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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74094-650-0
»Das ist aber schön, daß Sie wirklich einmal kommen.« Frau Reisner streckte ihrer Besucherin beide Hände entgegen. Sie freute sich aufrichtig, denn sie hatte sich mit Frau Rennert immer gut verstanden. Viele Jahre lang waren die beiden Arbeitskolleginnen gewesen.
»Vorgehabt hatte ich es ja schon lange. Nun ja, man ist nicht mehr die Jüngste. Ich verlasse Sophienlust nur noch selten.«
Frau Rennert, eine ältere, aber sehr mütterlich wirkende Frau, lächelte. Dabei sah sie sich um. Wie öde sah die Halle dieses Kinderheims aus. Die Wände waren grau, auf dem Boden lag kein einziger Teppich. Anstelle von fröhlichem Kinderlachen war Weinen zu hören. Wie anders war es dagegen in Sophienlust.
»Verzeihen Sie«, sagte Frau Reisner. »Ich glaube, da gibt es wieder einmal Streit. Wollen Sie mitkommen?« Noch bevor Frau Rennert antworten konnte, eilte sie schon in einen angrenzenden Raum.
Else Rennert, die Heimleiterin des Kinderheims Sophienlust, ging hinter ihr her. Noch immer stellte sie Vergleiche zwischen diesem städtischen Kinderheim und dem Kinderheim Sophienlust an, wo sie nun schon seit so vielen Jahren tätig war.
»Was ist denn hier los?« fragte Frau Reisner. »Müßt ihr euch denn immer zanken?« Sie eilte auf zwei Kinder zu, die sich um ein Buch stritten.
»Ich will jetzt lesen«, erklärte ein kleines Mädchen. Nochmals riß sie an dem Buch – und plötzlich hatte sie eine Seite in der Hand.
»Jetzt ist es kaputt«, heulte der Junge auf. »Es war mein Buch.«
»Nein.« Auch dem Mädchen liefen nun Tränen über die Wangen. »Das Buch hat mir gehört. Ich habe es immer angeschaut.«
»Du hast doch die Puppe«, schluchzte der Junge. »Meinem Teddy aber fehlt ein Bein.«
Das Mädchen gab keine Antwort. Es drehte sich um und drückte ihren Kopf in Frau Reisners Schoß. Der Junge lief dagegen auf ein junges Mädchen zu, das gerade den Raum betrat.
»Du mußt sie bestrafen«, forderte er. »Sie ist böse.«
Frau Rennert beobachtete still diese kleine Szene sowie die anderen Kinder, die sich verängstigt in eine Ecke zurückgezogen hatten.
»Es ist ja schon gut«, versuchte Frau Reisner zu trösten. Flüchtig strich sie der Kleinen über das Haar, dann wandte sie sich unwillig an das junge Mädchen. »Wo waren Sie, Schwester Renate? Sie sollten doch bei den Kindern bleiben.«
»Ich mußte nach Martina sehen«, kam es trotzig von den Lippen des jungen Mädchens, das Schwesterntracht trug. »Martina hat hohes Fieber.«
»Und ich muß mal«, meldete sich ein Kind.
»Hast du etwa wieder in die Hose gemacht?« fragte die Schwester.
»Nein, aber Julia hat es getan.« Triumphierend streckte die Kleine ihre Hand aus. »Sieh nur nach, ihre Hose ist sicher naß.«
»Julia, ist das wahr?« rief die junge Kinderschwester und schob den Jungen, der noch immer schluchzte, von sich.
Das Kind, das Julia genannt wurde, stand still da. Es gab keine Antwort, starrte nur vor sich hin.
»Ihr seht doch, daß wir Besuch haben«, sagte Frau Reisner. »Seid ein bißchen lieb, dann dürft ihr hinaus in den Garten gehen.«
»Ja«, sagten einige Kinder gehorsam, setzten sich aber da, wo sie gerade standen, einfach auf den Boden.
Frau Reisner wandte sich ihrer ehemaligen Kollegin zu. »Kommen Sie, Frau Rennert, ich will mal sehen, ob wir einen Kaffee bekommen. Ich habe jetzt sowieso Freistunde.«
»Und die Kinder?« fragte Else Rennert. Sie sah alle nochmals der Reihe nach an. Kein einziges Kind lächelte.
