Über das Buch
»Unter ihren Schuhsohlen knirschten die Scherben, und schon von der Tür aus sah Galina, dass sich hier ein erstaunlich riesiger Saal befand, mit den schönsten und prächtigsten Spiegeln, die sie jemals gesehen hatte.« Wie jedes Jahr verbringen die 12-jährigen Zwillinge Galina und Domingo im Herbst eine Woche bei ihrer strengen Tante Serafina. Öde ist das! Doch dann entdeckt Domingo in der alten Nachbarsvilla einen zerbrochenen Spiegel – und davor einen geheimnisvollen goldenen Würfel. Als eine Katze auftaucht, die verdächtig nach der Grinsekatze aus Alice im Wunderland aussieht und ein Wolf im Nachthemd durch die Villa läuft, der schwer an Rotkäppchen erinnert, beginnen die Geschwister zu ahnen, dass das alte Haus eine geheime Welt verbirgt. Kann es sein, dass den Spiegeln dabei eine besondere Bedeutung zukommt? Ein spannendes Kinderbuch über eine ganze Geschichten-Welt, die hinter den Spiegeln verborgen liegt.
Über die Autorin
Mona Herbst ist eine erfolgreiche Autorin, die unter anderem Namen bereits mehrere preisgekrönte Romane und Jugendbücher verfasst hat. Sie lebt auf dem bayrischen Land, wo sie ihre Liebe zu dicken Büchern und netten Cafés ungestört ausleben kann.
Mona Herbst
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlagillustration und Titelvignette: Alexandra Helm
eBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-1581-2
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An dem Tag, an dem Mrs Merlowski die zweite Katze in einer Woche zulief, lernte Galina, dass nichts einfach so passiert. Für alles gibt es einen Grund.
Seit Galina und ihr Bruder Domingo bei Tante Serafina wohnten, und das waren nun schon genau viereinhalb Tage, verbrachte Galina den Nachmittag im Garten. Der Garten war nicht groß. Es gab eine kleine, verwilderte Rasenfläche, auf der im Sommer Klee und Disteln blühten. Dazu einen alten Sandkasten, in dem Galina und Domingo früher gespielt hatten, und einen ausladenden Kirschbaum, in dessen Zweige ein Baumhaus gebaut war. Wenn man es so nennen konnte. Eigentlich war das Baumhaus nur eine Plattform aus Brettern mit maroden Seitenwänden und einem Stück Segeltuch darüber.
Galina liebte das Baumhaus mit derselben Kraft, mit der sie Tante Serafina hasste. Jeden Tag, nachdem sie und Domingo ihren Privatunterricht in Tante Serafinas Wohnzimmer abgesessen hatten, verschwand Domingo, um durch fremde Gärten zu streunen. Galina kletterte dann mit einem Buch und einer Decke in das alte Baumhaus. Domingo nannte sie, weil sie nicht mitkam, Feigling. Galina nannte sich selbst deswegen vernünftig. Manchmal klug und manchmal, was etwas seltener vorkam, Langweilerin.
An dem Tag mit der zweiten Katze hatten Domingo und Galina am Morgen gestritten, weil Domingo sagte, er würde es keinen Tag länger bei Tante Serafina aushalten. Und Galina hatte entgegnet: »Bald kommen Mum und Dad zurück, so wie immer. Stell dich nicht so an.«
Daraufhin hatte Domingo einen Wutanfall bekommen, was oft vorkam.
Es war die Woche vor dem 31. Oktober, die Woche vor Halloween. Diese Zeit im Jahr verbrachten sie immer – solange sie denken konnten – bei Tante Serafina. Daran war nicht zu rütteln.
Und nun saß Galina in ihrem Baumhaus über dem verwilderten Garten, mit einem Buch auf den Knien, das sie heute jedoch nicht einmal aufklappte. Sie ließ ihren Blick über den Garten schweifen und entdeckte Mrs Merlowski im Nachbargarten. Die ältere Dame schlenderte zwischen ihren Beeten umher und zupfte welke Blätter von den Rosensträuchern. Als sie zupfend und schlendernd den Gartenzaun erreicht hatte, legte Mrs Merlowski den Kopf in den Nacken und spähte zu Galina hinauf.
»Na, fleißig am Lesen?«, fragte sie.
Galina rutschte bis zur Kante der Plattform. »Nein. Ich denke nach«, sagte sie.
»Das ist gut«, erwiderte Mrs Merlowski und nickte. »Nachdenken ist eine sinnvolle Sache. Ich selbst denke den ganzen Tag über die unterschiedlichsten Dinge nach.«
»Worüber denn, Mrs Merlowski?«, wollte Galina von der Nachbarin wissen.
»Heute habe ich darüber nachgedacht, ob es möglich ist, einen Sandkuchen zu backen, der tatsächlich nach Sand schmeckt und trotzdem lecker ist.«
»Hmmm«, machte Galina.
»Und ich habe über die Katzen nachgedacht«, fügte Mrs Merlowski hinzu.
Sie trug eine grüne, viel zu große Latzhose, in der jede Menge Gartengerätschaften verschwinden konnten. In die Taschen dieser Hose stopfte sie nun ihre Hände. Es sah aus, als hätte sie in jeder Tasche ein Karnickel.
»Über die Katze«, verbesserte Galina, doch Mrs Merlowski schüttelte den Kopf.
