Für Summer und Kayden – zwei Protagonisten wie Tag und Nacht oder eben wie Pro und Contra

Vorwort

Die Welt ist eine andere, seitdem ein Sonnensturm die Erde mit all seiner zerstörerischen Macht getroffen hat und dadurch Elektrizität nicht mehr künstlich hergestellt werden kann. Von einem Tag auf den nächsten wurde der Menschheit der Strom entrissen und die Zivilisation versank in Dunkelheit, während Stürme über die Welt zogen, die einen erneuten Aufbau der Stromversorgung unmöglich machen.

Wissenschaftler versuchten neue Wege der Stromgewinnung zu finden und in der Zwischenzeit brachen Kriege um die letzten Ressourcen aus, Leben verloschen zu Millionen, Städte gingen eine nach der anderen unter. Die nächtliche Dunkelheit wurde der größte Feind der Menschheit. Und das für eine lange Zeit.

Bis eines Tages Kinder geboren wurden, deren Zellen von Natur aus Elektrizität produzieren. Sie werden Pros genannt und galten vom ersten Tag an als Hoffnungsträger für ein dauerhaftes Leben auf der Erde. Doch konnte das wichtige Gut, das die Kinder in sich trugen, nicht extrahiert werden. Die Rückkehr in ein fortschrittliches Leben lag so nah und doch unerreichbar fern.

Durch Zufall fand man schließlich heraus, dass zu jedem Pro ein Contra gehört. Ein Mensch, der nicht selbst Elektrizität herstellen, aber den Pros ihre nehmen kann und sie dadurch für alle nutzbar macht. Erneut glomm künstliches Licht in den Nächten auf und die restliche Menschheit rottete sich darum zusammen wie Motten.

So sieht die Welt von Summer und Kayden aus.

Kapitel 1

Kayden

Tief atmete ich die warme Nachtluft ein, während mein Blick an den vielen, eng beieinanderstehenden Häusern vorbei den Himmel absuchte. Aber obwohl keine Wolke erkennbar war, konnte ich wegen des ganzen Lichts nicht einen Stern ausmachen. Bedauern kam in mir auf, allerdings schob ich das Gefühl beiseite, denn es passte nicht hierher. Mein Wunsch, die Sterne sehen zu können, gehörte nicht an diesen Ort. Ich sollte schließlich dankbar für den Strom sein, für das Licht, das meine Nacht erhellte und mir ein Leben voller Luxus und elektronischer Geräte ermöglichte. Ich hätte am liebsten bei dem scheinheiligen Gefasel, das uns täglich von Werbeflächen aus eingetrichtert wurde, gekotzt, selbst wenn ich dankbar für das Licht war.

Von den Hunderten Menschen, die sich durch die enge Straße drückten, in der ich stand, wusste jeder, wie gering unser Vorrat an Elektrizität war, und doch ignorierte es jeder und schwelgte lieber im Glück, dass sie nachts Beleuchtung hatten, fernsehen konnten und nicht an Tageszeiten gebunden waren. Dass dies alles nur Trug war und viele Opfer kostete, ahnten viele von ihnen nicht. Aber wie konnten sie auch? Schließlich waren sie auch keine eingetragenen Contras, so wie ich einer war, und wollten sich lieber in Sicherheit wiegen – egal wie gering sie doch war. Ich konnte über diese Blauäugigkeit nur den Kopf schütteln.

»Kayden, was stehst du da rum und glotzt in den Himmel?«, rüttelte mich eine hohe, aufgeregte Stimme auf und ich wurde fast von den Füßen gerissen, als Susann nach meiner Hand griff und mich davonzerrte, ohne auf eine Erwiderung zu warten. »Das Feuerwerk fängt bald an und ich will eine tolle Aussicht haben.«

»Bei den Menschenmassen werden wir sowieso nicht durchkommen, du brauchst es also gar nicht erst zu versuchen. Lass uns lieber heimgehen, schließlich muss ich heute noch trainieren«, erwiderte ich gelangweilt.

Ich wollte Susann damit ärgern und wie immer schaffte ich das auch, denn die kleine, zarte Frau mit den schwarzen, verwuschelten Haaren sah schmollend zu mir zurück. »Ich sitze so oft zu Hause herum, da darf ich mir doch mal etwas Reales und Schönes anschauen, oder?«

»Ich halte dich nicht davon ab, aber wieso muss ich dich begleiten?«

»Kayden …«, jammerte sie und griff nach ihrem Rocksaum, wie um sich daran festzuhalten.

Mit einem Grinsen legte ich ihr eine Hand auf den Kopf und zerzauste ihre unordentliche Kurzhaarfrisur nur noch mehr. Wenn sich Susann so gab wie jetzt, konnte man nicht glauben, dass sie älter als ich war und dazu noch um etliches schlauer. Aber ihre Begabung im Umgang mit chemischen Stoffen hielt sie von den meisten anderen Menschen fern und hatte sie zu der gemacht, die sie nun einmal war. Und ja, ich gab es gern zu, es machte zu viel Spaß, sie zu ärgern. Für heute war es jedoch genug, weswegen ich einlenkte. »Ist gut, ich komme ja mit. Los, sonst verpassen wir noch den Anfang.«

Susann warf jubelnd die Arme in die Luft und eilte auch schon davon.

Mann, ich war erst neunzehn, hatte aber weiß Gott nicht so viel Energie wie sie. Wahrscheinlich kam das von den merkwürdigen Experimenten, die sie immer durchführte. Mich wunderte es ja sowieso, dass sie noch nicht zu einer kleinen, zarten Version von Hulk geworden war. Ich musste den Kopf schütteln, als ich mir mal wieder bewusst machte, dass sie eine meiner besten Freundinnen war.

Schnell schlängelte ich mich an den Massen an Menschen vorbei, um ihr zu folgen. Am Ende ging sie mir noch verloren und fand den Weg zurück nach Hause nicht. Zerstreut genug war sie dafür allemal. Zum Glück befanden sich bald so viele Menschen um uns herum, dass Susann ihr Tempo drosseln musste und ich sie einholen konnte. Schnell hakte ich meinen Finger in ihren Rückenausschnitt und hielt sie somit bei mir. Eine Leine wäre bei ihr gar keine so schlechte Idee.

»Kayden, sieh! Da vorn ist bereits der große Platz«, rief Susann über den Trubel der Menschen hinweg, der die Luft beinahe mit Euphorie zu schwängern schien. Aber es gab auch nicht viele Veranstaltungen, die alle aus ihren Häusern lockten. Das Feuerwerk zur Sommersonnenwende gehörte jedoch dazu.

Da ich um einiges größer als Susann war, hatte ich längst bemerkt, dass die riesigen Straßenschluchten vor uns zurückwichen und sich zu einer Fläche öffneten, die Tausende Leute fassen konnte. Sie war das, was bei uns einem Park am nächsten kam. Zwar gab es hier, mitten in einer der letzten zehn Städte der Welt, keine Grünflächen mehr, aber es war einer der wenigen Orte, an dem das Auge weiter als dreißig Meter schauen konnte – abgesehen vom Blick in den Himmel oder einem Aussichtsort auf den Dächern.

