Dieses Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung der Sozialtheorie seit 1945 und ihren heutigen Stand, wie er so bisher nicht vorliegt. Als Sozialtheorie wird dabei der Kern sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bezeichnet, der sich von politischer Theorie und Kulturtheorie deutlich abheben läßt. Nach einer ausführlichen Behandlung des Versuchs von Talcott Parsons, das Erbe der Klassiker Max Weber und Émile Durkheim zu einer Synthese zusammenzuführen, werden die produktiven Widerstände gegen diesen Versuch (wie Rational Choice und Symbolischer Interaktionismus) dargestellt. Danach geht es um die großen neuen Syntheseentwürfe seit etwa 1970 (Habermas, Luhmann, Giddens), aber auch um die kritische Fortführung der Modernisierungstheorie (Eisenstadt), den Strukturalismus, Poststrukturalismus, Antistrukturalismus (Touraine), Feminismus, neue Diagnosen einer Krise der Moderne, den Neopragmatismus und die wichtigsten Aufgaben gegenwärtiger Arbeit. Aus dem akademischen Unterricht in Deutschland und den USA hervorgegangen, behält das Buch den Duktus von Vorlesungen bei. Es ist damit auch als Einführung für Studierende und fachfremde Leser geeignet. Es liegt nun in einer aktualisierten und mit einem neuen Vorwort versehenen Ausgabe vor.

 

Hans Joas ist Max-Weber-Professor und Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt sowie Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago.

Wolfgang Knöbl ist Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.

 

Von ihnen ist im Suhrkamp Verlag außerdem erschienen: Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie (stw 1912)

Hans Joas
Wolfgang Knöbl

Sozialtheorie

Zwanzig einführende
Vorlesungen

 

Aktualisierte, mit einem
neuen Vorwort versehene Ausgabe

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, Berlin 2011 (Vorwort)

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73212-0

 

www.suhrkamp.de

3Inhalt

Vorwort zur dritten Auflage

5

Einleitung

7

Erste Vorlesung

Was ist Theorie?

13

Zweite Vorlesung

Der klassische Versuch zur Synthese:
Talcott Parsons

39

Dritte Vorlesung

Parsons auf dem Weg zum
normativistischen Funktionalismus

72

Vierte Vorlesung

Parsons und die Ausarbeitung des normativistischen Funktionalismus

117

Fünfte Vorlesung

Neo-Utilitarismus

143

Sechste Vorlesung

Interpretative Ansätze (1):
Symbolischer Interaktionismus

183

Siebte Vorlesung

Interpretative Ansätze (2):
Ethnomethodologie

220

Achte Vorlesung

Konfliktsoziologie/-theorie

251

Neunte Vorlesung

Habermas und die Kritische
Theorie

284

Zehnte Vorlesung

Habermas’ ›Theorie des
kommunikativen Handelns‹

315

Elfte Vorlesung

Niklas Luhmanns Radikalisierung
des Funktionalismus

351

Zwölfte Vorlesung

Anthony Giddens’ Theorie der
Strukturierung und die neuere britische Machtsoziologie

393

Dreizehnte Vorlesung

Die Erneuerung des Parsonianismus
und der Modernisierungstheorie

430

4Vierzehnte Vorlesung

Strukturalismus und Poststrukturalismus

474

Fünfzehnte Vorlesung

Zwischen Strukturalismus und Theorie
der Praxis – die Kultursoziologie
Pierre Bourdieus

518

Sechzehnte Vorlesung

Französische Anti-Strukturalisten
(Cornelius Castoriadis, Alain Touraine,
Paul Ricœur)

558

Siebzehnte Vorlesung

Feministische Sozialtheorien

598

Achtzehnte Vorlesung

Modernitätskrise? Neue Diagnosen
(Ulrich Beck, Zygmunt Bauman,
Robert Bellah und die Debatte
zwischen Liberalen und
Kommunitaristen)

639

Neunzehnte Vorlesung

Neopragmatismus

687

Zwanzigste Vorlesung

Die gegenwärtige Lage

726

Literaturverzeichnis

767

Sachregister

802

Namenregister

812

5Vorwort zur dritten Auflage

Mit großer Freude nehmen wir zur Kenntnis, daß der Suhrkamp Verlag sich entschlossen hat, eine revidierte Neuauflage unseres Buches Sozialtheorie herauszubringen. Wir fassen dies als ein Anzeichen dafür auf, daß das Buch sein Publikum in Deutschland gefunden hat.

Die neue Auflage ist in drei Hinsichten verändert. Wir haben erstens an einigen Stellen, die sich als mißverständlich erwiesen, unsere Formulierungen präzisiert. Wir haben zweitens der traurigen Pflicht Genüge getan, bei allen seit dem ersten Erscheinen unseres Buches verstorbenen, in diesem Buch behandelten Autoren das Sterbejahr einzutragen. Und wir haben drittens im Schlußkapitel eine beträchtliche Erweiterung vorgenommen, nämlich eine lange Passage zu John W. Meyer und seiner Stanford-Schule eingefügt (diese Erweiterung ist in der 2009 bei Cambridge University Press erschienenen englischsprachigen Ausgabe bereits enthalten). Zweifellos wären viele zusätzliche Erweiterungen denkbar. In fast jeder bisher erschienenen Rezension wird der Wunsch nach zusätzlichen Darstellungen oder anderen Gewichtungen artikuliert. Wir bleiben aber dabei, die Akzente wohlerwogen gesetzt zu haben; an eine breitere Aktualisierung des Schlußkapitels ist deshalb erst in einigen Jahren zu denken.

 

Hans Joas/Wolfgang Knöbl

67Einleitung

Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück, die einer der beiden Autoren (Hans Joas) ursprünglich für eine Gastprofessur an der University of Chicago 1985 konzipiert und seither regelmäßig gehalten hat. Zuerst waren Ende der 1980er Jahre Studierende der Universität Erlangen-Nürnberg die Zuhörer, dann mehr als ein Jahrzehnt lang Studierende der Freien Universität Berlin, außerdem in einzelnen Semestern Studierende verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten. Der jüngere Autor (Wolfgang Knöbl) war in verschiedenen Stufen seiner akademischen Karriere an der Durchführung und ständigen Verbesserung beteiligt: als Student in Erlangen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in Berlin und New York, nun als Kollege an der Universität Göttingen.

