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Zum Buch

Sie war siebzehn, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Bis dahin hatte es keine große Rolle für sie gespielt, dass sie Jüdin war, doch plötzlich entschied diese Frage über Leben oder Tod. 1942 entkam sie der Registrierung für ein Arbeitslager, und sie schloss sich dem niederländischen Widerstand an. Unter dem Pseudonym Margareta van der Kuit oder einfach Marga lieferte sie gefälschte Dokumente und Botschaften im ganzen Land aus. Es ist ihr gelungen, den Nazis mehrmals zu entkommen, doch im Juli 1944 wurde sie verraten und über das Durchgangslager Vught nach Ravensbrück transportiert. Sie hat das Grauen des Konzentrationslagers überlebt, ihre Schwester und ihre Eltern nicht. In dieser Zeit wusste niemand, dass sie Jüdin war, keiner kannte ihren Namen. Erst nach dem Krieg wagte sie, wieder zu sagen: Mein Name ist Selma.

Zur Autorin

SELMA VAN DE PERRE wurde 1922 geboren und war während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der niederländischen Widerstandsbewegung. Kurz nach dem Krieg ging sie nach London, wo sie für die BBC arbeitete und ihren zukünftigen Mann kennenlernte, den belgischen Journalisten Hugo van de Perre. Einige Jahre lang arbeitete sie auch als Auslandskorrespondentin für einen niederländischen Fernsehsender. Selma van de Perre lebt in London und hat einen Sohn. Ihre Erinnerungen wurden in zahlreichen Ländern publiziert und kamen in den Niederlanden sofort nach Erscheinen auf Platz 1 der Bestsellerliste. Noch heute fährt Selma van de Perre jedes Jahr für eine Woche nach Ravensbrück, um an der Gedenkfeier dort teilzunehmen und jungen Leuten ihre Geschichte zu erzählen.

Zur Übersetzerin

SIMONE SCHROTH, geb. 1974 in Frankfurt a.M., studierte in Mainz, Bonn und Münster und lebt in England. Sie hat u. a. Texte von Anne Frank übersetzt, die Tagebücher von Klaartje de Zwarte-Walvisch und Carry Ulreich.

SELMA VAN DE PERRE

Mein Name
ist Selma

Erinnerungen einer Widerstandskämpferin
und Holocaust-Überlebenden


Aus dem Niederländischen
von Simone Schroth

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Mijn naam is Selma bei Thomas Rap, Amsterdam.

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Die Veröffentlichung der Übersetzung wurde durch
den Niederländischen Literaturfonds gefördert.




Die Übersetzung ins Deutsche erfolgte auf der Grundlage der niederländischen Ausgabe. Selma van de Perre verfasste ihr Memoir auf Englisch, die Übertragung ins Niederländische besorgte Rebekka W.P. Bremmer. Bei der anschließenden Übersetzung ins Englische durch Alice Tetley-Paul und Anna Asbury ergänzte Selma van de Perre den Ausgangstext um zusätzliche Informationen, die dort, wo sie für die deutschsprachige Leserschaft zum besseren Verständnis der Zusammenhänge beitragen, in Mein Name ist Selma aufgenommen wurden.


Copyright © der Originalausgabe 2020 Selma van de Perre

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Die Fotos auf dem Cover und im Innenteil sind aus dem Privatarchiv der Autorin

Foto Rückseite © Chris van Houts

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26975-3
V001

www.btb-verlag.de
facebook.com/btbverlag

Für meine Eltern und meine Schwester

Inhalt

Prolog

Der Künstler und die Hutmacherin: Meine Familie

Über Wassergräben springen: Meine Kindheit

Bürger zweiter Klasse: Die Besatzungszeit

Weg von zu Hause: Eine untergetauchte Familie

Blondiertes Haar: Im Widerstand

Geheime Schubladen: Meine Verhaftung

Ein blauer Overall: Das Lager Vught

Der Pfad in den Tod: Ravensbrück

Mein richtiger Name: Die Befreiung

Das Leben leben: London

Gedenken

Epilog

Bildteil

Prolog

6. September 1944 – an Greet Brinkhuis

Liebes Gretchen,

sitze mit zwölf Leuten in einem Viehwaggon, in Vught. Wahrscheinlich geht es nach Sachsenhausen oder Ravensbrück. Bleibe mutig. Ich bleibe es auch. Obwohl ich mir wünschen würde, dass die Sache ein Ende findet. Habe den Umschlag mit diesem Brief durch eine Lüftungsritze aus dem Zug geworfen. Auf Wiedersehen, ihr Lieben. Kuss, Marga

Wir mussten unsere Zahnbürsten und Besitztümer zusammenpacken und draußen warten. Ganz eindeutig sollten wir irgendwo anders hingebracht werden, aber wohin? Das wussten wir nicht. Ich dachte, es wäre sicherer, im Lager Vught zu bleiben, als ins Unbekannte aufzubrechen, und beschloss, mich unter einer Matratze zu verstecken. Ich ließ die anderen Frauen vorgehen und blieb in der Baracke, aber ich war nicht schnell genug. Als ich noch halb zu sehen war, näherte sich die Aufseherin. Ich solle mich beeilen, sagte sie. Sie zog mich am Arm mit nach draußen und schubste mich in den letzten Waggon. Diese kleine Verzögerung wurde zu einem Vorteil für mich: Im letzten Waggon waren nicht mehr so viele Frauen. Die anderen waren vollgestopft, und den armen Frauen, unter ihnen meine Freundinnen aus dem Lager, stand eine dreitägige Fahrt unter entsetzlichen Bedingungen bevor.