»Nein, nein«, sagte sie. »Seit heute Morgen sind es
zwei.«
»Wo ist sie hergekommen, diese zweite Katze?« Galina lehnte sich so weit nach vorne, dass sie kurz Angst bekam, kopfüber aus dem Baumhaus zu fallen.
Mrs Merlowski wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich kann es natürlich nicht sicher sagen. Aber meine Vermutung ist, dass die Katzen von da drüben kommen.« Sie zog eine Hand aus der Hosentasche und deutete auf die andere Seite von Tante Serafinas Garten. »Sie kommen aus der Villa.«
»Aus der Villa?«, wiederholte Galina ungläubig. Mrs Merlowski nickte.
Genau auf der anderen Seite von Tante Serafinas Garten befand sich ein weitläufiges Grundstück. Der Rasen war gepflegt und die Hecken geschnitten. Manche hatten die Form von Kugeln oder Tieren. Es gab Rosenbeete und riesige Oleander, die im Sommer einen intensiven Duft verströmten. Im Gegensatz dazu sah das Haus halb verfallen aus. Es versteckte sich hinter einigen Essigbäumen, wie ein geducktes Tier. Galina hatte sich oft vorgestellt, wie das Haus früher ausgesehen haben mochte, mit den verschnörkelten Türmchen, den kleinen Balkonen, über die Kletterrosen rankten, und den Außentreppen, die sich um das Haus wanden.
»Haben Sie Madame Laurent nach den Katzen gefragt?«, wollte Galina wissen.
Madame Laurent wohnte in der Villa. Doch Galina hatte sie bis jetzt erst zwei oder drei Mal gesehen. Sie verließ so gut wie nie das Haus.
Mrs Merlowski schnaubte unwillig. »Nein, das habe ich natürlich nicht!«
Galinas Mutter hatte erzählt, dass Tante Serafina, Mrs Merlowski und Madame Laurent einmal gute Freundinnen gewesen waren. Aber das war lange her, ein böser Streit hatte sie auseinandergebracht, und seither hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Obwohl sie Nachbarinnen waren.
»Ich würde keinen Fuß mehr in Madame Laurents Garten setzen«, sagte Mrs Merlowski düster. »Und ganz ehrlich, Kindchen, das solltest du auch nicht!«, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu.
»Kann ich die Katzen sehen?« Galina setzte sich auf und ließ ihre Füße über die Kante baumeln.
»Das ist keine so gute Idee. Sie sind sehr scheu. Die eine habe ich ins obere Stockwerk gesperrt und die andere ins untere. Sie können sich nicht leiden. Sind sich spinnefeind.«
»Wie sehen sie denn aus?«, fragte Galina.
Mrs Merlowski kam noch einen Schritt näher an den Zaun und senkte ihre Stimme.
»Nun«, begann sie zögernd, »das ist ja das Seltsame. Die erste Katze, du hältst mich wahrscheinlich für verrückt, die erste Katze sieht aus wie der gestiefelte Kater.«
»Sie meinen, sie trägt Stiefel?«, hakte Galina nach.
Mrs Merlowski kratzte sich am Hinterkopf. Ihre Hand versank in einer Wolke aus stahlgrauen kleinen Löckchen. »So kann man es sagen.«
Galina versuchte ein Gesicht zu machen, als würde sie Mrs Merlowski nicht für verrückt halten. Es gelang ihr nicht.
»Du hältst mich doch für verrückt«, sagte Mrs Merlowski prompt.
»Oh nein!« Galina ließ sich vom Baumhaus plumpsen und landete direkt vor Mrs Merlowski auf den Knien. Sie rappelte sich auf und klopfte sich Erde und Laub von der Hose. »Oh nein. Es ist nur ungewöhnlich.«
»Das kann man wohl sagen.« Mrs Merlowski seufzte und machte ein bekümmertes Gesicht.
»Und die zweite Katze?«, fragte Galina gespannt. Insgeheim freute sie sich, dass sie nun auch etwas zu erzählen hatte, wenn Domingo nach Hause kam.
»Ja, die zweite Katze, die kam heute frühmorgens«, sagte die Nachbarin ausweichend. »Kratzte einfach an meiner Küchentür.«
»Wie sieht sie aus?«
»Gestreift«, sagte Mrs Merlowski.
»Sie meinen getigert«, verbesserte Galina sie.
»Wenn ich sage gestreift, dann meine ich auch gestreift. Ich habe in der Literatur nachgesehen …«
»Sie haben Katzenbücher?«
»Keine Katzenbücher! Ich sagte, Literatur! Und ich denke, ich weiß, wer sie ist!«
»Und? Wer ist sie?«
Mrs Merlowski holte tief Luft und schien mit sich zu ringen. Gerade als sie den Mund aufmachte, um zu antworten, hörte man die Sirene eines Krankenwagens näher kommen. Sie drehten sich beide um und sahen den hohen Kastenwagen in die Straße einbiegen. Statt an ihnen vorbeizufahren, hielt er mit quietschenden Bremsen direkt bei ihnen. Erschrocken sah das Mädchen dem Mann mit dem dunklen, gewellten Haar in die Augen. Er ließ die Fensterscheibe herunter und beugte sich ein wenig in ihre Richtung.
»Madame Laurent?«, fragte der Mann.