»Die Kinder sind gewohnt, allein zu sein.« Resignierend zuckte Frau Reisner die Achseln. »Es fehlt uns an Personal. Wir haben auch nur zwei Hände. Schwester Renate, ich hoffe, Sie kommen mit den Kindern zurecht. Wenn nicht, ich bin im Empfangszimmer.«
Die junge Schwester sah nur kurz hoch und nickte. Ihr Gesicht war vor Ärger gerötet. »Drei Jahre alt – und noch immer macht sie in die Hose«, schimpfte sie laut.
Frau Reisner seufzte, dann wandte sie sich ab. »Kommen Sie!« Sie schob ihre ehemalige Kollegin fast aus dem Zimmer. »Ich bin so froh, daß Sie da sind, und möchte mich mit Ihnen in Ruhe unterhalten. Wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen?«
»Es dürfen wohl zehn Jahre her sein, daß Sie mich in Sophienlust besuchten.«
»Ja, Sophienlust.« Frau Reisner seufzte erneut. »Ich habe es noch gut in Erinnerung.« Sie führte ihre Besucherin in ein Zimmer. »Ich sehe schnell nach dem Kaffee. Dann müssen Sie mir von Sophienlust erzählen.«
Frau Rennert tat das gern. Sie war stolz auf das Kinderheim, das den Beinamen: ›Das Heim der glücklichen Kinder‹ trug. Während sie zusammen mit Frau Reisner Kaffee trank, erzählte sie einige lustige Episoden. In Sophienlust war immer etwas los. Den Kindern – das jüngste Dauerkind war fünf Jahre alt – fiel ständig etwas ein, und sie führten ihre Ideen auch aus. Neben dem großen ehemaligen Herrenhaus, in dem die Kinder untergebracht waren, standen ihnen ein Park, zu dem auch ein Spielplatz und eine Spielwiese gehörten, zur Verfügung.
Frau Reisner hörte aufmerksam zu. »Man kann fast nicht glauben, daß in Sophienlust Kinder wohnen, die ihre Eltern verloren haben. Nach Ihrer Schilderung sind die Kinder lustig, aufgeschlossen und stecken voller Übermut.«
»Nun, wenn ein Kind frisch nach Sophienlust kommt, dann ist das auch nicht immer der Fall«, gab Frau Rennert zu. »Viele dieser Kinder haben ein schweres Schicksal hinter sich. Aber wir bemühen uns alle, ihnen das Lachen wieder beizubringen.«
»Sehen Sie, da fehlt es eben bei uns. Oft könnte ich verzweifeln. Wir haben nicht genügend Zeit, um auf jedes einzelne Kind richtig eingehen zu können. Wir sind überfüllt, es fehlt bei uns an Spielzeug und an Platz. Hinter dem Haus ist eine kleine Wiese. Das heißt, es sollte eine Wiese sein, aber es wächst kaum Gras. Dort müssen sich die Kinder aufhalten, wenn sie im Freien sind. Fußball zu spielen und herumzutoben – davon kann keine Rede sein. Dem Heim fehlt es an Geld. Sie wissen ja, daß hier entweder Waisenkinder oder Kinder von ledigen Müttern untergebracht sind. Viele Mütter kümmern sich überhaupt nicht um ihr Kind. Das alles bedeutet, daß die Kinder, die hier wohnen, nichts zu lachen haben. Ich tue mein Bestes, aber wie Sie selbst sehen, ist dies nicht genug.«
Beide Frauen hatten in ihrem Beruf große Erfahrung, und diese tauschten sie nun aus. Doch lange blieben sie nicht ungestört. Ohne daß vorher angeklopft worden war, wurde die Tür aufgerissen. Frau Rennert schätzte das hereinstürmende Kind auf etwas zehn Jahre. Es zerrte ein Mädchen hinter sich her.
»Da!« rief die Zehnjährige. »Die kannst du haben. Mit ihr wollen wir nicht mehr spielen.«
»Maria, ich habe dir schon oft gesagt, daß du anklopfen sollst, bevor du hier hereinkommst.«
»Ich will ja nicht dableiben. Ich bringe nur die da! Sie ist dumm. Sie steht nur da und glotzt. Wir können sie nicht brauchen. Los!« Sie versetzte der Kleinen einen Stoß. »Wenn du sprechen kannst, dann kannst du wieder zu uns kommen.«
»Maria!« tadelte Frau Reisner streng. Sie erhob sich, aber da hatte das große Mädchen das Zimmer bereits wieder verlassen.
»Ein entzückendes Kind«, sagte Frau Rennert. Die Kleine war ihr schon zuvor aufgefallen. Sie erhob sich und ging auf das Mädchen zu. »Wie heißt du denn?« fragte sie freundlich.