In meinem Wagen gab es nur etwa zwölf Frauen. Einige waren jünger – zwischen zwanzig und dreißig, wie ich. Anders als in meinem Fall handelte es sich aber nicht um politische Gefangene, sondern um sogenannte »Asoziale«, die etwas getan hatten, was den Deutschen nicht gefiel. Sie merkten, dass ich anders war als sie, dass ich zum Beispiel eine gewisse Bildung besaß. Ich kannte keine von ihnen. Wie sich herausstellte, waren es zum größten Teil Prostituierte, die man gefangen genommen hatte, um sie wegen ihrer Geschlechtskrankheiten behandeln zu können. Sie hatten in der Küche gearbeitet, und es war ihnen gelungen, eine große Schachtel mit Brot und Wurst und einen Eimer dicke Suppe mit in den Zug zu nehmen. Ein großes Glück, fand ich, in den anderen Waggons gab es bestimmt keine Vorräte. Doch diese Frauen wussten ihr Glück ganz offensichtlich nicht zu schätzen, denn sie begannen, sich wegen des Essens zu streiten. Mir erschien es vernünftig, alles einzuteilen, weil wir nicht wussten, wie lange die Zugfahrt dauern würde. Wir gingen davon aus, auf dem Weg nach Deutschland zu sein, doch wohin genau, war uns unbekannt. Vorsichtig sagte ich das zu den anderen Frauen, und zum Glück hörten sie auf mich. Sie baten mich, das Essen auszugeben. Das begriff ich als Ehre; ich verteilte die Suppe, schnitt Brot und Wurst in Scheiben – und sie konnten sehen, dass ich mein Bestes tat, damit alle gleich viel bekamen.

Im Wagen gab es genug Platz, dass wir uns alle auf den Boden setzen oder sogar hinlegen konnten; einige von uns lehnten sich an die Wände. Wir verschliefen einen großen Teil der Fahrt, geredet wurde nicht viel. Die Frauen aus der Küche, die sich ja bereits kannten, unterhielten sich ein wenig. Mit der Zeit wurden sie mir gegenüber etwas freundlicher und gaben mir zum Beispiel etwas von ihrem Toilettenpapier ab. Auf ein Stück davon schrieb ich schnell eine kurze Nachricht an meine Freundin Greet Brinkhuis in Amsterdam, um ihr mitzuteilen, dass ich in einem Zug saß und mich wahrscheinlich auf dem Weg nach Deutschland befand. Im ersten Bahnhof, an dem wir hielten (tatsächlich dem letzten in den Niederlanden, bevor der Zug über die Grenze fuhr), schob ich die Botschaft durch einen Spalt zwischen den Holzbrettern. Obwohl es sehr unwahrscheinlich war, dass Greet meinen Brief jemals bekommen würde, wollte ich diese Chance nutzen.

Die Reise erschöpfte uns. Sie schien endlos zu dauern, sogar für uns, die wir in diesem privilegierten Wagen saßen. Ich spürte eine ungeheure Anspannung. Gleichzeitig gab es da eine Ahnung, der Krieg würde nicht mehr sehr lange dauern. Wir wussten, dass die Alliierten die Grenze bereits erreicht hatten. Außerdem war mir klar, dass ich nicht beeinflussen konnte, was geschah. Deshalb versuchte ich, nicht zu viel darüber nachzudenken. Das wäre sinnlos gewesen.

Wir schliefen auf dem nackten Holzboden des Waggons. Alles andere als bequem, doch viel besser als bei meinen Freundinnen, die zu fünfzig bis sechzig zusammengepfercht und wohl ohne Essen die Fahrt überstehen mussten. Nachdem wir drei Tage und zwei Nächte eingeschlossen gesessen hatten, erreichten wir am 8. September unser Ziel. Die Schiebetüren öffneten sich, und wir erhaschten einen ersten Blick auf das Lager, das sich als Ravensbrück entpuppte. Ironischerweise liegt dieser entsetzliche Ort in einer prächtigen Umgebung an einem großen See, dem Schwedtsee, doch davon bekamen wir nichts mit. Auf dem Bahnsteig erwarteten uns die Aufseherinnen und SS-Männer mit großen Hunden und Peitschen und befahlen uns, aus den Waggons zu steigen. Die Hunde bellten, und die Männer schrien: »Schnell, schnell, schnell! Heraus, heraus, heraus!«

Wir hatten entsetzliche Angst.

Der Künstler und die Hutmacherin:

Meine Familie

Hier, in meinem ruhigen Haus in London, schaue ich mir ein Foto an, das 1940 aufgenommen wurde. Meine Mutter, meine kleine Schwester und ich sitzen an einem Sonntag in Tante Saras Garten; zu dieser Zeit war das noch ein friedlicher Ort. Meine Mutter, die wir liebevoll »Mams« nennen, ist damals 51, meine Schwester Clara zwölf, und ich bin 18. Ein ganz alltägliches Familienbild von gewöhnlichen Leuten: Wir verbringen einen schönen Nachmittag miteinander, genießen den Garten und die Gesellschaft der anderen. Ein Bild davon, wie die Zeit mit der Familie sein sollte – liebevoll, sicher, angenehm, vorhersagbar. Nichts in unseren Gesichtern verrät, was in den folgenden drei Jahren geschehen soll: der Tod meines Vaters, der von Mutter und Clara, meiner Oma, von Tante Sara, ihrem Mann Arie und ihren beiden Söhnen und von vielen anderen Familienmitgliedern – nicht durch natürliche Umstände oder einen Unfall, sondern durch die Grausamkeiten, die sich bei der Aufnahme des Fotos bereits in Europa ausbreiteten und nur zu bald in die Niederlande dringen sollten. Vor diesen grausamen Ereignissen begriffen wir nicht, was für ein Vorrecht es darstellt, ein anonymes Leben zu führen. Noch immer kann ich kaum glauben, dass die Namen von Leuten, die unbehelligt hätten bleiben müssen, jetzt zu ihrem Gedenken auf Listen und Mahnmalen stehen – weil diese Menschen dem methodischsten Massenmordsystem zum Opfer fielen, das die Welt je gesehen hat.