Es bedarf keiner Erwähnung, daß sich die Konzeption dieser Vorlesungen im Laufe der Zeit beträchtlich veränderte – und dies nicht nur wegen der selbstverständlichen Notwendigkeit ständiger Aktualisierung, sondern auch in Reaktion auf die Bedürfnisse und Verständnisprobleme der Zuhörer sowie die sich fortentwickelnden eigenen Theorieprojekte der Autoren. Es scheint uns jetzt aber ein Punkt erreicht, an dem wir uns unserer Konzeption und unseres Überblicks so sicher sind, daß wir es wagen dürfen, die Grenzen des Hörsaals zu überschreiten und an ein Lesepublikum heranzutreten. Wir hoffen, mit diesem Überblick den Bedürfnissen der Studierenden sozialwissenschaftlicher Fächer ebenso zu genügen wie denen fachfremder Leser, die gerne verstehen möchten, was sich seit etwa dem Ende des Zweiten Weltkriegs international auf dem Gebiet einer Theorie des Sozialen getan hat und tut.

Wir haben zum Zwecke der Verständlichkeit den Duktus mündlicher Vorlesungen in der Schriftform weitgehend beibehalten. Unser Vorbild waren dabei so ausgezeichnete philosophische Werke wie Ernst Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie und Manfred Franks Vorlesungen Was ist Neostrukturalismus?. Auch auf einem Themengebiet, das dem unseren näher liegt, gibt es ein vergleichbares Werk: Jeffrey Alexanders Twenty Lectures: Sociological Theory since World War II. Wir folgen Alexanders Vorbild nicht nur in der Zahl der Vorlesungen, sondern auch in der Vorschaltung eines wissenschaftstheoretischen ersten Kapitels. Wir 8stimmen mit Alexander zudem darin überein, daß sich die Theorie-Entwicklung nach 1945 in drei große Phasen einteilen läßt: zunächst die Zeit einer Dominanz des Werks von Talcott Parsons und einer heute als konventionell empfundenen Modernisierungstheorie, dann die Phase eines Verlusts dieser Dominanz und des Zerfalls in konkurrierende, sich teilweise sogar heftig befehdende und dabei auch politisch-moralisch argumentierende »Ansätze«, vornehmlich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, und seither die Entstehung eines – wie Alexander sagt – »new theoretical movement«, d. h. das Aufsprießen ehrgeiziger Theoriesynthesen, teils auf dem Boden der konkurrierenden Ansätze, teils aus neuartigen Motiven.

Hier endet aber unsere Übereinstimmung mit Alexander. Es ist deshalb auch nur in den ersten acht Vorlesungen eine thematische Überlappung mit seinem Buch vorhanden. Alexanders Werk ist nämlich völlig amerika-zentrisch und auf eine quasi-historische Rechtfertigung seines eigenen neo-parsonianischen Syntheseversuchs ausgerichtet (zur Kritik vgl. Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 223-249, v. a. S. 246-248). Da sich gerade auf theoretischem Gebiet aber seit 1970 die Gewichte sehr stark in Richtung Europa verlagert haben und die ehrgeizigsten und fruchtbarsten Versuche aus Deutschland (Habermas, Luhmann), Frankreich (Touraine, Bourdieu) und England (Giddens, Mann) kamen, war Alexanders Darstellung schon in ihrem Erscheinungsjahr (1987) ungenügend und ist es jetzt erst recht. Wir haben uns allerdings darum bemüht, in unserem Buch die umgekehrte Einseitigkeit zu vermeiden. Deshalb finden sich hier die Selbstrevisionen und Weiterentwicklungen der Modernisierungstheorie und des Parsonianismus ebenso behandelt wie die Renaissance des Pragmatismus und die Entstehung des Kommunitarismus – alles zu beträchtlichen Teilen intellektuelle Produkte Nordamerikas.

Der Anspruch auf Vollständigkeit, Proportionalität und Fairneß, der in diesen Bemerkungen zum Ausdruck kommt, weist schon darauf hin, daß wir sehr wohl den Einsatz dieses Buches in der akademischen Lehre mit im Auge haben. Dennoch ist dieses Buch kein Lehrbuch im strengen Sinn. Es präsentiert nicht gesichertes Wissen in neutraler Form. Wie in der Philosophie gibt es in der Theorie der Sozialwissenschaften, insbesondere wenn sie über das Empirisch-Explanatorische hinausgeht, in dem ja auch Gewißheitsansprüche oft frustriert werden, keine Gewißheit. Und hinsichtlich der Neu9tralität kann auf diesem Gebiet nur gelten, daß fair und umfassend argumentiert wird, nicht aber, daß auf eine eigene theoretische Perspektive verzichtet würde. Wir scheuen deshalb Kritik und Wertung keineswegs. Im Gegenteil verstehen wir dieses Buch durchaus als Teil unserer Arbeit an einer gegenwartsadäquaten umfassenden Sozialtheorie – aber eben als umfassende Verständigung über die vorhandenen Leistungen, Probleme und Aufgaben in diesem Zusammenhang.

Wir haben dieses Buch nicht so benannt wie die zugrundeliegenden Vorlesungen meist hießen, nämlich »Moderne soziologische Theorie«. Dieser Titel paßte zwar ins Curriculum soziologischer Studiengänge, traf aber von jeher nicht die Einbeziehung von Gedankengängen und Wissensbeständen (wie Strukturalismus und Pragmatismus), die im wesentlichen außerhalb der Soziologie beheimatet sind. Das Kriterium für die Berücksichtigung war immer schon ein anderes als das der disziplinären Zugehörigkeit, nämlich das eines Beitrags zu einer Theorie des Sozialen. Da im Deutschen – im Unterschied zum Englischen – der Begriff der »Sozialtheorie« aber ein Neologismus ist, bedarf unsere Entscheidung der Begründung.

Eine Begriffsgeschichte der Verwendung von »social theory« im Englischen liegt uns nicht vor. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff schon ohne weitere Rechtfertigung gebraucht worden zu sein. Er ist dabei einerseits, ähnlich wie der Begriff »social thought«, ohne genauere Bestimmung für ein Gebiet des Denkens verwendet worden, das später die Soziologie für sich reklamierte. Somit bezeichnete er verallgemeinerte Aussagen über soziale Zusammenhänge bzw. über Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens. Er hat andererseits aber als Selbst- und Fremdbezeichnung eine Art des Denkens benannt, das den »Individualismus« attackierte oder doch über diesen hinausgehen wollte. Damit war »social theory« gegen zentrale Prämissen ökonomischen, politischen und psychologischen Denkens in der angelsächsischen Welt gerichtet; impliziert war hier eine spezifische theoretische Sichtweise auf kulturelle und soziale Prozesse, die freilich nicht ein für allemal geklärt war, sondern über die es immer auch theoretische Auseinandersetzungen gab. Da ein solcher individualismuskritischer Impuls, mithin eine je spezifische Herangehensweise an soziale Sachverhalte, auch die Disziplin Soziologie im Prozeß ihrer Institutionalisierung wesentlich prägte, 10scheint man zunächst die Spannung zwischen den beiden Verwendungsweisen – auf der einen Seite ein Theoriebegriff, der auf empirische Gegenstände abzielte, auf der anderen Seite einer, der die adäquate Zugangsform zum Phänomen des Sozialen zum Thema hatte – nicht stark empfunden zu haben.

