Zum Buch
Marat plagt unstillbares Fernweh. Lena träumt von einer Karriere in der Politik und wünscht sich, dass Putin niemals stürzt. Die junge Dissidentin Wera sucht in Kiew einen Ausweg aus dem Dilemma der russischen Demokraten. Alexander sitzt im Rollstuhl und kämpft für ein selbständiges Leben. Sie alle gehören zur »Generation Putin«, zu den jungen Männern und Frauen, die Gorbatschow nur aus dem Geschichtsunterricht und die Sowjetunion nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennen. Wie viele junge Russen sind sie hin- und hergerissen, zwischen Ost und West, zwischen der Sehnsucht nach einem starken Führer und dem Traum von einem anderen, einem freien Leben.
Benjamin Bidder ist ein eindrucksvolles Porträt der »Generation Putin« gelungen, Er erzählt ihre Geschichten – und schildert so gleichzeitig die dramatische Entwicklung Russlands und der ehemaligen Sowjetrepubliken in den letzten 25 Jahren.
Zum Autor
Benjamin Bidder, geboren 1981, hat nach einem Jahr Zivildienst in Russland Volkswirtschaftslehre in Bonn, Mannheim und Sankt Petersburg studiert. Er ist Absolvent der studienbegleitenden Journalistenausbildung des Institutes zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp). Benjamin Bidder ist seit 2009 beim SPIEGEL, zunächst als Redakteur im Politik-Ressort von SPIEGEL ONLINE. Von 2009 bis 2016 war er Moskau-Korrespondent. Im September 2016 kehrte er in die Redaktion von SPIEGEL ONLINE zurück. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Hamburg.
Benjamin Bidder
Generation Putin
Das neue Russland verstehen
Deutsche Verlags-Anstalt
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Umschlagmotiv: Vesela/shutterstock
Typografie und Satz: DVA/Andrea Mogwitz
Gesetzt aus der Caecilia LT Pro
ISBN 978-3-641-19748-3
V001
www.dva.de
Inhalt
Vorwort
1. Sturzgeburt
2. Himmelsstürmer
3. Junge Garde
4. Hinter dem Palast steht noch ein Haus
5. Freiheit wählen
6. Kriegskind
7. Zarenkrönung
8. Aufstand
9. Konterrevolution
10. Stolz und Vorurteil
11. Gesellschaft und Jugend
12. Lena verdrängt
13. Alexander will ausziehen
14. Diana wartet ab
15. Taissa träumt neu
16. Wera flieht
17. Marat bleibt
Bildnachweis
Anregungen und Kommentare
»Er ging um 12 Uhr mittags hinaus in Richtung des Bahnhofs. Niemand wusste, wohin er ging, und er selbst wusste es auch nicht …«
sowjetischer Kultfilm Igla, 1988
Vorwort
Meine Erinnerung an die Wende ist tagesschaublau. Ich sitze mit meinen Eltern vor dem Fernseher und sehe die Nachrichten. Über den Bildschirm flimmern Aufnahmen von Menschen, die mit Hammer und Meißel Löcher in eine Mauer schlagen. Ich verstehe nicht die Bedeutung dieser Bilder, aber ich verstehe den Ausdruck in den Gesichtern meiner Eltern.
Ich bin 1981 in Westdeutschland geboren, in der Nähe der damaligen Bundeshauptstadt Bonn. Niemand in unserer Familie hat sich vor dem Fall der Berliner Mauer vorstellen können, Russland könnte eines Tages ein ziemlich zentraler Punkt in unserem Leben werden. Damals hat unsere Welt fast über Nacht eine lange vergessene Himmelsrichtung wiederbekommen, neben Norden, Süden und Westen den Osten. Wenige Monate nach dem Fall der Mauer brachen meine Eltern gemeinsam mit meinen Schwestern, unserer amerikanischen Austauschschülerin Kristin und mir auf zu einem Besuch in den Teil Deutschlands, der damals noch DDR war. Kam uns ein Trupp sowjetischer Soldaten entgegen, duckte Kristin sich instinktiv weg.
Ein gutes Jahrzehnt später habe ich meinen Zivildienst in Sankt Petersburg begonnen. Damals fuhr ich das erste Mal in einem ratternden Nachtzug nach Moskau. Mein erstes Bild, das ich in der russischen Hauptstadt schoss, zeigt schwarze, rissige Füße. Auf dem Bahnhofsvorplatz schliefen Hunderte Obdachlose mit nackten Sohlen. Moskau war damals – jenseits der wenigen Einkaufsmeilen der Superreichen – in weiten Teilen eine arme Stadt.
