Die Dezemberhitze brennt auf die trockenen Felder und den flimmernden Asphalt der australischen Kleinstadt Tiverton. Constable Paul Hirschhausen hat nicht allzu viel zu tun - bis ein Pferdemassaker die Anwohner erschüttert und dem Constable Rätsel aufwirft. Hirsch entdeckt schlummernde Leidenschaften und kämpft gegen explosive Gewalt.
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Garry Disher (*1949) wuchs im ländlichen Südaustralien auf. Seine Bücher wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter der wichtigste australische Krimipreis, der Ned Kelly Award, viermal der Deutsche Krimipreis sowie eine Nominierung für den Booker Prize.
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Peter Torberg (*1958) studierte in Münster und in Milwaukee. Seit 1990 arbeitet er hauptberuflich als freier Übersetzer, u. a. der Werke von Paul Auster, Michael Ondaatje, Ishmael Reed, Mark Twain, Irvine Welsh und Oscar Wilde.
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Hope Hill Drive
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Ein Constable-Hirschhausen-Roman (2)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Lektorat: Anne-Catherine Eigner
Originaltitel: Peace
© by Garry Disher 2019
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Miller Shani (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31093-3
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Für Karin Pennartz
So kurz vor Weihnachten hatte die Sonne ordentlich Kraft, und Ziegelwände, Blechdächer, Asphalt und das roterdige Flachland strahlten die aufgestaute Hitze all der heißen Tage ab. An diesem Donnerstagvormittag kam obendrein noch ein Grasfeuer dazu.
Hirsch stupste mit dem Schuh einen dicken Wurm aus weichem Teer am Rande des Barrier Highway an und schaute den Löscharbeiten zu. Feuerwehrfahrzeuge aus Tiverton, Redruth und Mount Bryan waren am Werk. Eines davon am Brandherd hinter einem alten Farmhaus abseits der Straße, ein weiteres kümmerte sich um Brandnester, und die Einheit aus Tiverton patrouillierte am Zaun entlang. Kein lodernder Brand – die Flammen fraßen sich langsam durch die schütteren Weizenstoppeln voran. Auch kein großes Feuer – nur eine Ecke der Zypressenhecke des Farmhauses und die Wiese an der Straße. Es war windstill. Wolkenlos, reglos wie auf einem Gemälde.
Ein verdächtiges Feuer.
»Inwiefern verdächtig?«, fragte Hirsch.
Sein Allrad-Dienstfahrzeug der South Australia Police berührte praktisch die Aufschrift Tiverton Electrics auf der Hecktür von Bob Muirs Nutzfahrzeug. Wenn Hirsch einen Freund in der Gegend hatte, dann Muir. Ein sanfter, gelassener Mann, aber durchaus kompetent und entscheidungsfreudig, wann immer er Hand anlegte oder seinen Verstand gebrauchte. Er war in der Gegend so etwas wie der Feuerwehrkommandant.
»Kein Feuerteufel, falls du das denkst«, sagte Muir. »Ich zeigs dir, wenn wir das Okay kriegen.«
Alles, was Hirsch im Augenblick erkennen konnte, war ein Wellblechdach, an dem sich noch ein Rest der roten Farmhausfarbe fand, und eine turmhohe Palme.
Die Einheit aus Tiverton kam näher, am Steuer Kev Henry, der Gastwirt. Zwei Männer hinten, die die Zaunpfosten abspritzten: Wayne Flann und ein Mann, den Hirsch nicht erkannte. Ein Schafscherer? Ein Arbeiter vom Windpark? Nicht wichtig. Flann war wichtiger, zumindest in gewisser Hinsicht. Mitte zwanzig, Schlafzimmerblick, geschmeidige Bewegungen, fast gut aussehend. Stets wirkte er so, als würde er sich amüsieren und sei der Welt einen Schritt voraus. Dieses Feuer machte ihm Spaß. Als er Hirsch sah, machte er eine kurze Handbewegung und spritzte ihm die Dienstschuhe nass.