Mit der Etablierung des Fachs und vor allem mit seiner stärkeren Professionalisierung mußte diese Spannung aber immer klarer erkennbar werden. Von der professionell betriebenen und empirisch ausgerichteten Soziologie aus gesehen meinte Theorie vornehmlich »empirische Theorie«, d. h. eine hohe Generalisierungsebene explanatorischer Aussagen (vgl. die Erste Vorlesung zur näheren Erläuterung). Normative Stellungnahmen und orientierende Sinndeutungen sollten aus einem solchen als eng zu bezeichnenden Theorieverständnis eher herausgedrängt werden. Das Unternehmen Theorie, nun in einem weiteren Sinn begriffen, kam aber sogar zur Zeit der Dominanz solcher Auffassungen nie zum Stillstand. Zumindest im Sinne einer Hypothesenquelle und zum Zweck einer historischen Selbstvergewisserung der Identität des Faches wurde eine solcherart verstandene Theorie stets als nützlich erachtet. Und genau einem solchen Theorieverständnis werden sich unsere Vorlesungen dann auch widmen. Dafür gibt es gute Gründe.

Denn nicht nur hat sich das Verständnis der Rolle von Theorie in den Wissenschaften generell in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert (auch dazu näher die folgende Erste Vorlesung). Es entstanden auch in benachbarten Feldern neue Konkurrenten. So hat sich der Bereich »politische Theorie«, in dem normative Fragen des menschlichen Zusammenlebens in wohlgeordneten, guten und gerechten Gemeinwesen erörtert werden, fest etabliert; Arbeiten auf diesem Gebiet können häufig mit beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen. Und aus den Kulturwissenschaften ist in allerdings sehr vagem Umriß eine »Kulturtheorie« zumindest als Diskursfeld erwachsen, in der ebenfalls Fragen von beträchtlichem normativen Interesse – etwa zu den Geschlechterbeziehungen oder zu internationalen kulturellen Beziehungen – einen Ort finden. Eine sich auf ihren rein empirisch-explanatorischen Charakter versteifende soziologische Theorie muß gegenüber diesen Konkurrenten ins Hintertreffen geraten.

Dem gilt es entgegenzuarbeiten, weil sich ansonsten zwei negative Konsequenzen bemerkbar machen. Zum einen führte ein zu enges 11Theorieverständnis schon im Fach Soziologie selbst zu einer Isolierung der theoretischen und der empirischen Arbeit voneinander, die beiden Seiten nur schaden und den Zusammenhalt des Faches sogar gefährden kann. Zum anderen geriete damit das enorme Potential, das die soziologische Tradition seit Max Weber, Emile Durkheim und George Herbert Mead enthält, in der breiteren Öffentlichkeit und im Gespräch der Fakultäten miteinander ins Abseits, statt im Sinne einer überwölbenden Konzeption, die auch politische und kulturelle Dimensionen einbezieht, ernst genommen zu werden. Mit der Bezeichnung »Sozialtheorie« wird sicher ein solcher überwölbender Anspruch erhoben – was nicht heißt, daß unser Buch diesen völlig realisiert. Es geht uns hier mehr um die Blickrichtung, nicht um ein abschließendes Wort.

Wegen der prekären Stellung der »Sozialtheorie« im Geflecht der akademischen Disziplinen werden neuerdings Stimmen laut, die dafür eintreten, diese als eigene Disziplin zu institutionalisieren; die intellektuelle Reife habe diese Disziplin in statu nascendi bereits (vgl. hierzu das Plädoyer von Stephen Turner, »The Maturity of Social Theory«). Diese Absicht teilen wir nicht, im Gegenteil. Eine solche Trennung würde unseres Erachtens die wechselseitige Ignoranz von Sozialtheorie und sozialwissenschaftlicher Empirie, die wir als Gefahr empfinden, geradezu zementieren. Ohne empirische Fundierung und Kontrolle ginge aber eben das verloren, was die Sozialtheorie von der Philosophie einerseits, dem bloßen Meinungsaustausch andererseits unterscheidet.

Wir haben uns für den Begriff »Sozialtheorie« auch deshalb entschieden, weil uns der mehr im Deutschen als im Englischen übliche Begriff der »Gesellschaftstheorie« Unbehagen bereitet. Mit diesem Begriff wurden oft gegenüber der soziologischen Theorie eher linke, »kritische« normative Dimensionen annonciert. Doch ist, wie etwa in unserer Zwölften Vorlesung ausführlicher argumentiert werden wird, der Begriff der Gesellschaft untergründig so sehr mit dem einer nationalstaatlich verfaßten und territorial klar umgrenzten Ordnung verknüpft, daß er immer schon voraussetzungsreich war und heute, da diese Voraussetzungen offen zutage liegen, endgültig problematisch geworden ist. Auch das Verständnis nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften muß wie das aller Gesellschaften in einer Theorie des Sozialen allererst fundiert werden.

Unser Buch beschäftigt sich im wesentlichen mit der Entwick12lung der Sozialtheorie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unser Ausgangspunkt ist dabei ein Werk, das wenige Jahre vor diesem großen historischen Einschnitt erschien, Talcott Parsons’ The Structure of Social Action von 1937. Auf die Klassiker der soziologischen Tradition, deren großes Potential wir gerade hervorgehoben haben, gehen wir damit nicht ausführlich ein. Wer diese kennenlernen will, muß zu anderen Büchern greifen. Es wird aber deutlich werden, daß ihre Gedankengänge deshalb in diesem Buch keineswegs ignoriert werden. Sie sind vielmehr ständig präsent: in Parsons’ Werk, das ja eben eine Synthese der soziologischen Klassiker zu sein beanspruchte, und als selektiver Gesichtspunkt bei allen folgenden Autoren. Die Klassiker heißen eben deshalb Klassiker, weil sie sich kontinuierlich als fruchtbar, ja unerschöpflich erwiesen haben. Wer sie oder weitere Elemente ihres Werks für unausgeschöpft hält, darf aber nicht einfach auf sie zurückgreifen; er muß den historischen Abstand selbst reflektieren und ihr Potential in die heutige Theoriearbeit einführen. Aus der Arbeit an gegenwärtigen Problemlagen und aus immer neuen schöpferischen Rückgriffen auf ältere Theorien erwächst die Dynamik der »Sozialtheorie«, für die wir mit diesem Buch gerne Begeisterung wecken würden.