»Merlowski«, schnarrte Mrs Merlowski. »Madame Laurent wohnt dort.« Sie machte mit dem Kinn eine Bewegung Richtung Villa, und der Mann stieg aus dem Rettungswagen. Er trug die grüne Uniform eines Sanitäters und ging mit kurzen eiligen Schritten auf das Haus zu. Ihm folgte eine sehr blonde Frau mit einem riesigen Koffer. Er war so riesig, dass Galina überlegte, ob darin noch ein Mensch saß.
»Du glaubst es nicht«, murmelte Mrs Merlowski. Sie zog ein Stofftaschentuch aus ihrer Latzhose und schnäuzte lautstark hinein.
»Was?«, fragte Galina.
»Wie bitte«, mahnte Mrs Merlowski. »Das heißt: wie bitte.«
»Wie bitte?«, antwortete Galina folgsam. Noch immer hatte sie die Augen auf die Essigbäume gerichtet und versuchte, einen Blick auf die Eingangstür zu erhaschen. Die Sanitäter waren im Haus verschwunden. Man sah und hörte nichts.
»Am besten gehst du rein«, sagte Mrs Merlowski. »Du willst doch nicht, dass die Leute dich für neugierig halten.«
Galina nickte wieder folgsam und fragte sich, wieso Mrs Merlowski stehen blieb. Als hätte sie alle Zeit der Welt und wäre furchtbar neugierig.
»Außerdem dämmert es schon«, erklärte Mrs Merlowski. »Für mich als Kind war das immer das Zeichen, dass ich nach Hause musste.«
Diese Regel gab es bei Tante Serafina glücklicherweise nicht! Galina hörte das Krächzen eines Raben und hob den Blick gen Himmel. Zwei schwarze Silhouetten segelten dort oben wie Fische, die in einem grauen Meer schwimmen. Tatsächlich neigte sich der Tag dem Ende entgegen. Nasskalter Nebel schlich sich zwischen die Essigbäume und umarmte die Baumstämme. Die schwarzen Schatten glitten sanft über die Häuserwände. Galinas Blick schweifte wieder zurück zur Fassade der heruntergekommenen Villa. Je dunkler es wurde, desto gespenstischer wirkte das zuckende Blaulicht des Rettungswagens, das die Front des alten Gebäudes beleuchtete.
Mrs Merlowski hatte inzwischen anscheinend komplett vergessen, dass sie Galina hatte ins Haus schicken wollen. Wie gebannt beobachteten sie beide die Eingangstür der Villa. Sie wurde gerade von innen geöffnet, und die sehr blonde Frau kam heraus. Sie ging mit schnellen Schritten zurück zum Rettungswagen, ihre Haut wirkte von all den zuckenden Lichtblitzen ungesund bläulich. Mit viel Gerumpel zog sie eine Trage aus dem Wagen und schob das widerspenstige Teil über den Weg zur Villa. Mrs Merlowski murmelte etwas vor sich hin. Etwas darüber, dass sie es schon immer gewusst hatte. Und dass man nur hoffen konnte. Galina bekam kalte Füße.
Dann ging die Tür der Villa wieder auf, und die Trage wurde mit viel Geschepper über den gepflasterten Weg zurück zum Wagen geschoben. Darauf lag, halb aufgerichtet, eine kleine Gestalt. Um ihren Kopf war ein blütenweißer Verband gewickelt, aus dem ein Dutt aus dünnen weißen Haaren herausragte. Einige Haare hatten sich gelöst und umwehten den riesigen Verband. Eine goldene Rettungsfolie bedeckte die alte Dame bis zur Brust, aber auch darunter schien alles, was Madame Laurent trug, zu glitzern. Ein langer, golddurchwirkter Schal flatterte hinter der Trage her, und die Schuhe, die unter der Folie hervorguckten, waren schwarze Lederstiefelchen mit aufwendigen goldenen Ornamenten. Selbst die Ärmel der schwarzen Jacke waren mit glitzernden Steinchen besetzt und funkelten bläulich im zuckenden Licht des Rettungswagens.
Mrs Merlowski schnappte nach Luft und beugte sich sehr schnell über den Zaun, um Galina die Hände auf die Augen zu legen. Anscheinend wollte sie verhindern, dass Galina sich erschreckte. Aber der kurze Augenblick hatte schon gereicht, dass diese das Gesicht von Madame Laurent gesehen hatte.
»Geh nach Hause, Mäuschen«, sagte Mrs Merlowski. »Madame Laurent ist schon wieder die Treppe hinuntergefallen.«
»Schon wieder«, wiederholte Galina, während sie durch die faltigen Finger linste. So konnte sie trotzdem erkennen, dass die Frau auf der Trage ein riesiges blaues Auge hatte und ihre Wange blutverschmiert war.
»Ja, schon wieder. Das letzte Mal musste ich wochenlang ihre Katzen füttern!«
Durch die Ritzen zwischen den Fingern konnte Galina sehen, dass Madame Laurent ihnen einen drohenden Blick zuwarf.
»Ich fasse es nicht«, murmelte Mrs Merlowski, und die Finger verrutschten nun so, dass Galina sehr gut sehen konnte, was die alte Dame aus der Villa machte. Sie hob nämlich eine Hand. Vielleicht um zu winken. Vielleicht war es aber auch eine Art Stopp-Zeichen, so als wollte sie alle daran hindern, näher zu ihr zu treten. Dabei rutschte der Ärmel ihrer flattrigen Jacke bis zum Ellbogen zurück, und man sah ganz deutlich einige rote entzündete Kratzer in der hellen Haut.