»Dann wollen wir uns mal einen guten Platz suchen«, murmelte ich und zog Susann zurück zu mir.

Sie verstand, was ich wollte, trat hinter mich und krallte sich mit ihren Fingern in meinem Shirt fest, damit sie mich nicht verlor. Tatsächlich war das ein paar Meter weiter bereits mehr als notwendig, denn der Platz war so voll, dass ich mich regelrecht durch die Menschen quetschen musste. Mehrmals wurde ich unfreundlich angeschaut und sogar angepöbelt, woraufhin ich aber nur die Augen verdrehte. Was tat ich nicht alles für Susann …

»Du weißt schon, dass du mir hiernach ordentlich was schuldest?«, fragte ich, als ich die kleine Frau hinter mir in den sicheren Schatten eines Hauses schob, das direkt an den Platz grenzte. Hier war es ruhiger und auch nicht ganz so überfüllt.

»Puh«, machte Susann und strich sich mit beiden Händen die Haare zurück, was sie nur noch mehr zerzauste. »Ja, das weiß ich. Uh, da vorn! Da will ich hin.«

Sie deutete auf mehrere Kisten, die wohl extra für die hier hinten stehenden Leute hingestellt worden waren, und rannte auch schon los. Ich machte mir gar nicht mehr die Mühe zu seufzen, ich kannte sie ja schließlich schon einige Jahre lang und wusste, wie schnell ihr Verstand von einem Thema zum nächsten sprang. Also folgte ich ihr wortlos und achtete einzig darauf, sie in der Masse nicht zu verlieren.

Susann kam kaum bei den Kisten an, als ihr auch schon Platz gemacht wurde, damit sie auf eine davon klettern konnte. Ich wusste nicht, wie sie es machte, aber trotz ihres seltenen Kontakts mit der Außenwelt konnte sie extrem schnell Menschen für sich einnehmen. Ich vermutete ja, dass es an ihrem niedlichen, kindlichen Aussehen lag. Als ich zu ihr trat und die Hände in die Taschen meiner Jeans schob, lehnte sie sich an meine Seite und legte mir von ihrer erhöhten Position aus einen Arm über die Schultern.

»Siehst du genug?«, fragte ich, denn sie war trotz der Kiste unter ihren Füßen kaum größer als ich.

»Es wird genügen. Das meiste spielt sich ja sowieso über unseren Köpfen ab«, sagte sie und blickte verträumt in den Himmel. »Weißt du eigentlich, wie sehr ich Feuerwerke liebe? Es ist faszinierend, wie aus der Vermischung von Kaliumnitrat, Kohlenstoff und Schwefel nicht nur etwas äußerst Explosives entsteht, sondern aus dem ausgeklügelten Verhältnis weiterer Chemikalien auch wunderschöne Farben und Formen gezaubert werden können.«

»Ja, schon recht, Susann«, meinte ich desinteressiert, denn ihr chemisches Gefasel ging bei mir in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus.

»Sie sollten mich das Feuerwerk vorbereiten lassen«, murmelte sie weiter, ohne mich zu beachten. »Ich würde ihnen ein unvergessliches Erlebnis bereiten.«

»Solange du es am Ende nicht übertreibst und die ganze Stadt in die Luft jagst, lasse ich dich machen, was auch immer du willst«, bemerkte ich mit einem Grinsen, das Susann zum Lachen brachte.

»Du weißt ganz genau, dass mir so eine Schludrigkeit nicht passiert. Ich bin schließlich Profi.« Plötzlich schrie sie mir voller Begeisterung ins Ohr und deutete über die Menschenmenge hinweg zur Mitte des Platzes. »Kayden, sie fangen an, sie fangen an.«

»Danke, dass du mich schon mal auf den ersten Knall vorbereitet hast«, erwiderte ich und rieb mir mein klingelndes Ohr. Ich könnte schwören, dass Susann anstrengender war als eine Gruppe aufgedrehter Kinder. Bei denen ging wenigstens nichts in die Luft und sie ätzten sich auch nicht ständig Löcher in die Kleidung oder in die Haut …

Ausnahmsweise blieb Susann nun aber ganz still und wartete voller Anspannung auf den ersten Feuerwerkskörper. Ich betrachtete sie einen Moment und fand es wie so oft faszinierend, dass sie in unserer rauen Welt dermaßen viel Freude an den Tag legen konnte. Mit einem Lächeln wandte ich mich nach vorn, als das viel zu helle Licht der Straßenbeleuchtung mit einem Schlag erlosch.

Normalerweise machte die Dunkelheit den Menschen Angst und schürte das Grauen davor, wieder in der Dunkelheit ohne Strom zu sitzen. Aber heute nicht. Heute wusste jeder, dass die erloschenen Lampen gewollt waren.

Aufgeregtes Gemurmel kam auf und die Leute legten die Köpfe in den Nacken. Auch Susann und ich taten es ihnen gleich, doch gerade als die ersten Feuerwerkskörper das Licht zu uns zurückbrachten und den Himmel in ein Meer aus Farbe verwandelten, sah ich sie.

Ich wusste nicht, wieso ich meinen Blick gesenkt und er unter all den vielen Leuten ausgerechnet sie gefunden hatte. Nichts war außergewöhnlich an ihr. Nicht das braune Haar, nicht das blassgelbe Kleid, das sie trug, oder der riesige Typ, der an ihrer Seite stand. Aber ich wusste sofort, dass sie die Person war, der ich mein ganzes Leben bereits versuchte hatte niemals zu begegnen. Ich erkannte weder ihr Gesicht noch die großen, freundlichen Augen, deren Blick zu mir wanderte, als ob sie mich spüren würde. Ich erkannte ihr Wesen, das, was sie war und was das für mich bedeutete.

Ihr ging es wohl ähnlich, denn sie erstarrte voller Grauen, als sich unsere Blicke fanden. Mehr noch, sie schlug sich beide Hände vor den Mund und schwankte einen Moment, als ob sie zu Boden sacken wollte. Mehr sah ich nicht, denn schon packte ich Susann am Handgelenk und riss sie von der Kiste herunter.

»Kayden!«, kreischte sie und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Aber ich achtete nicht mehr groß auf sie, innerlich war ich geschockt, fluchte beständig vor mich hin und verstand nicht, wie das hatte passieren können.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, war das Einzige, das ununterbrochen aus meinem Mund kam, während ich Susann von dem Platz zerrte.

»Kayden, das Feuerwerk«, jammerte meine Freundin, aber ich war so in Panik, dass ich nicht auf sie reagieren konnte. Ich musste weg, nur weg. Von dem Platz, dem Feuerwerk, von ihr.

Als sich Susann sträubte, ließ ich ihre Finger los, denn ihr Wohlbefinden rückte ganz weit in meinem Geist zurück. Alles, was mich beherrschte, war ein unbändiger Fluchtinstinkt. Denn das Auftauchen des braunhaarigen Mädchens bedeutete für mich nur eins: ein Leben als Knecht der Regierung.