Wie die meisten Leute wurde ich in eine gewöhnliche Familie hineingeboren, deren Erfahrungen nur für diejenigen interessant waren, die sie betrafen. Mein Opa väterlicherseits, Levi Velleman, handelte in Schagen mit Antiquitäten. Er hatte dort und in Haarlem ein Geschäft, doch ein wohlhabender Mann wurde er nie. Meine Oma väterlicherseits, Saartje Velleman, geborene Slagter, war Hausfrau, wie die meisten Frauen in dieser Zeit – allerdings entsprach sie dem Stereotyp nicht, denn sie war keine besonders gute Hausfrau. Ein hoffnungsloser Fall, was Kochen und Putzen betraf, und ihre älteste Tochter, meine Tante Greta, erzählte mir, dass im Haus immer Chaos herrschte: Kleidungsstücke wurden zum Beispiel einfach in die Laden geworfen, so dass ständig alle etwas suchten. Im Haus lebte ein Dienstmädchen, das die schweren Arbeiten verrichtete, aber je älter Tante Greta wurde, desto mehr übernahm sie die Verantwortung für den Haushalt und sorgte für ihre jüngeren Geschwister.

Mein Vater Barend Levi Velleman, das erste Kind von Levi und Saartje, wurde am 10. April 1889 geboren. Seine glückliche Geburt musste für meinen Opa eine Erleichterung bedeutet haben. Seine erste Frau Betje hatte nämlich das Kindbett nicht überlebt, und ihr kleiner Sohn, der auch Barend hieß, starb vier Tage später. Die Vellemans nannten den Erstgeborenen jeder Generation abwechselnd Barend Levi und Levi Barend, weil sie Nachfahren des biblischen Stammes Levi waren. Wahrscheinlich wollte Opa Velleman sehr gern eine Familie gründen, denn am 20. Juni 1888, nur vier Monate nach dem Tod seiner ersten Frau, hatte er Oma geheiratet. Saartje, fünfeinhalb Jahre älter als Barend, war dreißig, als mein Vater geboren wurde – damals fand man das alt für ein erstes Kind. Aber Saartje war eine starke Frau: Insgesamt brachte sie zehn Kinder zur Welt, das letzte im Alter von 43 Jahren. Mein Opa starb 1923 mit 58, und sie überlebte ihn noch sehr lange. Möglicherweise hätte sie ein sehr hohes Alter erreicht, wäre sie nicht mit 83 in Auschwitz ermordet worden. Das geschah am 28. September 1942, nur einige Wochen bevor man meinen Vater, ihren Sohn, ebenfalls ermordete.

Die Ankunft eines gesunden Sohnes stellte einen Grund zum Feiern dar. Doch selbst ganz gewöhnliche Familien haben ihre Traumata, und für meinen Vater sollte das Gefühl, umsorgt zu werden, schon sehr bald der Vergangenheit angehören. Am 16. April 1892, als er drei Jahre alt war, wurde Greta geboren. Eines Tages, Saartje wechselte gerade Greta die Windeln, klopfte es an der Tür. Saartje öffnete und ließ den kleinen Barend bei dem Baby zurück. Als sie das Zimmer wieder betrat, lag Greta weinend auf dem Boden. Saartje gab meinem Vater die Schuld und nahm an, er habe seine Schwester aus Eifersucht vom Tisch gestoßen. Tante Greta sagte später selbst, dass sie wahrscheinlich einfach hinuntergerollt war, aber vielleicht hatte Oma auch recht. Wie bei so vielen Familiengeschichten werden wir die Wahrheit nie erfahren. Jedenfalls schickte man meinen Vater zu seinen Großeltern väterlicherseits. Seine restliche Kindheit verbrachte er bei ihnen in Alkmaar, wo er mehr oder weniger als ihr Sohn aufwuchs.

Man kann nur schwer begreifen, wie Oma ihr Kind so weggeben konnte, aber innerhalb von drei Monaten nach Gretas Geburt war sie wieder schwanger, und sich zusätzlich um ein Kleinkind zu kümmern überforderte sie vielleicht. Die Haushaltsführung war schon nicht ihre stärkste Seite, und sicher bedeutete es eine Erleichterung, dass jemand anders einen Teil ihrer Verantwortung übernahm. Die Großeltern meines Vaters hatten ihn auf alle Fälle sehr gern im Haus.

Mein Vater blieb also in Alkmaar, während die Familie wuchs und seine Eltern und die sieben Geschwister, die das Kindbett überlebt hatten, zusammenwohnten. Weil Barend als Einziger aus der Familie ausgeschlossen war, litt er schrecklich unter dem Gefühl, zurückgewiesen zu werden. Seine frühe Verbannung verfolgte ihn für den Rest seines Lebens; er hat seiner Mutter nie verziehen, dass sie ihn nicht zurückgeholt hat. Und obwohl er während seiner Kindheit durchaus Kontakt zu ihr hatte, weigerte er sich als Erwachsener jahrelang, mit ihr zu sprechen. Bis in meine späte Jugend habe ich seine Familie nie getroffen, außer Onkel Harry, einen seiner jüngeren Brüder, zu dem er doch Kontakt hielt. Ich nehme an, dass Pa hin und wieder etwas von den anderen Geschwistern hörte, auch wenn er nie darüber sprach. Ich war neugierig auf sie, doch die Entfremdung war ein so fester Bestandteil unseres Familienlebens, dass ich es einfach hinnahm und nur sehr selten darüber nachdachte.

