Cello üben
Gerhard Mantel
Cello üben
Eine Methodik des Übens
nicht nur für Streicher
Von der Analyse zur Intuition
Zweite, ergänzte Auflage
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Bestellnummer SDP 84
ISBN 978-3-7957-8632-8
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
Alle Rechte vorbehalten
Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8714
© 1987, 1999 (ergänzte Auflage), 2006, 2009, 2013 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
Vorwort
A: Psychologische Aspekte des Übens
I. Zur Persönlichkeit des Übenden
1. Änderungsbereitschaft
2. Bereitschaft zum Einsatz der gesamten Vitalität
3. Bereitschaft zu geistiger Anstrengung
4. Ausdauer, Geduld
5. Ehrgeiz
6. Der Umgang mit Fehlern
II. Motivation
III. Lernen
1. Verknüpfung von Elementen des Lerninhalts
2. Emotionale Aufladung
3. Motorisches Lernen
4. Mentales Üben
IV. Die Unterscheidungsfähigkeit bei der Wahrnehmung des eigenen Spiels
1. Intonation
2. Dynamik (Lautstärke und ihre Veränderung)
3. Rhythmus
4. Artikulation
5. Impulse
6. Klangfarben
7. Vibrato
8. Proportionen zeitlicher Einheiten
9. Tempoverhältnisse
B: Klang und Bewegung
V. Klangverhältnisse auf der Saite
VI. Die Bogeneinteilung
1. Problemstellung, Widerstände
2. „Mathematische“ Bogeneinteilung (Bogenlänge entspricht Tondauer)
3. „Unsymmetrische“ Bogeneinteilungsarten
4. Dynamische Bogeneinteilung
VII. Der „schiefe Bogen“
VIII. Die Bogenverkantung
1. Zwirbeln
2. Rollung
3. Die Kombination von Zwirbeln und Rollung
4. Der Schraubstrich
IX. Bogenvibrato
X. Teilbewegungen und Ganzheit
1. Prinzipien der Körperbewegung
2. Teilbewegungen rechts
3. Teilbewegungen links
XI. Rechts-links-Beziehungen
1. Physikalische Rechts-links-Beziehungen
2. Physiologische Rechts-links-Beziehungen
3. Psychisch bedingte Rechts-links-Beziehungen
XII. Körperbewegung und Bogendynamik
1. Die dynamische Verlaufskurve eines Tons
2. Der Ganzbogenstrich als flache dynamische Kurve
3. Der Einsatz der Körpermasse
4. Dynamik und Fingerbewegung
5. Ausdrucksbewegungen
XIII. Haltung
C: Systematisches Üben
XIV. Der Umgang mit technischem Übematerial
1. Was ist Technik?
2. Was muß das Üben von Technik leisten?
3. Fingerpermutation
4. Tonleitern und ähnliche Spielfiguren
5. Etüden
XV. Die Organisation des Übens
1. Einrichten einer Stimme
a) Der Fingersatz
b) Bogenstriche
c) Artikulation, Dynamik, Agogik
2. Die optimale Ausnutzung der Übezeit
a) Üben in Abschnitten
b) Variieren des Stoffes
c) Einspielen
d) Äußere Bedingungen
e) Pausen
XVI. Problemlösung je nach Art der Schwierigkeit
1. Problemlösung durch Anstrengung
2. Lösung durch Koordination der Teilbewegungen
3. Lösung durch Aneignen von Gewohnheiten
4. Lösung durch Aufbau und Einschleifen neuer Bewegungsmuster
XVII. Das Üben der technischen Grundfunktionen
1. Der Teilbogenstrich (Détaché)
2. Der Bogenwechsel
3. Der Saitenübergang
4. Das Martellato
5. Das Staccato
6. Das Spiccato
7. Der Schwerpunktstrich
8. Gesprungene Arpeggien über mehrere Saiten
9. Der Lagenwechsel
10. Das Portamento
11. Fingertechnik
12. Das Pizzicato
XVIII. Üben mit rotierender Aufmerksamkeit
1. Grenzen der Aufmerksamkeit
2. Parameter der Aufmerksamkeit
3. Bewertung
XIX. Das Erarbeiten schwerer Stellen
1. Die Grenzen zahlenmäßigen Erfassens
2. Übestrategien für schwere Stellen
3. Analogie
4. Die Aufteilung schwerer Stellen in technische Parameter
5. Vergleich von je zwei Parametern
6. Üben „hinter“ einer Störung
7. Zusammenfassung
XX. Verknüpfungen
1. Verknüpfungen in der Zeit
2. Räumliche Verknüpfungen auf dem Griffbrett
3. Innerkörperliche Verknüpfungen
XXI. Der Aufbau eines künstlerischen Vorstellungsbildes
1. Kenntnis der Form
2. Übergänge
3. Emotionaler Zustand
4. Assoziationen
5. Übertreibungen, Karikatur
6. Das Üben von Varianten
7. Gestik, Mimik, Dirigieren
8. Singen
Literatur
Register
Vorwort
In dem 1973 erschienenen Buch Cellotechnik wurden Bewegungsprinzipien und Bewegungsformen des Cellospiels dargestellt, die bei der Arbeit an einer Cellotechnik im weitesten, auch künstlerischen Sinn des Worts als „Lernziele“ dienen können.
Die Frage, wie im einzelnen gelernt und geübt wird, wurde damals ausgeklammert. Im vorliegenden Buch soll nun der Versuch unternommen werden, den Prozeß des Lernens auf den verschiedenen beim Instrumentalspiel vorkommenden Ebenen bewußt und damit einer methodischen Erarbeitung zugänglich zu machen. Auf der Grundlage heute allgemein akzeptierter Lerntheorien soll gewissermaßen in den Lernprozeß selbst hineingeleuchtet werden. Erkenntnisse der Psychologie im Bereich des motorischen Lernens, speziell der Sportpsychologie, wurden dabei berücksichtigt. Daß die Darstellung in erster Linie auf persönlichen Erfahrungen des Autors sowohl beim Üben als auch beim Unterrichten beruht, liegt nahe. Der Leser mag im Einzelfall selbst entscheiden, ob diese Erfahrungen auch auf ihn zutreffen. Er wird allerdings gebeten, die zum Teil sehr konkreten Übemethoden zunächst einfach einmal auszuprobieren; vielleicht entdeckt er etwas Drittes, speziell für ihn Zutreffendes. Ein Teil der hier angeführten Lernmethoden ist sicher auch für andere Instrumente, besonders für die anderen Streichinstrumente, anwendbar.
Im ersten Teil des Buches wird die Frage nach der Persönlichkeit des Übenden, nach seiner Begabung und seiner Motiviertheit, gestellt. Daran schließen sich Gedanken über allgemeine Lernprinzipien an, die auf ihre Gültigkeit beim Üben hin untersucht werden. Der erste Teil endet mit einer Erörterung der Unterscheidungsfähigkeit des Übenden auf allen für das Streichinstrumentenspiel wichtigen Ebenen und leitet somit zu praktischen Fragen über.