»Lass das, Wayne«, sagte Muir.
Der Feuerwehrwagen zuckelte weiter, dann knisterte ein Funkgerät. Bob Muir lauschte, sagte: »In Ordnung«, und machte eine Kopfbewegung. »Hier entlang, Constable Hirschhausen.«
Eine lange, ausgefahrene Zufahrt brachte sie zu einer Lücke in der Hecke und zu dem Haus und den Schuppen dahinter. Das Haus war seit Jahren unbewohnt, die Steinwände ergaben sich dem Staub, den Felsen und dem toten Gras. Wo früher Rasen und Blumenbeete gewesen waren, wimmelte es nur so vor Ameisen. Ein Kinderwagen ohne Räder neben einem verbogenen Gartenwasseranschluss; eine bis auf drei, vier Sprossen ruinierte Leiter ans Wassertankgerüst gelehnt. Nichts schien noch heil zu sein. Kaputte Fensterscheiben, Gras in den rostigen und durchhängenden Regenrinnen. Nur die Palme wirkte noch prächtig, und der Boden rings umher war mit trockenen Palmwedeln bedeckt.
Hirsch hielt hinter Muir auf dem Hof neben dem Haus und stieg aus. Hier war der Rauch beißender – verbrannte Vegetation mit einer Spur verbranntem Gummi? Auch die Sonne wirkte seltsam, wie sie verschwommen durch die ausgefransten Palmwedel zwinkerte und wirre Schatten auf den Boden warf.
Hirsch blickte auf und sagte: »Diese alten Anwesen mit ihren Palmen.«
Muir brummte. »Hier rüber.«
Er führte Hirsch an der Seite des Hauses entlang um das Tankgerüst zum Hinterhof. Die Zypressenhecke umgab das Haus von drei Seiten, wie Hirsch erkannte. Das Feuer hatte wohl in einer Ecke angefangen und das Gras verkohlt sowie ein spinnwebenhaftes Durcheinander aus geschwärzten blattlosen Zweigen hinterlassen, bevor es sich auf der Suche nach Brennstoff auf der anderen Seite – die Weizenstoppeln – durch die Hecke gefressen hatte.
»Was hältst du davon?«, fragte Muir und wies auf den schwarzen Staub.
Hirsch sah nach unten. Er hatte Asche auf den Schuhspitzen, nicht nur Staub. Er fühlte sich verschwitzt und klebrig und hatte das Gefühl, als hätte er Grieß zwischen den Zähnen. Dabei war es noch früh am Tag. »Kinder, die mit Streichhölzern spielen?«
Muir war enttäuscht von ihm. »Der Draht, Mann.«
Zusammengerollt in der Asche am Fuß der Hecke lag ein Stück Kabel. Jetzt begriff Hirsch, warum der Qualm so beißend roch: brennendes Plastik. Dann fiel sein Blick auf einen Streifen glänzendes Kupfer. »Ah.«
»Ganz genau«, sagte Muir und breitete die Arme aus. »Wozu sich die Mühe machen und die Isolierung mit dem Messer abtrennen, wenn man sie einfach abbrennen kann? Netter heißer Sommertag, überall trockenes Gras …«
Hirsch grinste. »Vielleicht dachten sie, sie seien hier besser versteckt.«
Muir zeigte auf den trockenen Boden zwischen Haus und Schuppen. »Da drüben wären sie von der Straße aus auch nicht gesehen worden.«
»Wer hat das Feuer gemeldet?«
»Deine Freundin.«
Hirsch konnte es sich bildlich vorstellen. Wendy Street fuhr um sieben Uhr dreißig los, um pünktlich um acht Uhr in Redruth in der Highschool zu sein, so wie immer. Sie sah das Feuer, rief Bob an und wusste, dass Bob bei Hirsch anrufen würde.
