbereitet.

Also beginne ich damit, dumme Fragen zu stellen. Ein wenig Small Talk – mit einem Auschwitz-Arzt, der Tausende Menschen sterben sah! Aber es geht nicht anders, zum einen, weil der Produzent unentwegt den Abbruch prophezeit, zum anderen, weil ich mir die Taktik überlegt habe, unverfänglich zu starten und erst zum Ende hin die wichtigen Fragen zu stellen. Also: Was wissen Sie von den Experimenten in Auschwitz? Was haben Sie nach Kriegsende gemacht?

»Was sind Ihre Hobbys?«, frage ich zum Einstieg.

Was zum Henker interessieren mich die Hobbys eines Nazi-Schergen? Aber ich will seine Mentalität erfühlen, herauskitzeln, wie so jemand tickt. Von Angesicht zu Angesicht.

»Ich lese gern«, antwortet Dr. Münch, »und ich sammle Pilze.«

Er antwortet sehr freundlich, hört zu. Was ich nicht begreife. Mir fehlt das Teuflische.

»Wie haben Sie in Auschwitz gelebt?«

Mein Mund ist trocken.

»Die Realität in Auschwitz war«, antwortet er leise, »dass das gesamte Wachpersonal abends betrunken war. Die einzige Person, neben mir, die nicht volltrunken war, war Mengele. Er war also der Einzige, mit dem ich sprechen konnte. Aber er hat mir nichts über die Experimente erzählt. Das war topsecret.«

Dr. Münch sagt, dass meine Schwester Miriam und ich früher oder später getötet worden wären. Mengeles Experimente hätten uns eine Weile vor dem Sterben bewahrt. Mengele habe in Auschwitz zu ihm gesagt, die Zwillinge müssten ihm dafür dankbar sein.

»Sie waren in Auschwitz, Dr. Münch – wussten Sie, wo die Gaskammern waren? Haben Sie dort hineingesehen? Wissen Sie irgendetwas darüber?«

Ich kann nicht mehr länger warten!

Dr. Münch schluckt, und er senkt den Kopf. Dann schaut er auf, doch seine Augen, die mich eben noch so freundlich und mild anblickten, starren plötzlich durch mich durch, ins Nirgendwo. Er haucht mehr, als dass er spricht: »Das ist mein Problem …« Wieder schluckt er. »Das ist ein Albtraum, mit dem ich täglich leben muss …« Seit annähernd 50 Jahren. Dann sagt er noch: »Alle Erinnerungen an Auschwitz waren so, dass ich keine Freude mehr am Leben hatte.« Ehe er vor Scham und Horror in sich versinkt.

Vor mir sitzt ein gebrochener Mann.

Ich schweige.