Im zweiten Teil wird das Thema von Cellotechnik noch einmal aufgegriffen, diesmal mit einem mehr methodischen Ansatz, ausgehend von der Frage nämlich: Wie kann ich wo was verbessern? In diesem Teil wird der gesamte Klang-Aspekt des Cellospiels auf gezielt lernbare Körperbewegungen zurückgeführt, wobei im einzelnen auf die Beziehung zwischen Teilbewegungen und ganzheitlicher Bewegungsweise eingegangen wird. Statt zwischen „richtigen“ und „falschen“ Bewegungen zu unterscheiden, wird hier versucht, den gesamten Bewegungsspielraum von Bogen und Bogenhand aufzuzeigen und in Zusammenhang mit dem Bewegungsspielraum des Körpers methodisch zu erschließen. Daß dabei einige unorthodoxe Thesen entstehen („schiefer“ Bogen, Bogenverkantungsarten), mag den einen oder anderen Leser zunächst etwas verwirren. Folgt man jedoch unvoreingenommen den Vorschlägen des Verfassers, so stellt man bei genauerem Ausprobieren fest, daß hier lediglich Bewegungsweisen bewußt gemacht werden, die gute Streicher schon immer intuitiv für ein farbiges, sprechendes Spiel verwendet haben. Es besteht also kein Grund, auf solche etwas ungewohnte genaue Beschreibungen zu verzichten und stattdessen methodische Tabus aufzubauen.
Um einem gefährlichen, weitverbreiteten Mißverständnis vorzubeugen: Das vorübergehende Bewußtmachen einzelner Lernschritte, einzelner Teilbewegungen führt weder zu Verwirrung noch zu übergroßer Belastung der Konzentrationsfähigkeit, wenn jeweils nur ein einziger Aspekt im Mittelpunkt eines zeitlich begrenzten Lernprozesses steht. Das Erlernen jeder komplizierten Fähigkeit, z. B. das Lesenlernen, basiert auf diesem Prinzip des vorübergehenden Bewußtmachens von Teilelementen des Lernstoffs. Der Hinweis, man spiele umso besser, je weniger man denke, ist voll zu bejahen; er gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß man die Spielvorgänge gelernt hat. Und gelernt wird unter vorübergehender Bewußtmachung, die beim Hochbegabten schlaglichtartig kurz sein kann, beim durchschnittlich Begabten eben einen jeweils etwas längeren Lernprozeß beansprucht. Kurzum – der Streit um das Bewußtmachen einzelner Aspekte des Spiels entsteht durch die Verwechslung von „Noch-nicht-Können“ mit „ Schon-Können“.
Der dritte Teil des Buches schließlich bringt praktische Übemethoden und bietet Lösungsmöglichkeiten für jeweils unterschiedliche konkrete Problemstellungen, insbesondere für das Üben „schwerer Stellen“. Neben der Darstellung klassischer Methoden (z. B. derjenigen Ševčiks) wird auf dem Prinzip der rotierenden Aufmerksamkeit, gerichtet auf einzelne Parameter (Denkebenen), eine Übestrategie entwickelt, die den Spieler in die Lage versetzt, innerhalb der durch seine körperliche Veranlagung gezogenen Grenzen technische Probleme in kleinen, aufeinander aufbauenden Denk- und Übeschritten zu überwinden.
Nach einer Diskussion über den Begriff der Technik, über das Wesen von Schwierigkeiten auf dem Instrument, wird auch eine Reihe praktischer Vorschläge für die Organisation des Übens und des Übestoffes sowie für die Einstudierung neuer Werke und den Umgang mit technischem Übematerial gegeben.
Das Buch schließt mit einem Ausblick auf Methoden der künstlerischen Gestaltung am Instrument. Auch künstlerisches Gestalten hat „Methode“.
Zahlreiche Notenbeispiele und Skizzen sollen helfen, die beschriebenen Übeprozesse zu illustrieren. Die Phasenskizzen erfordern vom Leser viel Vorstellungskraft, da Bilder, die zwangsläufig statisch sein müssen, hier Bewegungen darstellen sollen. Das Durchprobieren der Bewegungen kann in jedem Fall zum Experimentieren anregen, auch wenn die Zeichnungen die großen Möglichkeiten der Bogenbewegung keineswegs erschöpfend darstellen können.
A: Psychologische Aspekte des Übens
I. Zur Persönlichkeit des Übenden
Jeder lernt seinem Wesen nach ein bißchen anders. Diese Tatsache verleitet manchen Pädagogen zu der lapidaren, schwer widerlegbaren Feststellung, der eine sei eben begabt, der andere nicht; er überläßt das Problem des Übens dem Schüler, indem er sich auf Zielvorgaben für das Üben beschränkt.
Die Darstellung solcher künstlerischer Zielvorgaben kann faszinierend sein und dem Lehrer Gelegenheit zur vollen Entfaltung seiner Persönlichkeit bieten – in den Übeprozeß selbst greift sie nicht ein. Der Übende akzeptiert schließlich die Tatsache seiner mehr oder weniger beschränkten Begabung, weil es ihm und dem Lehrer nicht gelingt, eine auf die einzelne Persönlichkeit zugeschnittene Methode und ein entsprechendes Arbeitsprogramm zu entwickeln. Die Begabung kann nicht ausgeschöpft werden, weil niemand diese Begabung richtig kennt. Es erscheint deshalb zu Beginn einer Arbeit über das Üben sinnvoll, zu fragen, welche Faktoren die Begabung eines Übenden ausmachen.
Für unsere Praxis ist der Begabungsbegriff ziemlich wertlos, solange er, was meist der Fall ist, als eine konstante Größe im Wesen des Menschen betrachtet wird. Die Psychologie hat mit komplizierten statistischen Methoden versucht, eine schlüssige Definition des Begriffs „musikalische Begabung“ zu erstellen. Als ein Resultat dieser Untersuchungen können wir festhalten, daß dieser Begriff eine Kombination sehr verschiedener intellektueller und emotionaler Eigenschaften bezeichnet, von denen jede einzelne allerdings auch in ganz anderen, nicht-musikalischen Begabungsbereichen von Bedeutung sein kann.
Ein großer Teil dessen, was als Begabung bezeichnet wird, entspringt Arbeitshaltungen und Arbeitsgewohnheiten (samt den damit verbundenen Selbsteinschätzungen), die alle selbst wiederum in Lernprozessen erworben wurden. Sie führen zu festen Verhaltensmustern, die dann als Fähigkeiten ziemlich konstant, d. h. in ihrer Gesamtheit eben als „Begabung“ erscheinen. Es soll hier nicht behauptet werden, es gäbe keine Unterschiede angeborener individueller Fähigkeiten; aber die nachträgliche Trennung von „echter“ Begabung und erworbenen Gewohnheiten und Haltungen ist kaum möglich. Wie sehen solche Arbeitshaltungen aus ?