Wir bedanken uns sehr herzlich bei allen Freunden, Kollegen und Mitarbeitern, die eine vorläufige Fassung des Manuskripts gelesen und kritisch kommentiert haben. Wir haben versucht, nach Kräften den Verbesserungsvorschlägen zu entsprechen. Der Dank gilt Frank Adloff, Jens Beckert, Sibylle Kalupner, Christoph Liell, Nora Lindner, Katja Mertin, Gabriele Mordt, Florian von Oertzen, Hans-Joachim Schubert, Peter Wagner, Harald Wenzel, Patrick Wöhrle und Heinrich Yberg. Die größten Verdienste erwarb sich Bettina Hollstein (Erfurt), die in außerordentlicher Präzision innere Unstimmigkeiten aufspürte und durch ihre Vorschläge zu deren Überwindung beitrug.

13Erste Vorlesung
Was ist Theorie?

Wenn wir unsere Vorlesungsreihe zur modernen Sozialtheorie mit dem Thema »Was ist Theorie?« beginnen, so mag das auf Verwunderung stoßen. Schließlich haben ja nicht wenige von Ihnen Veranstaltungen zu den Klassikern der soziologischen Theorie – etwa zu Emile Durkheim, George Herbert Mead oder Max Weber – besucht, ohne daß die Frage nach dem »Wesen« von Theorie zum Thema gemacht worden wäre. Zu Recht wurde dort davon ausgegangen, daß Sie bereits ein intuitives Verständnis von »Theorie« haben oder dieses bald entwickeln werden. Jedenfalls dürften Sie spätestens jetzt in der Lage sein, die bei Weber, Mead oder Durkheim doch so unterschiedlichen Herangehensweisen an die soziale Wirklichkeit zu charakterisieren: Weber hat bekanntlich den Staat oder politische Phänomene unter völlig anderen Aspekten beschrieben als Durkheim, dieser hatte also eine ganz andere theoretische Auffassung vom Wesen des Politischen als jener, obwohl sich beide bei ihren soziologischen Beschreibungen auf den gleichen empirischen Tatbestand bezogen; Mead hatte offensichtlich eine deutlich andere Auffassung vom sozialen Handeln als Weber, obwohl beide zum Teil ähnliche Begriffe gebrauchten usw. usf. Alle diese Autoren machten also unterschiedliche Theorien (Plural!) zur Grundlage ihrer soziologischen Beschreibungen. Ist man damit aber nicht schon der Lösung der Frage nach dem »Wesen« von Theorie einen entscheidenden Schritt nähergekommen? Wenn man nämlich all diese Theorien miteinander vergleichen, ihre Gemeinsamkeiten herausarbeiten, also den kleinsten gemeinsamen Nenner finden würde, wäre man dann – so die Vermutung – nicht schon bei einem adäquaten Verständnis von Theorie (Singular!) angelangt? Durch einen solchen Vergleich hätte man ja quasi die formalen Bausteine dessen, was eine (soziologische) Theorie ausmacht, was Sozialtheorie tatsächlich ist!

Leider erweist sich aber die hiermit anvisierte Lösung des Problems als nicht sehr fruchtbar, denn die Soziologie ist seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche Disziplin, in der es nie zu einem völlig stabilen Konsens über Gegenstand und Aufgaben des Fachs gekommen ist. Auch über die zentralen Begriffe war man sich nie wirklich einig, so daß es nicht verwundern kann, 14wenn auch über das jeweils »richtige« Verständnis von Theorie heftig gestritten wurde. Kontrovers war etwa das Verhältnis zwischen Theorie und empirischer Forschung, weil bestimmte Sozialwissenschaftler annahmen, daß uns erst die intensive empirische Arbeit den Weg zu einer vernünftigen sozialwissenschaftlichen Theorie ebnen würde, wohingegen andere behaupteten, daß empirische Forschung ohne vorhergehende, umfassende theoretische Reflexionen bestenfalls sinnlose, schlimmstenfalls aber falsche Resultate liefern würde. Höchst unterschiedliche Auffassungen bestanden auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Theorien und Weltbildern: Während die einen betonten, daß soziologische Theorie bzw. Sozialtheorie eine rein wissenschaftliche Angelegenheit sei, fern von politisch-religiösen Weltanschauungen, wurde von anderen hervorgehoben, daß sich die Geistes- und Sozialwissenschaften nie vollständig von derartigen Überzeugungen lösen könnten, daß das Bild einer »reinen« Wissenschaft etwa der Soziologie also eine Schimäre sei. Eng damit zusammen hing auch der Streit über das Verhältnis zwischen Theorie und normativen bzw. moralischen Fragen. Während die einen meinten, daß sich Wissenschaft prinzipiell jeglicher normativen, politischen, moralischen etc. Aussage enthalten solle, plädierten andere für eine gesellschaftspolitisch engagierte Wissenschaft, die sich vor »Sollens-Fragen« (Wie sollen Menschen handeln? Wie soll eine gute oder gerechte Gesellschaft aufgebaut sein? etc.) nicht »drücken« dürfe. Die Wissenschaft und ganz besonders die Sozialwissenschaft dürfe nach dieser Auffassung nicht so tun, als ob sie nur Forschungsresultate zur Verfügung stellte, für deren Verwendung sie dann keine Verantwortung trüge: weil sozialwissenschaftliche Forschung durchaus konsequenzenreich sei, könne es der Disziplin nicht gleichgültig sein, was mit den von ihr produzierten Ergebnissen geschieht. Schließlich ist auch das Verhältnis von Theorie und Alltagswissen heftig diskutiert worden. Während die einen die generelle Überlegenheit der Wissenschaft, auch der Sozialwissenschaften, über das Alltagswissen postulierten, schien es anderen so, als ob die Geistes- und Sozialwissenschaften zu sehr in jenem Alltag verwurzelt und von diesem abhängig seien, um einen derart anmaßenden Anspruch erheben zu können. Der Theoriebegriff selbst ist also – wie Sie sehen – höchst umstritten, und insofern würde dann der vorhin angedeutete Versuch, aus den vorhandenen Theorien der soziologischen Klassiker den kleinsten gemeinsamen Nenner her15auszuarbeiten, ins Leere laufen: Die Frage »Was ist Theorie?« wäre damit nicht zu beantworten, denn eine Entscheidung in diesen eben kurz dargestellten Debatten würden Sie auch dadurch nicht fällen können.