Susann schrie entsetzt, als ich sie zurückließ, um mich rüde durch die Menschen zu kämpfen. Schnell folgte sie mir und bemühte sich an mir dranzubleiben. Dabei schluchzte sie immer wieder meinen Namen, aber ich konnte einfach nicht anhalten.

Ich wollte nur weg.

Gefühlte Stunden rannte ich, bis die vielen Menschen hinter uns zurückblieben, die Stadt stiller wurde und ich am Ende vollkommen außer Atem war. Schwer nach Luft ringend blieb ich stehen und stützte mich auf den Oberschenkeln ab. Trotzdem paralysierte die Panik noch immer meinen Geist. Ich sah nur sie vor mir. Wieso nur ausgerechnet sie?

»Kayden?«, fragte mich Susann verzagt. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie noch immer bei mir war, aber nun trat sie zu mir und ging in die Hocke, damit sie mir in die Augen sehen konnte. Auch ihr Atem ging schwer, wurde jedoch nicht von dem Grauen angetrieben, das mich in der Hand hielt. »Wieso hast du solche Angst? Was ist passiert?«

Erst hier, in einer der weniger beleuchteten Straßen, erkannte man das leichte Schimmern ihrer grünen Augen, das von einem ihrer Experimente zurückgeblieben war, und durch den Schleier, der sich auf meinen Geist gelegt hatte, drang, dass sie eine meiner besten Freundinnen war. Jemand, der verstand, was in mir vorging, sobald ich es in Worte packen konnte.

»Das Mädchen mit dem braunen Haar«, brachte ich hervor, aber ich erkannte sofort an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck, dass sie Susann nicht aufgefallen war. Wieso auch? Für sie hatte sie keinerlei Bedeutung. »Susann, ich habe meine Pro gesehen.«

Scharf sog meine Freundin die Luft ein und ihre Augen weiteten sich entsetzt. »Bist du dir sicher?«

»Verdammt sicher. Ich habe sofort die Verbindung zu ihr gespürt.« Erneut fluchte ich und hasste die Gabe, die mir von Natur aus gehörte. Ich war kein Knecht der Regierung und das Auftauchen meiner Pro würde daran nichts ändern. Aber ich spürte jetzt schon, wie es mich wieder zu ihr hinzog. Sie war mein Geburtsrecht, ob ich wollte oder nicht.

Wieder übermannte mich die Panik, aber Susann unterdrückte sie, indem sie nach meiner Hand griff und mich fortzog. »Komm, mir müssen zurück ins Versteck, ehe eure Bindung noch stärker wird.«

Dankbar, dass Susann in solchen Situationen ihrem Alter entsprechend handeln konnte, überließ ich ihr das weitere Vorgehen und versuchte derweil das Grauen in mir zurückzudrängen. Aber es sprang mich immer wieder wie ein Raubtier an, denn ich konnte das Mädchen mit dem braunen Haar und den hellen Augen nicht vergessen. Meine Pro.

Summer

Ich wusste nicht, wieso ich den Blick von den wunderschönen Lichtern weit über mir nahm, denn es war das erste Mal seit Wochen, dass ich endlich wieder an der frischen Luft war. Ich wollte mich ablenken lassen, das Glück zulassen, das der Anblick und die Freude all der Menschen um mich herum in mir auslösten. Aber ich wandte trotzdem den Kopf und mein umherschweifender Blick fand wie von selbst die blauen Augen eines jungen Mannes, der nur wenige Meter hinter mir und Glenn stand. Für eine Sekunde betrachtete ich dieses hübsche Blau und überlegte, wieso es mir so bekannt vorkam. Doch dann fuhr ein solcher Schock durch mich hindurch, dass es beinahe wehtat.

Ich kannte den Mann nicht.

Mir waren seine Augen fremd und ich hatte auch noch nie genau jenes Zusammenspiel von markantem Kinn und Lippenschwung, wie er es aufwies, gesehen. Und doch erkannte ich ihn – oder eher was er war – und ich wusste mit absoluter Sicherheit, wer da kaum drei Meter von mir entfernt stand. Aber das durfte nicht sein! Was hatte ich getan, dass ich so bestraft wurde? Nur ein einziges Mal mischte ich mich unter andere und schon musste ich ihm begegnen?

Ein entsetzter Schrei wollte sich aus meiner Kehle lösen, aber ich schlug mir schnell die Hände vor den Mund. Den Mann schien es nicht weniger zu schocken, mich zu sehen, denn er starrte mich mit großen Augen an, ehe er die Hand einer zierlichen Frau packte und die Flucht ergriff. Innerhalb einer Sekunde verschwand er, aber die Katastrophe war bereits angerichtet. Ich spürte den beginnenden Zug, die Sehnsucht in mir aufbranden, die mich unweigerlich zu ihm führen würde.

Zu meinem Contra.

Tränen schossen mir in die Augen und aus Hilflosigkeit ließ ich es zu, dass sie mich in die Knie zwangen. Schluchzend sackte ich zu Boden und barg das Gesicht in den Händen. Wieso nur? Litt ich nicht bereits genug? Das war unfair, unfair, unfair!

»Summer, was ist denn plötzlich los?«, hörte ich Glenn fragen und nahm wahr, wie sich der große Mann neben mich hockte. Natürlich berührte er mich nicht, aber ich spürte trotzdem, wie er sich unruhig bewegte, obwohl ich das Rascheln seiner Kleidung bei dem Lärm um mich herum nicht hören konnte. Ich wusste, dass ich nicht so viel Aufmerksamkeit auf mich ziehen durfte, aber ich konnte es nicht zurückhalten und schluchzte immer weiter.

»Summer!«, sagte Glenn leise und nun viel strenger. »Du vergisst dich.«

Das rüttelte mich auf, denn es war schon gefährlich genug, mich überhaupt unter anderen Menschen aufzuhalten. Die Kontrolle zu verlieren war nicht nur für mich riskant, sondern auch für alle anderen. Bestürzt nahm ich die Hände herunter und spürte das leise Knistern, das mich umspielte. Wie sehr ich es hasste!

Wut mischte sich unter die Hilflosigkeit und ohne eine Erklärung an Glenn abzugeben, sprang ich auf und schlängelte mich durch die Besucher des Feuerwerks. Zum Glück waren sie zu abgelenkt, um auf etwas anderes zu achten als die Explosionen weit über uns, denn ich konnte es nicht immer verhindern, sie zu berühren und damit kleine Stromstöße zu verschicken. Ich hörte Glenn verwirrt meinen Namen rufen, aber er würde mir so oder so folgen, weswegen ich mir keine Gedanken um ihn machte. Schnell drückte ich mich durch die Menge, immer die Richtung wählend, die von dem jungen Mann fortführte, der schon lang nicht mehr dort stand, wo ich ihn gesehen hatte.

Durch meine Unachtsamkeit zuckte immer wieder ein Schmerz durch mich hindurch, der von der Berührung mit anderen im Zusammenspiel mit meiner Gabe verursacht wurde. Aber ausnahmsweise machte er meine Gedanken klarer, drängte die Tränen zurück und ließ mich vorsichtiger weiterlaufen. Ich durfte nicht auffallen, sonst würden sie mich schneller fangen, als ich blinzeln konnte.