Im Jahr 1941, als ich neunzehn war, fand diese Situation ein Ende. Eines Tages klopfte es, und ich öffnete. Draußen stand eine elegante, in Schwarz gekleidete Frau mit hochgestecktem Haar.

»Ist dein Vater zu Hause?«, fragte sie.

Ich holte Pa.

»Mutter!«, rief er aus.

Voller Erstaunen sah ich zu.

Ich freute mich sehr, neue Familienmitglieder kennenzulernen, vor allem Tante Greta, weil alle sagten, ich sei ihr ähnlich, sowohl vom Äußeren her als auch in meinem Verhalten. Zuerst hatte ich das als Beleidigung aufgefasst, weil ich wusste, dass mein Vater ihr gegenüber einen Groll hegte, doch es stellte sich heraus, dass sie eine sehr liebe Frau war. Sie überlebte den Krieg, weil sie einen Christen geheiratet hatte, und nach der Befreiung war es wunderbar, dass ich sie besuchen konnte.

Oma fragte Pa, ob ich mit ihr eine ihrer anderen Enkelinnen besuchen dürfe: meine Cousine Sarah, die man in einem bekannten Kinderheim außerhalb Amsterdams untergebracht hatte. Zusammen fuhren wir mit dem Zug hin, und Sarah und ich wurden enge Freundinnen. Ich genoss es, eine größere Familie zu bekommen. Die Möglichkeit, die Beziehung zu den Verwandten väterlicherseits wiederherzustellen, war für uns sehr wichtig. Die Liebe macht das Leben erst lebenswert, und ich denke, Oma wollte das Vorgefallene wiedergutmachen, bevor es zu spät wäre.

Tragischerweise wurden die kleinen Schritte, die wir zur Heilung des Bruchs unternahmen, abrupt beendet, ehe wir recht viel mehr als eine Annäherung erreicht hatten. Im Jahr 1942 zwang man Oma, die noch allein in Haarlem wohnte, in ein jüdisches Altersheim in Amsterdam umzuziehen. Mama, Clara und ich besuchten sie jede Woche, aber später im selben Jahr wurden alle Bewohner des Altersheims nach Westerbork ins Durchgangslager geschickt und von dort aus nach Auschwitz transportiert und ermordet. Das Altersheim wurde einfach geräumt. Wir wussten damals nichts davon und haben uns nicht von ihr verabschieden können. Oma war verschwunden. Ich weiß nicht genau, wann sie auf Transport musste, aber wahrscheinlich war es kurz vor ihrem Tod. Zu dieser Zeit herrschte unter uns Juden so viel Verwirrung, dass es schwierig war, einen Überblick darüber zu behalten, wo sich einzelne Menschen befanden, selbst wenn es sich um nächste Angehörige handelte. Erst nach dem Krieg erfuhr ich von Omas Schicksal. Einer von Pas jüngeren Brüdern hatte erzählt, sie sei in Westerbork gestorben, aber als ich in den Listen nachschaute, sah ich, dass sie am 28. September 1942 in Auschwitz ermordet worden war.

Mein Urgroßvater besaß eine Fabrik, zu der die Lumpensammler ihre Lumpen zur Papierherstellung brachten. Das Geschäft lief gut, und Pa profitierte von dem relativen Wohlstand, in dem er lebte. Er war ein intelligenter Junge, der in der Schule mehrere Klassenstufen übersprang, und die Familie setzte große Erwartungen in ihn. Er ging auf die Höhere Bürgerschule, bis er mit siebzehn auf eine Jeschiwa (eine Talmudschule) in Amsterdam geschickt wurde. Seine Großeltern waren fromme Menschen, und ihnen lag sehr viel daran, dass er eine mit dem Glauben verbundene Karriere einschlug. Er hatte eine gute Tenorstimme, und sie wünschten sich, er solle Kantor oder Rabbiner werden.

Doch Pa dachte ganz anders darüber: Schon lange hatte er den dringenden Wunsch verspürt, zum Theater zu gehen. Als Jugendlicher hatte er als Regisseur Theaterstücke auf die Bühne gebracht, in denen Familienmitglieder und Freunde Rollen übernahmen. Diese Stücke führte man nicht nur zur Unterhaltung der Angehörigen auf, sondern auch bei Anlässen in der Gegend. Ich erinnere mich an eine Rezension in der Lokalzeitung, in der Dinge wie »hervorragend umgesetzt durch den jungen Barend Levi« standen. Es war einfach seine Leidenschaft, und er besaß auch wirklich Talent dafür.

Er war schon immer ein Rebell gewesen und lehnte den Glauben, der im Leben seiner Großeltern eine so große Rolle spielte, für sich ab. Auf der Jeschiwa stellte er seinen Lehrern immer Fragen zur Religion und weigerte sich, ihre Antworten zu glauben. Er trieb die Leute zur Verzweiflung, weil er der jüdischen Lehre nicht genug gehorchte. Ganz eindeutig war er nicht zum Rabbiner bestimmt. Zweimal schickte man ihn nach Hause, und beide Male verpasste ihm sein Großvater eine Tracht Prügel und brachte ihn zurück. Dann nahm Pa die Sache selbst in die Hand. Von seinem gesparten Taschengeld kaufte er sich eine Fahrkarte für das Schiff nach England. Mein Urgroßvater ging zur Polizei und verlangte, man solle seinen minderjährigen Enkel zurückholen, und ob die Polizei nun eingriff oder nicht – fest steht, dass man Pa irgendwie dazu brachte, nach Hause zurückzukehren. Nach diesem Ereignis begriffen meine Großeltern, dass es Geldverschwendung war, von Pa eine Karriere in der Synagoge zu erwarten.