»Ziemlich früh für einen hundsgewöhnlichen Kupferdieb«, sagte Hirsch. »Liegt vielleicht an der Landluft.«
Damals, als er in der Stadt noch Detective beim CIB gewesen war, hatte er sich darauf verlassen können, dass die bösen Buben bis mittags schliefen. Er schaute misstrauisch zu dem alten Haus hinüber. »Die haben doch sicherlich nicht die Bruchbude ausgeräumt, oder?«
»Nein. Zu viel Mühe. Das hier ist ihr Stützpunkt. In der Scheune steht eine große Mulde voller Kupfer.«
Hirsch sah hinaus über einen Streifen Ödland, das nur von einer verrosteten Egge, einem löchrigen Ölfass und einem silbrigen Eukalyptus belebt wurde. Eine Scheune, daneben ein offener Unterstand, der an einem Ende eingesunken war wie ein starres Grinsen. »Die sind also schon eine Weile dabei.«
»Würd ich mal schätzen«, sagte Muir.
Hirsch fiel ein Rundbrief ein: Zweitausend gemeldete Diebstähle von Halbedelmetallen in South Australia in diesem Jahr, geschätzter Wert zweieinhalb Millionen australische Dollar. Meistens Kupfer, meistens von Baustellen; daneben auch von Stromtrassen, Eisenbahnstrecken und aus Lagerhäusern. Elektrokabel, Antennenkabel, Transformatoren, Heißwasserrohre. Die Polizei wurde gebeten, die Augen offen zu halten, was ungewöhnliche Aktivitäten oder Hinweise anging, welche allenfalls bla, bla, bla …
Hirsch ging im Geiste den Bezirk durch, Tausende Quadratkilometer, die er zu patrouillieren hatte. In Redruth wurden ein paar Häuser gebaut, aber das war das Problem des Sergeants, nicht von ihm. Hier und da wurden Küchen modernisiert. Die schon lange stillgelegte Eisenbahnstrecke. Da war nicht viel zu holen. Vielleicht wurde das Zeug aus der ganzen Gegend hergeschleppt, um es hier abzuisolieren, zu lagern und abzutransportieren. Hirsch wusste gar nicht, wo er anfangen sollte. Manchmal kam es ihm – dem Neuling im Busch – so vor, als würde es in seinem Job ebenso darum gehen, die Landschaft zu erforschen wie die Umstände der Verbrechen, die in ihr begangen wurden.
»Abdrücke«, murmelte er, dachte an den vor ihm liegenden Papierkram und fragte sich, wie wahrscheinlich es war, so kurz vor Weihnachten noch einen Trupp Kriminaltechniker herholen zu können.
Hirsch fotografierte den Draht in der Asche, das verkohlte Gras ringsherum und die mit geklautem, großteils schon oxidiertem Kupfer gefüllte Mulde. Dann spannte er Absperrband vor den Eingang des Schuppens und rief seinen Sergeant an, die wenig begeistert klang, aber versprach, das CIB in Port Pirie zu benachrichtigen.
Schließlich wägte Hirsch den vor ihm liegenden Tag ab. Donnerstags machte er einen Abstecher in das Hinterland südlich und westlich von Tiverton, montags nördlich und östlich. Hunderte Kilometer die Woche an Kontrollfahrten. Ein älterer Viehzüchter hier, eine Witwe mit einem schizophrenen Sohn da. Polizeipräsenz – das bedeutete eine Tasse Tee, ein Schwatz, eine Nachsorge. Tut mir leid, aber Ihr Wagen ist ausgebrannt unten in Salisbury aufgefunden worden. Ihr Nachbar beschwert sich, dass Ihre Hunde seine Schafe belästigen. Ich bin dazu verpflichtet nachzuschauen, dass Ihr Gewehr und Ihre Schrotflinte ordnungsgemäß eingeschlossen sind. Und haben Sie den rätselhaften Laster wiedergesehen, den Sie letzte Woche gemeldet haben?
