»Cherringham – Landluft kann tödlich sein« ist eine Cosy Crime Serie, die in dem vermeintlich beschaulichen Städtchen Cherringham spielt. Jeden Monat erscheint sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch ein spannender und in sich abgeschlossener Fall mit dem Ermittlerduo Jack und Sarah.
Jack Brennan ist pensioniert und frisch verwitwet. Er hat jahrelang für die New Yorker Mordkommission gearbeitet. Alles, was er nun will, ist Ruhe, und da scheint ihm ein Hausboot im beschaulichen Cherringham in den englischen Cotswolds als Alterswohnsitz gerade richtig. Doch etwas fehlt ihm: das Lösen von Kriminalfällen. Etwas, das er einfach nicht sein lassen kann.
Sarah Edwards ist eine 38-jährige Webdesignerin und führte ein perfektes Leben in London samt Ehemann und zwei Kindern. Dann entschied sich ihr Mann für eine andere. Mit den Kindern im Schlepptau versucht sie nun in ihrer Heimatstadt Cherringham ein neues Leben aufzubauen. Das Kleinstadtleben ist ihr allerdings viel zu langweilig. Doch dann lernt sie Jack kennen …
CHERRINGHAM
LANDLUFT KANN TÖDLICH SEIN
Spuren an Deck
Aus dem Englischen von Sabine Schilasky
Vorsichtig ging Ray Stroud auf dem weißen Mittelstreifen der Straße, die zur Cherringham Bridge führte. Es war so verflucht dunkel in dieser Nacht. Nicht mal der Mond schien, und Ray konnte kaum die Grasstreifen zu beiden Seiten sehen, geschweige denn die Felder, von denen er wusste, dass sie irgendwo hinter den Hecken lagen.
Beim Verlassen der zweiten Party – oder war es die dritte gewesen? – hatte er mit sich selbst gewettet, dass er es bis zur Brücke schaffen würde, ohne mit einem Auto oder einem übersehenen Laternenpfahl zu kollidieren. Und bisher lief die Sache ziemlich gut.
Es half natürlich, dass auf dieser Strecke morgens um drei sehr wenig los war.
Sollte allerdings doch ein Wagen um diese Zeit den Hügel hinunterkommen, wäre der Fahrer höchstwahrscheinlich ein alternder betrunkener oder bekiffter Hippie wie Ray selbst.
In dem Fall verliere ich die Wette, dachte er.
Und dann überlegte er: Was war noch mal die Wette?
Es fiel ihm wieder ein – lebend die Brücke erreichen und sich eine Zigarette drehen.
Jippie! Nicht schlecht …
Er sah nach vorn und setzte weiter auf der weißen Linie einen Fuß vor den anderen.
Es stand außer Frage, dass er ziemlich wacklig auf den Beinen war.
Ist ja kein Wunder, alter Knabe. Wenn du acht Stunden lang immer wieder Bier in dich reinkippst.
Andererseits waren acht Stunden so viel auch wieder nicht.
Muss wohl am Alter liegen, dass ich jetzt langsam schlappmache.
Dann erinnerte er sich wieder. Genau! Er hatte außerdem noch eine kleine Tüte in Jez’ Garten gehabt.
Sehr mild, aber mit heftiger Spätwirkung.
Also deshalb schien diese weiße Linie unter seinen alten Turnschuhen so lebendig zu sein.
Er blinzelte zum Himmel.
Bald müsste es wieder hell werden. Es wird eindeutig Zeit, dass ich ins Bett komme.
Diese Cherringham-Regatta-Nummer brachte seinen Schlafrhythmus gnadenlos durcheinander – und dabei hatte sie noch nicht einmal richtig angefangen.
Er war kein Fan von harter Arbeit, aber die Kohle stimmte. Doch bereits die Vorbereitungen für diese Veranstaltung bedeuteten lange Tage, schmerzende Gliedmaßen und zerschundene Hände.
Die ganze Woche hatte er Plakate im Dorf aufgehängt, Hecken geschnitten, Felder gemäht, Parkverbotsschilder aufgestellt und Bierkisten von Lastwagen geladen.
Da kann man ja wohl richtig durstig werden …
Und wenn man so viel Bares auf die Kralle bekam, dann führte das natürlich zu langen Abenden, an denen man die Kohle vertrank. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte. Er behielt immer noch einiges übrig, das er in der Teedose im Schrank auf der Magnolia versteckte, seinem alten Kahn, der unten am Fluss lag.
Alt, aber er schwimmt noch!