Pa ging sofort ans Theater, wo er den Namen Ben Velmon annahm, und von dieser Zeit an verdiente er sein Geld in der Unterhaltungsindustrie. Er trat als Schauspieler, Sänger und Revuemoderator auf. Während des Ersten Weltkrieges flüchteten innerhalb von vier Jahren eine Million Belgier in die Niederlande. Man brachte sie in Lagern unter. Nach dem Krieg kehrten sie wieder in ihre meist verwüsteten Dörfer und Städte zurück. Während die belgischen Flüchtlinge in den Lagern lebten, organisierte Pa die Unterhaltung für sie. Einige junge Sänger und Komödianten unter ihnen, um die sich Pa gekümmert und die er ermutigt hatte, wurden später berühmt. Weil sie Pa so dankbar waren, schmolzen die Flüchtlinge etwas von ihrem Gold ein und ließen einen prächtigen Siegelring mit Pas Initialen anfertigen. Leider ist dieser Ring während des Zweiten Weltkrieges verschwunden. Es war ein spannendes Leben, aber auch ein sehr unsicheres. Für seine Familie bedeutete es ein Nomadendasein. Wir zogen oft um, weil sein Einkommen alles andere als geregelt war; manchmal lebten wir in großer Armut und manchmal in relativem Reichtum. Aber Pa tat das, was er liebte, und ich war sehr stolz auf ihn.

Meine Mutter hieß mit vollem Namen Femmetje, aber niemand in der Familie nannte sie so; alle riefen sie Fem. Am 10. August 1889 wurde sie als Tochter von David und Clara Spier in Alkmaar geboren, als mittleres Kind von sieben; sie hatte drei Schwestern und drei Brüder. Opa besaß in Alkmaar ein großes Mode- und Einrichtungsgeschäft und eröffnete in Den Helder ein weiteres. Die Eltern meiner Mutter trafen sich in Alkmaar regelmäßig mit Pas Großeltern zum Kartenspielen. Das konnte Pa gut, und er machte oft mit, während meine Mutter allen Tee einschenkte. So lernten sie sich kennen. Als Pa nach Amsterdam an die Jeschiwa geschickt wurde, war Mams fest entschlossen, ihm zu folgen, und fand dafür einen klugen Weg. Sie fragte ihre Eltern, ob sie eine Lehre als Hutmacherin anfangen dürfe. Freunde ihrer Eltern hatten einen Laden in Amsterdam, wo man prächtige modische Hüte herstellte und verkaufte, und dort ging Mams in die Lehre. Mit einem Hintergrund in Mode und Ausstattung erstaunt es nicht, dass sie sich fürs Hutmachen entschied, auch wenn die Frauen in der Familie Spier nie eine echte kommerzielle Karriere anstreben durften; sie machten nur Hüte und Kleider für ihre Angehörigen, und zwar neben ihren gewöhnlichen Aufgaben im Haushalt. Der wahre Grund für ihren Umzug nach Amsterdam war natürlich mein Vater. Er besuchte sie regelmäßig, und als er die Jeschiwa verließ, heirateten sie, am 21. März 1911 in Alkmaar.

Am 29. Dezember 1911 kam ihr erstes Kind zur Welt, mein ältester Bruder Louis. Offiziell hieß er Levi Barend – genau wie der Vater meines Vaters –, aber er wurde immer Louis genannt. Zwei Jahre später, am 26. Dezember 1913, wurde mein anderer Bruder geboren, David. Mein Vater hatte inzwischen Erfolg, trat in vielen der größten Theater auf, und er, Mams und meine Brüder wohnten in einem eleganten Haus an der Prinsengracht 445. In diese Familie und diesen Reichtum wurde am 7. Juni 1922 im Wilhelmina Gasthuis ein Mädchen hineingeboren. Und das war ich: Selma Velleman.

Über Wassergräben springen:

Meine Kindheit

Als ich zur Welt kam, war Pa auf Europatournee, und er beschloss, die Familie solle nach Zandvoort umziehen, um am Meer sein zu können, wo die Luft gesünder war als in Amsterdam, vor allem für die Kinder. Zandvoort war schon damals einer der vornehmsten Badeorte der Niederlande. Wir zogen dorthin, als ich zwei Wochen alt war, und wir blieben dort, bis ich vier war. Natürlich habe ich nicht mehr sehr viele Erinnerungen an diese Zeit, aber ich weiß noch, dass David mich als etwa Einjährige im Bollerwagen über den Sand zog, denn davon besaß die Familie Fotos. Leider sind die, wie viele andere Dinge, während des Krieges verloren gegangen.

Im Jahr 1926 zogen wir wieder nach Alkmaar. Die Europatournee meines Vaters war zu Ende, und wahrscheinlich hatte er keine Arbeit. Während meiner Kindheit blieben wir nie lange irgendwo. Als der Krieg später jeder Form der Stabilität ein Ende bereitete, habe ich von diesem unsicheren Leben sehr profitiert. Ich gehörte nicht zu den Leuten, die an einen Ort gebunden sind und sich nicht anpassen können, und ich weiß ganz bestimmt, dass mir das geholfen hat, mit den schrecklichen und unvorhersehbaren Dingen umzugehen, die mir zustoßen sollten.