Das war im Jahr 2002. Heute fühlt sich das an wie eine Erinnerung aus grauer Vorzeit. In Moskau sind gläserne Hochhaustürme in den Himmel gewachsen. In der U-Bahn gibt es kostenloses WLAN. Nach Sankt Petersburg verkehren Schnellzüge des gleichen Typs wie die deutschen ICE. Russland hat einen unübersehbaren Satz in die Moderne gemacht. Genauso unverkennbar ist aber auch, dass der Wandel in den Köpfen der Menschen das rasante Tempo nicht mitgemacht hat.
Während ich diese Zeilen schreibe, haben uns die Schatten des überwunden geglaubten Kalten Krieges eingeholt. Die Gräben zwischen Ost und West werden wieder tiefer. Auf russischer Seite ist die Entfremdung vom Westen auch bei jenen zu spüren, die den Kommunismus nicht mehr bewusst erlebt haben. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Manche Marotte und fixe Idee der Russen, die gegen das Ausland zielende russische Propaganda, aber auch Fehler des Westens, der das Ende des Kalten Krieges als endgültigen Sieg verstanden und viele Russen so vor den Kopf gestoßen hat.
Was wir Wende nennen, hat vor 25 Jahren für mich das Tor aufgestoßen zu einem faszinierenden Kosmos. Der Osten ist ein Teil meines Lebens geworden. Mein Sohn hört auf den Namen Juri, meine Tochter heißt Alexandra, wir nennen sie Sascha. Beide sind in Moskau geboren, und wenn wir in Deutschland sind, haben sie Sehnsucht nach ihren Moskauer Kindergärtnerinnen Nastja und Julija.
Ich wünsche mir, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, die nicht durch neue Mauern getrennt wird, nicht an Landesgrenzen und nicht in Köpfen.
In den vergangenen Jahren ist der Begriff »Russlandversteher« in Verruf geraten. Wer ihn benutzt, meint ihn als Beleidigung. Das ist eine verhängnisvolle Entwicklung. Wer nichts verstehen will, ist unfähig zu Verständigung und schätzt darüber hinaus auch Risiken und Gefahren falsch ein. Wer nicht versteht, was in Russland passiert, wird aus Furcht auf Abgrenzung setzen, wo kluge Annäherung richtig wäre.
Moskau, im Frühjahr 2016
1. Sturzgeburt
»Adieu, unsere rote Flagge. Du warst uns Feind und Bruder.«
Dieses Buch handelt von jungen Menschen, aber es beginnt mit einem älteren Herrn. Sein Scheitern hat dem Land die Konturen gegeben, in dem die Kinder des neuen Russland aufwachsen.
Am Abend des 25. Dezember 1991 schaltet das Staatsfernsehen der Sowjetunion zu einer Sondersendung in den Kreml. Arbeitszimmer Nummer 4 ist eine detailgetreue Nachbildung des echten Büros des Staatsoberhaupts der UdSSR, aber geräumiger und für Auftritte im TV besser geeignet. Die Wände sind bespannt mit grünem Damast, das Pult mit den Telefonen eine Attrappe. Michail Gorbatschow, 60 Jahre alt, nimmt hinter dem schmucklosen Schreibtisch Platz, der erste und letzte Präsident der Sowjetunion, ein Reformer, der selbst vom Wandel überrollt wurde.
Kein Jubel liegt über Moskaus Rotem Platz, als die Sowjetunion an jenem Abend ihren letzten Atemzug tut, kein Protest, nur nasskalte Winterluft und wenig Schnee. In Moskau regiert der Mangel. Fleisch ist in mehr als 350 Geschäften ausgegangen, melden die Zeitungen, Zucker wird rationiert. Die Frachtflugzeuge, die sonst Nachschub in die Hauptstadt bringen, bleiben am Boden, es fehlt Kerosin. An Moskaus Flughafen Scheremetjewo landen Maschinen aus den USA, sie haben Nahrungsrationen der US-Armee geladen, die übrig geblieben sind vom Golfkrieg.
Die alte Planwirtschaft ist zusammengebrochen, noch bevor die neue Marktwirtschaft auch nur annähernd zu funktionieren begonnen hat. Der Ölpreis ist seit dem Beginn der achtziger Jahre um zwei Drittel eingebrochen, die Sowjetunion hat so eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen verloren. »Fleisch erreicht Odessa« ist in jenen Tagen eine Nachricht im Massenblatt Komsomolskaja Prawda. »Kein Brot in Krasnojarsk« schreibt die Moskauer Zeitung Prawda. Ein bitterer Witz macht unter Moskauern die Runde: Steht ein vergesslicher Herr mit leerer Einkaufstasche vor dem Geschäft und fragt sich, ob er gerade im Begriff war, den Laden zu betreten, oder ob er bereits auf dem Rückweg von seinem Einkauf ist.