1. Änderungsbereitschaft
Wenn Üben einen Sinn haben soll, dann muß das Spiel nach dem Üben besser, d. h. aber anders sein als vorher, und sei es auch nur in bezug auf irgend ein kleines Detail in einem Stück. Halten wir fest: Jede Verbesserung ist eine Veränderung.
Die Bereitschaft, bei sich selbst etwas zu ändern, ist nun bei verschiedenen Spielern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Häufig findet man die Haltung dem Lehrer gegenüber: Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß! Die Aufforderung zur Änderung wird bei diesem Lerntyp als Störung empfunden.
Ein Spieler, der sich schon viele Jahre mit seinem Instrument befaßt hat, hat eine ganze Reihe von Gewohnheiten entwickelt. Ohne solche ganz automatisch ablaufenden zusammengesetzten Handlungsfolgen wäre ein so komplizierter Vorgang wie das Spielen auf einem Instrument gar nicht vorstellbar.
Im Unterschied zum Tier, bei dem Bewegungsfolgen weitgehend genetisch bedingt, also „mitgebracht“ sind, werden beim Menschen Bewegungen überwiegend gelernt. In diesen langen Lernprozeß fließen so viele psychische und körperliche Erfahrungen mit ein, daß jeder Mensch eine nur für ihn allein bezeichnende Haltungs- und Bewegungsweise entwickelt. Persönlichkeit und jeweilige Stimmungslage eines Menschen drücken sich in Haltung und Bewegung aus. So können beim Erwerb von Grundhaltungen und -bewegungen im Bereich des Instrumentalspiels auch ausgesprochene Fehlentwicklungen auftreten (man denke nur an ängstlich oder verbissen hochgezogene Schultern oder schlaff herunterhängende Arme).
Aber auch wenn wir nicht an krasse Haltungsfehler denken: Ein Fortschritt in Richtung auf einen höheren Differenzierungs- und Beherrschungsgrad bedeutet immer eine Änderung im gesamten Verhalten und Befinden eines Spielers. Die Änderung einer Gewohnheit, bei der man sich „häuslich eingerichtet“ hat, ist fast immer mit der Überwindung eines inneren Widerstandes gekoppelt. Oft ist eine neue, bessere Haltungsund Bewegungsweise anfangs nur deshalb unbequemer, weil sie ungewohnt ist. Man sollte einer allzu „bequemen“ Haltung und Bewegung sogar ein gesundes Mißtrauen entgegenbringen: Die für eine perfekte Körperbeherrschung nötige Haltung oder Bewegung ist keineswegs immer die bequemste. Das gilt schon für die aufrechte Haltung und den aufrechten Gang; noch viel mehr gilt es für die geeignetste Haltung und Bewegung bei den komplizierten Anforderungen beim Instrumentalspiel. Auch dem Begriff der „Natürlichkeit“ ist, so gesehen, mit einiger Vorsicht zu begegnen.
Nun kommt allerdings auch der gegenteilige Lerntyp vor: Alles, was auf ihn einstürmt, wird als der endlich gefundene „Stein der Weisen“ begrüßt. Die Änderungsbereitschaft ist so groß, daß eine kontinuierliche Arbeit kaum möglich ist.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß es keine für alle und in jedem Zusammenhang gültige „richtige“ Haltungs-, Bewegungs- und Übeweise gibt. Gerade bei einem sehr erfolgreichen Musiker beruht der Erfolg oft darauf, daß er gerade die für ihn geeignetste Arbeits- und Bewegungsweise gefunden hat. Auch gibt es innerhalb der Grenzen bestimmter physiologischer Anforderungen tatsächlich verschiedene Haltungen, die bei verschiedenen Menschen jeweils zum besten Erfolg führen.
Überdies zeigen sich „Ähnlichkeit“ und „Unterschied“ im Verhalten verschiedener Spieler keineswegs ausschließlich an der äußerlich zu beobachtenden Haltung: Die sichtbaren Details etwa einer Bogenhaltung sagen noch nichts darüber aus, was an feinen dynamischen Abstufungen, an Kraft- und Geschwindigkeitskurven in Hand und Arm beim Spiel abläuft. Ein Meister wird, wenn er den Bogen in die geballte Faust nimmt, immer noch unendlich viel besser spielen als ein Anfänger dem man gerade mühsam die „richtige“ Haltung beigebracht hat. Viele Wege, aber doch nicht alle führen nach Rom. Man kann auch seine Zeit damit verbringen, daß man dauernd sein Ziel umkreist, wobei man ja alle dorthin führenden Wege kreuzt.
Mancher findet sich durch sich widersprechende Anweisungen zweier Lehrer oder durch widersprüchliche Beobachtungen an zwei verschiedenen, als Autoritäten anerkannten Künstlern in der Situation des Esels vor den zwei Fudern Heu. Es gibt jedoch mehrere Gründe, aus denen heraus unterschiedliche Auffassungen sowohl über künstlerische als auch bewegungstechnische Fragen entstehen können:
1.Das ästhetische Zielbild zweier Künstler kann tatsächlich so verschieden sein, daß es sich auch jeweils eine andere Technik schafft.
2.Die körperlichen Konstitutionen zweier Spieler weichen so weit voneinander ab, daß für vergleichbare Ziele unterschiedliche Bewegungsweisen gefunden werden mußten (z. B. langer oder kurzer Arm bei der Bogenführung, Körpergröße bei der Haltung, Handform, Gelenkwinkel).
3.Der Unterschied zwischen den Ansichten zweier Lehrer bezieht sich vielleicht nur auf den Weg, nicht aber auf das Ziel. (Beispiel: Ein variables Vibrato kann einem Schüler von der Klangvorstellung her, aber auch über ein Bild oder über die Bewegungsbeschreibung nahegebracht werden. Der eine Lehrer wählt einen anderen Zugang als der andere, sei es, weil er ihn für sich selbst gefunden hat, oder sei es, weil er fühlt, daß gerade diesem Schüler die eine Darstellungsweise mehr bedeuten wird als die andere.)
4.Persönliches oder sogar nationales Temperament können einen unterschiedlichen Grad von Ausdrucksbewegungen bedingen, die einem Spieler, bewußt oder unbewußt, als notwendig erscheinen. Was beim einen künstlich aufgesetzt aussähe, wirkt vielleicht beim anderen als größte Selbstverständlichkeit. „Richtige“ Ausdrucksbewegungen können also bei zwei Spielern ganz unterschiedlich aussehen.