Einige der Personen, die er aufsuchte, waren einsam, andere verletzlich. Manche gerieten durch mangelnde Voraussicht in Schwierigkeiten; eine Handvoll war schlichtweg zwielichtig. Aber genau das genoss Hirsch an diesen Patrouillenfahrten donnerstags und montags: die Vielfalt an Menschen und Erfahrungen. Er machte sich gern früh um sieben Uhr auf den Weg, doch heute war es schon fast neun, und er war immer noch erst ein paar Kilometer südlich von Tiverton. Er würde ein paar Abkürzungen nehmen müssen, um die Zeit wieder reinzuholen. Ein paar Leute anrufen, statt bei ihnen vorbeizuschauen.
»Musst du los?«, fragte Muir.
»Ja.«
Muir machte ein unschuldiges Gesicht – Hirsch war sofort auf der Hut – und sagte: »Alles klar für morgen Abend?«
In einem Augenblick der Schwäche, die er sich als Aufbau guter Beziehungen in der Gemeinde schönredete, hatte Hirsch eingewilligt, dieses Jahr in Tiverton Santa Claus zu spielen. Er würde auf der Nebenstraße von Ed Tennants Laden Geschenke an die Dorf- und Farmkinder verteilen, dann den Gewinner der besten Weihnachtsbeleuchtung im Ort bekanntgeben und sich in einem muffigen roten Kostüm lächerlich machen.
»Hau ab, Bob.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Muir und klopfte ihm auf den Rücken.
Hirsch fuhr südwärts über den Barrier Highway. Er hatte das Seitenfenster offen, im CD-Schlitz steckte Emmylou Harris, eine schroffe Country-Klage, die zu seiner Stimmung passte – der Einsamkeit, den Strauchdiebereien, denen er manchmal begegnete. Er durchfuhr das flache Tal, zu beiden Seiten niedrige trockene Hügel, graubraun, durchsetzt mit dunkleren Flecken aus Schatten oder Bäumen, die sich in den steinigen Grund krallten. Steinerne Ruinen an der Straße, weiter entfernt die Dächer von Farmhäusern, eine Reihe von Windturbinen entlang eines näher gelegenen Kamms – die Siedlerjahre, die Mühen der Gegenwart und die Zukunft, alles in einem. Auf halber Strecke eine Hügelflanke hinauf stand eine reglose Staubwolke. Ein Fahrzeug auf einer Schotterpiste? Ein Staubteufel? Schwer auszumachen, in einer Welt, die handeln wollte, aber nicht konnte. Hirsch war nun seit einem Jahr Polizist in Tiverton und wartete darauf, aufgenommen zu werden, doch der Ort hielt ihn auf Armeslänge von sich. Wenn das Leben darin bestand, nach einem wirklichen Zuhause zu suchen – ein Ort, an dem man willkommen war, eine feste Liebe, Seelenruhe –, dann war er noch immer auf der Suche.
In gewisser Hinsicht. Wendy war in sein Leben getreten. In den Augen der Bewohner im Bezirk »gingen sie miteinander«, und Hirsch hatte nichts dagegen. Und er hatte sich mit ihrer pfiffigen, lustigen Tochter Katie angefreundet, die ihm letztes Jahr das Leben gerettet hatte. Es gab eine Menge, für das er dankbar sein konnte.
Hirsch bog nach Westen auf die Menin Road, die die Grenze zwischen den Patrouillengebieten der Polizei von Tiverton und Redruth bildete. Hier oben hatten die Ortsnamen noch Bedeutungen, anders als in der Stadt, fand er. Menin Road, Lone Pine Hill, Mischance Creek, Tar Barrel Corner, Mundjapi – all dies legte Bedeutung und Sinn über die Landschaft. Die Menin Road brachte ihn in besseres Weizenland. Westlich des Barrier Highway regnete es öfter als östlich davon. »Barrier«, Grenze: Noch so eine Bedeutung. Bessere Ernten, Einzäunungen, Straßen, kürzere Entfernungen von einer Farm zur nächsten. Dennoch fuhr Hirsch weitere zwanzig Minuten lang, ohne einer Menschenseele zu begegnen.