Aber muß man überhaupt so genau ausdiskutieren und klären, was »Theorie« eigentlich ist? Schließlich haben Sie ja auch die soziologischen Klassiker »verstanden«, haben Sie vielleicht diesbezügliche Seminare besucht, ohne den Theoriebegriff explizit hinterfragen zu müssen. Warum also erst jetzt – bei der modernen soziologischen Theorie bzw. Sozialtheorie – diese Grundsatzdebatte über das »Wesen« von Theorie? Zwei Antworten lassen sich darauf geben. Die erste Antwort ist dabei historischer bzw. disziplingeschichtlicher Natur: Als Weber, Durkheim, Simmel u. a., die sogenannten Gründerväter, die Disziplin »Soziologie« ins Leben riefen, war dies oftmals ein Kampf von einzelnen um die wissenschaftliche Reputation des Faches, war es eine Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, die der Soziologie ihre Legitimität bestreiten wollten. Natürlich stritten auch Soziologen untereinander – und dies sicherlich nicht zu wenig –, doch war dies nichts im Vergleich zu der Situation, als die Soziologie dann ab Mitte des 20. Jahrhunderts endgültig an den Universitäten etabliert war. Die moderne Soziologie ist wie die modernen Sozialwissenschaften insgesamt mittlerweile durch eine Vielzahl konkurrierender Theorierichtungen charakterisiert – nicht umsonst benötigen wir noch weitere neunzehn Vorlesungen, um Ihnen diese Vielfalt nahezubringen –, und in dieser massiven Konkurrenz der Theorien spielen wissenschaftstheoretische Fragen eine erhebliche Rolle, Fragen also zu den Voraussetzungen und Charakteristika von Wissenschaft und wissenschaftlicher Theoriebildung. Der Streit zwischen den sozialwissenschaftlichen Theorierichtungen war und ist oftmals einer um das richtige Verständnis von Theorie; insofern benötigen Sie zumindest einen gewissen Einblick in diese Fragen, um begreifen zu können, wie und warum sich die Theorieentwicklung in den modernen Sozialwissenschaften so und nicht anders vollzogen hat.

Die zweite Antwort ist disziplingeschichtlicher und pädagogischer Natur zugleich. Die modernen Sozialwissenschaften sind nicht nur durch eine große Zahl konkurrierender Theorien gekennzeichnet, sondern mittlerweile gleichzeitig auch durch eine äußerst schädliche Trennung zwischen Theorie und Empirie. Es hat sich quasi eine Art 16Arbeitsteilung ergeben zwischen denjenigen, die sich als Theoretiker begreifen, und denjenigen, die sich als Empiriker oder empirische Sozialforscher verstehen. Beide Gruppierungen nehmen aufgrund dieser strikten Arbeitsteilung wechselseitig ihre jeweiligen Ergebnisse kaum mehr wahr. Doch sind Theorie und Empirie nicht wirklich voneinander zu trennen, und deshalb soll mit dieser Vorlesung über das »Wesen« von Theorie Gelegenheit gegeben werden, darüber nachzudenken, was Theorie ist, welchen Stellenwert sie für die empirische Forschung hat und wie die Empirie die Theorie ständig mitprägt. Denn den begeisterten Theoretikern unter Ihnen – falls es sie denn geben sollte – wollen wir mit dieser Vorlesung mitteilen, daß Sozialtheorien nie frei sind von empirischen Beobachtungen oder Annahmen und deshalb der geringschätzige Blick auf die »fliegenbeinzählenden« Empiriker verfehlt ist. Den jetzigen oder zukünftigen begeisterten Empirikern und (womöglich) Theorieverächtern unter Ihnen wollen wir mit dieser Vorlesung nahebringen, daß empirische Beobachtungen – und seien sie noch so banal – nie frei von theoretischen Aussagen sind, weshalb es nicht schaden kann, sich auch immer wieder mit Theorie zu beschäftigen. Dies gilt auch deshalb, weil trotz des allgemeinen Geredes über den Einflußverlust der Sozialwissenschaften nicht vergessen werden darf, daß sozialwissenschaftliche Theorien nach wie vor enorm wirkungsmächtig sind; denken Sie an die Marxsche Theorie in der Vergangenheit, denken Sie an die durchaus konsequenzenreichen Debatten über Globalisierung und Individualisierung in den Feuilletons und den Politikseiten der Zeitungen der Gegenwart. Theorien prägen nicht nur die Instrumente der empirischen Sozialforschung, sie prägen auch die zu untersuchende soziale Welt, und schon allein deshalb wird man auch als empirisch ausgerichteter Sozialwissenschaftler an diesen Theorien nicht einfach mit dem Argument vorbeigehen können, daß man sich aller theoretischen Spekulationen enthalten und lieber der (empirischen) Wirklichkeit zuwenden wolle. Nochmals: Theorie und Empirie sind zu eng miteinander verknüpft, als daß sich eine solche Haltung rechtfertigen ließe.

 

Wenn es aber nun so ist, daß sich in den Sozialwissenschaften – wie oben beschrieben – nie ein unumstrittenes Verständnis von Theorie herauskristallisiert hat, wenn das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie, zwischen Theorie und Weltanschauungen, zwischen Theo17rie und normativen Fragen und zwischen Theorie und Alltagswissen nie definitiv geklärt werden konnte, ist dann die Frage nach dem »Wesen« der Theorie nicht sinnlos? Die Antwort ist: »Nein!« Zu Resignation und Zynismus besteht kein Anlaß, und dies aus zweierlei Gründen. Denn zum einen werden Sie sehr schnell erkennen, daß – sollten Sie etwa Soziologie studieren – die Soziologie nicht die einzige Disziplin ist, in der die Frage nach dem Status von Theorie diskutiert wird. Auch die anderen Sozialwissenschaften – von der Politikwissenschaft über die Geschichtswissenschaft bis zur Volkswirtschaftslehre – stehen vor ähnlichen Problemen, selbst wenn man dort nicht unbedingt an so prominenter Stelle über Grundsatzfragen streitet. Und wie Sie auch noch sehen werden, sind offensichtlich auch die anscheinend so unantastbaren Naturwissenschaften vor derartigen Auseinandersetzungen nicht gefeit. Zum anderen läßt sich in den historisch zum Teil lange zurückreichenden Kontroversen über den Status von Theorie durchaus ein konsensfähiges, allerdings auch mehrstufiges Verständnis herausarbeiten. Aber dazu ist es notwendig, genau zu untersuchen, wo und bis zu welcher Stufe Konsens über das »Wesen« von Theorie bestand, an welcher Stelle und warum dieser Konsens aufgebrochen wurde und wo in der Geschichte dieser Kontroversen immer wieder versucht worden ist, den ehemals aufgekündigten Konsens wiederherzustellen. Damit sind wir beim Thema!