5.Schließlich gibt es beim Instrumentalspiel tatsächlich Unterschiede in der Ausführung einer Teilbewegung, ohne daß sich sagen ließe, die eine sei eindeutig besser als die andere. (Beispiel: Manche Spitzen-Streicher machen beim Bogenwechsel an der Spitze eine kleine Handgelenk-Ausgleichsbewegung, andere führen die Richtungsumkehrung mit einer ruckartigen Unterarmbewegung aus.)
Die Tatsache, daß zwei Könner auf unterschiedliche Weise zu überzeugenden Resultaten kommen, bedeutet nicht, daß es für jeden einzelnen Studenten gleichgültig sei, welche der beiden Bewegungsweisen er wählt. Es ist sehr wohl denkbar, daß er mit der einen Erfolg hat, mit der anderen trotz Übens und „Nachmachens“ nicht.
2. Bereitschaft zum Einsatz der gesamten Vitalität
Es gibt zwei prinzipiell verschiedene Arten von Bewegungen im Zusammenhang mit dem Instrumentalspiel:
1. vorbereitete, „fließende“,
2. unvorbereitete, abrupte.
Ziel des Übens ist im allgemeinen das Erlernen von fließenden Bewegungen, von ökonomischem Krafteinsatz, die Vermeidung von ruckartigen Bewegungen und der Zusammenbau der Einzelbewegungen in ein harmonisches Gesamtbewegungsbild.
Dieses – wichtige – Übeziel verschleiert andererseits eine andere Voraussetzung für ein vitales Spiel: Bestimmte musikalische Wirkungen erfordern einen großen Krafteinsatz, manche erfordern unvorbereitete, ruckartige Bewegungen.
Ein fortissimo an der Spitze z. B. ist auf dem Cello nur mit großem Krafteinsatz möglich; niemand bekommt diesen Einsatz geschenkt. Er verlangt natürlich die Beherrschung der Bogen-„Mechanik“ in bezug auf Strichstelle, Druck und Geschwindigkeit. Die Beherrschung der Technik ist aber noch nicht identisch mit dem „Elan vital“, den jemand bereit ist zu investieren. Mancher Spieler macht nun den Fehler, daß er beim Üben nie bis an diese Kraftgrenze herangeht in der irrigen Vermutung, daß er auf dem Podium schon über die nötige Kraft verfügen werde. Ein fortissimo ist aber, wie alle anderen Einzelheiten des Spiels, nur dann im Ernstfall verfügbar, wenn es vorher geübt wurde und seine Bedingungen automatisiert sind.
Auch abrupte Bewegungen kommen in einem vitalen Spiel selbstverständlich vor: Ein scharfer Akzent ist immer mit einer abrupten Beschleunigung des Bogenverlaufs verbunden. Um diese Beschleunigung zu erzeugen, muß manchmal auch eine Erschütterung des ganzen Körpers in Kauf genommen, oft sogar absichtlich zur Unterstützung der Bewegung bewußt eingesetzt werden. Ein kleines abruptes Kopfschütteln z. B. verstärkt einen Akzent deutlich.
Während eines Bogenstrichs sind für eine intensive dynamische Gestaltung oft große Unterschiede der Bogengeschwindigkeit unerläßlich. Das richtige Beschleunigen bzw. Abbremsen der Bogenbewegung ist nicht so sehr eine Frage der Geschicklichkeit des Spielers als der von ihm eingesetzten Vitalität, man kann auch sagen: des „Temperaments“. Das Beispiel, daß es möglich ist, den „Kopfschüttel“-Akzent zu erlernen, zeigt, daß nicht einmal das Temperament – jedenfalls soweit es die Intensität der körperlichen Darstellung beeinflußt – als unverrückbare Konstante zu betrachten ist, sondern daß ein Spieler selbst in dieser Hinsicht bewußt an der Entwicklung seiner Fähigkeiten arbeiten kann.
3. Bereitschaft zu geistiger Anstrengung
Erfolgreiches Üben besteht großenteils darin, in der künstlerischen Vorstellung von einem Werk und in den Spielabläufen Ordnung zu schaffen (darüber wird im dritten Teil dieses Buches ausführlich zu reden sein). Ordnung zu schaffen, ist ein schöpferischer Prozeß, der einen erheblichen geistigen Aufwand erfordert. Die beglückenden Eingebungen der Intuition, das plötzliche Sich-Zusammenfügen von bisher widerstrebenden Einzelheiten kommt nie von ungefähr, sondern als Abschluß und Belohnung einer manchmal sehr mühsamen geistigen Arbeit, die sich immer auch gegen eingefahrene Bequemlichkeiten richtet. Leider wird oft eine durchaus als richtig erkannte Übemethode, deren Erfolg sogar von einem beglückenden „Aha-Erlebnis“ begleitet war, keineswegs, wie zu vermuten wäre, nach dem Prinzip des „Lernens am Erfolg“ in das Verhaltensrepertoire beim Üben aufgenommen. Die Erfahrung zeigt, daß körperliche und geistige Trägheit oft solche eindeutigen Erfolge in Bequemlichkeit ersticken. Der schöne „Aha-Effekt“ wiegt manchen in der Illusion, er beherrsche das Problem ja nun. Anstatt eine als erfolgreich erkannte Methode nun systematisch zu erlernen und zur Gewohnheit werden zu lassen, wartet mancher lieber weiterhin auf neue Inspirationen von außen, sei es vom Lehrer (dem alten oder einem neuen), von der Freundin oder vom lieben Gott.
4. Ausdauer, Geduld
Effizientes Üben erfordert einen bestimmten Grad an Ausdauer. Diese Ausdauer ist sicher teilweise charakterlich bedingt, zum größeren Teil hängt sie aber davon ab, ob es gelingt, den Übevorgang so abwechslungsreich zu gestalten, daß ein Leerlauf gar nicht auftreten kann, und so erfolgreich, daß die Motivation entsprechend verstärkt wird.
Auch die Geduld, Ergebnisse der Arbeit abwarten zu können, ist eine für den Erfolg des Übens wichtige Eigenschaft. Wenn ich auf jemanden warte, von dem ich nicht weiß, wann er kommt, wird meine Geduld auf eine viel härtere Probe gestellt, als wenn mir seine Ankunftszeit bekannt ist. Die Einsicht, daß bestimmte Resultate des Übens eben nicht sofort zu erwarten sind, ergibt eine viel gelassenere Einstellung zur eigenen Arbeit und einen sichereren, letzten Endes ökonomischeren Umgang mit der Arbeitszeit. Gelassenheit, nicht ungeduldige Willensanspannung ist die ideale innere Gemütsverfassung beim Üben. Wenn ich aus Erfahrung weiß, daß ich zur Erarbeitung eines mir mittelschwer erscheinenden Stücks bei gleichmäßiger Übezeit von drei Stunden täglich eine bestimmte, begrenzte Anzahl von Wochen brauche, dann hilft mir diese Erkenntnis nicht nur in bezug auf die Zeiteinteilung, sondern auch in bezug auf die innere Gelassenheit und die Kontrolle des Fortschritts; die sinnvolle Aufstellung von Zwischenzielen, die für den Fortschritt beim Lernen so wichtig ist, wird erleichtert.