Dann entdeckte er Kip.
Er war schon an dem Hund vorbei, bevor er ihn erkannt hatte, also trat er auf die Bremse und bewarf das arme Tier mit Schotter und Staub. Hirsch stieg aus, kauerte sich hin und hielt ihm die offene Handfläche hin. Der Kelpie, der nur noch aus Haut und Knochen, Rippen und Schwanz zu bestehen schien, blieb stehen. Er keuchte zutiefst erschöpft. Ein dumpfes Knurren entfuhr seiner Kehle – es schien ihm unwillkürlich zu entweichen, bevor er es wie aus Scham verschluckte.
»Kip«, sagte Hirsch. »Kippy. Na, komm her, Junge.«
Die Welt blieb stehen. Kein Windhauch und kein Geräusch, bis auf die Rosenkakadus, die in den Eukalyptusbäumen neben einem trockenen Lehmdamm lärmten, und das Ticken des Motors. Kip wedelte langsam mit dem Schwanz.
»Du hast Durst, hm?«, sagte Hirsch.
Er hatte immer genügend Wasser dabei. Im Frachtraum des Toyota, in dem er manchmal Gefangene transportieren musste, gab es ein verschlossenes Metallfach für Handschellen, Fackeln, Seile, Taschenlampe, Beweisbeutel und ein paar Tupperbehälter. Hirsch goss einen kleinen Schluck Wasser in einen dieser Behälter und stellte ihn mitten auf die Straße, auf halber Strecke zwischen Fahrertür und Hund.
Kip ließ sich auf den Bauch fallen, streckte sich und schnüffelte. Dann stand er auf, humpelte voran und ließ sich wieder fallen. Nach einer Weile gelangte er so bis ans Wasser und prüfte es. Dann schlappte er, Tropfen schleudernd, alles auf einmal hinunter, schaute Hirsch an und wartete auf mehr.
»Noch nicht, Junge. Zu viel, zu schnell, ist nicht gut für dich.«
Hirsch kam näher, streckte eine Hand nach dem knochigen Kopf aus und kraulte den Hund zwischen den Augen. Kip drehte sich um, leckte ihm die Hand und ließ sich am Halsband auf den Beifahrersitz lotsen, wo er sich zwei Mal um sich selbst drehte, bevor er sich zusammenrollte, so als würde er endlich wieder auf seiner Lieblingsdecke liegen. Mit der Schnauze auf den Pfoten achtete er genau auf Hirschs Bewegungen, wirkte aber zutraulich. Er traute Hirsch zu, den Heimweg zu kennen.
»Armer Kerl«, sagte Hirsch und tätschelte noch einmal den Hund, bevor er den Schlüssel umdrehte. »Du hast kämpfen müssen, hm?«
Wunden, Blutflecken, ein zerrupftes Ohr, das lohfarbene Fell ohne jeden Glanz.
Hirsch schaute auf die Uhr und ging noch mal alles im Kopf durch. Er würde noch mehr Zeit dabei verlieren, Kip seinen Besitzern zurückzubringen. Er schaute auf sein Handy – kein Empfang.
Einen halben Kilometer weiter, während er mit der rechten Hand lenkte, ein Auge auf der Straße behielt und mit dem anderen auf sein Handy schaute, hatte er plötzlich zwei Balken. Er hielt an, stieg aus, schaute in seinem Notizbuch nach und führte vier Telefonate mit weniger wichtigen Klienten. Es würde nichts ausmachen, wenn er ihnen diesmal keinen Besuch abstattete.
Als Erstes Rex und Eleanor Dunner. Eleanor hob ab. Es täte ihm leid, aber er hätte keine Spuren zu dem Graffitikünstler, der ihren unter Denkmalschutz stehenden Schafscherschuppen besprayt hatte.