 

Auf einer sehr basalen Ebene besteht zwischen unterschiedlichen Theorierichtungen und Disziplinen zumindest darüber Konsens, daß Theorien als generalisierende, d. h. verallgemeinernde Aussagen zu begreifen sind. Oder umgekehrt – und vielleicht verständlicher – läßt sich sagen: Jede generalisierende Aussage ist bereits eine Theorie. Derartige Theorien verwenden wir gerade auch im Alltagsleben – und zwar ständig! Wann immer wir den Plural benutzen, ohne tatsächlich vorher geprüft zu haben, ob unsere Verallgemeinerung wirklich auf alle Fälle zutrifft, benutzen wir gleichzeitig eine Theorie: »Alle Deutschen sind Nazis«, »Männer sind Machos«, »Die Mehrheit der Soziologen redet unverständliches Zeug« etc. sind derartige Theorien. Aus unserer Beobachtung, daß einige Deutsche tatsächlich faschistisches Gedankengut haben, daß viele Männer sich tatsächlich frauenfeindlich verhalten und daß manche Soziologen kaum in der Lage sind, allgemeinverständliches Deutsch zu sprechen, haben wir hier gefolgert, daß alle Deutschen so sind, daß 18alle Männer sich so verhalten, daß die Mehrheit der Soziologen so redet. Überprüft haben wir dies natürlich nicht, wir kennen nicht alle Deutschen, wir kennen nicht alle Männer, und auch die Mehrheit der Soziologen haben wir nie kennengelernt. Wenn wir also derart abstrakte Aussagen wie die obigen machen, dann tun wir nichts anderes, als eine Theorie zu benutzen. Man könnte auch sagen, daß wir damit eine Hypothese aufstellen. Tatsächlich hat der amerikanische Logiker, Zeichentheoretiker und Philosoph Charles Sanders Peirce (1839-1914) eindrucksvoll gezeigt, daß unsere ganze Alltagswahrnehmung und unser Handeln auf einem einzigen Geflecht von Hypothesen (er sagt dazu: Abduktionen) beruhen, ohne die wir überhaupt nicht sinnvoll leben könnten:

Wenn ich an diesem herrlichen Frühlingsmorgen aus dem Fenster schaue, sehe ich eine Azalee in voller Blüte. Doch nein! Das sehe ich gar nicht; nur handelt es sich um die einzige Möglichkeit, das, was ich sehe, zu beschreiben.

Meine Beschreibung ist eine Behauptung, ein Satz, ein Faktum; was ich jedoch wahrnehme, ist weder eine Behauptung noch ein Satz noch gar ein Faktum, sondern lediglich ein Bild, das ich mit Hilfe einer faktischen Aussage teilweise faßbar mache. Diese Aussage ist abstrakt, während das von mir Gesehene konkret ist. Ich vollziehe eine Abduktion, sobald ich das von mir Gesehene in einem Satz ausdrücke. In Wahrheit stellt das gesamte Gefüge unseres Wissens nicht mehr als eine dichtverwobene Schicht von reinen Hypothesen dar (…). Nicht den kleinsten Schritt können wir in unserer Wissenserweiterung über das Stadium des leeren Starrens hinaus tun, ohne dabei bei jedem Schritt eine Abduktion zu vollziehen. (Zit. nach Nagl, Charles Sanders Peirce, S. 108)

Theorie ist also so notwendig wie unvermeidlich, denn ohne sie wäre kein Lernen, kein konsistentes Handeln möglich; ohne Generalisierungen und Abstraktionen wäre uns die Welt nur als ein wirrer Flickenteppich einzelner unverbundener Erfahrungen und Sinneseindrücke zugänglich. Freilich reden wir im Alltagsleben dabei nicht von »Theorien«; wir gebrauchen sie, ohne daß uns dies überhaupt bewußt ist. Wissenschaftliches Arbeiten und Denken funktioniert im Prinzip aber nicht anders, lediglich mit dem Unterschied, daß hier die Bildung und Verwendung von Theorien natürlich ganz gezielt erfolgt: Für einzelne Probleme werden spezielle Hypothesen oder Theorien aufgestellt, wobei man dann versucht, mehrere solcher speziellen Theorien zu einer allgemeineren Theorie zusammenzufüh19ren, welche die jeweiligen Generalisierungen konsistent miteinander verbindet. Aber insgesamt ist das Aufstellen von Theorien, das Aufstellen generalisierender Aussagen wesentlicher Bestandteil des Alltagslebens wie der Wissenschaft, weil wir nur so an die »Wirklichkeit« herankommen. Der österreichisch-englische Philosoph Karl Raimund Popper (1902-1994) hat dies elegant, aber auch nicht sehr viel anders als Charles Sanders Peirce, folgendermaßen ausgedrückt:

Die Theorie ist das Netz, das wir auswerfen, um »die Welt« einzufangen – sie zu rationalisieren, zu erklären und zu beherrschen. Wir arbeiten daran, die Maschen des Netzes immer enger zu machen. (Popper, Logik der Forschung, S. 31)

Dieses Verständnis von Theorie, ihre Funktion im Hinblick auf Generalisierung, ist heute kaum mehr umstritten.

 

Die ersten Kontroversen begannen historisch auf der nächsten Ebene; sie sind mittlerweile aber ebenfalls überwunden, weil sich hier – wie gleich gezeigt werden wird – eine der Positionen als siegreich und überlegen herausgestellt hat.

Wissenschaftliches Arbeiten hat ja nicht die Produktion von Generalisierungen irgendwelcher Art zum Ziel. Auch Vorurteile sind Theorien: es sind ja ebenfalls generalisierende Aussagen, wenn auch höchst problematische oder falsche, wie sich an den obigen Beispielen zum Verhalten von Deutschen, Männern und Soziologen unschwer erkennen läßt. Wissenschaftler beanspruchen aber nun, eben nicht Vorurteile zu produzieren, sondern aus Einzelfällen zutreffende Generalisierungen zu formulieren (die Schlußfolgerung vom Einzelfall bzw. von Einzelfällen auf eine allgemeine Aussage wird in der Wissenschaftstheorie auch als »Induktion« bezeichnet) bzw. aus Theorien Einzelfälle zutreffend zu erklären (»Deduktion« – die Ableitung von Einzelfällen aus einer generalisierten Aussage). Um aber von »zutreffend« oder »nicht-zutreffend« reden zu können, benötigt man einen Maßstab – und der kann nur so aussehen: Theorien sind lediglich dann wissenschaftlich (und eben nicht vorurteilsbeladen), wenn sie einer Überprüfung an der Wirklichkeit standhalten oder sich zumindest an der Wirklichkeit überprüfen lassen.