Erst als sich die Türen des Rettungswagens hinter der Trage schlossen, nahm Mrs Merlowski ihr wieder die Hände von den Augen. Sie seufzte. »Ja, ja, das Alter«, sagte sie, als würde das alles erklären.
»Darf ich Ihnen mit den Katzen helfen?« Galina blieb ausnahmsweise beharrlich. Nichts liebte sie mehr, als sich um Tiere zu kümmern. Schon seit Jahren wünschte sie sich einen kleinen Hund, aber ihre Eltern hatten ihr das nie erlaubt. Vielleicht hatte ja Madame Laurent einen kleinen Hund, den sie mit zu Tante Serafina nehmen und dann einfach behalten könnte.
»Nein«, antwortete Mrs Merlowski energisch.
Enttäuscht presste Galina die Lippen aufeinander.
»Madame Laurent hat überhaupt keine Haustiere, mein Schätzchen«, sagte Mrs Merlowski schließlich freundlich. »Sie hat kein Herz für Tiere. Außerdem hat sie eine sehr schlimme Tierhaarallergie. Besonders gegen Katzen. Und gegen Hunde. Und sie fängt fürchterlich zu niesen an, wenn sie eine Schildkröte sieht.«
Ungläubig starrte Galina sie an.
»Sie bringt es nicht einmal fertig, ihre Zimmerpflanzen am Leben zu halten. Tiere wären bei ihr nicht gut aufgehoben.« Damit drehte sich die alte Dame um und ging zielstrebig in ihr Haus zurück.
»Ich dachte, Sie hätten damals ihre Katzen gefüttert?«, sagte Galina, mehr zu sich selbst.
Dann erlosch das Blaulicht, und der Rettungswagen fuhr rumpelnd los.
Die Geschichte von Madame Laurent und dem Rettungswagen erzählte Galina zuerst nicht beim Abendessen. Die Nachbarvilla oder ihre Bewohnerin zu erwähnen war meist keine gute Idee. Wie jeden Abend versammelten sie sich im Esszimmer. Der Tisch war dunkel und lang, und weil Tante Serafina immer sehr sparsam war, war der Raum nicht gut beleuchtet. Domingo saß auf seinem Stuhl, rutschte hin und her und kaute lautstark an einem Stück Brot.
»Domingo«, mahnte Tante Serafina. »Muss ich dich daran erinnern, was wir ausgemacht haben?«
»Nein, Tante Serafina«, antwortete Domingo.
Sein Blick glitt von seinem Teller zu Galina und danach zum Fenster, als gäbe es dort etwas zu sehen. Dabei hibbelte er so auf seinem Stuhl herum, dass er mit dem Fuß Galinas Schienbein erwischte. Sie verzog den Mund, sagte aber nichts.
»Seid ihr mit euren Aufgaben fertig?«
»Ja, Tante Serafina«, antworteten Domingo und Galina im Chor, doch Domingo verdrehte dabei die Augen.
Galina wusste genau, dass Domingo keineswegs mit seinen Aufgaben fertig war. Er würde sie nachher in aller Eile von Galina abschreiben und dann um neun Uhr so tun, als hätte er sie selbst gemacht. Jeden Tag um neun Uhr abends mussten Galina und Domingo in Tante Serafinas Bibliothek ihre Aufgaben vorzeigen. Während Tante Serafina sie korrigierte, durften sie sich ein Buch zum Lesen aus den Regalen nehmen. Aber nur aus den zwei untersten. Alle anderen waren für die Kinder verboten.
»Hast du gesehen, was mit Madame Laurent passiert ist?«, platzte Galina da heraus. Das war eine ihrer Eigenarten, über die sie sich selbst fürchterlich ärgerte. Sie konnte nichts für sich behalten. Domingo verdrehte schon wieder die Augen.
Tante Serafina warf ihr einen kurzen Blick zu.
»Mrs Merlowski sagt, sie ist die Treppe hinuntergefallen.« Galina schob ihr Stück Brot auf dem Teller herum. Sie hatte keinen Hunger. Sie musste immerzu an Madame Laurent und die Katzen denken.
»Spiel nicht mit dem Essen, Galina. Du solltest etwas mehr Respekt davor haben«, bemerkte Tante Serafina. »Und du, Domingo, stopf das Essen nicht so in dich hinein. Haben eure Eltern euch keine Tischmanieren gelehrt?«
Sie runzelte die Stirn, und Galina vermisste mit einem Mal ihre Eltern so stark, dass ihr das Herz wehtat. Was hatte ihre Mutter beim Abschied gesagt? »Nur eine Woche, Mäuschen, nur eine klitzekleine, kurze Woche. So wie immer. Du weißt doch, dass wir zu dieser Zeit immer etwas in einem anderen … Land zu erledigen haben.«
Wenn Galina wissen wollte, welches Land das sei, bekam sie nie eine Antwort.
»Was soll schon mit Madame Laurent passiert sein?«, fügte Tante Serafina nach einer Weile hinzu. »Sie müsste längst in einem Heim sein.«
Galina hatte nicht den Eindruck, dass Madame Laurent so alt war, dass sie in ein Heim gehörte. Aber das sagte sie nicht. Tante Serafina zu widersprechen war ebenfalls keine gute Idee.