In Alkmaar zogen wir in ein sehr schönes Reihenhaus am Ende der Straße, mit Weideland rundherum und einem Wassergraben. In der Straße wohnten noch mehr Kinder, und ich weiß noch, dass wir sehr gern zusammen draußen gespielt haben. Eines Tages sprangen die älteren Kinder über den Graben hin und her, und obwohl ich erst vier war, wollte ich es ausprobieren. Ich war schon immer ein wagemutiges Kind. Natürlich konnte ich es bei meiner Größe noch nicht ganz hinüberschaffen und fiel ins Wasser. Die anderen Kinder schrien so laut, dass der Friseur an der Ecke aus seinem Laden gerannt kam und mich mit einer langen Stange herausholte. Wir lebten in unschuldigen und friedlichen Zeiten, in denen ein kleiner Vorfall wie dieser für große Aufregung sorgte. Noch tagelang sprach und lachte man darüber. Ich kann mich auch daran erinnern, mit welcher Freude ich nach der Schule mit meinen Freunden zum Markt rannte und von den Kaufleuten am Käsestand ein Stückchen Käse bekam.

Jeden Sonntag besuchten wir meine Urgroßmutter in dem Haus, in dem mein Vater vor seiner Ehe gewohnt hatte. Weil ich damals noch sehr jung war, kann ich mich kaum an sie erinnern, aber ich sehe sie noch am Ende eines langen Tisches sitzen, mit einer großen Kaffeekanne auf einem Stövchen vor sich. Sie war immer in Schwarz gekleidet und trug ein unter dem Kinn zugeknöpftes Spitzenkäppchen. Meine Eltern sprachen mit ihr, während die Haushälterin, Roos Meyboom, die wir Tante Roos nannten, mich mit in die Küche nahm, um mir ein Stück Kuchen oder ein paar Süßigkeiten zu geben. Tante Roos, eine sehr treue Haushälterin, hat immer sehr gut für meine Urgroßeltern gesorgt. Sie war vor allem verrückt nach Pa und genaugenommen auch diejenige, die ihn aufgezogen hat. Als meine Urgroßmutter am 12. Dezember 1926 starb, zog Tante Roos als mein Kindermädchen zu uns. Ihr Schlafzimmer lag neben meinem. Jeden Morgen kroch ich zu ihr ins Bett, und dann erzählte sie mir Geschichten.

Eines Morgens ging ich wie immer zu ihrem Zimmer und sah, dass man einen Stuhl vor die Tür gestellt hatte. Das war seltsam, aber ich schob den Stuhl einfach zur Seite und kletterte wie sonst auch zu Tante Roos ins Bett. Sobald ich unter die Decken kroch, verwirrte mich etwas – statt angenehm warm war das Bett kalt, und Tante Roos auch. Als meine Mutter mich holen kam und ich erzählte, Tante Roos fühle sich so kalt an, erklärte sie mir, dass Tante Roos in der Nacht gestorben war. Meine Eltern hatten den Stuhl vor die Tür gestellt, damit ich nicht hineinging, aber das hatte mich nicht abgehalten. Ich weiß nicht genau, wann das geschah, wahrscheinlich aber 1927, als ich fünf war. So verlief meine erste Begegnung mit dem Tod.

Im Jahr 1927 verließen wir unser schönes Haus und zogen in eine Wohnung über einem großen Café im Zentrum von Alkmaar. Ganz eindeutig ein Rückschritt verglichen mit dem vorigen Zuhause; offensichtlich hatten wir also zu dieser Zeit nicht viel Geld. Eines Tages besuchte uns die jüngere Schwester meiner Mutter, Tante Suze. Bei einem Spaziergang kamen wir an einem Geschäft mit einem prächtigen Kindersessel im Schaufenster vorbei, einem runden Korbsessel. Es war Liebe auf den ersten Blick, und ich wollte ihn sehr gern haben, aber meine Mutter erklärte mir, dass das nicht ging. Daraufhin verkündete meine Tante, ihn für mich kaufen zu wollen. Meine Mutter sträubte sich, aber Tante Suze ignorierte sie einfach, ging ins Geschäft und kaufte den Sessel. Ich war überglücklich. Ich liebte den Sessel heiß und innig und saß sehr gern darin. Ein unglaubliches Geschenk für ein Kind, dessen Eltern sich so etwas nicht leisten konnten, und ich habe den Sessel lange Zeit in Ehren gehalten. Während wir keinen Kontakt zu Pas Familie hatten, sahen wir Mams’ Geschwister oft, und ich hing sehr an ihnen. Natürlich war Tante Suze seit der Geschichte mit dem Sessel meine Lieblingsverwandte! Tragischerweise starb sie nur zwei Jahre später an einer Bauchfellentzündung, die man fälschlicherweise für Menstruationskrämpfe gehalten hatte. Sie hinterließ einen Sohn, Loutje, damals vielleicht sechs Jahre alt. Tante Suze war mit Jacques Limburg verheiratet gewesen, einem Freund und Theaterkollegen meines Vaters.

Nach Tante Suzes Tod überredete man Onkel Jacques, Loutje bei einem Bruder meiner Mutter und dessen Frau in Leiden unterzubringen. Man ging damals davon aus, sie würden ihm ein besseres Leben bieten können als ein Witwer, und sie wollten sich sehr gern um ihn kümmern. Aus irgendwelchen Gründen behielten Onkel Joop und Tante Jet Loutje nicht bei sich, sondern gaben ihn in ein Kinderheim, in dessen Vorstand sie saßen. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht fand sich Loutje nicht gut bei ihnen zurecht, nachdem er seine Mutter verloren hatte und von seinem Vater weggegeben worden war, oder sie dachten, es wäre besser für ihn, mit anderen Kindern zusammenzuleben.