Glenn holte nun zu mir auf und sorgte dafür, dass mir der Weg frei gemacht wurde. Er war so groß, dass kaum jemand an ihm vorbei zu mir sehen konnte und damit auch niemand die kleinen Blitze wahrnahm, die immer wieder über meine Haut sprangen. Ich musste mich unbedingt beruhigen. Aber dann schwebte die Erinnerung an den jungen Mann mit dem schwarzen Haar und den blauen Augen aus meinen Gedanken empor und ich hätte wieder zu weinen beginnen können. Wieso nur? Tausende Menschen waren hier und ich suchte mir ausgerechnet einen Platz in seiner Nähe.

Ich legte mir eine Hand an die Brust, während ich Glenn blind folgte. Am liebsten hätte ich in mich hineingegriffen und das warme Gefühl, das in mir erblühte, herausgerissen. Ich wollte es nicht! Tränen verschleierten mir nun doch die Sicht und ich nahm erst wahr, dass wir uns von dem Platz entfernt hatten, als Glenn in eine stille Gasse einbog und anhielt. Wieder sank ich zu Boden, obwohl er kalt und dreckig war, schlang die Arme um meinen Oberkörper und gab mich dem Kummer hin.

»Summer«, hörte ich Glenns tiefe Stimme und mein Freund kniete sich besorgt neben mich. Dass ich mein Leben verfluchte und ab und an auch einfach mal in Tränen ausbrach, kannte er von mir, aber ich musste ihn sehr überraschen gerade jetzt damit anzufangen. Allerdings war ich unwillig und wollte jetzt nicht reden.

»Geh weg«, jammerte ich und wusste dabei, dass ich unfair und kindisch war. Glenn ließ sich davon aber wenig beeindrucken.

»Du weißt, dass ich das nicht tun werde. Von mir aus warte ich die ganze Nacht, bis du deine merkwürdige Laune überstanden hast«, bemerkte er und setzte sich tatsächlich neben mich. Normalerweise brachte mich dieses treue Verhalten zum Lachen, heute aber nicht. Leidend sah ich ihn an und der bekannte Anblick seiner warmen braunen Augen, die hinter seinen blonden Stirnfransen hervorschauten, beruhigte mich so weit, dass die Tränen versiegten. Glenn würde nicht zulassen, dass mich die Regierung fand. Er würde mich beschützen.

»Ich habe ihn gesehen«, hauchte ich deswegen. Ich sah Glenn an, dass er nicht verstand, und setzte deswegen hinzu: »Meinen Contra.«

Das gleiche Grauen, das auch in mir tobte, spiegelte sich in Glenns Augen, die er weit aufriss. Dann fluchte er und sprang auf die Füße. »Wir müssen sofort weg, komm.«

»Nein!«, kreischte ich, als er wie selbstverständlich nach meiner Hand griff.

Aber es war bereits zu spät.

Seine Finger schlossen sich um mein nacktes Handgelenk und verursachten dadurch eine heftige Entladung. Wir wurden beide zurückgeschleudert, als sich die gesammelte Elektrizität in mir einen Weg nach außen suchte. Schmerzhaft schlug ich ein paar Meter weiter auf den Asphalt, aber im Gegensatz zu Glenn spürte ich weiterhin das Brennen des Stroms in meinen Adern. Mein Freund hatte nur ordentlich eine gewischt bekommen, aber in mir flammte durch die Berührung das aggressive Element auf und ließ mich vor Schmerz wimmern. Ich zuckte zwar nicht, aber ich wand mich vor Qual. Zu sehr darin gefangen hörte ich kaum, wie Glenn sich fluchend auf die Beine kämpfte und zu mir gewankt kam.

»Entschuldige, ich habe es in meiner Panik vergessen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Ich konnte nicht antworten und versuchte stattdessen die wild um sich schlagende Elektrizität wieder unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte heute lang, weil mich viel zu viele starke Gefühle durchtobten. Als das Knistern langsam nachließ, blieb ich völlig kraftlos auf dem dreckigen Asphalt liegen.

»Summer«, hörte ich Glenn behutsam sagen, aber ich ignorierte ihn. Ich wollte gerade einfach nicht. Da beugte er sich über mich, um mir in die Augen zu sehen. »Es tut mir leid, aber wir müssen weiter. Du kannst hier nicht einfach liegen bleiben.«

»Wie du siehst, kann ich das«, antwortete ich flapsig und ließ den Blick über den Teil der Gasse gleiten, den ich erkennen konnte.

Sie war schmal, vollgestellt mit Kartons, Mülleimern und alten Möbeln, zudem beleuchteten nur zwei alte, verblichene Laternen die hohen, fensterlosen Häuser. Also eine Gegend, in der ich durchaus ein paar Minuten trotzig und schwach sein konnte, ohne dass gleich jemand über mich stolperte. Und Glenn würde schon darauf achten, dass mich niemand überfiel.

Nun seufzte mein Begleiter jedoch lang gezogen und musterte mich besorgt. »Summer, wenn du diese Schmerzen nicht mehr ertragen möchtest, bringe ich dich zu einer der Meldestellen.«

Geschockt starrte ich Glenn an und setzte mich langsam auf. »Wieso bietest du mir das an? Willst du nicht mehr, dass ich bei dir bin?«

Glenn rollte mit den Augen und schnipste mir im nächsten Moment gegen die Stirn. Auch das verursachte eine kleine Entladung, wie jedes Mal, wenn ich berührt wurde, aber sie schmerzte uns beide nur geringfügig. »Du dumme Nuss, so meinte ich das natürlich nicht.« Er klang wütend, aber das verpuffte sofort wieder. Sein Blick wurde sanft und bedauernd. »Ich ertrage es nur nicht, dich leiden zu sehen. Die Regierung kann dir helfen …«

»Indem sie mich an den Typen mit dem schwarzen Haar bindet und den Rest meines Lebens in ihrem Bunker einsperrt?«

»Summer, es ist eines der modernsten Hochhäuser der Welt.«

»Mir doch egal! Ich würde dich und die anderen verlieren … Meine Freiheit, mich selbst …« Ich schüttelte den Kopf. »Das will ich nicht. Außerdem … ich glaube, mein Contra denkt genauso.«

»Wie kommst du darauf?«, wollte Glenn wissen, schien bei meinen Worten jedoch erleichtert.

Ich hob den Kopf, blickte in die Richtung, in die mich die Bindung zu meinem Contra, die sofort aufgeflammt war, als wir uns erkannt hatten, ziehen wollte. »Weil er ebenso entsetzt ausgesehen hat, wie ich mich fühle. Er ist sofort davongestürmt, als er mich gesehen hat.«

Glenn schwieg mehrere Sekunden lang und deutete dann die Gasse entlang. »Komm, wenn du nicht zur Regierung willst, sollten wir zurück. Und … in der Zwischenzeit kannst du mir von ihm erzählen. Deinem Contra.«

Die letzten beiden Wörter knurrte er beinahe und ich musste kichern, weil ihn allein der Gedanke an jemanden, der so eng mit mir verbunden war, eifersüchtig machte. Und das munterte mich auf. Also rappelte ich mich auf die Füße und trat neben Glenn.