In Kreml-Büro Nummer 4 setzt Gorbatschow an zu seiner letzten Rede an die »lieben Landsleute«. »Das Schicksal hat es so gewollt, dass ich das Steuer des Landes übernahm, als es um den Staat bereits schlecht bestellt war«, sagt er. Als »leader without a country« hat ihn das Time-Magazin zwei Tage zuvor bezeichnet, als Herrscher ohne Land. Gorbatschows Macht reicht kaum noch über die roten Mauern des Kreml hinaus. Die Präsidenten der Teilrepubliken haben ihn kaltgestellt, angeführt von seinem Rivalen Boris Jelzin, der seit Juni 1991 den Titel »Präsident der Russischen Sowjetrepublik« trägt. Jelzin wartet an diesem Abend ungeduldig darauf, Gorbatschows Platz zu übernehmen – ebenso wie den Tschemodantschik genannten Koffer, dessen Besitzer einen Nuklearschlag autorisieren kann.
Gorbatschow verliest eine Erklärung, die Rücktritt, Rechtfertigung und Mahnung zugleich ist:
Von allem haben wir reichlich: Land, Öl und Gas, und auch mit Verstand und Talent hat uns Gott bedacht, doch leben wir viel schlechter als die entwickelten Länder, bleiben hinter ihnen immer weiter zurück. Der Grund dafür ist klar, die Gesellschaft erstickte im bürokratischen Kommandosystem. Sie war verdammt, einer Ideologie zu dienen und die schreckliche Last des Wettrüstens zu tragen. Ich habe verstanden, dass es in diesem Land schwierig, ja sogar riskant sein würde, Reformen zu wagen. Die Gesellschaft hat die Freiheit bekommen. Das ist die wichtigste Errungenschaft, auch wenn wir dies bisher noch nicht realisieren konnten. Wir haben nicht gelernt, mit der Freiheit umzugehen.
Gorbatschow vergleicht sein Schicksal mit den Helden eines sowjetischen Kinodramas: Die Crew erzählt die Geschichte einer Flugzeugbesatzung, die am Boden mitten in ein verheerendes Erdbeben gerät. Im Film sagt der Pilot: »Starten können wir nicht, am Boden bleiben auch nicht. Also starten wir.« Als Gorbatschow den grünen Ordner mit dem Text seiner Rede zuklappt, tritt mit ihm auch die Sowjetunion ab von der Bühne der Weltgeschichte. Innerhalb weniger Stunden erkennen die USA die Unabhängigkeit der Ukraine an. Bei einem Referendum wenige Wochen zuvor hatten sich mehr als 90 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit ausgesprochen, auf der Halbinsel Krim waren 54 Prozent dafür.
Am selben Abend nimmt Jelzin das Kontrollsystem der strategischen Raketenstreitkräfte Moskaus in Empfang. Zwei schweigsame Offiziere haben Gorbatschow jahrelang auf Schritt und Tritt mit dem Koffer begleitet. Sie wachten darüber, dass der Tschemodantschik stets in seiner Reichweite war. Von diesem Tag an dienen sie einem neuen Herrn: Das Oberkommando über ein Arsenal von 27 000 Nuklearsprengköpfen geht an Jelzin über. Auf der anderen Seite des Globus dreht die Redaktion des Fachblatts Bulletin of the Atomic Scientists seine Doomsday Clock auf 11:43 Uhr zurück. Die Uhr ist eine Mahnung. Sie soll der Weltöffentlichkeit die Gefahr eines Nuklearkriegs vor Augen führen. Als Gorbatschow 1985 in Moskau an die Macht kam, standen die Zeiger auf drei Minuten vor zwölf.
In Moskau steigen Punkt 19:32 Uhr zwei Arbeiter auf das Dach des Kreml. Sie holen die rote Flagge vom Fahnenmast, nach mehr als sieben Jahrzehnten. Ein neues Banner wird über der goldenen Kuppel des Präsidentenpalasts gehisst, eine Trikolore in Weiß, Blau und Rot. Fast beiläufig wird die Welt so Zeuge der Wiedergeburt der neuen, alten Großmacht Russland. Das Jahr 1991 markiert damit auch den Schlusspunkt des kommunistischen Experiments. Das Gleichgewicht des nuklearen Schreckens ist Vergangenheit, mit ihm der Ost-West-Konflikt, und zwar für immer, davon ist damals nicht nur Gorbatschow ganz fest überzeugt.