Sicher, einige Leute hassten die Regatta. Denen gefiel es nicht, wenn das Dorf von Auswärtigen überrannt wurde. Diese Ansicht hatten auch die meisten Kumpel von Ray oben im Ploughman: »Diese eitlen Fatzkes mit ihren schicken Autos und ihren großen schneeweißen Schüsseln sollen sich doch mit ihren Festzelten und den Pimm’s-Ständen zurück nach London verziehen!«
Und dann war da noch Cherringhams eigener Schickimicki-Haufen, selbst gezüchtet sozusagen. Diese Leute regten sich auf, weil nun Jahrmarktsleute in Jeans einfielen, auf den Wiesen dicht an dicht Zelte, Lkws, Hamburger- und Teewagen standen und hin und wieder was geklaut wurde.
Die verfluchte Regatta ist für alle ein Albtraum!
In Wahrheit aber störte all das Ray kein bisschen. Ob reich oder arm, für ihn waren sie alle gleich. Schließlich ging es jedes Jahr nur um einige Tage im Juni, und es sprangen dabei für ihn immer ein paar Scheine raus.
Er blickte sich um, und plötzlich merkte er, dass er bereits an der Brücke war.
Irre, wie schnell die Zeit vergeht, wenn man nachdenkt …
Auf den Wiesen am Fluss rechts von ihm konnte er nur die Umrisse der Festzelte sehen, bei deren Aufbau er die ganze Woche mitgeholfen hatte. Und zu beiden Seiten der alten Steinbrücke erspähte er flüchtig im schwachen Licht bunte Flaggen und Wimpel, die zur Feier der Regatta aufgestellt und aufgehängt worden waren; jetzt in der Nacht wirkten sie allerdings düster und grau.
Unter der Brücke konnte er den Fluss übers Wehr und die Steine plätschern hören. Weiter vorn ragte das Zollhäuschen in der Straßenmitte auf.
Ja, ja, er war immer noch am Leben.
Gewonnen!
Er hatte seine heroische Aufgabe erfolgreich zu Ende geführt. Nun war es Zeit für eine Selbstgedrehte.
Ray hüpfte von der weißen Linie und ging hinüber zu dem schmalen Gehweg am Brückenrand, wo er sich gegen die Steinbrüstung lehnte und eine Zigarette drehte.
Nachdem er sie angezündet hatte, inhalierte er tief.
Aaah! Es ging doch nichts über die erste Zigarette des Tages.
Oder war es die letzte der Nacht? Hmm, schwer zu entscheiden …
Er blickte hinunter zur Themse, die sechs Meter unter ihm schnell unter der Brücke hindurchfloss.
Dann drehte er sich um und blickte flussaufwärts. Es gab gerade genug Licht, dass er undeutlich die vertäuten Kähne und Hausboote erkennen konnte, die aneinandergereiht am rechten Ufer lagen und sich über eine halbe Meile weit in Richtung der Ingleston-Kirche erstreckten.
Auch sein eigenes Boot, die Magnolia, vermochte er zu sehen; es war ein schwarzer Umriss am Ende der Reihe.
Auf keinem der Boote brannte Licht. Alle schliefen sie tief und fest.
Die Glückspilze.
Nein, doch nicht alle. Ray nahm eine Bewegung auf dem schwarzen Wasser hinten bei der Magnolia wahr.
Er blinzelte, um es genauer zu sehen. Was war das – vielleicht doch nur ein Stück Treibholz? Ein alter Baumstamm, der flussabwärts trieb?
Oder ein Boot – und an Bord jemand, der etwas Schräges vorhatte?
In der letzten Woche hatte es einige Einbrüche und den einen oder anderen Fall von Vandalismus gegeben. Das passierte immer während der Regatta-Zeit – oder wenn die Jahrmarktsleute ins Dorf kamen.
War eigentlich auch nur logisch: Wenn all diese jungen Rowdys aus der Großstadt einfielen, um beknackte Jobs zu übernehmen, dann sahen sie sich auch vor Ort um, was sie so nebenbei noch abgreifen konnten.
Durfte man ihnen nicht verdenken, fand Ray, der schon selbst, nun ja, »freiberuflich« unterwegs gewesen war. Ließ jemand eine Tür oder ein Fenster auf, war das doch quasi eine Aufforderung, dass man reingehen und sich bedienen sollte, oder?
Aber auf seiner Magnolia? Na, denen würde er es zeigen!
Keiner legt sich mit Ray Stroud an, dachte er und spuckte einen Tabakkrümel aus.
Hmm.
Der Schatten auf dem Wasser kam näher.
Ja, das war ein Boot – ein kleines Ruderboot.
Und der Geschwindigkeit nach zu urteilen, wusste der Typ an den Rudern, was er tat.
Kräftige, gleichmäßige Züge. Die Ruderblätter schnitten lautlos durchs Wasser, und das Boot glitt mühelos auf ihn zu.
Komisch. Welcher Idiot ruderte denn um diese Zeit, im Stockdunkeln? Übte er etwa für die Regatta? Und dann bewegte er sich auch noch vom Dorf weg.