5. Ehrgeiz
Es ist für jeden Menschen eine legitime und wichtige Haltung, privaten und beruflichen Erfolg anzustreben. Die Anerkennung durch die Umwelt ist eine Grundvoraussetzung für die Schaffung eines stabilen Selbstbildes. Hat jemand den Entschluß gefaßt, Berufsmusiker zu werden, so ist dies sicher eines der wichtigsten Motive für seine künstlerische Arbeit. Diesen Entschluß braucht er allerdings nun nicht jeden Tag neu zu fassen; es genügt, wenn dieser (oder ein anderer) Entschluß seiner Arbeit Richtung und Ziel verleiht.
Wer nun ständig beim Üben seine Karriere vor Augen hat, begeht einen schwerwiegenden Fehler, und zwar aus mehreren Gründen:
a)Die Sucht nach Beifall läßt ihn notwendige Entwicklungsstufen überspringen, und zwar sowohl beim Lernen eines bestimmten Werks als auch in bezug auf seine längerfristige Entwicklung. Er merkt vielleicht, daß feinste Nuancen der Darstellung, minuziöse Genauigkeit im technischen und musikalischen Bereich vom Gros der Hörer kaum als solche wahrgenommen werden; dies verleitet ihn zu dem fatalen Schluß, der Hörer nehme auch das Gesamt dieser Feinheiten nicht wahr. Der Hörer spürt sehr wohl, wenn auch vielleicht völlig unreflektiert, als Gesamteindruck, die Haltung eines Musikers dem Werk und dem Publikum gegenüber, selbst wenn er vielleicht kein einziges Detail namhaft machen kann. Wenn er auch den einzelnen „Faden“ nicht sieht, die „Stoffqualität“ insgesamt kann er doch beurteilen.
b)Die Aufmerksamkeit wird schon beim Üben durch eine gewisse Selbstbespiegelung absorbiert; der Spieler nimmt den erhofften Genuß des Hörers mit dem vorzeitigen Schwelgen im erwarteten eigenen Erfolg vorweg. Die Selbstkritik, soweit vorhanden, wird überspielt, das Ohr schaltet auf „unscharf“. Wenn das Üben ein reiner Spielgenuß sein soll, dann müssen Anspruch und Verwirklichung nahe beieinander liegen. Dies kann nur geschehen, indem man entweder das Spielniveau an den höheren Anspruch heranführt, oder aber, indem man den Anspruch dem niedrigeren Spielniveau anpaßt.
c)Der immer präsente Wille zum äußeren Erfolg ist der beobachtenden und entspannten Haltung, die für ein erfolgreiches Üben nötig ist, sehr hinderlich. Angespannter Wille geht fast unausweichlich mit angespannter Muskulatur einher. Eine der wichtigsten Verhaltensweisen beim Üben, nämlich die Beobachtung und Verfeinerung der Körperspannungen wird auf diese Weise erheblich gestört.
6. Der Umgang mit Fehlern
Die Verarbeitung von Fehlern ist einer der wichtigsten Faktoren beim Lernprozeß überhaupt. Ein Lernen ohne Fehler ist nicht vorstellbar, ist geradezu ein Widerspruch in sich selbst. Im Regelkreis des Lernens bildet vielmehr die ständige Analyse der Ursachen von Fehlern als der Differenz von „Ist“ und „Soll“ die wichtigste Informationsquelle.
Wenn ich mich schon beim Üben schäme, Fehler zu machen, verzichte ich auf einen wichtigen Lerngewinn: Es wird zwar registriert, daß etwas falsch ist, aber sofort verdrängt, was eigentlich falsch war. Das läßt sich in zahlreichen Unterrichtssituationen beobachten: Auf einen Fehler folgt irgendein verlegener Ausruf unterschiedlicher Farbigkeit je nach Temperament des Spielers; die „Korrektur“ bringt normalerweise beim zweiten Anlauf wieder den gleichen Fehler. Wenn nun aber nicht einmal richtig registriert wird, worin der Fehler bestand, dann kann man schon gar nicht hoffen, herauszufinden, was zu ihm geführt hat. Die Bewegung wird dann meist abrupt abgebrochen, der Spieler erstarrt vollkommen. Da aber die Gefahr, einen Fehler zu machen, ja immer und auf jedem Leistungsniveau besteht, gerät der Spieler durch die Antizipation der Möglichkeit von Fehlern in eine starre, krampfhafte Haltung. (Man sollte sich geradezu angewöhnen, wenn z. B. ein Gedächtnisfehler wirklich zum „Aussteigen“ führt, mit einer eleganten Schlußbewegung so zu tun, als ob man den Fehler beabsichtigt hätte.) Im fortgeschrittenen Arbeitsstadium an einem Werk sollte man einen Fehler nicht sofort korrigieren, sondern versuchen, zunächst weiterzuspielen und erst dann abzubrechen und zu korrigieren, wenn man wieder „festen Boden unter den Füßen“ hat. Solche Situationen kommen ja auch in der Konzert-Praxis vor, man sollte sie also auch schon vorher kennenlernen!
Auch bei rein „technischem“ Üben, z. B. beim Üben der Intonation von Oktaven, wird ein viel schnellerer Fortschritt erreicht, wenn die – unsauber getroffene – Oktave zunächst unsauber stehenbleibt, festgestellt wird, welcher Ton zu hoch oder zu tief war, und diese Korrektur dann in einem zweiten Versuch verarbeitet wird.
Dabei ist auch beim Üben im ganz langsamen Tempo darauf zu achten, daß keinerlei Korrekturimpulse in der Bewegung Vorkommen, eine auch für fortgeschrittene Spieler nicht immer ganz leicht zu erfüllende Forderung. Auf diese Weise wird die betreffende Stelle sozusagen „ausgewaschen“; die Hand lernt schon im langsamen Tempo die ruhige Bewegung, die sie für das dann hochgezogene schnelle Tempo für einen störungsfreien Ablauf braucht. Andernfalls würden die Korrekturimpulse beim Hochziehen des Tempos als Verspannung mitgeschleppt.
II. Motivation
Um eine Leistung zu erbringen, bedarf es eines Anreizes, einer Motivation. Die Frage, warum jemand überhaupt übt, ist für eine Untersuchung des Übens nicht nur von theoretischer Bedeutung. Je nachdem, wie diese Frage im einzelnen zu beantworten ist, wird sich das Übeverhalten eines Spielers anders ausprägen. (Dies gilt natürlich auch für das pädagogische Verhalten des Lehrers.)