Im Jahr 1928, kurz nach Neujahr, zogen wir wieder nach Amsterdam. Diesmal lebten wir wirklich in Armut. Unterstützung durfte man erst beantragen, wenn man ein Jahr lang in Amsterdam gewohnt hatte, und weil wir nicht religiös waren, konnten wir die Hilfe der Synagoge nicht in Anspruch nehmen. Unsere erste Wohnung befand sich in der Ambonstraat in Amsterdam-Oost, aber wir konnten die Miete nicht bezahlen und mussten wieder ausziehen. Mams war hochschwanger, deswegen nahm uns ein befreundeter Künstler bei sich auf. Er selbst hatte auch Kinder, so dass für meinen Vater und meine Brüder kein Platz war. Sie kamen bei einem anderen Freund vom Theater unter.

Clara wurde am 3. April 1928 im Krankenhaus geboren, während wir bei diesen Freunden wohnten. Wir blieben dort aber nur eine Woche, weil es Pa gelungen war, eine Wohnung im Judenviertel zu finden. Mams erzählte mir, er habe gesagt, eine Familie dürfe man einfach nicht trennen, was einmal mehr zeigt, wie sehr er sich wegen seiner eigenen Erfahrungen nach einem liebevollen Familienleben sehnte.

In meiner Grundschule mussten die Kinder jeden Montag Schulgeld bezahlen, aber weil wir so arm waren, konnten wir das nicht. Jeden Montag ging ich hin und sagte, ich hätte das Geld vergessen. Zur Strafe musste ich dann in der Ecke stehen. Diese Ungerechtigkeit werde ich nie vergessen. Die Lehrer müssen doch gewusst haben, was da los war; es geschah schließlich jede Woche. Trotzdem war es für andere wohl schwer zu begreifen, wie arm wir tatsächlich waren, denn ich lief immer gut gekleidet herum. Meine Tante aus Leiden schickte uns die Kleidungsstücke, die ihrer Tochter Klaartje, die fünf oder sechs Jahre älter war als ich, zu klein geworden waren, und Mams änderte die Sachen immer sehr fachkundig um. Ich erinnere mich sogar daran, dass eine Lehrerin einmal zu mir sagte: »Wie, schon wieder ein neuer Mantel?«

Wahrscheinlich dachten die Leute also, wir wären ziemlich wohlhabend. Unsere Nachbarin wusste dagegen sehr gut, wie schlecht es uns ging, denn eines Tages machte sie uns ein sehr liebes Geschenk: eine Banane, die meine Mutter für Clara mit dem Löffel zerdrückte. Sehnsüchtig schaute ich zu und bekam auch einen Teelöffel davon. So etwas Köstliches!

Das Leben in solcher Armut wirkte sich auf meine Gesundheit aus. Im folgenden Jahr – damals war ich sieben – wachte ich eines Tages mit hohem Fieber auf. Ich fing an zu schreien und brach dann zusammen. Meine Eltern holten den Arzt, und der erklärte, ich hätte Lungenentzündung und Pleuritis, eine Entzündung des Rippenfells, durch die sich Flüssigkeit in meinem Lungengewebe und der Umgebung angesammelt hatte. Doktor Antonie Menco entschied, mich sofort zu operieren und den Eiter zu entfernen. Er ordnete an, mein Vater solle ihm assistieren. Aus einigem Abstand musste mir Pa etwas aus einer Spritze auf den Rücken sprühen, während der Arzt eine Nadel hineinsteckte, um die Flüssigkeit herauszuziehen. Es fühlte sich an wie eiskaltes Wasser, aber inzwischen ist mir klar, dass mir Pa ein Betäubungsmittel auf den Rücken sprühte. Mams musste mich sehr gut festhalten, damit ich mich nicht bewegen konnte. Während der Operation kam mein ältester Bruder Louis wie immer singend und pfeifend nach Hause. Doktor Menco rief: »Tür zu und Ruhe! Oder willst du vielleicht, dass deine Schwester stirbt?«

Armer Louis – er hatte ja keine Ahnung, was da gerade vor sich ging, aber er gehorchte. Mein Vater sagte immer, Doktor Menco habe mir das Leben gerettet. Zum Dank schickte er ihm eine große Schachtel Zigarren. Später ging ich auf dieselbe weiterführende Schule wie Doktor Mencos Tochter, und es bereitete mir großes Vergnügen, ihr die Geschichte von der fachkundigen Behandlung durch ihren Vater zu erzählen.

Ich war lange krank. In der Wohnung, in der wir lebten, war es sehr kalt und feucht, was natürlich nicht gut für mich war. Als es mir nicht besser ging, brachte man mich in ein Sanatorium in Laren in der Region ’t Gooi, wo die Luft besser war als im Stadtzentrum von Amsterdam. Man glaubte, ich hätte vielleicht Tuberkulose. Mein Cousin David Roet war aus demselben Grund dort, aber im Männerflügel. Jeden Tag schob man die Patienten mit Bett und allem Drum und Dran nach draußen auf die Veranda, sogar im Winter, wenn Schnee lag und es fror. Die Veranda befand sich an einer langen Seitenwand des Sanatoriums; die Betten der Kinder stellte man links ab, die der Erwachsenen rechts.