»Alle paar Wochen stößt ihr etwas zu. Es ist eine Zumutung für die Nachbarn. Diese Aufregung. Dieser Lärm!« Tante Serafina schüttelte den Kopf.
»Vielleicht braucht sie Hilfe«, bemerkte Galina zaghaft.
»Ich bin nicht die Heilsarmee, Kindchen«, erwiderte Serafina und schnaubte durch die Nase. »Mein eigenes Leben ist anstrengend genug. Da kann ich mich nicht auch noch um die Nachbarn kümmern.«
»Ich dachte ja nur …« Galina senkte den Blick.
Sie spürte erneut den Fuß ihres Bruders. Diesmal sanfter. Als sie ihn ansah, zwinkerte er ihr zu.
»Doofe Alte«, formten seine Lippen lautlos, und Galina musste grinsen.
Später, als Domingo und Galina in ihren Betten lagen, brannte Galina darauf, ihrem Bruder die Geschichte von den Katzen zu erzählen. Nachdem sie während des restlichen Abendessens, des Korrigierens der Aufgaben, des Zähneputzens und Haarekämmens über die Katzen nachgedacht hatte, war sie zu dem Schluss gekommen, dass Mrs Merlowski verrückt sein musste.
Die Geschwister bewohnten zusammen das oberste Zimmer im Haus. Es hatte vier Dachschrägen, unter die sich ihre Betten schmiegten. Eigentlich wäre das Zimmer sehr gemütlich gewesen – wenn es sich nicht in Tante Serafinas Haus befunden hätte. Von den Fenstern aus konnte man sowohl die Villa als auch Mrs Merlowskis Haus sehen. Bevor Galina ins Bett schlüpfte, blickte sie noch einmal zu der Villa hinüber. Alles war dunkel. Sie konnte nur die düstere Silhouette des Daches und einige Zweige der Essigbäume gegen den Himmel erkennen. Mrs Merlowskis Haus dagegen war hell erleuchtet, und ab und zu konnte Galina sogar Mrs Merlowskis Schatten sehen, der sich im oberen Stockwerk bewegte.
Als Tante Serafina das Licht in ihrem Zimmer ausgemacht hatte und ihre Schritte auf der Treppe verklungen waren, drehte sich Galina auf die Seite und sah zu Domingo hinüber.
»Ich muss dir etwas erzählen«, flüsterte sie so leise wie möglich, denn sie hatte Angst, dass Tante Serafina sie hören konnte. Tante Serafina hatte ihre Ohren überall.
»Ich muss dir auch etwas erzählen«, flüsterte Domingo zurück.
»Mrs Merlowski ist sehr seltsam«, begann Galina, doch Domingo hatte schon seine Taschenlampe, die er immer unter der Matratze versteckte, eingeschaltet und hüpfte über den kalten Boden zu ihr hinüber.
»Mach Platz.« Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen ans Fußende ihres Bettes. »Schau, was ich heute gefunden habe.«
Domingos Augen leuchteten. Sie leuchteten immer, wenn er etwas Verbotenes getan hatte. Er führte ein Notizbuch der verbotenen Dinge. Wenn ihre Eltern da waren, beschränkten sich seine Einträge auf wenige Stichpunkte wie:
– Heute einen Kaugummi runtergeschluckt!
– In der Schule von Marvin abgeschrieben!
– Mr Larsons Hund Gassi geführt. (Galinas Mutter mochte weder Mr Larson noch seinen Hund, der ziemlich bissig war.)
Die Zeiten bei Tante Serafina waren da um einiges ergiebiger, denn bei ihr war so ziemlich alles verboten. Das Grundstück verlassen. Schokolade naschen. Zu viele Fragen stellen. Überhaupt Fragen stellen. Und so war es für Domingo ein Leichtes, sein Notizbuch weiter zu füllen.
Nun lag auf seiner ausgestreckten Hand ein goldener Würfel. Selbst für Domingo war dies ein ganz besonderer Fund. Galina nahm den Würfel. Er fühlte sich warm an. Als sie ihn hin- und herdrehte, sah sie, dass in das Gold seltsame Zeichen eingeprägt waren. Eines sah aus wie ein Auge.
»Wo hast du den her?«, wollte sie wissen.
»Aus Madame Laurents Villa!«, erwiderte Domingo stolz.
Galinas Herz begann laut zu pochen. »Du machst Witze!«, sagte sie laut, und Domingo hielt ihr sofort den Mund zu.
Die Geschwister lauschten einen Moment in die Stille.
»Du machst Witze«, wiederholte Galina im Flüsterton.
Ihr Bruder schüttelte den Kopf, sodass seine wilden schwarzen Locken flogen. »Du hast doch mitbekommen, dass Madame Laurent von den Sanitätern abtransportiert wurde«, wisperte er. »Ich habe währenddessen in einem von den Essigbäumen gesessen.«
»Du hast Nerven!« Galina drehte den Würfel in ihrer Hand hin und her. Er glänzte verführerisch.
»Und als sie weg waren, bin ich rein.«
»Wie bist du reingekommen?«, wollte Galina wissen.
»Ein Kellerfenster stand offen. Wahrscheinlich wollte Madame Laurent lüften, wegen dem Rauch, und dann hat sie es vergessen.«
»Welcher Rauch?«, fragte Galina atemlos.