»Das ist sehr enttäuschend, Paul.«
Hirsch nahm das gelassen hin. Immer wieder musste er jemanden enttäuschen.
Als Nächstes klärte er Drew Maguire fernmündlich auf, dass es keine Angelegenheit der Polizei sei, wenn die Schafe seines Nachbarn durch ein Loch im Zaun auf das Grundstück von Maguire gerieten.
»Und wenn ich eins niederstrecke?«
»Dann wird das eine Angelegenheit der Polizei.«
Dann ein Anruf bei dem Besitzer einer Brieftasche, die abgegeben worden war. Kein Bargeld und keine Karten mehr drin; er würde sie nächsten Donnerstag vorbeibringen. Schließlich rief er noch bei Jill Kramer an, einer alleinerziehenden Mutter, die von ihrer Ice-süchtigen Tochter ausgeraubt und krankenhausreif geschlagen worden war.
»Sie ist im Entzug.«
»Und geht es ihr gut?«
»Na, den Umständen entsprechend.«
Das war so ein Mantra im Buschland. Hirsch bekam den Satz mindestens ein- oder zweimal die Woche zu hören. Man nahm es hin, wie es war, und traute sich nicht, auf bessere Zeiten zu hoffen. »Wird sie wieder nach Hause kommen, wenn sie rauskommt?«
»Wohin soll sie denn sonst gehen?«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn es so weit ist«, sagte Hirsch … und ich schaue öfter vorbei als nur einmal die Woche.
Dann fuhr er weiter, vorbei an einem Haus mit einem Windsack neben einer Landebahn, immer weiter alte, erodierte Einschnitte in den Erdfalten hinunter, hinein und wieder hinaus. Dann nahm er einen Hohlweg zwischen Hügeln voller Quarzadern und durchquerte das Booborowie Valley, ein Flickenteppich aus Weizenstoppeln, Feldern, die noch auf die Erntemaschinen warteten, und dunkler, grünschwarzer Luzerne – dunkler dort, wo computergesteuerte Sprenkler über den Boden krochen.
Endlich ging es hinauf, über Munduney Hill und auf eine Seitenstraße – und nun bemerkte Kip, dass sein Zuhause näher kam. Er richtete sich auf, steckte seine Schnauze in den Wind und bellte.
»Aber sicher«, sagte Hirsch.
Er bremste vor dem Viehrost am Vordertor – nicht, dass die Fullers noch Vieh gehabt hätten. Dann ging es auf einen Pfad, der an Flockenblumen und Natternköpfen vorbei zu einem aufgebockten, transportablen Haus führte. Hier gab es kein Unkraut. Es war, als habe man einen Schalter umgelegt: frische Queckengraswiesen, Rosensträucher und einheimisches Buschwerk. Graham Fullers alter Land Rover stand nicht im Carport, aber – perfektes Timing – Monica hob gerade ihre Einkäufe aus der offenen Heckklappe ihres Corolla. Sie drehte sich mit einem erwartungsvollen Lächeln um, eine einsame Landfrau, die nicht allzu viel Besuch bekommt, und das Lächeln wich der Neugier, als sie sah, dass die Polizei vor ihrer Tür stand.
Dann entdeckte sie Hirschs Beifahrer, und schiere Freude ließ ihr Gesicht aufleuchten. Sie ließ die Einkaufstüten los, wischte sich die Handflächen an der Hose ab, kam angerannt und riss die Beifahrertür auf. »Sie haben ihn gefunden!«
Kip winselte und sabberte, und sein Schwanz peitschte den Beifahrersitz.
