Samstag, der 5. Mai

Es war Samstagmorgen, und Herr Taschenbier saß im Zimmer und wartete.

Worauf er wartete? Das wusste Herr Taschenbier selber nicht genau.

Warum er dann wartete? Das lässt sich schon eher erklären. Allerdings muss man da mit dem Sonntag beginnen:

Am Sonntag schien die Sonne, das kam öfter mal vor. Am Montag klopfte es. Frau Rotkohl streckte den Kopf durch die Tür und sagte:

»Da ist ein Mensch für Sie, Herr Flaschenbier. Dass er mir ja nicht raucht im Zimmer, das schadet den Gardinen! Und dass er sich nicht aufs Bett setzt! Wozu haben Sie denn einen Stuhl!«

Frau Rotkohl war seine Vermieterin. Immer wenn sie sich ärgerte, sagte sie »Herr Flaschenbier« zu Herrn Taschenbier. Diesmal ärgerte sie sich, weil er Besuch bekam.

Der Besuch, den sie ins Zimmer schob, war ein Schulfreund von Herrn Taschenbier. Er hieß Herr Mon und brachte zur Begrüßung einen Mohnblumenstrauß mit. Am Tag darauf, am Dienstag, hatte Herr Taschenbier Dienst. Das war nichts Besonderes.

Am Mittwoch war gerade Mitte der Woche. Auch das machte Herrn Taschenbier noch nicht stutzig.

Erst als am Donnerstag ein mächtiges Gewitter aufzog und es gewaltig donnerte, wurde er aufmerksam.

Der Freitag kam. Und siehe da: Herr Taschenbier bekam frei.

Das kam daher, dass sein Chef so große Angst vor Dieben hatte. Jeden Abend versteckte er den Büroschlüssel woanders. Am Donnerstag hatte er sich ein besonders sicheres Versteck ausgedacht. Er wickelte den Schlüssel in ein Taschentuch, steckte das Tuch in seinen Stiefel, stellte ihn in den Kleiderschrank, stülpte einen Hut über den Stiefel und schloss den Schrank ab. Den Schrankschlüssel legte er in eine Zigarrenkiste, stellte die Kiste in die Schreibtischschublade und schloss auch die ab. Dann versteckte er den Schreibtischschlüssel.

Am Freitagmorgen wusste er zwar ganz genau, wo er den Büroschlüssel hingelegt hatte. Aber wo er den Schreibtischschlüssel versteckt hatte, fiel ihm beim besten Willen nicht mehr ein. So konnte er die Schublade nicht öffnen, um den Schrankschlüssel herauszuholen, den er brauchte, um an den Büroschlüssel heranzukommen. Was blieb ihm anderes übrig? Er musste Herrn Taschenbier nach Hause schicken und nachdenken. So lange, bis ihm eingefallen war, wo er den Schlüssel versteckt hatte.

Jetzt, sagte sich Herr Taschenbier, konnte es kein Zufall mehr sein: Am Sonntag Sonne. Am Montag Herr Mon mit Mohnblumen. Am Dienstag Dienst. Am Mittwoch Mitte der Woche. Am Donnerstag Donner und am Freitag frei! Deshalb saß Herr Taschenbier am Samstag erwartungsvoll in seinem Zimmer und fragte sich, was der Tag bringen würde.

Lange hatte er noch nicht gesessen, da klopfte es laut an die Tür. Herr Taschenbier hielt vor Spannung die Luft an und sagte kein Wort. Aber es war nur Frau Rotkohl, die mit einem Eimer und einem Besen ins Zimmer kam.

»Sie können wohl nicht ›Herein‹ sagen wie jeder normale Mensch?«, fragte sie und stellte den Eimer scheppernd vor Herrn Taschenbier auf den Boden. Erschrocken zog er die Füße unter den Stuhl zurück. Er hätte gern geantwortet: »Ein normaler Mensch kommt auch nicht ins Zimmer, wenn niemand ›Herein‹ sagt!« Aber Herr Taschenbier war ein netter und freundlicher Herr und hasste Streit. Außerdem hatte er ein bisschen Angst vor Frau Rotkohl, weil sie fast einen Kopf größer war als er. Und darüber hinaus war sie die Vermieterin und konnte ihm jederzeit kündigen. Deswegen sagte Herr Taschenbier gar nichts.

»Sie haben wohl die Sprache verloren, Herr Taschenbier?«, fragte Frau Rotkohl weiter und begann, das Zimmer auszufegen.

»Könnten Sie nicht, bitte, mein Zimmer etwas später sauber machen?«, wagte Herr Taschenbier zaghaft zu fragen.