»Keine Sorge, an dich kommt er mit Sicherheit nicht heran.«

Kapitel 2

Kayden

Vom großen Platz aus dauerte es nicht lang, bis wir in unserem Versteck ankamen. Der East Block grenzte direkt an den mittleren Bezirk, in dem das Feuerwerk stattgefunden hatte, und sobald wir die hell erleuchteten Straßen verließen, atmete ich auf. Ich hatte das Gefühl, nun weit genug von meiner Pro weg zu sein und auch langsam von meinem Fluchtinstinkt ablassen zu können.

Durch einen alten, längst nicht mehr benutzten Kanalzugang gelangten Susann und ich in die dunkle Stadt. Dabei handelte es sich nicht etwa um die Kanalisation, sondern um ein ehemaliges Viertel, das in den Jahren, nachdem Elektrizität wieder genutzt werden konnte und mehr Platz gebraucht wurde, einfach überbaut worden war. Hier unten zogen sich ganze Straßenzüge mit noch bewohnbaren Häusern entlang, die von einer längst vergangenen Zivilisation genutzt und für mich zu einer Heimat geworden waren.

Ich ließ meinen Blick über die ferne Decke streifen, die jedes einzelne Dach überspannte und dadurch eine anhaltende Nacht verursachte. Doch was hatten unsere Vorfahren am meisten genutzt? Genau, Elektrizität. Wir hatten ein besser ausgebautes Stromnetz als die Bewohner über uns und wir vermissten niemals das Licht. Denn wir zwackten uns einfach den Strom, den wir benötigten, von der Regierung ab. Illegal natürlich. Und obwohl sie das wusste, konnte sie nichts dagegen machen. Wir, die wir hier unten lebten, kannten viel zu viele Wege, um schnellstmöglich zu verschwinden. Uns bekam man hier nicht raus.

»Geht es dir nun besser?«, fragte mich Susann und musterte mich kritisch von der Seite.

»Ja«, gab ich zu, während wir zwischen die ersten Häuser traten und augenblicklich von dem Summen Hunderter Stimmen umgeben wurden. Stände erstreckten sich über die gesamte Länge der vor uns liegenden Straße, deren Händler alles anboten, was man zum Leben brauchte. Gerade jetzt, zu Beginn der Nacht, war auch jede Menge los und ich zog Susann zu mir heran, damit ich sie in den Massen nicht verlor. Und auch damit niemand meine nächsten Worte verstand. »Mich hat ihr Auftauchen mehr aus dem Konzept gebracht, als es sollte. Ich wusste doch, dass ich ihr irgendwann begegnen würde.«

Unglücklich schüttelte ich den Kopf, nickte dann aber einem der Händler zu, der mich und Susann freundlich begrüßte. Ich durfte nicht auffallen. Jeder hier kannte mich und wusste, dass ich ein eingetragener Contra war und mich sonst eigentlich wenig aus der Fassung brachte. Wenn ich mich anders verhielte, wüsste bald jeder, dass ich meiner Pro begegnet war. Und das wäre richtig mies.

Susann schnalzte mit der Zunge. »Du bist aber auch dermaßen in Panik geraten … Ich habe schon gedacht, du lässt mich einfach zurück.«

»Entschuldige«, meinte ich mit einem schiefen Lächeln. »Aber bei mir ist einfach eine Sicherung durchgeknallt.«

»Der smarte Kayden benimmt sich wie eine kreischende Frau, die eine Maus sieht.«

Ich rollte mit den Augen und schubste Susann grob zur Seite. Sie lachte jedoch nur, ehe sie sich fing und zu mir zurückgetänzelt kam. »Wie war sie denn so? Wir wussten bisher ja nicht einmal, ob dein Pro männlich oder weiblich ist.«

»Shh«, machte ich schnell und schaute Susann finster an. »Schrei es doch gleich heraus, damit es jeder hört. Warte wenigstens, bis wir zu Hause sind. Dann erzähl ich es dir, obwohl ich sie am liebsten gleich wieder vergessen würde …«

Susann betrachtete mich erneut von der Seite, aber ich wich ihrem Blick aus. Mir war gerade nicht danach, von ihr analysiert zu werden.

»Ist die Bindung denn schon stark?«, fragte sie schließlich leise.

Unwillkürlich legte ich mir eine Hand an die Brust, dorthin, wo eine Wärme in mir entstanden war, die wohl nie mehr vergehen würde. Mein Körper forderte sein Geburtsrecht ein, aber ich wollte das Gefühl nicht wahrhaben und bisher war es zum Glück auch nicht sehr präsent. »Nein, sie ist nur ganz schwach und ich werde sie ignorieren können.«

»Hoffen wir es«, murrte Susann und schlängelte sich an Menschen und Marktständen vorbei, über denen Girlanden sanftes Licht verströmten.

Wenn eine unendliche Nacht herrschte, musste man durch das künstliche Licht einen Tagesrhythmus entwickeln, mit dem der menschliche Körper klarkam. Die sanfte Beleuchtung derzeit stand für die Nacht und ich merkte, wie auch ich langsam müde wurde, obwohl ich noch nicht lang auf den Beinen war.

»Ich will nicht, dass du wegmusst«, flüsterte Susann so leise, dass selbst ich sie kaum verstand. Aber ich nahm die Angst in ihrer Stimme wahr und legte ihr deswegen eine Hand auf den Kopf.

»Keine Sorge, mich bekommt die Regierung nicht. Niemand kann mich zwingen mich an das Mädchen zu binden und so entsetzt, wie sie mich angestarrt hat, wird sie es ebenfalls nicht wollen.«

»Meinst du?«, fragte Susann verwundert. »Vielleicht war sie nur überrascht.«

»Nein, sie war definitiv entsetzt. Außerdem: Was denkst du denn, wieso meine Pro bisher nicht gefunden wurde, obwohl sich die Regierung redlich bemüht? Es war von Anfang an klar, dass wir vom Alter her nicht weit auseinanderliegen und es sie daher geben musste. Jemand muss sie verstecken.«

»So wie wir dich verstecken?«

Ich schnaubte abschätzig. »Ja, nur dass mich die Regierung schon in ihrer Kartei hat.«

Noch immer könnte ich meine Eltern dafür hassen, dass sie mich als kleines Kind zu einer der Meldestellen geschickt hatten, als ihnen mein phänomenales Können im Umgang mit Elektrizität aufgefallen war. Voller Wut schlossen sich meine Hände zu Fäusten, aber ich löste sie wieder, als ich es bemerkte. Es würde nichts an meinem Leben ändern, wenn ich die beiden verfluchte. Es machte ja doch nichts besser.