Nein, das ergab überhaupt keinen Sinn. Und dann war das Boot nur so ein winziges Plastikteil.
Als es näher kam, sah Ray genau hin und versuchte, den Ruderer zu erkennen. Doch das war schwierig, weil der Typ im Boot mit dem Rücken zu ihm saß.
Definitiv ein Kerl – so viel stand fest. Das erkannte man an der Figur: breite Schultern, großgewachsen. Der Mann war schwarz gekleidet, wie einer von den Soldaten, die Spezialkommandos angehörten; Ray kannte dies aus Filmen. Die schwarze Mütze hatte sich der Typ so tief nach unten gezogen, dass man den Kopf nicht richtig sehen konnte.
Das kleine Ruderboot schoss auf Ray zu und dann unter der Brücke hindurch.
Weg.
Ach, na ja, was interessiert mich das …
Wenn Ray nun rasch zur anderen Brückenseite ging, könnte er das Gesicht des Kerls sehen.
Aber er musste zurück auf die Magnolia, einen Tee trinken und dringend ein bisschen schlafen.
Also schnippte er den Zigarettenstummel ins Wasser, stapfte über die Brücke und dann hinunter zum Flussufer.
Als er sein Boot erreichte, war bereits eine Andeutung von Morgengrauen am Horizont zu sehen, auch wenn der Himmel größtenteils noch schwarz war. Ray stieg an Bord und schloss das Brückenhaus auf.
Oh Gott, um sieben musste er wieder aufstehen und dann mit den anderen einen Ablaufgraben für das Hauptbierzelt buddeln!
Blieben noch drei Stunden zum Schlafen.
Klar, kein Problem …
Er öffnete die Brückenhaustür und stieg die erste Stufe hinunter, als er wieder etwas auf dem Fluss bemerkte.
Sein erster Gedanke war, dass der Ruderer zurückkam.
Aber nein.
Das dort war kein kleines Ruderboot.
Das dort war größer.
Er kehrte um und trat an den Rand des Decks, um besser sehen zu können.
Sicherlich an die sieben Meter lang, hoch, weiß, supermodern – und eindeutig teuer. Das war eine Jacht, die da flussabwärts vorbeiglitt.
Was im Hochsommer nicht ungewöhnlich war.
Nur dass auf diesem Boot kein Licht brannte.
Der Motor läuft nicht mal.
Und es stand niemand hinter dem Steuerrad.
Eine Luxusschüssel, die locker hundert Riesen wert war, trieb führerlos auf dem Fluss dahin …
Ein Geisterschiff?
Ray beobachtete, wie sich die Jacht in Richtung der Cherringham Bridge bewegte.
Mary Lou, las er; der Name prangte in goldener Farbe auf dem Rumpf. Cayman Islands.
Ray schüttelte den Kopf.
Ist nicht mein Problem, dachte er, sollen die selber auf ihr Boot aufpassen …
Er drehte sich um und ging wieder ins Brückenhaus.
Ich muss dringend schlafen.
Er schloss die Brückenhaustür hinter sich, und schon im nächsten Augenblick hatte er die beiden Boote völlig vergessen.
Jack schob den Schinkenspeck und die Spiegeleier aus der Pfanne auf seinen Teller und legte noch einen getoasteten Bagel dazu. Dann verließ er damit die kleine Kombüse der Grey Goose und stieg nach oben aufs sonnige Deck.
Ein bisschen viel für die Arterien: Eier und Schinkenspeck.
Aber einmal die Woche schadet es wohl nicht.
»Komm mit, Riley«, sagte er zu seinem Springer.
Im Grunde war eine solche Aufforderung überflüssig, wenn die Chance auf einen Happen Schinkenspeck bestand. Der Hund sprang bereits hinter ihm her.
Trotz der frühen Stunde war die Sonne heiß, und das Holz auf dem Deck fühlte sich unter Jacks nackten Füßen warm an. Er stellte den Teller auf den blanken neuen Gartentisch neben die Butter und die Marmelade und spannte den Sonnenschutz auf.
Danach drückte er das Sieb in der Stempelkanne nach unten und goss sich Kaffee in die große französische Tasse, die er letzte Woche in der Normandie gekauft hatte, als er dort in seinem kleinen Sportwagen herumgereist war.
Siebzig Jahre später die Strände dort zu sehen, die Reihen von Kreuzen …
Es war nicht nur der scharfe Wind gewesen, der ihm die Tränen in die Augen getrieben hatte.
Jack sah zu Riley, der geduldig neben dem Tisch hockte, trank einen Schluck Kaffee und genoss die Aussicht.
Flussauf- und -abwärts waren die Boote – so wie die Goose auch – mit roten, weißen und blauen Fahnen verziert. Die Farben der Cherringham Regatta.