»Wo bist du gewesen, du Ungeheuer? Du armes Ding, du bist ja ganz dreckig.« Sie warf Hirsch einen Blick zu, so als sei sie unsicher, was sich jetzt gehörte. »Darf ich?«
Hirsch grinste. »Er ist nicht verhaftet worden, falls Sie das meinen.«
Monica Fuller lachte und half dem Kelpie zu Boden. »Vielen, vielen Dank. Wo um alles in der Welt haben Sie ihn gefunden?«
Hirsch erklärte es, und Monica hielt den Kopf schief, so als wolle sie im Geiste eine Route zeichnen. »Er war also mehr oder weniger auf dem Heimweg«, sagte sie. »Gott weiß, wo er sich herumgetrieben hat. Kommen Sie herein und trinken Sie einen Tee. Ich schicke Graham eine SMS, er wird ja so was von aus dem Häuschen sein.«
Aus reinem Spannungsabbau schnatterte sie weiter. Nach ein paar Minuten hatte sie Kip mit einem Knochen auf die Veranda gesetzt, damit er was zu kauen hatte, hatte Dosen und Päckchen in Speisekammer und Kühlschrank verstaut und einen Becher Tee und ein Stück Weihnachtskuchen vor Hirsch gestellt. Eine verwohnte Küche, hier und da noch eine Spur vom Orange der Siebzigerjahre, Resopal und beschichtete Spanplatte. Ein Haus, bei dem die Modernisierung der Küche auf der Wunschliste stand, das Geld aber knapp war. Spärlich fiel ein wenig Licht durch das Fenster über der Spüle, etwas mehr drang durch die Fliegengittertür zur Veranda. Hirsch konnte auf dem Hinterhof Tomatenpflanzen an Stecken erkennen, ein altes, steinernes Plumpsklo und einen Geräteschuppen. Heutzutage gab es keine landwirtschaftlichen Geräte mehr, nur noch rostige Pflugscharen, vergammeltes Heu und leere Getreidesäcke.
Monicas Handy pingte. Sie hatte ein rundes Gesicht, eine zufriedene Ausstrahlung und drahtiges schwarzes, silbern durchzogenes Haar. Etwa vierzig, ein Allerweltsgesicht, aber Hirsch ahnte ihre Cleverness, ihre Fähigkeit, zu beobachten und abzuwarten. Sie las die Nachricht auf dem Handy und lächelte ihn fröhlich an.
»Graham meint, er schuldet Ihnen ein Bier.« Dann runzelte sie die Stirn. »Ist das überhaupt erlaubt?«
»Ich bin durchaus auch mal nicht im Dienst.«
Wieder lächelte sie. »Das habe ich gehört. Mrs Street, Wendy, ist die Lehrerin meiner Jüngsten.«
In der Highschool wird über mich gesprochen?, wunderte sich Hirsch. »Ich hänge die Fahndungsfotos ab, wenn ich zurückfahre.«
»Fahndungsfotos«, lachte sie.
Graham Fuller war Montagmorgen auf dem Weg zur Arbeit auf dem Revier vorbeigekommen und hatte ein Dutzend DIN-A4-Ausdrucke mitgebracht: ein Foto von Kip, wie er auf den Hinterläufen sitzt und den Fotografen mustert. Haben Sie Kip gesehen? Belohnung in großen schwarzen Buchstaben. Hirsch hatte einen Ausdruck an die Wand neben das Drahtgitter mit all den Hinweisen der Polizei, des Bezirks und des Gesundheitsamts gepinnt, und die ganze Woche lang hatte er Kips Bild überall in der Stadt gesehen: an Strommasten, Zaunpfosten, Schaufenstern. Insgeheim hatte er das für einen hoffnungslosen Fall gehalten. Kip war von einer Schlange gebissen, vom Nachbarn erschossen oder geklaut worden. Oder er war, im schlimmsten Fall, weggelaufen, weil er einmal zu oft geschlagen worden war.