Eines Tages brachte mir mein Vater sechs prächtige Erdbeeren mit. Sie lagen auf Watte in einer Schachtel. In dieser Zeit importierte man im Winter nur wenig Erdbeeren, und wenn man sie also überhaupt bekommen konnte, kosteten sie ein Vermögen; das war etwas ganz Besonderes, und sie sahen einfach nur herrlich aus. Ganz offensichtlich verdiente Pa wieder besser, und auf diese Weise wollte er mir seine Liebe zeigen und mich aufmuntern. Bei seinem nächsten Besuch fragte er mich, wie die Erdbeeren denn geschmeckt hätten, und ich musste zugeben, dass ich sie nicht hatte essen dürfen. Wütend ging Pa zur Oberschwester, um eine Erklärung zu verlangen. Sie erwiderte, den Regeln zufolge müssten alle Mitbringsel beschlagnahmt und verteilt werden. Die Patienten durften Obst oder Süßigkeiten nicht behalten. Sechs Erdbeeren lassen sich natürlich nicht gut verteilen, deswegen vermute ich, dass jemand vom Personal sie aufgegessen hat.

Ein anderes Mal brachte mir Pa ein großes Bündel herrlicher Bananen mit, und davon versteckte ich eine, während man den Rest beschlagnahmte. Ich nahm die Banane mit auf die Toilette, um sie dort zu essen. Leider kam eine Schwester vorbei, die mich erwischte. Sie schrie böse herum und schubste mich ins Bett zurück. Sie presste mir ihre großen, kräftigen Fingerknöchel in die Schulter, genau an der Stelle, wo ich wegen der Rippenfellentzündung behandelt worden war. Bis heute, mehr als neunzig Jahre später, tut es dort weh, wenn ich erkältet bin oder mich aus Versehen stoße.

Obwohl ich sehr klein war, begriff ich, dass solche Geschenke sinnlos waren. Ich bat meine Familie, mir kein Obst mehr mitzubringen. Trotzdem taten sie es. Ich denke, sie brachten es einfach nicht übers Herz, mit leeren Händen zu erscheinen. Einer meiner Onkel schenkte mir einen wunderschönen Wasserfarbenkasten, aber den durfte ich nicht benutzen. Wahrscheinlich hatte das Pflegepersonal Angst, ich würde die Laken und Decken beschmutzen. Es herrschte ein entsetzlich strenges Regime. Einmal verließ ein Mädchen ohne Erlaubnis das Bett, und von diesem Moment an mussten alle Kinder eine Jacke mit langen Bändern tragen, und die wurden unter dem Bett festgebunden, so dass wir uns fast nicht mehr bewegen konnten. Meine Besucher konnte ich zur Begrüßung kaum noch küssen. Ich fühlte mich völlig erniedrigt. Man könnte sagen, dass das meine erste Erfahrung mit Gefangenschaft war, und vielleicht hat sie mich auch abgehärtet und mich besser auf das vorbereitet, was da kommen sollte. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, wie man damals Kinder behandelt hat, kommt mir das wirklich abschreckend vor.

Eigentlich hätte ich ein Jahr an diesem schrecklichen Ort bleiben sollen, aber schließlich durfte ich schon nach acht Monaten nach Hause. Während meines Aufenthalts dort hatte Pa wieder Erfolg gehabt, und die Familie war in ein schönes Haus in Diemen gezogen. Es gab ein Badezimmer und einen Garten, und es war nicht so feucht wie in der vorherigen Wohnung. Außerdem konnte sich mein Vater eine Pflegerin leisten, und darum stimmte man meiner Entlassung zu. Als ich das Sanatorium verließ, schenkte Pa in seiner üblichen Großzügigkeit allen Patienten einen Mürbekeks. Schon damals verkaufte man traditionelles jüdisches Gebäck in Dosen mit einem gelben Etikett. Er schickte ganz viele davon, so dass alle einen Keks bekamen.

Das neue Haus war wunderschön. Finanziell erlebten wir gute Zeiten, weil mein Vater einen der ersten Lunaparks der Niederlande leitete. Den gab es seit dem Sommer 1931 in Diemen. Der allererste Lunapark hatte auf Coney Island im New Yorker Stadtteil Brooklyn 1903 seine Tore geöffnet. Danach folgten mehrere in Amerika und Europa. Das Konzept war ein großer Erfolg, auf Zeitungsfotos sieht man lange Schlangen wartender Menschen. Der Park hatte einen festen Zirkus und eine Manege, in der ich reiten lernte. Ich fand es großartig. Es gab auch eine Gruppe Kleinwüchsiger, die wir damals noch als »Liliputaner« bezeichneten und die als Familie auftraten, und ich erinnere mich daran, wie der »Vater« bei uns zu Hause erschien, um sich auf die Stelle zu bewerben. Konzerte und Theateraufführungen fanden statt, es gab Dutzende von Ständen mit Spielen und eine Kunsteisbahn. Der Besitzer des italienischen Eisstands sagte, wir dürften immer vorbeikommen und umsonst Eis essen. Wir alle waren ganz verrückt nach Eis, deswegen schickte mich Pa nach dem Abendessen oft los, um eine große Schüssel zu holen.

Eine Zeitlang genossen wir also ein außergewöhnlich gutes Leben, doch unser Wohlstand sollte nur von kurzer Dauer sein. Der Börsenkrach in Amerika von 1929 stürzte auch unser Land in eine tiefe Krise. Die Geschäfte liefen immer schlechter, die Leute gaben kein Geld mehr für Vergnügungen wie Eisbahn und Kirmesspaß aus, wenn sie umsonst auf Grachten und Flüssen Schlittschuh laufen konnten, und Geld für Luxushobbys wie Reiten hatten sie auch nicht mehr. Der Lunapark musste geschlossen werden. Mein Vater versuchte, wieder in Künstlerkreisen und auf der Bühne zu arbeiten, aber auch dort herrschte Flaute. Er begann heftig zu trinken und kam immer wieder sturzbetrunken nach Hause. Wie er es jedes Mal sicher aus Amsterdam nach Diemen schaffte, ist mir ein Rätsel. Meine Mutter sagte immer: »Gott muss ganz besondere Schutzengel für ihn haben.«