»Als ich reinging, stank es überall nach Rauch. Ich bin die Treppen hoch, und der Rauch wurde dichter. Überall lagen Dinge herum. Ein zerbrochenes Tischchen, Scherben von einer Blumenvase, und auch zwei der hundert Spiegel waren zerbrochen.«
»Hundert Spiegel?«
»Ja.« Domingo flüsterte nun so leise, dass Galina ihn kaum verstehen konnte. Sie rückte näher, bis ihre Köpfe sich beinahe berührten. »Die ganze Villa ist voller Spiegel. Von oben bis unten. Und den Würfel habe ich in den Scherben gefunden. In den Spiegelscherben!«
Es gibt nur wenige Personen, die die Spiegelwelt betreten haben und zurückgekehrt sind. Die Spiegelwelt ist voller Versuchungen. Man vergisst die Zeit. Man vergisst, weswegen man da ist, und man vergisst, wohin man wollte. In der Spiegelwelt darf man nur dreizehn Tage verweilen. Am vierzehnten Tag vergisst man seinen Namen und die Lieben, die man in seiner eigenen Welt zurückgelassen hat. Wenn man Pech hat, ist man auf ewig in den Spiegeln gefangen.
Dies gilt für Menschen, die in der wirklichen Welt geboren sind. Menschen aus der wirklichen Welt, der Welt, wie du sie kennst, verirren sich selten in die Spiegel. Ihre eigene Eitelkeit hindert sie daran, denn sie sehen nur sich selbst. Sie können nur ihr eigenes Gesicht im Spiegel erkennen und nicht, dass der Spiegel ein Portal ist. Eine Tür, durch die man hindurchschlüpfen kann. Und je eitler ein Mensch ist, desto unmöglicher ist es ihm, durch diese Welten zu wandern. Er wird immer nur sich selbst sehen und sonst nichts.
Dann aber gibt es Spiegelspringer, manche nennen sie auch Geschichtenspringer. Sie sind überall zu Hause. Sie bewegen sich flink durch alle Welten. Hüpfen von Spiegelwelt zu Spiegelwelt, von Geschichte zu Geschichte, und ab und zu statten sie sogar der Menschenwelt, unserer Welt, einen Besuch ab. Geschichtenspringer sind oft kleine Personen mit Sommersprossen und lockigem Haar, in seltenen Fällen kann es aber auch glatt sein. Zwischen den Schulterblättern haben sie manchmal kleine Flügel, die man normalerweise nicht sehen kann, weil sie sie mit einem Umhang oder einer großen Jacke verdecken. Oft tragen sie Pfeil und Bogen bei sich. Oder ein gebogenes Horn.
Man sagt, sie haben kein klares Spiegelbild, und das ist der Grund, weswegen sie springen können.
Es kann sein, dass du so eine Person schon mal in einem Traum gesehen hast. Oder du dachtest, es ist ein Traum, dabei ist der Geschichtenspringer durch den Spiegel geschlüpft, der in deinem Zimmer hängt. Das ist möglich, solange der Spiegel einen goldenen Rahmen hat und nicht zerbrochen ist.
Aber die meisten, denen dies passiert, drehen sich nach einem kurzen Blinzeln einfach auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, während der Geschichtenspringer eine kurze Verschnaufpause einlegt, sich im Zimmer umsieht und vielleicht irgendein Teil in seinem Umhang verschwinden lässt. Etwas Glitzerndes, Kleines, denn Geschichtenspringer sind wie freundliche Elstern.
Der nächste Tag war einer dieser nebeligen Oktobertage, die einem schlecht gelaunt ins Gemüt kriechen. Galina hatte unruhig geschlafen. In ihren Träumen waren Spiegel vorgekommen, die allesamt zerbrochen waren, und ein Berg goldener Würfel, die immer wieder ins Rutschen gerieten und am Schluss durchs ganze Haus kullerten, alle Möbelstücke umwarfen und Madame Laurent unter sich begruben.
In der Morgendämmerung wachte Galina auf, mit klopfendem Herzen und kaltem Schweiß auf der Stirn. Sie zog sich schnell die dicken Wollsocken an, die ihre Mutter ihr mitgegeben hatte. Du weißt doch, wie wenig Tante Serafina heizt. Da ist es wichtig, dass du deine Füße warm hältst!
Ihr Bruder schlief noch. Er lag auf dem Bauch und hatte sein Kissen im Arm. Sein Mund stand leicht offen, und sie hörte seinen Atem. Auf dem Nachtkästchen lag der geheimnisvolle goldene Würfel. Das Zeichen, das wie ein Auge aussah, blickte nach oben und schien sich das Zimmer anzusehen. Galina fröstelte und setzte sich auf Domingos Bett.
»Ich habe ganz schlecht geschlafen«, flüsterte sie.
»Mmh«, machte Domingo, der offensichtlich gar nicht schlecht geschlafen hatte und gerne noch weitergeschlafen hätte.