Gorbatschow war angetreten mit dem Versprechen, die Sowjetunion als Weltmacht ins 21. Jahrhundert zu führen. In das kollektive Gedächtnis der russischen Gesellschaft aber geht er ein als der Mann, der die UdSSR zu Grabe getragen hat. In Russland schlägt ihm deshalb zum Teil offener Hass entgegen, im Westen dagegen wird er auch dafür verehrt. Beides sind im Grunde Missverständnisse – die Ressentiments daheim genauso wie der »Gorbi«-Kult im Ausland. Gorbatschow wollte den Kalten Krieg beenden, auch das Wettrüsten und die Gefahr eines Atomkriegs beseitigen. Aber nicht die Sowjetunion.
Der im Westen für seine Perestroika-Politik geachtete Gorbatschow hatte bis zuletzt an einem Vertrag für eine neue Union gearbeitet. Er wartete auf Unterhändler aus der Ukraine, die aber nie kamen. Gorbatschows Wut darüber kann man noch ein Vierteljahrhundert später spüren, wenn er Putins Krim-Annexion verteidigt und die angebliche chronische Unzuverlässigkeit der Ukrainer geißelt.
Die Umrisse des neuen Russland wurden auch geprägt durch Gorbatschows Rivalität zu Jelzin. Gorbatschow hoffte bis zu seinem Rücktritt auf eine Erneuerung der Sowjetunion als Bundesstaat, der Schritt für Schritt demokratischer werden sollte. Vielleicht hätte er mehr Erfolg gehabt, hätte ihm Jelzin nicht so unversöhnlich gegenübergestanden. Gorbatschow hatte seinen Widersacher erst als Moskaus Parteichef eingesetzt, ihn 1987 aber wieder demontieren lassen. Jelzin wurde aus einem Moskauer Krankenhausbett geholt, mit Medikamenten vollgestopft und vor dem versammelten Zentralkomitee der Kommunistischen Partei vier Stunden lang gedemütigt. Er vergaß das nie. In der Folge strebte er einen lockeren Staatenbund an, ohne mächtige Zentralregierung, ohne Gorbatschow. Nach Gorbatschows Abschied aus dem Kreml trafen die beiden Rivalen nie wieder persönlich aufeinander.
Der Vertrag, mit dem Jelzin das Schicksal seines Widersachers und der Sowjetunion gleichermaßen besiegelte, war kurios zustande gekommen. Jelzin hatte das Papier Anfang Dezember 1991 ohne Wissen Gorbatschows mit den Präsidenten Weißrusslands und der Ukraine ausgehandelt. Da ihre Länder 1922 die Sowjetunion gegründet hatten, waren die drei der Auffassung, sie hätten auch das Recht, sie wieder aufzulösen.
Sie trafen sich dafür im äußersten Zipfel des sowjetischen Machtbereichs. Der staatliche Jagdhof Wiskuli liegt an der Westgrenze Weißrusslands. Er ist umgeben von der Belowescher Heide, durch diesen dichten Urwald streifen noch heute europäische Bisons, acht Kilometer weiter im Westen liegt schon Polen. Das Treffen der Republikpräsidenten war improvisiert und wurde geheim gehalten. Jelzin fürchtete, ein Angriff durch kommunistische Hardliner könnte ihr Vorhaben vereiteln oder Gorbatschow Spezialeinheiten des sowjetischen Geheimdienstes KGB in Marsch setzen.
Der erste Entwurf der »Belowescher Vereinbarung« wurde nachts handschriftlich notiert. Am Morgen landete er im Mülleimer, eine Putzfrau hatte ihn für Abfall gehalten. An eine Schreibmaschine hatte niemand gedacht, die eilig herbeigerufene Sekretärin eines nahe gelegenen Nationalparks tippte das Abkommen auf einer DDR-Maschine der Marke Optima, die sie aus ihrem Büro mitgebracht hatte. Jewgenija Pateitschuk wurde später in ihrem weißrussischen Heimatdorf Kamenjuki bekannt als »die Frau, die unsere Sowjetunion beerdigt hat«. Zwei Faxgeräte hielten als Kopierer her. Als die drei Präsidenten das Abkommen über die Gründung der »Gemeinschaft unabhängiger Staaten« feierlich unterzeichnen wollten, fiel ihnen auf, dass sie keinen Stift dabei hatten. Sie liehen sich den Kugelschreiber eines Journalisten.