Die Freude an der Musik ist sicherlich eine der Grundvoraussetzungen dafür, daß sich jemand auf einen jahre-, ja lebenslangen Prozeß des Übens einläßt. Zugegeben, im Laufe eines Musikerdaseins kann es Situationen geben, in denen von dieser Freude nicht mehr viel zu spüren ist. Umgekehrt kann aber auch die Freude an der Musik den Lernprozeß geradezu behindern, und zwar dann, wenn sie immer und in jedem Augenblick voll ausgekostet werden soll. Erfolgreiches Lernen setzt den Aufschub dieser Freude (des „Musizierens“) auf kürzere oder längere Zeitabschnitte voraus. Schwärmerisches Ablaufenlassen einer völlig automatisierten musikalischen Folge bringt zwar Freude, aber keinen Lerngewinn. Dieser stellt sich erst dann wieder ein, wenn der Spieler an dem Stück neue Aspekte entdeckt und in den Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit rückt. Jeder neue Lernaspekt bringt den „lahm“ gewordenen Lernprozeß wieder „in Fahrt“.
Man kann auch einfach aus Freude an der Bewegung üben. Das Spielen komplizierter Bewegungsabläufe, die schon gut eingeübt sind, bietet in sich schon einen „Lustgewinn“ (vergleichbar z. B. dem Schlittschuhlaufen) und ist damit ein wichtiger Motivator. Die Freude über das gute Funktionieren der Körperbewegungen kann aber auch geradezu suchtartige Ausmaße annehmen. Dies ist eine für den Dilettanten typische Haltung, kommt aber natürlich auch beim Berufsmusiker vor. Man läßt begeistert immer wieder das ablaufen, was man schon kann.
Der musikalische und bewegungsmäßige Selbstgenuß wird oft noch ergänzt durch allerlei außermusikalische emotionale, oft nostalgische Assoziationen. Diese Freude ist wirklich jedem zu gönnen. Man muß sich jedoch eingestehen, daß man in diesem Fall nicht eigentlich übt, sondern genüßlich die Früchte früheren Übens „schlürft“. Daß bei dieser Art des Übens eine allzu strenge Kontrolle den Genuß nur stören würde, liegt auf der Hand.
Auch das Vergnügen an der Lösung einer Aufgabe (vergleichbar dem Lösen von Kreuzworträtseln) ist sicher ein wichtiger Anreiz zum Üben. Diese Aufgabe kann sich auf einen konkreten Anlaß, z. B. auf ein Konzert beziehen. Die meisten Musiker werden bestätigen, daß sie dann am besten üben, wenn ein Programm zu einem ganz bestimmten Termin aufführungsreif sein muß. Die Disposition des Übevorgangs hängt ja in diesem Fall tatsächlich von dem Datum und der Schwierigkeit der Aufgabe ab. Ein Konzert oder Vorspiel kann im Sinne einer längerfristigen Entwicklung als Zwischenziel aufgefaßt werden; Zwischenziele fördern ja bekanntlich den Lernprozeß sehr. Keiner übt gern ins Blaue hinein, mit der vagen Vorstellung, in ein paar Jahren vielleicht ein besserer Musiker zu sein als jetzt. Es gehört mit zum pädagogischen Umgang mit einem Schüler oder mit sich selbst, daß solche Zwischenziele in regelmäßigen Abständen gesteckt werden. Je größer übrigens der zeitliche Druck, desto mehr ist ein Spieler gezwungen, sein Übeverhalten zu verbessern. Leerlauf, Dahinplätschern von schon eingefahrenem Material, Sich-Drücken vor schweren Stellen werden so vermieden.
In Untersuchungen zur Leistungsmotivation bei Sportlern wurde festgestellt, daß die Motivation und damit auch der Lernerfolg eines Übenden meist dann am größten sind, wenn die gestellte Aufgabe weder zu schwer noch zu leicht ist, sondern als mittelschwer empfunden wird. Ist die Aufgabe zu leicht, dann kann aus ihrer Bewältigung kein Gefühl der Befriedigung, des Stolzes abgeleitet werden. Die Aufgabe muß so schwer sein, daß sie möglicherweise nicht oder nur unzureichend gelöst wird, daß sie aber andererseits bei genügendem Einsatz wahrscheinlich lösbar wäre. Nur bei dieser (subjektiv gesehen) mittleren Schwierigkeit kann ein Gefühl der Zuversicht entstehen, das wiederum für die Lösung selbst wichtig ist. Wird der Widerstand als zu hoch empfunden, dann überwiegen die Zweifel daran, ob die Aufgabe überhaupt lösbar ist. Darunter leidet natürlich der Arbeitsablauf.
Erscheint also eine Aufgabe für den Spieler als zu schwer, so gibt es nur zwei vernünftige Möglichkeiten des Verhaltens: Entweder man stellt sie beiseite oder man erleichtert sie sich vorübergehend. Dies ist sowohl in quantitativer wie auch in qualitativer Hinsicht möglich. Eine deutliche quantitative Erleichterung besteht darin, die Arbeit sinnvoll aufzuteilen, sich zunächst einen realistischen Überblick über die Einzelprobleme zu verschaffen. Kein Stück ist in allen Teilen gleich schwer.
Auch qualitativ kann eine Aufgabe erleichtert werden. Mancher hängt sich an einen Fingersatz, einen Bogenstrich, den er irgendwann einmal bei einem berühmten Künstler bestaunt hat, und will ihn auch dann noch beibehalten, wenn er damit mehrere Male Schiffbruch erlitten hat. Nicht jeder Fingersatz ist für jeden Spieler gleich gut, weder vom Technischen noch vom Musikalischen her, und wenn ein Fingersatz oder Bogenstrich sich ein paarmal als nicht praktikabel erwiesen hat, sollte man getrost einen „billigeren“ nehmen.
Die Schwierigkeit hat ja nicht nur einen objektiven, sondern auch einen subjektiven Aspekt: Alle sagen, dieses Stück oder diese Stelle sei schwer, also habe ich schon vorher Angst davor. Man erlebt diese „eingeredete“ Angst vor schweren Stellen häufig auch dann noch, wenn die Schwierigkeit eigentlich durch sinnvolles Üben bereits aus der Welt geschafft ist. Umgekehrt gibt es Spieler, die man beneidet, weil sie offensichtlich noch nie daran gedacht haben, daß dieses oder jenes Stück oder gar das ganze Cellospiel schwer sei. Man sollte es ihnen auch nicht sagen!
Ein Teil der Kunst eines bedeutenden Musikers besteht ja gerade in der Erkenntnis dessen, was speziell für ihn gut ist und was nicht. (Das fängt bereits bei der Wahl des Lehrers an!) Oft erlebt einer, der sich mit sogenannten „eleganten“ Lösungen Monate oder Jahre herumgeschlagen hat, daß ein Kollege die betreffende Stelle aus einer technisch oder musikalisch völlig anderen Grundhaltung heraus spielt und dieses Problem möglicherweise überhaupt nie zur Kenntnis genommen hat!