»Du hättest nicht in die Villa gehen dürfen«, wisperte sie weiter. »Du weißt doch, dass wir weder ins Haus von Mrs Merlowski noch in die Villa von Madame Laurent gehen dürfen!«
»Nicht einmal, wenn sie uns bitten«, bestätigte Domingo und schlug die Augen auf, die wieder begeistert leuchteten. Mit einem unguten Gefühl im Bauch zog Galina die Füße an und steckte sie unter die Bettdecke ihres Bruders. Nach kurzem Zögern setzte er hinzu: »Sie hätte mich auch nie gebeten, hereinzukommen.«
Da war sich Galina auch sicher. Als ihr Blick wieder zu dem goldenen Würfel schweifte, sah sie Madame Laurent vor sich. Das Blut im Gesicht und das blaue Auge. Und die Hand, die sie wie als Stopp-Zeichen erhoben hatte. Jetzt kam es ihr so vor, als wäre diese Geste genau an sie gerichtet gewesen. Was natürlich unlogisch war, denn Mrs Merlowski hatte ihr ja die Augen zugehalten. Doch gerade jetzt hatte sie auch den Eindruck, dass der Würfel genau sie anblickte und das goldene Auge ihr zublinzelte.
»Der Würfel muss zurück«, flüsterte Galina.
»Spinnst du?«, fragte Domingo und zog sich die Bettdecke über den Kopf. »Ich habe keine Lust, noch einmal in das Haus einzusteigen!«, hörte sie ihn darunter dumpf sagen. »Das war richtig gruselig.«
Besorgt zog Galina ihm die Bettdecke vom Kopf.
»Es sah aus, als hätte dort ein Kampf stattgefunden. Mit wilden Bestien.«
»Quatsch«, antwortete Galina mit gerunzelter Stirn. »Sie hat ja nicht einmal Haustiere.«
»Sie hat garantiert Haustiere«, erwiderte Domingo.
»Hat sie nicht. Hat Mrs Merlowski mir gesagt.«
»In der Küche stehen Fressnäpfe«, erzählte Domingo ihr. »Goldene Fressnäpfe!«
»Echt?«, fragte Galina.
»Natürlich. Wieso sollte sie Fressnäpfe haben, wenn sie keine Tiere hat?«
Eine Weile betrachteten beide den Würfel, und für eine Sekunde hatte Galina den Eindruck, er hätte sich bewegt. Als wäre der Würfel am liebsten weitergerollt, um sich mit seinem Auge einen anderen Teil des Zimmers anzusehen.
Was für ein Unsinn!
»Der Würfel muss zurück. Das machst du heute gleich nach unserem Unterricht!«, beharrte Galina.
»Nein«, antwortete Domingo und zog sich wieder die Bettdecke übers Gesicht. »Das Haus ist unheimlich. Ich will nicht noch mal da reingehen«, gestand er dumpf unter der Decke.
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen.«
Domingo warf die Bettdecke zurück und setzte sich auf. »Ich hatte ständig das Gefühl, dass in dem Haus etwas lauert. Etwas wirklich Ekelhaftes.« Er machte mit beiden Armen eine Bewegung, als wolle er etwas Riesiges umfangen. »Etwas echt Großes und Bissiges.«
»Dann verstehe ich nicht«, antwortete Galina mit lehrerhafter Stimme, »wieso du nicht einfach wieder hinausgelaufen bist.«
»Weil er mit mir mitwollte!«
»Wer?«
»Der Würfel. Er wollte nicht in dem Haus bleiben! Ich konnte nicht anders, ich musste mich bücken, ihn aufheben, und erst dann konnte ich hinauslaufen.«
»Du redest so einen Unsinn!«, erwiderte Galina und verdrehte die Augen. »Manchmal kann ich überhaupt nicht glauben, dass wir Zwillinge sind!«
»Galina! Domingo!«, hörten sie ihre Tante von unten rufen.
»Der Würfel muss zurück!«, zischte Galina ihrem Bruder zu. »Ob du dich fürchtest oder nicht!«
Normalerweise waren Galinas und Domingos Tage von ihrer Tante Serafina bis ins letzte Detail durchgeplant. Doch dieser Tag begann mit einer Überraschung. Tante Serafina hatte außer Haus zu tun, die beiden Kinder sollten alleine in der Küche frühstücken und danach ihre Haushaltspflichten erledigen. Tante Serafina hatte sich einen langen schwarzen Wollmantel angezogen, der mit schwarzen und roten Ornamenten bestickt war, und einen alten Hut aufgesetzt, der einen penetranten Geruch nach Mottenkugeln ausdünstete.
»Im Kühlschrank stehen noch Reste vom Mittagessen«, sagte sie zu Galina. »Die wärmt ihr euch auf. Ich muss einige Einkäufe machen.«
»Du bleibst über Mittag weg?«, fragte Domingo mit vollem Mund, was ihm einen tadelnden Blick der Tante einbrachte.
»Sprich nicht mit vollem Mund! Kau anständig, und trink einen Schluck, bevor du wieder sprichst!«, fauchte sie ihn an.
Domingo schluckte und nickte, statt zu sprechen. Den bitteren Tee von Tante Serafina entsorgten sie regelmäßig im Spülbecken, ihn zu trinken kam einfach nicht infrage.