»Gehen Sie doch spazieren, wenn es Ihnen nicht passt!«, sagte Frau Rotkohl grob. Gleich darauf kommandierte sie: »Füße hoch!«, und fuhr mit dem Besen auf Herrn Taschenbiers Beine los. Gehorsam zog er die Füße an und stellte sie auf den Stuhl, auf dem er saß.

»Sie Schmutzfink!«, schrie Frau Rotkohl, als sie das sah. »Meinen schönen Stuhl mit Schuhen treten! Sofort gehen Sie in die Küche und holen einen Lappen!«

Herr Taschenbier eilte in die Küche. Als er wiederkam, hatte Frau Rotkohl seinen Stuhl kurzerhand auf den Tisch gestellt und wischte jetzt den Boden auf. Seufzend nahm er seinen Hut, zog seine Jacke an und ging.

»Wo wollen Sie denn hin?«, rief ihm Frau Rotkohl nach.

»Spazieren gehen!«

»Das sieht Ihnen ähnlich: am hellen Tag spazieren gehen, wenn andere Leute arbeiten.«

»Sie haben doch selbst gesagt, ich solle spazieren gehen«, protestierte Herr Taschenbier.

»Das sollen Sie auch, Sie Stubenhocker«, rief sie zurück. »Sie sind schon ganz bleich, weil Sie den ganzen Tag im Zimmer hocken.«

Herr Taschenbier schlug schnell die Tür zu und machte sich auf den Weg. Es war ein schöner Samstagmorgen, die Sonne schien, und er freute sich, dass er das Geschimpfe der Frau Rotkohl nicht mehr hören musste.

An der nächsten Straßenecke stand dicht gedrängt eine Menschengruppe. Herr Taschenbier ging neugierig darauf zu. Die Leute betrachteten etwas. Es schien nicht sehr groß zu sein, denn alle blickten mit gesenktem Kopf nach unten. Er versuchte herauszufinden, was es da zu sehen gab. Aber er war zu klein, und die Leute standen zu dicht.

»Man muss den Zoo benachrichtigen. Sicher ist es dort ausgebrochen. Ein gewöhnlicher Mensch hält sich so etwas nicht«, sagte eine Frau, die ganz vorn stand. Offenbar war es irgendein Tier.

»Das scheint eine Affenart zu sein«, stellte ein Mann fest.

»Affenart? Mit dem Rüssel? Sieht eher wie eine Art Frosch aus«, rief ein anderer Mann dazwischen.

»Ein Frosch kann es unmöglich sein. Das Ding hat doch feuerrote Haare. Haben Sie schon mal einen Frosch mit Haaren gesehen? Noch dazu so groß?«

Das wurde ja immer interessanter: ein Tier, das man sowohl für einen Frosch als auch für einen Affen halten konnte!

»Sie sollten sich schämen, sich so über ein kleines Kind lustig zu machen. Sie als erwachsene Menschen!«, sagte empört eine dicke Frau und sah strafend um sich.

»Ein kleines Kind? Sie sind wohl kurzsichtig«, sagte der Mann, der das Wesen für einen Affen gehalten hatte.

Aber die dicke Frau ließ sich nicht beirren. Sie beugte sich hinunter und sagte: »Wie heißt du denn, mein Kindchen?«

Herr Taschenbier konnte immer noch nichts sehen. Aber er hörte etwas. Eine helle, durchdringende Stimme sagte laut und deutlich: »Bin kein Kindchen, bäh!«

Die umstehenden Leute rissen vor Erstaunen den Mund auf.

»Das kann ja reden!«, rief ein Mann.

»Richtig deutsch«, sagte eine Frau verwundert.

»Habe ich ja immer gesagt«, stellte die Dicke fest und beugte sich wieder hinunter. »Sag doch mal was, mein Kindchen!«, forderte sie es auf.

»Dickerchen, Dickerchen«, rief die gleiche durchdringende Stimme.

»Meinst du mich damit?«, fragte die Dicke mit hochrotem Kopf. Ein paar Leute kicherten. Die Stimme begann zu singen:

»Dick – Dicker – Dickerchen

fand einst am Ostseestrand

beim Graben mit dem Schäufelchen

im Sand ’nen Elefant.

 

Dick – Dicker – Dickerchen

nahm Platz auf seinem Rücken.

Da schrie der Urwaldelefant:

›Du willst mich wohl zerdrücken?‹

 

Dick – Dicker – Dickerchen

hörte nicht zu und schwatzte.

Da rächte sich der Elefant,

indem er schweigend platzte.«

»So eine Unverschämtheit«, zischte die dicke Frau, drehte sich um und ging.

Das war eine einmalige Gelegenheit für Herrn Taschenbier. Schnell schob er sich in die Lücke, drängte nach vorn und stand nun gerade vor dem Wesen, das singend am Boden saß.

Jetzt verstand Herr Taschenbier, warum die anderen nicht wussten, wie sie es nennen sollten. Es war wirklich schwer zu beschreiben, weil es weder ein Mensch noch ein Tier war.