Ich schüttelte den Kopf, als Susann eine weitere Frage stellen wollte. Sie akzeptierte das ausnahmsweise und folgte mir schweigend, als ich sie durch die volle Straße führte und wenige Minuten später in eine stille Seitengasse einbog. Unsere Schritte gaben auf dem Kopfsteinpflaster klackende Geräusche von sich und die gewohnten Laute, zusammen mit dem leicht muffigen Geruch nach Wasser und Erde, beruhigten mich weiter. Ich war zu Hause. Hier würde mich niemand schnappen können. Schließlich kannte ich mich gut genug aus.

Die Wärme in meiner Brust ignorierend folgte ich dem Weg, bis er langsam anstieg. Hier bog ich nach rechts, was Susann und mich auf eine breite Allee führte, an der frei stehende Villen standen, die mit der bedrohlichen Decke über ihnen skurril wirkten. Die Fassaden und Umzäunungen waren überraschend gut erhalten, aber die Pflanzen hatten die ständige Dunkelheit natürlich nicht überstanden, weswegen die Gerippe Dutzender abgestorbener Bäume wie unheimliche Wächter sowohl die Allee als auch die Vorgärten der Villen beschützten.

Susann hatte mir schon vor langer Zeit anvertraut, dass sie den Anblick gruselig fand und dies ein weiterer Grund war, weswegen sie das Haus lieber seltener als häufiger verließ. Mich störten die alten Wächter aber nicht, eher fühlte ich mich durch sie sicherer.

Zielstrebig peilte ich eine der Villen an und schob das rostige und laut knarzende Gartentor auf, um Susann vorzulassen. Dabei glitt mein Blick über die weiße Fassade und die halbrunden Balkone, die viele der Kassettenfenster umgaben. In der Stadt über uns hätte so ein Haus nicht nur als Platzverschwendung gegolten, ich hätte es auch mehr als kitschig empfunden. Doch hier, in der dunklen Stadt, sah es einfach nur majestätisch und mächtig aus.

Ein Lächeln fand bei dem Gedanken einen Weg zurück in mein Gesicht und ich folgte Susann zufriedener. Beinahe rückte das Erlebte von heute Abend so weit zurück, dass ich es vergessen konnte – aber ich durfte es noch nicht.

Susann betrat bereits die Villa und verkündete in der Eingangshalle laut, dass wir zurück waren. Ich folgte ihr kopfschüttelnd, denn ihre Stimme trug so weit, dass sie wahrscheinlich noch die halbe Allee entlang zu hören war. Aber sie schreckte auch wie gewollt die Bewohner auf, denn kaum dass ich die Tür schloss, hörte ich bereits eine weiche Stimme meinen Namen rufen.

Ich sah die breite, frei stehende Treppe hinauf, die sich im ersten Stock teilte und nach rechts und links in die verschiedenen Flügel führte. An ihrem oberen Ende stand Julie und grinste breit, als mich ihre großen braunen Augen fanden. Schnell eilte sie herab und in dem Licht, das von dem Kronleuchter weit über ihr herabschien, schimmerte ihr blondes Haar wie flüssiges Gold. Ich nahm ihren Anblick zufrieden auf, denn in dem leichten Kleid, das sie trug, wirkten ihre Kurven nur noch schöner.

Mit einem Jauchzen schlang sie die Arme um meinen Hals, kaum dass sie bei mir ankam, und ich erwiderte ihre Umarmung liebend gern. Ihr blumiger Geruch und das bekannte Gefühl ihres Körpers unter meinen Fingern ließ mich tief durchatmen und die letzten Schatten vergessen. Julie war neben Susann ein weiterer Grund, wieso ich niemals zulassen würde, dass mich die Regierung bekam.

Aber sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Mit einem Stirnrunzeln schob sie mich von sich und musterte mein Gesicht. »Okay, was ist los? Du siehst bedrückt aus. Ist bei dem Feuerwerk etwas passiert?«

»Ja, aber belaste dich damit nicht. Ich muss nur kurz zu Thor. Ist er da?«

Ich erkannte deutlich den Missmut in Julies Augen, weil ich ihr nichts erzählen wollte. Trotzdem nickte sie und deutete nach rechts in den Westflügel, in dem gerade auch Susann verschwand. Dort lagen die Arbeitsräume von Thor, aber auch die Labore. Es war klar, dass Susann sich sofort wieder dort verschanzen würde. Wahrscheinlich hatte sie meine Pro bereits vergessen.

»Danke, ich werde schnell zu ihm gehen.« Probeweise zog ich Julie für einen Abschiedskuss zu mir, aber wie erwartet drehte sie den Kopf, sodass ich nur ihre Wange traf. Entschuldigend lächelte sie und tätschelte kurz meine Brust, ehe sie sich von mir löste.

Ich atmete frustriert durch, akzeptierte ihre Zurückhaltung aber und wandte mich dem Westflügel zu. Zwar waren Julie und ich irgendwie zusammen, aber sie konnte sich bisher noch nicht dazu durchringen, das zwischen uns zu vertiefen. Verdammt, es war doch nur ein Kuss! Aber ich mochte sie wirklich, weswegen ich warten würde, bis sie dazu bereit war.

Trotzdem schob ich missmutig die Hände in meine Hosentaschen, während ich durch den langen Flur lief, von dem nicht nur mehrere Türen abgingen, sondern auch vereinzelte Gänge. Auf meiner linken Seite zogen sich Fenster entlang, die immer wieder den Blick auf die knorrigen Wächter im Vorgarten freigaben.

Auf der Hälfte des Weges rüttelte mich eine Bewegung auf, weswegen ich zu einer der Türen sah, in deren Rahmen jemand stand und mich feist angrinste. »Wieso schaust du denn so finster, Kayden? Hat dich Julie mal wieder abblitzen lassen?«

»Ja, Isaac, hat sie«, murrte ich, winkte ihn aber sogleich hinter mir her, als ich einfach an ihm vorbeiging, ohne langsamer zu werden. »Aber daran liegt es nicht, dass ich so mies drauf bin. Komm, ich muss zu Thor und ihm was erzählen. Ich will, dass du dabei bist.«

Mein bester Freund, den ich bereits kennengelernt hatte, als wir beide mit Windeln im Sandkasten gespielt hatten, hob eine Augenbraue und schloss sich mir wortlos an. Er wusste, dass ich ihm sofort alles erzählt hätte, wenn ich gewollt hätte, weswegen er nicht nachfragte. Ich mochte das stumme Verstehen zwischen uns und war dankbar für die Freundschaft des stillen Mannes. Er war Grund Nummer drei, weswegen ich niemals für die Regierung arbeiten würde.

Schweigend folgten wir dem Gang bis zu seinem Ende, an dem eine schwere Holztür auf uns wartete. Fest klopfte ich an und wartete, dass uns Thor hineinrief. Natürlich hielt sich nicht wirklich der nordische Gott in diesem Haus auf, sondern einzig ein Mann, dem der Name ausgesprochen gut stand. Denn Thor war der größte Elektrizitätsschmuggler der ganzen Stadt und in diesem Metier inzwischen fast mächtiger als die Regierung selbst.

»Herein«, hörte ich eine tiefe Stimme dumpf durch das Holz zu uns dringen.