Die Erleichterung einer technisch oder musikalisch schwierigen Stelle kann vom Fingersatz, aber auch, was meist unterschätzt wird, in hohem Maße von der Bogeneinteilung her erfolgen. Wenn wir einmal das Vorhandensein eines musikalisch überzeugenden Vorstellungsbildes voraussetzen wollen, dann sollte sich die Bogeneinteilung auch danach richten, was auf dem Podium wirklich sicher ausführbar ist. Manche Fingersatzschwierigkeit wird sich durch eine andere Bogeneinteilung, die vielleicht nicht im Text steht, von selbst lösen.
Hier tauchen ein paar berechtigte Fragen auf: Wer hat den Text eigentlich redigiert? War der Komponist Cellist oder Geiger? Bedeutet der gedruckte Bindebogen einen Hinweis auf musikalischen Zusammenhang oder schreibt er eine konkrete Bogeneinteilung zwingend vor ? Fände der Komponist die Änderung gravierend, oder würde er sogar die Erleichterung begrüßen? Würde er sie, bei einwandfreier Ausführung überhaupt bemerken? (Vergleiche von frühen Schallplattenaufnahmen von inzwischen verstorbenen Komponisten mit ihren eigenen geschriebenen und gedruckten Texten lassen da durchaus einen gewissen Spielraum erkennen.) Würde ich denn immer selbst bei einer von mir gespielten Bandaufnahme jeden Bogenwechsel deutlich erkennen? Diese Fragen sollen keine Aufforderung zu willkürlicher Textveränderung enthalten, sondern im Gegenteil zur völligen Aneignung der musikalischen Idee des Komponisten und zu deren adäquater Wiedergabe.
Wichtig für die Motivation des Übenden ist, daß das Resultat irgendwie „meßbar“ oder vergleichbar ist. Dies gilt sowohl kurzfristig als auch längerfristig: kurzfristig sollte selbst innerhalb der Abfolge weniger Übedurchgänge einer Stelle am Ende ein in irgendeiner Hinsicht meßbarer Fortschritt zu erkennen sein. Und längerfristig kann sich der Vergleich auf frühere Phasen der Erarbeitung eines Werks, ja auf frühere Phasen des eigenen Spiels beziehen, die vielleicht sogar auf Tonbändern festgehalten wurden.
Ein wichtiger Motivator ist die Auswahl der zu übenden Literatur. Es ist oft erstaunlich, wie ein neues Stück, das der Gemütslage und der Entwicklungsphase des Übenden besonders gut entspricht, eine „schlapp“ gewordene Motivation wieder auffrischen kann!
Daß die Umwelt des Übenden einen ganz wichtigen Einfluß auf die Motivation ausübt, ist einerseits selbstverständlich, andererseits sind die dabei konkret auftauchenden Fragen zu kompliziert, um im Rahmen dieses Buches abgehandelt zu werden. Die ganze Problematik des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, Eltern und anderer Umwelt (z. B. Schule) würde über das Thema des Übens weit hinausgehen.
III. Lernen
Zum Verständnis des Übens ist es nützlich, sich einige allgemeine Lebenserfahrungen über das Lernen vor Augen zu führen. Die Lernforschung hat überdies einige Resultate zutage gefördert, die diese Lebenserfahrungen ergänzen. Es wäre töricht, als Übender daran Vorbeigehen zu wollen. Es soll hier jedoch nicht der Versuch unternommen werden, einen vollständigen Überblick über die verschiedenen Theorien des Lernens zu geben; einige für das instrumentale Lernen wichtige Einzelergebnisse mögen genügen.
Man unterscheidet heute modellhaft zwischen unterschiedlichen Arten von Gedächtnis, die sinnvoll ineinander wirken:
1.das Ultrakurzzeitgedächtnis, in dem Eindrücke nur für einige Sekunden haften;
2.das Kurzzeitgedächtnis, in dem Eindrücke auf ihre Verwertbarkeit hin untersucht und entweder verworfen oder gespeichert werden;
3.das Langzeitgedächtnis, in dem die Eindrücke für längere Zeit, zum Teil für das ganze Leben gespeichert werden.
Dieser Einprägungs- und Erinnerungsvorgang vollzieht sich weitgehend unbemerkt. Daraus darf man aber nicht schließen, daß es keine Möglichkeiten gäbe, auf Deutlichkeit und Stabilität von Erinnerungsinhalten einzuwirken. Das soll erläutert werden:
Die Alltagserfahrung lehrt, daß ein Gedächtnisinhalt leichter oder schwerer verfügbar ist, je nach dem Zusammenhang, in dem er einerseits gespeichert wurde und andererseits abgerufen wird. Ein vergessener Name z. B., den ich vielleicht verzweifelt gesucht habe, taucht unvermittelt in aller Deutlichkeit auf, wenn ich zufällig an dem Haus des Betreffenden vorbeigehe, wenn in irgendeinem Zusammenhang ein anderer Name, dem vergessenen ähnlich, eine Rolle spielt, oder mir ein Kollege des Namensträgers begegnet. Vielleicht erscheint der Name auch nur deshalb in meinem Gedächtnis, weil ich an einem Haus vorbeigehe, aus dem ein Küchenduft strömt, der mich an ein Essen mit dem Betreffenden erinnert. Jeder kennt Dutzende solcher Beispiele.
1. Verknüpfung von Elementen des Lerninhalts
Aus diesen Beobachtungen können wir folgenden Schluß ziehen: Die Erinnerung bezieht sich offensichtlich nicht auf Einzelelemente, wie etwa einen Namen, sondern der eingeprägte Gegenstand bildet mit allen seinen Eigenschaften, Situationsmerkmalen, sprachlichen, sinnlichen Assoziationen eine mehr oder weniger komplexe Erinnerungsstruktur. Im Gedächtnis werden nun die einzelnen Teilaspekte mit anderen, schon vorhandenen Gedächtnisinhalten verknüpft. Es entsteht ein unvorstellbar kompliziertes Netz von solchen Verknüpfungen; für jeden einzelnen Erinnerungsgegenstand gilt, daß er umso fester im Gedächtnis haftet, je zahlreicher seine verästelten Verbindungen sind und je vielfältiger damit die Zugänge, über die er abgerufen werden kann. Lernen heißt also unter anderem, Unbekanntes mit schon Bekanntem verknüpfen. (Noch etwas anderes geht aus diesem Modell hervor: Die Zahl der Verknüpfungen und damit die Einprägbarkeit wird erhöht, wenn der einzuprägende Gegenstand in sich schon relativ hoch strukturiert ist.)