Sekundenlang sah die Kleine sie groß an, dann drehte sie sich um und ging in die Zimmerecke. Mit dem Gesicht zur weiß getünchten Wand blieb sie unbeweglich stehen.
»Was hat sie denn?« fragte Frau Rennert verwirrt.
»Das kann man bei ihr nie genau sagen. Von den Kindern wird sie gehänselt. Diese halten sie für dumm und wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich glaube aber nicht, daß sie zurückgeblieben ist, auch wenn man aus ihr kaum etwas herausbringt. Sie ist ein Kind, das sehr viel Liebe braucht.« Frau Rennert hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »In dieser Umgebung hier von Liebe zu reden ist paradox.«
»Wie heißt die Kleine?« fragte Frau Rennert. Sie konnte den Blick nicht von dem Kind, das sich nicht rührte, lösen. Steif wie ein Stock stand es da, mit dem Gesicht zur Wand.
»Julia«, antwortete Frau Reisner. Sie ging zu dem kleinen Mädchen hin. »Julia, was ist denn los?« Sie nahm die Kleine auf den Arm. »Heute bist du doch nicht traurig. Du weißt doch, heute kommt dich deine Mami besuchen.«
Frau Rennert sah jetzt das Gesicht des Kindes. Es war ein ausgesprochen hübsches Kind. Das volle blonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern, aber in seinem Gesicht regte sich nichts.
»Julia, hast du mich nicht verstanden?« fragte Frau Reisner. Liebevoll strich sie der Kleinen den Pony zurecht. »Wollen wir nachsehen, ob deine Mami schon kommt?«
»Mami…« Gedehnt kam das Wort aus Julias Mund.
»Ja, deine Mami.«
In diesem Moment klopfte es. Eine junge Frau trat gleich darauf ein. Sie grüßte, dann streckte sie ihre Hände nach dem Kind aus. »Julia, hier bin ich! Bekommt deine Mami einen Kuß?«
Die junge Frau lächelte, aber Frau Rennert sah, daß das Lächeln von dem Kind nicht erwidert wurde. Es streckte wohl seine Hände nach der Mutter aus und hielt auch still, als die Mutter es aus den Armen von Frau Reisner nahm und küßte.
»Wollen wir spazierengehen?« fragte die junge Frau. »Mami kauft dir wieder ein Eis. Das hat dir doch das letzte Mal so gut geschmeckt.«
»Eis«, sagte Julia. »Eis gut. Gehen.« Jetzt kam Bewegung in das Kind.
»Dürfen wir?« Die junge Frau sah Frau Reisner an. »Heute habe ich leider nicht viel Zeit. Ich bringe Julia in einer Stunde wieder zurück.«
»Es ist gut, Frau Gabler. Aber bitte, stopfen Sie das Kind nicht mit Eis voll. Es wird ihm sonst nur schlecht.«
»Natürlich!« Verlegen stellte die junge Frau ihr Kind auf den Boden. »Will Julia selber gehen?«
Julia sagte nichts, lief jedoch zur Tür.
»Julia, willst du mir nicht auf Wiedersehen sagen?« fragte Frau Reisner.
Das Mädchen blieb stehen. »Sehen«, sagte es, nachdem es sich kurz umgeblickt hatte.
»Eigenartig«, meinte Frau Rennert, nachdem sich die Tür hinter Mutter und Tochter geschlossen hatte. »Die Kleine hat nie gelächelt, nicht einmal dann, als die Mutter ihr ein Eis versprach.«
»Julia lächelt nie«, meinte Frau Reisner. »Sie hat hier auch nichts zu lachen. Sie wird von den anderen Kindern ständig gehänselt, ist noch nicht sauber und kann keine zusammenhängenden Sätze sprechen. Meistens läuft sie vor jedem davon und versteckt sich unter einem Tisch oder hinter einer Bank.«
»Das ist doch furchtbar«, sagte Frau Rennert erschrocken.
»Das ist es«, bestätigte ihre ehemalige Kollegin. »Julia ist bereits drei Jahre alt. Sie müßte hier heraus. Hier läßt sie alles über sich ergehen. Die Kinder können mit ihr machen, was sie wollen, sie weint nicht einmal.«
»Was sagt ihre Mutter dazu? Sie haben doch sicher mit ihr darüber gesprochen.«
»Fräulein Gabler wollte ihr Kind schon zu sich nehmen, doch das geht nicht. Sie ist kaum über zwanzig. Ihre Lehre mußte sie durch diese Schwangerschaft abbrechen, und so arbeitet sie nun als Hilfsarbeiterin. Sie scheint Julia aber zu lieben, denn sie hat mir einmal gestanden, daß sie gegen den Willen ihres Freundes hierher kommt. Dieser hat für das Kind nichts übrig. Obwohl er der Vater der Kleinen ist, war er noch nie hier.« Frau Reisner seufzte. Julias Schicksal war hier keine Ausnahme.