Ich tauschte einen Blick mit Isaac, der jedoch nur fragend eine Augenbraue hob. Da ich noch nichts verraten wollte, öffnete ich die Tür und betrat vor meinem Freund den Raum. Vor uns lag Thors Arbeitszimmer, das mit allerhand Unterlagen und Büchern vollgestopft war. Ich fragte mich jedes Mal, wie der Mann hier etwas finden konnte, aber Thor war kein Mensch für Ordnung. Er hatte andere Dinge zu tun, als aufzuräumen. Gegenüber der Tür stand ein riesiger Schreibtisch, der aber passend für den Berg an Mann war, der dahinter saß.

Der Schmuggler sah nicht nur unfassbar beeindruckend aus, sondern auch auf eine gewisse Art unheimlich. Allein seine Größe schüchterte viele Leute ein, genauso wie die Breite seiner Schultern und der dichte Bart. Die dunkelbraunen Augen, die man nur undeutlich an den schwarzen Stirnfransen vorbei erkennen konnte, waren finster zusammengekniffen und musterten Isaac und mich mit unverhohlenem Tadel.

»Kayden, was willst du? Ich muss arbeiten«, begrüßte er mich mit einer Stimme, die wie aneinanderreibende Steine klang.

»Ich weiß, verzeih mir, Thor, aber ich vermute, dass du wissen willst, was heute passiert ist, als ich mit Susann bei dem Feuerwerk war.«

Neugierde blitzte in den dunklen Augen vor mir auf und Thor lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Stuhl zurück, sodass er bedrohlich knarrte. »Eigentlich habe ich nicht erwartet, dass etwas passiert.«

»Ich auch nicht«, gab ich mit einem Seufzen zurück, strich mir durch das Haar und bedeutete Isaac dann die Tür zu schließen.

Das verwunderte nicht nur meinen Freund, sondern auch Thor. Zwar lebten viele Leute hier im Haus, aber eigentlich hatten wir keine Geheimnisse voreinander. Doch in diesem speziellen Fall musste es sein. Noch einmal atmete ich tief durch und sprach es dann einfach aus.

»Ich habe meine Pro gesehen.«

Sofort schossen Thors Augenbrauen hinauf unter sein Haar, während Isaac kräftig fluchte.

»Bist du dir ganz sicher?«, fragte mein Freund und packte mich glatt an den Schultern. Er wusste, was ich alles bei der Regierung hatte erdulden müssen, nachdem ich mich gemeldet hatte, und wollte deswegen ebenfalls nicht, dass ich an meine Pro gebunden wurde.

Sacht hob ich eine Hand und legte sie mir an die Brust, bevor ich die Augen schloss und die zarte Bindung erspürte, die mich leise zu dem braunhaarigen Mädchen zurückzog. »Ja, ganz sicher. Ich habe sie sofort erkannt, obwohl das eigentlich gar nicht möglich sein dürfte. Und ihr ging es ebenfalls so. Die Bindung ist sofort entstanden, auch wenn sie nur hauchzart ist.«

»Also handelt es sich um eine Frau?«, fragte Thor und ich öffnete die Augen wieder.

»Ja, oder eher ein Mädchen. Sie war mit Sicherheit noch keine achtzehn.«

Erneut fluchte Isaac und ließ mich los, um ruhelos durch den Raum zu tigern. »Das ist richtig mies. Wieso nur musste das sein? Sie hätte in jeder der anderen neun Städte sein können, aber nein, sie muss hier auftauchen.«

»Wir wussten, dass es nur eine Frage der Zeit ist«, bemerkte Thor beherrscht, wie er nun einmal war. »Es ist ihr Geburtsrecht, das sie zusammenführt. Es ist eher ein Wunder, dass es so viele Jahre gedauert hat, bis sie sich trafen. Wie hat sie reagiert?« Die Frage war an mich gerichtet.

»Sie schien genauso entsetzt zu sein wie ich, aber ich blieb nicht lang genug, um es genauer beobachten zu können.« Missmutig verzog Thor den Mund, weswegen ich ihn genauer betrachtete und schließlich sagte: »Dir gefällt das nicht.«

»Nein, aber das sollte dich nicht verwundern. Ich bin noch immer der Meinung, dass es dem Volk guttäte, wenn es ein freies Strompaar gäbe. Ihr könntet zusammen viel für die Leute hier tun.«

»Und du kämst sehr günstig an weitere Elektrizität, die du verscherbeln kannst«, empörte sich Isaac, ohne nachzudenken.

Augenblicklich verfinsterte sich Thors Blick noch weiter, aber ich zog seine Aufmerksamkeit wieder auf mich, bevor er wütend auf meinen Freund werden konnte. »Du weißt, dass auch ich nichts dagegen hätte, wenn es nicht zu riskant wäre. Sobald unsere Verbindung bekannt wird, hält nichts mehr die Regierung davon ab, uns mit Gewalt in ihre Hand zu bekommen. Sie würde die dunkle Stadt im Notfall sogar zerstören. Thor, bei einem Strompaar gehen sie über so viele Leichen, wie es eben kostet. Das können wir nicht verantworten.«

Thors harter Blick fixierte mich wie ein Schraubstock, aber dann nickte er. »Da hast du allerdings recht.«

»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Isaac, der sich zum Glück wieder beruhigt hatte. Thors Geduld war nicht sonderlich stark bemessen und einen Wutanfall des Mannes wollte ich nicht riskieren.

»Ich werde den Zug, der mich zu dem Mädchen führen würde, einfach ignorieren und …«

»Nein«, unterbrach mich Thor. »Genau das solltest du nicht machen. Sobald du dieses Haus verlässt, wirst du ab sofort zuerst auf dieses Gefühl lauschen und bewusst dagegen arbeiten. Wenn du es ignorierst und, ohne nachzudenken, losgehst, wird es dich automatisch zu ihr führen. Verstanden?«

Ich nickte voller Wut, denn ein Schwall von Hass auf meine Gabe und die Regierung, die sie für sich haben wollte, wallte durch mich hindurch. Erneut wurde mein Leben eingeschränkt. Und das einzig wegen einer simplen Begegnung mit einer Fremden.

Summer

Ich spürte Glenns Blick, den er mir aus den Augenwinkeln zuwarf, aber ich ignorierte ihn, weil ich keine Lust auf eine Unterhaltung mit ihm hatte. Es würde sich ja doch nur alles um meinen Contra drehen und es genügte mir schon, dass ich seine Existenz stetig in mir wahrnahm.

An sich war die leichte Wärme, die mich von hier fort- und zu ihm hinzog, wirklich angenehm. Sie war ein vollkommener Gegensatz zu der zwickenden und unbeherrschten Elektrizität, die durch meine Adern rann, weil sie beständig und sanft war, beinahe zu unauffällig, um sie neben der immensen Kraft in meinem Inneren zu bemerken. Und dadurch nur umso gefährlicher. Denn wenn ich sie mir nicht immer bewusst machte, würde sie mich direkt zu meinem Contra führen.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht mit den Zähnen zu knirschen, und gleichzeitig die Tränen zurückdrängen, die mir schon wieder in die Augen schossen. Als hätte ich es nicht schon schwer genug, musste ich ab heute auch noch auf diese blöde Bindung achten.