Jacks NYPD-Wimpel flatterte stolz ganz oben am kleinen Heckmast.
In der Ferne, hinter der Brücke, konnte er gerade noch das Dach des Festzelts erkennen, in dem die meisten Veranstaltungen rund um die Regatta stattfinden würden.
Dort hinter der Brücke gab es einen längeren geraden Flussabschnitt mit festen, gut zugänglichen Ufern, der sich bestens für die anstehenden Rennen und Feierlichkeiten am Wochenende eignete. Allemal besser als der Bereich hier, wo sich die Themse schlängelte und die Kähne hintereinander vertäut lagen.
Jack nahm sich einen Bissen Spiegelei und schlug dann die Cherringham Times auf – die altmodischste Zeitung, die er je außerhalb eines Museums gesehen hatte. Er suchte nach den Regatta-Terminen.
Das ist ein Leben, Jack Brennan, dachte er.
Für einen Moment überkam ihn der sehnliche Wunsch, es gäbe jemanden, mit dem er dies hier teilen konnte …
Nicht irgendjemand. Seine Katherine.
Doch inzwischen war er gut darin, solche Gedanken zu verdrängen. Er aß noch eine Gabel voll Schinkenspeck und Ei und bemühte sich, an etwas anderes zu denken.
Ein Wochenende auf dem Fluss, eine Sonnenschein-Vorhersage für die nächsten fünf Tage; keine Pflichten, keine Sorgen.
Das Anstrengendste, was vor ihm lag, waren die Entscheidungen, welche Veranstaltungen er sich ansehen, wo er zu Mittag essen und in welchen Pub er abends gehen sollte.
Kann es noch besser werden?
Aufgrund seiner Erfahrungen aus dem letzten Jahr wusste er, welche Gruppen sich wo aufhielten. Das alte Geld feierte gerne in den großen Villen unten am Fluss, wo sich die Gärten bis an die Themse zogen – oder an Bord der luxuriösen Vergnügungsboote, die dort lagen.
Die richtigen Wassersportler hingegen gingen rauf in den Angel. Es gab das Gerücht, dass sie im letzten Jahr den gesamten Pub leer getrunken hatten. Was eine echte Meisterleistung wäre!
Derweil versammelten sich die Leute, die nicht zu den feinen Kreisen gehörten – und zu denen zählte Jack sich selbst gerne –, im Ploughman oder in dem Bierzelt an der Brücke.
Das passte Jack prima.
Er aß seinen Teller auf und stellte ihn auf den Boden, wo Riley ihn »vorspülte«, ehe das Essgeschirr in die Spülmaschine wanderte.
Dann lehnte Jack sich mit seinem Kaffee und der Zeitung zurück, um das bevorstehende Wochenende zu planen.
Doch weiter kam er damit nicht …
Eine Fahrradklingel bimmelte plötzlich laut, das Geräusch kam vom Weg neben dem Fluss.
Jack blickte zur Seite und sah eine Frau, die recht wacklig, jedoch sehr schnell in seine Richtung geradelt kam.
Sie winkte und klingelte gleichzeitig. Dabei geriet sie so stark ins Schlingern, dass sie beinahe in den Fluss hineingestürzt wäre – fing sich aber in letzter Sekunde ab und trat weiter in die Pedale.
Als sie dann näher herankam, erkannte Jack sie wieder. Das graue Haar, die uralte Brille, die ordentlich zugeknöpfte Strickjacke über der geblümten Bluse, der Twill-Rock und die braunen Strümpfe.
Klassisch.
Ja, ohne Frage, das musste eine der Buckland-Schwestern sein. Entweder Jen oder Joan.
Welche, konnte Jack nicht sagen, da sie eineiige Zwillinge waren, die sich auch noch identisch kleideten.
Auseinanderhalten konnte man sie nur daran, dass Joan mehr lächelte als Jen.
Oder war es anders herum?
Die beiden Damen, die sich in den Sechzigern befanden, betrieben das Zollhaus auf der Cherringham Bridge – was sie nach Jacks laienhaften Schätzungen zu Millionärinnen gemacht haben dürfte.
So gut wie jeder im Dorf beschrieb die beiden als kalt, verschlossen, misstrauisch und ungesellig.
Jack allerdings nicht, denn dank der Tatsache, dass er früher ein Cop in New York gewesen war, behandelten sie ihn wie einen guten Freund.
Immerzu drängten sie ihm Tee, Kuchen und Geschichten von Cherringham – »aus den alten Zeiten, Jack, den besseren Tagen« – auf, während sie ihn über die mörderischen Straßen von New York aushorchten.
Es war zwecklos, ihnen erklären zu wollen, dass es dort gar nicht mehr so mörderisch zuging …