Da war einmal der Kopf: zwei freche, flinke Äuglein, ein riesiger Mund, so groß, dass man fast Maul sagen musste, und anstelle der Nase ein beweglicher kurzer Rüssel. Sein breites Gesicht war übersät mit großen blauen Punkten. Aus den feuerroten Haaren, die wie Stacheln eines Igels nach oben standen, schauten zwei abstehende Ohren.

Und so sah der Körper aus, auf dem dieser Kopf saß: Zuerst fiel der grüne, prallrunde Trommelbauch auf, weil er so groß war. Die Arme und Hände waren die eines Kindes, die Füße dagegen erinnerten an vergrößerte Froschfüße. Brust und Bauch waren glatt, der Rücken leicht behaart wie bei einem jungen Orang-Utan.

So saß es auf dem Boden, hatte mit dem Singen aufgehört und schaute frech von einem zum anderen.

»Das ist kein Tier, so viel steht fest«, sagte ein Mann aus der Menge. »Sonst könnte es nicht reden.«

»Wollen Sie vielleicht behaupten, dass es ein Kind ist?«, fragte ein anderer.

»Nein, ein Kind ist es auch nicht.«

»Was ist es denn dann?«

»Vielleicht kommt es vom Mars? Ein Marsmensch!«

»Reden Sie keinen Unsinn«, mischte sich ein streng aussehender Herr ein. »Das Lebewesen hier kommt nicht vom Mars. Das können Sie mir glauben. Ich kenne mich aus. Ich bin Studienrat, Studienrat Groll!«

Sofort begann das Lebewesen, von dem die Rede war, auf dem Boden herumzuhüpfen. Dabei sang es:

»Studienrat, Studienrat

hat den ganzen Kopf voll Draht!

Studienrat Groll

hat den Kopf mit Draht voll!«

Dann setzte es sich hin, faltete die Hände über dem Bauch zusammen und schaute wieder frech in die Runde.

»Sofort hörst du mit dem albernen Gesinge auf!«, rief der Studienrat empört.

Statt einer Antwort streckte ihm das Wesen eine lange Zunge heraus.

»Sag uns sofort, wie du heißt!«, befahl er dann.

Das Wesen lachte. Dann hüpfte es wieder im Kreis herum und sang:

»Ihr seid alle dumm,

dumm, dumm, dumm!

Drum tanz ich hier herum,

rum, rum, rum!«

Der Studienrat wurde immer wütender.

»So, so, wir sind dumm! Und du bist natürlich das klügste Wesen auf der Welt«, sagte er. »Und warum sind wir alle angeblich so dumm?«

»Ich weiß, wer du bist, aber du weißt nicht, wer ich bin«, lachte das Wesen. Dann sang es wieder:

»Keiner weiß,

wie ich heiß.

Furchtbar dumm

stehn sie rum.

Keiner weiß,

wie ich heiß.«

»Wenn du glaubst, wir probieren alle Namen aus, dann hast du dich getäuscht«, sagte Studienrat Groll. »Wir spielen hier doch nicht Rumpelstilzchen. Wenn du uns nicht sagen willst, wer du bist, dann werden wir eben die Polizei holen.«

»Die Polizei!«, sagte das kleine Wesen. »Ihr glaubt doch nicht, dass die Polizei weiß, wie ich heiß.«

»Aber ich weiß es vielleicht«, platzte Herr Taschenbier heraus. Mit einem Mal war ihm ein Gedanke gekommen. Wie war das doch gewesen: am Sonntag Sonne, am Montag Herr Mon, am Dienstag Dienst, am Mittwoch Wochenmitte, am Donnerstag Donner, am Freitag frei – und heute war Samstag.

Am Samstag Sams! Das war’s!

»Du bist bestimmt ein Sams!«, sagte er entschieden.

Das kleine Wesen am Boden bekam vor Staunen tellergroße Augen und sperrte das Maul auf, dass man meinte, es wolle ein ganze Packung Toastbrot auf einmal verschlingen.

»Wie hast du das herausgefunden? Woher weißt du, dass ich ein Sams bin?«, fragte es.

»Man muss nur logisch denken können – wie ein Privatdetektiv«, sagte Herr Taschenbier und sah sich stolz um.

Da geschah etwas Unerwartetes: Das Sams kletterte geschwind wie ein Äffchen an Herrn Taschenbier hoch, kuschelte sich in seinen Arm und sagte: »Ja, mein Papa kann logisch denken. Ihr nicht. Ihr seid alle dumm!«

Dann steckte es den Daumen in den Mund und begann schmatzend daran zu lutschen.

»Sie hätten ja gleich sagen können, dass es Ihr Kind ist«, sagte Herr Groll wütend und ging davon.