Der Lastenaufzug, der uns gerade zu unserem Versteck brachte, wurde langsamer, was mir sagte, dass wir gleich im siebzigsten Stock ankommen würden. Ich nahm meinen Blick von der polierten Metallwand und sah zu dem Display, das langsam die letzten Etagen anzeigte, bis es bei der Siebzig stehen blieb.

»Summer, willst du nicht darüber reden?«, fragte Glenn, als sich die Türen öffneten und wir in einen schlichten Flur traten, der mit einem grauen Teppich ausgelegt war und uns an drei Kurven vorbei zu einer Milchglastür leitete, neben der ein Schild verkündete, dass vor uns die Räume von Kotous Versicherung lagen.

Zumindest offiziell.

Eigentlich verbarg sich dahinter mein Zuhause, aber da Kotou der Meinung war, dass es für mich am sichersten sei, irgendwo zu leben, wo mich niemand vermutete, hatte er Büroräume in einem Hochhaus einer Bank angemietet und sie zu seinem persönlichen Heim umgebaut.

»Nein, will ich nicht«, sagte ich strikt und ging mit steifen Beinen auf die Tür zu.

»Aber du weißt, dass ich es Kotou sagen muss«, versuchte es Glenn weiter und holte mit wenigen Schritten zu mir auf.

»Ja, das weiß ich, aber ich möchte heute einfach nicht mehr daran denken. Ich muss damit selbst erst einmal klarkommen.«

Ich konnte sehen, wie Glenn nickte. »Dann werde ich das Kotou ausrichten, okay?«

Ich hielt inne, als ich meine Finger auf den Griff der Tür legte, und starrte auf das milchige Glas vor mir. »Danke«, sagte ich schließlich. »Es ist lieb von dir, dass du das übernimmst.«

»Schon gut, ich mache das gern für dich.« Die Zärtlichkeit in seiner Stimme berührte mich und brachte mich dazu, ihm ein Lächeln zu schenken, das der große Mann neben mir erleichtert erwiderte.

Glenn war wirklich großartig, lieb, treu und seine Gefühle mir gegenüber ehrlich. Trotzdem würde ich ihn nie berühren können, ohne dass wir beide Schmerzen litten. Das war leider unser Los und obwohl ich das akzeptiert hatte und meine Zuneigung zu ihm so gering wie möglich hielt, betrübte mich das Wissen darum sofort erneut. Heute war wirklich nicht mein Tag.

Mit einem Seufzen drückte ich die Klinke herunter, schob die Tür auf und betrat den öffentlichen Teil unserer Räume. Tatsächlich dienten sie dazu, den Schein einer Versicherungsfirma zu wahren, aber als ich durch eine zweite Milchglastür direkt neben dem Empfangstresen trat, öffnete sich auch schon ein riesiger Wohnraum vor uns.

Ich liebte dieses Zimmer, denn es war so groß, dass es nicht nur eine hochmoderne Küche und einen Essbereich für ein Dutzend Menschen enthielt, sondern auch eine Sofalandschaft und einen Bereich zum Lesen samt vier vollgestellten Bücherregalen. Und dabei bestand eine Wand gänzlich aus Glas und ließ einen Blick weit über die Millionen Dächer der Stadt frei. Hier hatte ich selten das Gefühl, eingesperrt zu sein, obwohl ich vielleicht nur dreimal im Monat das Haus verließ.

Aber es war kein Raum, um allein zu sein. Kaum traten Glenn und ich ein, richteten sich auch schon mehrere Augenpaare auf uns. Denn Glenn und ich waren nicht die Einzigen, die bei Kotou Unterschlupf gefunden hatten.

»Summer!«, rief bereits jemand fröhlich, aber ich ignorierte ihn und schritt schnell, und ohne mich umzusehen, nach rechts, wo ein Gang begann, der zu den Zimmern der einzelnen Bewohner führte. Ich hatte die Nase voll von anderen und wollte nur allein sein. Ich wollte über alles nachdenken und mir bewusst machen, was es für mich bedeutete, meinem Contra begegnet zu sein.

Allein der Gedanke an ihn ließ mich erschauern und ich zuckte zusammen, als durch meine geringe Konzentration etwas Elektrizität aus mir hervorbrach und sich einen zwickenden Weg über meine Haut suchte, ehe sie sich verflüchtigte.

Ich schüttelte den Kopf und verlangsamte meinen Schritt, ehe ich tief durchatmete und meine Schultern kreisen ließ, um sie zu lockern. Ich durfte nicht so kopflos sein. Meine Aufmerksamkeit war mein größter Schutz. Sollten die Barrieren in meinem Inneren fallen, würde mich die Elektrizität augenblicklich töten. Und das konnte leider viel zu schnell passieren.

Niedergeschlagen ging ich zu der letzten Tür am Ende des Flurs und betrat mein Zimmer. Ich liebte meine vier Wände und die integrierte, gigantische Fensterscheibe, die mir noch mehr das Gefühl gab, frei zu sein. Doch obwohl ich mit viel Deko und durch die Positionierung meiner Möbel versuchte alles so normal aussehen zu lassen wie möglich, fielen mir doch die blinkenden roten Lichter auf, die sofort zum Leben erwachten, als ich den Raum betrat. Sie – oder eher die Maschinen, zu denen sie gehörten – überwachten mich, wenn ich hier war, denn auch im Schlaf überfiel mich meine Gabe ab und an. Ich war niemals frei …

Langsam schloss ich die Tür, atmete den vertrauten Duft meines Zimmers ein und ging dann zu der Glaswand, um mich direkt neben sie zu setzen und mich an sie zu lehnen. Glenn bekam immer eine Gänsehaut, wenn ich das tat, aber mir machte es nichts aus, so viel Nichts unter mir zu haben. Eher beruhigte es mich, all die Lichter zu sehen. Es gab mir das Gefühl, über die Elektrizität zu herrschen und nicht von ihr beherrscht zu werden. Das tat gut und auch jetzt ließ mich der Anblick ruhiger atmen.

Das Bild meines Contras trat vor mein inneres Auge und nun hatte ich mich genug unter Kontrolle, um nicht sofort wieder in Panik zu geraten. Das schwarze Haar hatte ihm gut gestanden und im Nachhinein bemerkte ich, dass mir seine Kinnpartie im Zusammenspiel mit seinen Lippen und der geraden Nase gefallen hatte. Auch fragte ich mich, ob ich mich nicht bei seiner Augenfarbe geirrt hatte. Blaue Augen waren oft extrem auffällig und erzeugten einen kalten Blick – ich musste es wissen, schließlich besaß ich selbst welche. Der Blick meines Contras war aber viel wärmer und kein Stück stechend gewesen. Seine Iris hatte mich an einen bewölkten Tag erinnert. Und nun schwebte auch ein Name in meine Gedanken, den die Frau gerufen hatte, als mein Contra sie davongezogen hatte.

»Kayden«, formten meine Lippen und es fühlte sich gut an, wie dieses eine Wort über meine Zunge glitt – beinahe natürlich.