Frau Rennert ging die kleine Julia nicht aus dem Kopf. Sie dachte auch dann noch an das bildhübsche Kind, als sie bereits an der Bushaltestelle stand und auf den Bus wartete, der sie zum Bahnhof bringen sollte. Plötzlich sah sie unvermutet dessen Mutter. Auch diese schien auf den Bus zu warten.
Frau Rennert überlegte nicht lange. Sie sprach die junge Frau an.
»Frau Gabler, Sie haben ein entzückendes Kind.«
»Woher kennen Sie Julia?« Die Miene der jungen Mutter hatte sich aufgehellt.
»Ich war heute im städtischen Kinderheim«, erklärte Frau Rennert. »Ich habe dort Frau Reisner besucht. Sie ist eine ehemalige Kollegin von mir.«
»Richtig, jetzt erinnere ich mich. Sie waren dort, als ich Julia abholte. Heute hatte ich leider nicht viel Zeit für sie.«
»Wirklich, ein entzückendes Kind«, wiederholte Frau Rennert. »Nur schade, daß es so scheu ist. Es spricht kaum.«
Das Lächeln wich aus Sindy Gablers Gesicht. »Sie spricht auch mit mir nicht. Ich habe bereits Angst, daß sie nie sprechen lernen wird. Hier in diesem Kinderheim sicher nicht. Dabei ist Frau Reisner sehr nett.« Verzweifelt sah Sindy Frau Rennert an. Sie vergaß, daß sie zu einer Fremden sprach. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Gern würde ich Julia zu mir nehmen, aber das geht nicht. Ich muß arbeiten. Ich weiß, daß die Kinder hier meine Julia verspotten, aber ist es woanders besser?«
»Julia braucht einen Menschen, zu dem sie Vertrauen haben kann«, meinte Frau Rennert. Ihr tat Fräulein Gabler leid.
»Ich weiß.« Sindys Kopf sank auf die Brust. »Sie würde viel Verständnis und Liebe brauchen. Dies hat mir schon Frau Reisner klargemacht. Aber was soll ich tun?«
»Ich bin Heimleiterin in einem Kinderheim, das in Wildmoos im Kreis Maibach liegt. Es ist ein privates Heim.« Bis der Bus kam, erzählte Frau Rennert nun von Sophienlust.
Sindy konnte das, was sie hörte, nicht glauben. »Die Kinder können bei Ihnen spielen, wann sie wollen? Hier habe ich die Kinder noch nie spielen oder lachen hören. Meistens gibt es Streit, und Julia wird herumgestoßen oder ausgeschlossen. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, daß die Kinder in einem anderen Kinderheim fröhlicher sind.«
»Wenn Sie mir nicht glauben, dann kommen Sie uns zusammen mit Julia einfach einmal besuchen.«
»Dürfte ich das wirklich?«
»Natürlich, ich würde mich sehr freuen.« Frau Rennert nannte nun ihren Namen und erzählte auch noch von Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren erst sechzehnjährigen Sohn verwaltete.
»Frau von Schoenecker hätte auch nichts dagegen, wenn ich käme?« erkundigte sich Sindy.
»Kommen Sie doch und überzeugen Sie sich selbst«, schlug Frau Rennert vor. Als sie merkte, daß Fräulein Gabler Interesse hatte, fügte sie hinzu: »Wie wäre es gleich am Samstag? Sie könnten in Sophienlust übernachten. Wir haben drei Gästezimmer. Für Julia wäre es sicher gut, wenn sie einmal mit anderen Kindern zusammenkäme.«
Das gab den Ausschlag. Sindy Gabler nahm die freundliche Einladung an.
*
»Ich warte bereits eine Stunde.« Nicht gerade freundlich sah Ulf Meissel seine Freundin an.
»Es tut mir leid.« Sindy Gabler war etwas außer Atem. Sie war sich ihrer Verspätung bewußt gewesen und deshalb das letzte Stück bis zu dem Haus, in dem sie ein Zimmer gemietet hatte, gelaufen. »Wenigstens hat meine Hausfrau dich hereingelassen.«
»Es wäre ja noch schöner, wenn sie das nicht tun würde. Sie weiß ja, daß wir zusammengehören. Aber du hast nicht einmal ein Bier.«