»Aber …«, fing Herr Taschenbier an.

»Das ist die heutige Erziehung«, sagte eine Dame. »Das Kind macht sich über uns lustig, und der Vater steht dabei und freut sich noch!«

»Aber …«, fing Herr Taschenbier noch einmal an. Das Sams streckte seine Finger aus und hielt ihm einfach den Mund zu.

Und ehe Herr Taschenbier irgendetwas erklären konnte, waren die Leute weitergegangen, und er stand allein auf der Straße – mit einem Sams auf dem Arm.

»Warum sagst du immer ›Papa‹ zu mir? Das finde ich frech«, sagte Herr Taschenbier und war richtig ein bisschen wütend.

»Wieso?«, fragte das Sams und nahm vor Staunen den Finger aus dem Mund. »Du bist doch jetzt mein Papa.«

»Ich bin überhaupt nicht dein Papa! Ich heiße Taschenbier und wohne da vorn. Ich habe kein Kind, dafür gibt es Zeugen«, rief Herr Taschenbier und hätte am liebsten das Sams von seinem Arm heruntergeschüttelt.

Aber das Sams klammerte sich ganz fest, und es sah aus, als ob es gleich weinen würde, als es sagte: »Das ist doch immer so bei Samsen. Wenn einer errät, dass man ein Sams ist, dann gehört ihm das Sams. Dann muss er das Sams bei sich wohnen lassen und ihm zu essen geben.«

»Bei sich wohnen lassen?«, fragte Herr Taschenbier entsetzt. Er dachte an Frau Rotkohl. »Das ist unmöglich. Außerdem weiß ich gar nicht, was Samse essen.«

»Alles, Papa, alles«, erwiderte das Sams und nagte an der Jacke von Herrn Taschenbier. Ehe der etwas sagen konnte, hatte ihm das Sams schon den Kragen von der Jacke gefressen.

»Hörst du sofort auf, an meiner Jacke zu knabbern!«, rief er erschrocken.

»Stoff schmeckt aber gut«, sagte das Sams mit vollem Mund und langte nach der Mütze von Herrn Taschenbier.

»Ich will nicht, dass du meine Sachen auffrisst«, rief der und versuchte seine Mütze zu retten.

»Willst du das, oder wünschst du das?«, fragte das Sams kauend.

»Ich will das!«, sagte Herr Taschenbier streng.

»Ach so«, sagte das Sams, verschlang die Mütze, zog Herrn Taschenbier das Taschentuch aus der Jackentasche und begann es aufzufressen. »Sehr zart«, sagte es dabei und rollte genießerisch mit den Augen.

»Dann wünsche ich es eben«, sagte Herr Taschenbier schnell und hielt ängstlich seine Krawatte fest.

»Du wünschst es, Papa?«, fragte das Sams, gab ihm sofort das angefressene Taschentuch zurück und spuckte alles aus, was es noch im Mund hatte. »Wenn du es wünschst, werde ich es natürlich nicht mehr tun.«

»Was soll ich jetzt nur machen?«, jammerte Herr Taschenbier. »Wie werde ich dich nur wieder los?«

»Wir wollen zusammen heimgehen«, schlug das Sams vor. »Ich bin müde, ich will in mein Bettchen.«

»Jetzt hör mal gut zu …«, begann Herr Taschenbier und wollte eine lange Rede halten. Dann sah er zum Sams hinunter und merkte, dass es auf seinem Arm eingeschlafen war.

Kopfschüttelnd blieb er eine Weile stehen. Schließlich drehte er sich um und ging zurück zu Frau Rotkohls Haus. Einige Schritte vor der Haustür blieb er wieder stehen.

»Sind wir schon da?«, fragte das Sams und setzte sich auf.

»Gut, dass du aufgewacht bist«, sagte Herr Taschenbier. »Ich habe es mir überlegt, ich kann dich nicht mit hineinnehmen. Es ist unmöglich. Wenn dich Frau Rotkohl erwischt, wirft sie uns beide hinaus.«

»Ach, die alte Rosenkohl«, sagte das Sams und streckte die Zunge heraus. »Der sagst du einfach: Das Kind von deiner Schwester ist zu Besuch gekommen.«

»Die merkt doch, dass du kein Kind bist«, widersprach Herr Taschenbier. »Du hast ja nicht einmal Kleider an.«

»Musst du mir halt welche kaufen«, entschied das Sams.

Herr Taschenbier sah auf die Uhr. »Bis wir in die Stadt kommen, haben die Läden geschlossen. Und morgen ist Sonntag!«

»Musst du mir halt am Montag welche kaufen«, sagte das Sams. »Und bis dahin musst du mich verstecken!«

»Wie soll ich dich denn verstecken?«, fragte Herr Taschenbier ratlos.