In Russland bleibt das Verhältnis zu diesen Ereignissen widersprüchlich. 1991 blickte das Land mit Hoffnung auf Marktwirtschaft, Demokratie und den Westen. Doch die neue Zeit brachte neben Freiheit auch Jahre der Not. »Wenn Sie an einer Schlange vorbeikommen, stellen Sie sich an und schätzen Sie sich glücklich, irgendetwas Lohnendes wird es schon geben«, war einer der sarkastischen Ratschläge, die das Nachrichtenprogramm Westi Ende 1991 seinen Zuschauern gab. Und während in Berlin eine Mauer fiel, entstanden weiter im Osten andere neu: Millionen Russen fanden sich über Nacht jenseits der Grenzen des neuen Russland wieder, im Baltikum, in Zentralasien und anderen Nachbarländern.
Die rund 1,8 Millionen Kinder, die 1991 in Russland das Licht einer sich verändernden Welt erblickten, bekamen von all dem noch nichts mit. Sie wurden geboren, als mit der UdSSR das Land ihrer Eltern starb. Ihre Heimat Russland ist ein eigentümliches Gebilde, Produkt eines Zerfalls. Dieses Buch erzählt ihre Geschichten.
Lena aus der westrussischen Provinzstadt Smolensk verehrt Putin und träumt von einer Politikerkarriere. Die junge Dissidentin Wera steht auf der anderen Seite der Barrikaden, sie will ihr Land von unten verändern – und verzweifelt bei dem Versuch. Marat ist ein Moskauer Großstadtabenteurer mit unstillbarem Fernweh, Taissa eine modevernarrte Tschetschenin, Diana eine weltgewandte Patriotin aus der Schwarzmeerstadt Sotschi. Alexander sitzt im Rollstuhl und träumt vom Auszug aus seinem staatlichen Heim.
In ihren Lebensläufen spiegelt sich die Geschichte des größten Flächenstaates der Erde im vergangenen Vierteljahrhundert: Not und Wirren in den neunziger Jahren, die erbittert geführten Kriege in der abtrünnigen Kaukasusrepublik Tschetschenien, Wladimir Putins Aufstieg und der Wirtschaftsboom, das Aufkommen der Protestbewegung gegen Putins Rückkehr auf den Präsidentensessel und ihr Scheitern, der Krieg in der Ukraine und die zunehmende Konfrontation mit dem Westen. Für die 1991 Geborenen ist Michail Gorbatschow eine Gestalt aus den Nebeln der Vergangenheit, ihre Erinnerung an die Präsidentschaft Jelzins nur schemenhaft. Sie sind aufgewachsen in dem Russland, das Jelzins Nachfolger Wladimir Putin seit seinem Amtsantritt in der Neujahrsnacht 2000 geformt hat. Sie sind die »Generation Putin«.
Als die rote Fahne am Dezemberabend 1991 über dem Kreml eingeholt wurde, löste das ambivalente Gefühle aus. Diesen Zwiespalt hat der Schriftsteller Jewgenij Jewtuschenko, Enkel eines unter Stalin verhafteten »Volksfeinds« und selbst vom KGB »antisowjetischer Tätigkeit« bezichtigt, in Gedichtform gefasst:
Adieu, unsere rote Flagge. Du warst uns Feind und Bruder. Du warst Kamerad im Schützengraben, Hoffnung ganz Europas, aber auch der Rote Vorhang, der den Gulag hinter sich verbarg.
Die Kinder des neuen Russland sind mit anderen Symbolen groß geworden. Sie haben South Park und die Simpsons geschaut, anarchische Zeichentrickserien aus den USA. Junge Russen nutzen iPads, lieben Smartphones, sind täglich im Internet unterwegs. Die Hoffnung war lange, die Grenzen zwischen Ost und West würden mit der Zeit verschwimmen. Darauf folgte Ernüchterung, weil Russland und der Westen nun wieder auseinanderdriften.
In der Zeit von Michail Gorbatschows Perestroika war ein Film besonders populär, sein Titel ist Igla – Die Nadel. Der Sänger Wiktor Zoi spielt darin die Hauptrolle. Zoi war der größte Rockstar der Sowjetunion, eine Art russischer Jim Morrison. Zu Beginn des Films läuft er durch eine verlassene Gasse. Aus dem Off erklingt die Stimme eines Erzählers: »Er ging um 12 Uhr mittags hinaus in Richtung des Bahnhofs. Niemand wusste, wohin er ging, und er selbst wusste es auch nicht«. Die Szene ist eine treffende Metapher für 1991, den Aufbruch ins Ungewisse. Niemand vermochte genau zu sagen, wohin sich Russland nun denn genau aufgemacht hatte, und bis zum heutigen Tag wissen es noch nicht einmal die Russen selbst.