Hier ist nun ein erster Punkt, an dem – auch historisch gesehen – der Konsens zu brechen begann. Denn es gab unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie denn diese Überprüfung an der Wirklichkeit 20tatsächlich auszusehen habe. Naheliegend ist etwa, das wissenschaftliche Ideal in der Verifikation zu sehen. Tatsächlich war dies lange Zeit, nämlich bis ins beginnende 20. Jahrhundert, die gängige Vorstellung von Wissenschaftlern und Wissenschaftstheoretikern. Wenn sich theoretische Annahmen an der Wirklichkeit zu bewähren haben, dann dürfte es am besten sein – so die damalige Vermutung –, zunächst alle vorurteilsbehafteten Alltagswissensbestände aus der Wissenschaft auszuscheiden, um auf absolut sicherem Boden das Gebäude des wissenschaftlichen Wissens neu aufzubauen: Genaue Beobachtungen würden, so die Auffassung, zu verallgemeinernden Sätzen und Aussagen führen, die – durch immer weitere Einzelbeobachtungen und Experimente bestätigt – immer sicherer würden. Diese mithin verifizierten, also in ihrem Wahrheitsanspruch bestätigten Sätze und Aussagen würden dann miteinander kombiniert werden, so daß langsam, aber eben auch kontinuierlich immer weitere Bausteine verifizierten Wissens akkumuliert und integriert werden könnten. Dies würde dann zu Gewißheit, zu – wie es hieß – »positivem« Wissen führen, was einer der Gründe dafür ist, Vertreter dieser Wissenschaftsauffassung »Positivisten« zu nennen.

Das Problem, das sich für diese positivistische Position ergibt und auf das in aller Deutlichkeit als erster der schon genannte Karl Raimund Popper aufmerksam gemacht hat, besteht darin, daß Verifikation schon deshalb kein guter Maßstab für die Wissenschaftlichkeit von Aussagen sein kann, weil eine Verifikation der meisten theoretischen Aussagen tatsächlich unmöglich ist. Wir können nämlich – so Popper in seinem 1934 erstmals erschienenen und äußerst berühmt gewordenen Buch Logik der Forschung – bei den meisten wissenschaftlichen Problemen nicht sicher sein, ob ein verallgemeinernder Satz, also eine Theorie oder Hypothese, auf wirklich alle Fälle zutrifft: Die astrophysikalische Aussage »Alle Planeten bewegen sich in ellipsenförmigen Bahnen um ihre Sonnen« läßt sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht endgültig verifizieren, weil wir vermutlich nie alle Sonnensysteme unseres Weltalls kennenlernen werden und deshalb vermutlich auch nie mit letzter Gewißheit werden bestätigen können, daß sich jeder einzelne Planet tatsächlich ellipsenförmig – und nicht anders – um seine Sonne dreht. Ähnlich verhält es sich natürlich mit dem Satz »Alle Schwäne sind weiß«. Selbst wenn Sie schon tausende Schwäne gesichtet haben und alle tatsächlich weiß waren, können Sie letztlich nie sicher sein, daß nicht irgend21wann doch ein schwarzer, grüner, blauer etc. Schwan auftaucht. Allaussagen lassen sich in den allermeisten Fällen also nicht bestätigen oder verifizieren. Oder anders formuliert: Induktive Argumente (d. h. die Schlußfolgerung von Einzelfällen auf eine Gesamtheit) sind keine logisch gültigen oder wirklich zwingenden Argumente; Induktion läßt sich rein logisch nicht rechtfertigen, weil ja eben nie ausgeschlossen werden kann, daß irgendwann die eine Beobachtung auftaucht, die den für bestätigt gehaltenen allgemeinen Satz dann doch widerlegt. Der Versuch der Positivisten, Gesetze auf elementare Beobachtungen zurückzuführen bzw. aus elementaren Beobachtungen Gesetze abzuleiten und diese zu verifizieren, ist also zum Scheitern verurteilt.

Genau dies war die Kritik Poppers, weswegen er dann – und dafür wurde er berühmt – ein anderes Kriterium vorschlug, um die empirischen Wissenschaften von anderen Wissensformen – vom Alltagswissen und der Metaphysik – abzugrenzen. »Falsifikation« war seine Devise, insofern er betonte: »Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.« (Popper, Logik der Forschung, S. 15) Poppers Position war also, daß verallgemeinernde Aussagen bzw. wissenschaftliche Theorien zwar nicht letztgültig beweisbar oder verifizierbar seien, daß sie aber intersubjektiv, d. h. innerhalb der Forschergemeinschaft, an der Wirklichkeit überprüft, daß sie zurückgewiesen oder eben: falsifiziert werden können. Dies hört sich vielleicht trivial an, ist aber tatsächlich ein raffiniertes Argument zur Begründung von »empirischer Wissenschaft« und zur Abgrenzung von anderen Wissensformen. Denn mit seinem Hinweis auf die prinzipielle Überprüfbarkeit und Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Sätze schließt Popper zum einen sogenannte universelle »Es-gibt-Sätze« aus dem Bereich der Wissenschaft aus. Sätze wie »Es gibt UFOs«, »Es gibt Gott«, »Es gibt Ameisen, die so groß sind wie Elefanten« lassen sich nicht falsifizieren: Ich kann keinen Gegenbeweis antreten, daß es Gott oder UFOs oder elefantengroße Ameisen nicht gibt, denn zumindest theoretisch wäre es denkbar, daß bei genügend langer Suche irgendwann und irgendwo doch ein UFO, Gott oder elefantengroße Ameisen gesichtet würden. Popper bestreitet nicht, daß derartige Aussagen sinnvoll sein können: Es ist ja offensichtlich, daß der Satz »Es gibt Gott« für viele Menschen höchst bedeutsam und damit sinnvoll ist. Popper meint lediglich, daß es wenig fruchtbar sei, in einen wissenschaftlichen Streit über die 22Existenz Gottes einzutreten, eben weil ein diesbezüglicher Satz nicht endgültig widerlegt werden kann.

Zum anderen gestattet nun das Kriterium der Falsifikation, sogenannte Allsätze (»Alle Deutschen sind Nazis«) zu überprüfen und tatsächlich zu falsifizieren, eben weil schon eine einzige Beobachtung – die Beobachtung eines Deutschen, der kein Nazi ist – die Behauptung bzw. Theorie zum Einsturz bringen kann. Für Popper ist also das Falsifikationskriterium sowohl der einzig fruchtbare als auch der effizienteste Maßstab, um wissenschaftliche Aussagen von anderen zu trennen.