Jetzt fragte sich Hirsch, ob der Hund der Fullers vielleicht geklaut worden war. Er trank einen Schluck Tee. »Wenn ich recht verstehe, hat Kip in seinen besten Zeiten ein paar Preise gewonnen.«
Monica winkte bescheiden ab. »Vier Jahre hintereinander bester Schäferhund bei der Schau in Redruth, damals, als wir noch Schafe hatten.«
Die übliche Geschichte. Die Familienfarm konnte keine Familie mehr ernähren. Entweder verkaufte man an einen reicheren Nachbarn oder an eine Agrofirma in chinesischer Hand, oder man suchte sich andere Arbeit und blieb. Graham Fuller betreute jetzt Windräder; Monica arbeitete zwei Tage die Woche im Krankenhaus in Clare. Das bedeutete viel Fahrerei.
»All diese Preise«, sagte Hirsch. »Wie haben das die anderen Hundebesitzer aufgenommen? Hat das vielleicht jemand in den falschen Hals gekriegt?«
Monica befeuchtete sich eine Fingerspitze, tupfte die Krümel auf ihrem Teller auf und sah ihn zweifelnd an. »Also wirklich … die Schau in Redruth? Das ist doch Kleinkram und schon ewig her.«
»Menschen sind nachtragend.«
Monica schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, ob das was mit damals zu tun haben könnte, als die Telefonleitung durchtrennt worden ist – aber eigentlich wüsste ich nicht wie.«
Es war eines Abends im letzten Januar gewesen. Monica und Graham waren gerade zu Bett gegangen, als sie Lärm auf dem Hof hörten und jemand an die Haustür klopfte. Kip hatte gebellt und so lange an seiner Kette gezerrt, bis sie riss – Graham hatte gerade noch sehen können, wie er in der Dunkelheit verschwand –, und Monica hatte versucht, die Polizei anzurufen, und festgestellt, dass die Leitung tot war. Kip war wieder aufgetaucht. Graham hatte entdeckt, dass die Telefonleitung mit einem sauberen Schnitt durchtrennt worden war und ein paar Gartengeräte fehlten.
Kupfer schon wieder. Allerdings nicht viel Kupfer, außerdem war es nur durchtrennt, nicht gestohlen worden. »Weit hergeholt«, meinte Hirsch.
Monica winkte ab, so als wolle sie ihre eigene Idee abtun. »Ich weiß, ich weiß; schwer vorzustellen, dass sie den Zwinger gesehen und sich gedacht haben, ach, ein Hund, da kommen wir am Jahresende noch mal wieder und klauen den Köter.«
»Na, jedenfalls ist er wieder da, das ist die Hauptsache.«
Trotzdem, zwei Zwischenfälle innerhalb eines Jahres, von denen die Polizei wusste. Das war weit über dem Durchschnitt für diese Gegend. Hirsch stand auf, reckte sich und meinte, er müsse dann mal los. Durch die kleine Rundtür, die verriet, wie alt das Haus schon war, sah er ein Wohnzimmer mit einem kleinen, überladenen Tannenbaum, Weihnachtskarten, die an einer Schnur unter dem Kaminsims über einem gasbetriebenen Kunstfeuer baumelten, dazu Girlanden aus rotem, grünem und silbernem Lametta. »Schöne Feiertage«, sagte er, »und danke für den Kuchen.«
»Ihnen auch schöne Feiertage. Und tausend Dank, dass Sie Kip nach Hause gebracht haben«, sagte Monica.
Sie brachte ihn hinaus und schaute zu, wie er sich vorbeugte und dem Hund den Kopf tätschelte. »Diese Wunden – jemand hat ihn verprügelt.«
Das war eine Möglichkeit, fand Hirsch. »Vielleicht hat er sich auch mit einem anderen Hund angelegt.«
»Nein, das war ein Knüppel«, entgegnete Monica Fuller.
Sie ging mit Hirsch zu seinem Allrad. »Ich möchte Ihnen ja nicht noch mehr Arbeit aufhalsen, Paul, aber im Ort hat es ein ziemliches Durcheinander gegeben, als ich einkaufen war.«
Hirsch wusste von nichts. Vielleicht hatte er gerade kein Signal gehabt. »Will ich es wissen?«
»Brenda Flann.«
»Ich will es nicht wissen«, sagte Hirsch.