»Und nach dem Essen wird abgespült, abgetrocknet und der Tisch abgewischt. Die Geschirrtücher werden zum Trocknen aufgehängt. Und lasst das Spülwasser ablaufen, nicht wie letztes Mal!« Tante Serafinas Blick verfinsterte sich. »Und wenn Mrs Merlowski klingelt …« – Mrs Merlowski klingelte nie bei ihnen –, »dann unterhaltet euch nicht mit diesem schwatzhaften Wesen! Sagt ihr, ich hätte Erledigungen zu machen!« Sie unterbrach sich selbst. »Nein, sagt ihr gar nichts! Macht die Tür nicht auf und lasst sie klingeln, so viel sie will.«
Sprachlos nickte Galina und warf Domingo einen Blick zu. Der schaufelte weiter seinen Haferbrei in sich hinein, ohne den Blick zu heben. »Ja, Tante Serafina«, sagten sie gehorsam und wie aus einem Mund.
Noch immer hing der Geruch von Mottenkugeln und Lavendel in der Küche. Domingo aß schweigend, obwohl er sich jetzt hätte beschweren können, dass der Brei nicht süß genug war. Als er fertig war, schütteten sie beide ihren Tee in den Ausguss, Galina spülte, und Domingo trocknete das Geschirr ab.
Dabei sah Galina aus dem Fenster, hinüber zu der Villa, die im morgendlichen Dunst kaum zu sehen war. Gründlich wischte sie den Tisch ab, und als die Geschwister sich danach einen Blick zuwarfen, nickte Domingo nur.
Galina wartete in der Diele, und während Domingo sich die Schuhe anzog, hielt sie nachdenklich den Würfel in der Hand. Er fühlte sich ein wenig kühl an, die Symbole wirkten wie Verzierungen. Kein Grund, Angst davor zu haben.
Draußen roch es nach Kohlenrauch und Abgasen, und während Galina hinter ihrem Bruder herging, versuchte sie, nicht darüber nachzudenken, was sie erwartete. Sie kletterten über den Gartenzaun und wateten durch das raschelnde Laub auf die Villa zu, die gespenstisch aus dem dichten Morgennebel auftauchte.
»Hier«, sagte Domingo und zeigte auf ein schmales Fenster im Keller, das nur angelehnt war.
Er kletterte hindurch. Sie rutschte hinter ihm her und landete mit einem lauten Knall auf dem Fußboden.
»Pscht!« Erschrocken sahen sie sich um und lauschten, aber es war nichts zu hören.
Auch das Haus schien zu lauschen. Galina krallte ihre Hand in Domingos Arm. »Was, wenn wir den Würfel einfach hier ablegen?«, fragte sie leise.
Doch sie ahnte, dass das Unsinn war. Der Würfel musste wieder dorthin, wo er hergekommen war. Zu den Scherben unter dem Spiegel.
Einen kurzen Moment sahen sich die Geschwister in die Augen, dann durchquerten sie hintereinander den Keller. Domingo ging voran. Die Kellerräume waren duster, und Galina wunderte sich, dass Domingo sich hier so gut zurechtfand. An den Wänden waren mit weißen Leintüchern verhängte Bilder gestapelt. Galina vermutete, dass es Bilder waren, weil sie das von ihren Eltern kannte. Bilder, die ihre Mutter nicht mehr ansehen wollte, trug sie auf den Dachboden und breitete Tücher darüber, damit sie nicht verstaubten. Im Vorbeigehen zog Galina eines der Tücher ein Stück zur Seite.
»Domingo«, rief sie leise. »Sieh mal, das sind auch Spiegel.«
Ihr Bruder blieb stehen und drehte sich zu ihr herum.
»Kaputte Spiegel«, ergänzte Galina nachdenklich.
Sie zog das Tuch ganz hinunter. Dahinter entdeckte sie fünf goldene Spiegel: einen runden, einen ovalen, einen quadratischen und zwei rechteckige, die allesamt zersprungen waren.
»Komisch«, murmelte sie. »Warum behält Madame Laurent kaputte Spiegel?«
»Wahrscheinlich sind sie wertvoll«, sagte Domingo. »Komm jetzt. Mir ist kalt!«
Sorgfältig breitete Galina das Tuch wieder über die Spiegel und beeilte sich dann, ihrem Bruder zu folgen. Er stieg vor ihr eine enge Stiege nach oben und stieß an ihrem Ende eine Tür auf. Zögerliches Tageslicht fiel durch den Spalt.
»Hier lang«, sagte Domingo und schob einen dicken Samtvorhang zur Seite.
Es roch nach Schwefel. Nur ganz leicht, doch Galina kannte den Geruch aus dem Chemieunterricht. Sie rümpfte die Nase. Die Geschwister schlüpften durch den Vorhang hindurch und standen in einer großen Eingangshalle.
»Da staunst du, was?«, flüsterte Domingo. »Und oben wird es noch besser.«
Sämtliche Wände der Halle hingen voller goldener Spiegel. Überall standen Spiegel. Und selbst an der Decke waren welche befestigt. Der Anblick war so verwirrend, dass Galina kurz schwindelig wurde. War dort zwischen den Spiegeln wirklich ein Gang? Oder war es nur eine Spiegelung? Und wo befand sie sich? Ihr eigenes Spiegelbild wurde hundertfach zurückgeworfen.
»Das ist doch verrückt!«, sagte Galina.
»Finde ich auch. Die Alte hat nicht alle Tassen im Schrank. Ich wollte dir nichts davon erzählen, aber ich beobachte sie schon seit ein paar Tagen. Von den Essigbäumen aus. Da hat man einen prima Blick in ihre Fenster.«
»Und was tut sie so den ganzen Tag?«, wollte Galina wissen.