Damit hält nun aber eine ganz andere Dynamik in die wissenschaftliche Arbeit Einzug, als dies noch beim alten »positivistischen« Wissenschaftsverständnis und dem dort zu findenden Verifikationsprinzip der Fall war. Poppers über den Positivismus obsiegende Position begreift Wissenschaft nämlich nicht als eine langsame Akkumulation des Wissens; ihr zufolge bedeutet Wissenschaft vielmehr die ständige Überprüfung und Infragestellung unserer theoretischen Annahmen, indem wir sie eben der Gefahr der Falsifikation aussetzen. Nur die besten Theorien überleben in diesem (darwinistischen) Kampf der Theorien untereinander. Wissenschaft – so sagt es Popper – ist deshalb auch kein Zustand: Sie kann weder absolutes Wissen, Wahrheit oder auch nur Wahrscheinlichkeit erreichen; Wissenschaft ist vielmehr ein ständiges Fortschreiten, ein »Raten« im Hinblick auf theoretische Aussagen, die ständig überprüft werden. Theorien lassen sich deshalb auch immer nur als »vorläufig bewährt« bezeichnen:

Über den Grad der Bewährung entscheidet also nicht so sehr die Anzahl der bewährenden Fälle als vielmehr die Strenge der Prüfung, der der betreffende Satz unterworfen werden kann und unterworfen wurde. (Popper, a.a.O., S. 213)

Vom Wissenschaftler wird deshalb nun nicht so sehr die Distanzierung vom alltagsweltlichen Wissen und seinen Vorurteilen gefordert, sondern die Bereitschaft, seine eigene(n) Theorie(n) immer wieder mit Blick auf mögliche falsifizierende Hinweise zu untersuchen, um eben alle nicht-überlebensfähigen Theorien auszuscheiden. Nicht nach der Bestätigung der eigenen Theorie soll also gesucht werden; vielmehr gilt es durch konsequente Anwendung des Falsifikationsprinzips, sich aktiv aller falschen Gewißheiten zu entledigen! Popper formuliert es in gewohnter Prägnanz folgendermaßen: »Wer seine 23Gedanken der Widerlegung nicht aussetzt, der spielt nicht mit in dem Spiel Wissenschaft.« (A.a.O., S. 224)

Die Überlegenheit des Popperschen Wissenschaftsverständnisses gegenüber dem positivistischen ist mittlerweile anerkannt; die Falsifikation hat sich nach allgemeiner Auffassung als besseres Abgrenzungskriterium erwiesen als die Verifikation. Insofern herrscht wieder Konsens darüber, was Theorie ist und leisten kann. Dissens besteht freilich darüber, ob mit dem Popperschen Hinweis, daß wissenschaftliche Theorien verallgemeinernde Aussagen sind, die an der Wirklichkeit überprüfbar und deshalb falsifizierbar sind, der Theoriebegriff tatsächlich schon ausgeschöpft ist. Vertreter des in der Fünften Vorlesung noch zu behandelnden »Rational-Choice-Ansatzes« sind tatsächlich dieser Meinung, insofern sie den »Theorie«-Begriff nur für solche Aussagesysteme reservieren wollen, in denen soziale Sachverhalte ganz explizit mit Hilfe einer Allaussage, eines allgemeinen Gesetzes, erklärt werden. »Theorie« wird hier ausschließlich als Erklärungssystem verstanden: »Jede Erklärung beginnt mit der Frage, warum das interessierende Phänomen so existiert(e), so funktioniert(e) oder sich in der Weise ändert(e), wie es beschrieben worden ist.« (Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, S. 39) Zur Erklärung braucht man unter anderem eine Allaussage – und eben nur auf solchen Allaussagen basierende Erklärungssysteme werden dann aus Sicht dieses Ansatzes als »Theorien« bezeichnet. Andere Überlegungen und Reflexionen, die nicht unmittelbar die Aufstellung von Gesetzesaussagen zum Ziel haben, erhalten vom Rational-Choice-Ansatz nicht den Ehrentitel »Theorie«.

Diese Position, die mit dem Popperschen Theorieverständnis übereinstimmt, scheint auf den ersten Blick einsichtig und kaum kritikwürdig zu sein. Eine derartige Definition von »Theorie« hat ja zudem auch den Vorteil, einigermaßen eng und präzise zu sein, so daß man eben genau weiß, was man meint, wenn man den Begriff »Theorie« verwendet. Freilich, so unproblematisch und selbstverständlich ist diese Position dann doch nicht. Denn tatsächlich ergibt sich bei Popper ein einigermaßen gravierendes Problem an der Stelle, an der es um das Verhältnis von Theorie und Empirie geht. Denn die Anwendbarkeit des von Popper ins Spiel gebrachten Falsifikationskriteriums (wie übrigens auch diejenige des von ihm überwundenen Kriteriums der Verifikation) basiert auf der Annahme, daß die Ebene der empirischen Beobachtung und die Ebene der 24theoretischen Interpretation bzw. der Erklärung klar voneinander unterscheidbar, daß also rein theoretische Aussagen an separaten, rein empirischen Beobachtungen überprüfbar seien. Ich kann nämlich eine theoretische Aussage doch nur dann sicher falsifizieren und widerlegen, wenn meine Beobachtungen, mit denen ich sie zu falsifizieren versuche, korrekt und nicht zu bestreiten sind. Beobachtungen dürfen nicht selbst schon wieder Theorien enthalten, weil ansonsten natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß ich – weil in meinen Beobachtungen möglicherweise schon eine falsche Theorie steckt – eine Aussage zu Unrecht falsifiziere (oder auch: verifiziere). Das heißt also, eine problemlose Falsifizierung (oder Verifizierung) wäre nur dann möglich, wenn wir unmittelbaren Zugriff auf eine direkte, theorielose Form der Beobachtung hätten.

Nun wissen wir aber – und dies ist uns ja schon anhand des langen Peirce-Zitats eindringlich dargelegt worden –, daß dies nicht der Fall ist. Jede Beobachtung im Alltag ist wie jede Aussage darüber schon theoriegeleitet. Gleiches gilt natürlich auch für Beobachtungen und Aussagen in der Wissenschaft. Empirische Beobachtungen in einer Wissenschaftlergemeinschaft müssen in einer Beobachtersprache formuliert werden, die entweder unmittelbar auf die Alltagssprache zurückgreift oder – falls im Beobachtungsprozeß eine explizite Fachsprache verwendet wird – deren Begriffe mit Hilfe der Alltagssprache expliziert und definiert werden können. Und diese Alltagssprache ist eben immer schon mit Theorie »infiziert«. Peirce hat ja gezeigt, daß jede Beobachtung eine Verallgemeinerung und insofern eine elementare Theorie ist: Beobachtungssprachen enthalten unvermeidlich bereits Theorien, die unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Phänomene lenken und die Art, wie wir Phänomene wahrnehmen, mitbestimmen. Das heißt dann aber auch, daß wir Einzelfälle nie ohne implizite Generalisierungen beschreiben können. Eine strikte Trennung zwischen Empirie und Theorie ist somit nicht möglich – und insofern ist dann auch die auf Popper zurückgehende Vorstellung, wonach eine problemlose Falsifikation von Theorien möglich sei, so einfach nicht haltbar.

25