Da sich diese Verknüpfungen nun auf die unterschiedlichsten Ebenen beziehen können (sprachliche, akustische, optische, situative in jeder nur denkbaren Weise), sind „Eselsbrücken“ jeglicher Art so erfolgreich: Die Verknüpfung kann im Einzelfall gerade deshalb so effizient sein, weil sie sich der scheinbar abstrusesten Querverbindungen bedient. Der Phantasie sind ja nicht nur hinsichtlich der musikalischen Darstellung, sondern auch in bezug auf den Übevorgang keinerlei Grenzen gesetzt. Jegliche Art von Assoziation ist willkommen, um den Lernvorgang nicht nur wirksam, sondern geradezu unterhaltsam zu machen. In der virtuosen Handhabung gerade solcher Methoden der Assoziation besteht seit jeher die verblüffende Kunst von Gedächtnisakrobaten.
Ein Lerninhalt, dessen einzelne Teile eine in sich schon sinnvolle Struktur ergeben, wird also leichter gelernt als eine Folge von Elementen ohne sinnvolle Struktur oder Gestalt, ein Wort z. B. leichter als eine sinnlose Folge von ebensovielen Buchstaben. Oft wird sogar ein kompliziertes Wort leichter gelernt als ein einfaches, weil schon die einzelnen Elemente untereinander in sinnvollem Zusammenhang stehen und sich damit die Intensität der Einprägung verstärkt. Eine Telefonnummer bleibt unvergeßlich im Gedächtnis, wenn man sie sich anhand einer Zahlengesetzmäßigkeit merkt. Es ist ein landläufiger Irrtum zu glauben, ein solches übergreifendes Ordnungsschema stelle einen zusätzlichen Lernstoff dar, der neben dem eigentlich zu memorierenden angeeignet werden müsse und so die Aufgabe erschwere.
Das Gedächtnis arbeitet nicht nach dem Prinzip der Addition, sondern nach dem der Verknüpfung. Zwei nicht aufeinander bezogene Gegenstände müssen separat eingeprägt werden; ist hingegen eine (im weitesten Sinne) „sinnvolle“ Verknüpfung möglich, dann reduziert sich die Menge des Stoffs auf einen einzigen Gegenstand. Es gibt viele Ebenen solcher Verknüpfung; auf sie soll später noch ausführlich eingegangen werden.
Der Erfolg des Lernens hängt von der Dichte der Verknüpfungen ab: Ein Inhalt, der über mehrere verschiedene „Kanäle“ gelernt wurde, haftet fester im Gedächtnis, als wenn er nur über einen einzigen Kanal gelernt wird. So ist z. B. lautes Sprechen, sich selbst laut Anweisungen zu geben, erwiesenermaßen wirksamer, als wenn die Anweisungen nicht sprachlich und nicht laut formuliert werden: Die zusätzliche „Eselsbrücke“ Sprache verstärkt den Verknüpfungs- und Lernvorgang. Hierher gehört selbstverständlich auch das Aufschreiben des Notentextes: das Niederschreiben einer schwierigen Stelle pflegt, auch wenn sie fast schon „zu Tode“ geübt ist, oft erstaunliche neue Informationen und damit Verknüpfungsmöglichkeiten zutage zu fördern.
2. Emotionale Aufladung
Einen Lerninhalt, der für mich wichtig ist, präge ich mir besser ein als einen unwichtigen. Jeder Mensch verfügt über automatische Auswahlmechanismen beim Aussortieren von Sinneseindrücken. Dies vollzieht sich normalerweise völlig unbewußt, kann aber auch willentlich gesteuert werden. Durch die Verbindung (Assoziation) mit Vorstellungsbildern kann ich einen Lerninhalt sozusagen „willkürlich“ als besonders wichtig erscheinen lassen, ihn gewissermaßen emotional „aufladen“.
Die Einprägung von Lerninhalten und ihre emotionale Aufladung brauchen Zeit. Bei wichtigen Lernvorgängen lohnt es sich durchaus, eine kleine „Gedenkminute“ einzulegen und dabei tief durchzuatmen, um den einzuprägenden Inhalt auch wirklich „einsinken“ zu lassen, bevor er durch folgende Eindrücke überlagert wird. Wie stark die emotionale Aufladung einzelner Begebenheiten im Musikerberuf gerade auch im negativen Sinne im Gedächtnis haftet, kann jeder an sich selbst beobachten: Ich weiß genau, an welcher Stelle in welchem Konzert mir z. B. ein Sprung mißlungen ist. Es war sicher für niemanden außer für mich wichtig, haftet mir aber unauslöschlich im Gedächtnis.
Die willkürliche emotionale Aufladung ist wieder eine Frage der persönlichen Phantasie des Übenden. Ich kann mir z. B. eine besonders schöne oder groteske Situation in sinnvollem Zusammenhang mit einer musikalischen Phrase, aber auch mit einer spieltechnisch schwierigen Passage vorstellen. Ich kann mir beim Einprägen von analogen Tönen (z. B. Anfangstönen einer Sequenz) sowohl musikalische als auch außermusikalische Muster ausdenken, die diese analogen Töne für das Gedächtnis zusammenfassen, z. B. einen fiktiven Akkord, der die Anfangstöne beinhaltet, oder einen Tonleiterausschnitt, oder ich kann der Stelle ein Wort oder einen Satz unterlegen, der mir diesen übergreifenden Rahmen geben kann. Ich kann mir vorstellen, es höre mir jemand zu, auf dessen Urteil oder auf dessen Sympathie ich großen Wert lege. Das eigene Sprechen, Singen, Mimen, Dirigieren ist dazu geeignet, nicht nur musikalische, sondern auch technische Verbindungen mit Leben und Gefühl zu erfüllen.
3. Motorisches Lernen
In der Lernpsychologie wird der Begriff des motorischen Lernens von dem des kognitiven, geistigen getrennt, aber mehr aus Gründen begrifflicher Abgrenzung als etwa, weil beim motorischen Lernen ganz andere Gesetze gälten. Wie die Sportpsychologie längst erkannt hat, sind im körperlichen Bewegungslernen Elemente der geistigen Abstraktion wirksam; ebenso spielen umgekehrt im kognitiven Bereich die verschiedensten Muskelaktivitäten eine Rolle. Ergebnisse der Lernforschung auf dem Gebiet des motorischen Lernens und ihre Anwendung im Sport decken sich so weitgehend mit den Beobachtungen, die wir beim motorischen Teil des instrumentalen Lernprozesses machen, daß wir getrost von dort methodische Anregungen übernehmen sollten.
Der gesamte Lernprozeß, der im folgenden etwas schematisiert in einige typische Lernphasen gegliedert werden soll, weist sowohl im ganzen als auch innerhalb der einzelnen Phasen eine gewisse Unregelmäßigkeit auf. Am größten ist der Lernfortschritt immer am Anfang eines Lernprozesses. Er flacht dann allmählich ab, und schließlich sind auch bei größter Aufmerksamkeit und Konzentration keine neuen Fortschritte mehr innerhalb dieser spezifischen Lernweise zu erzielen (d. h. ein neuer Aspekt muß eingeführt werden, der dann einen neuen Lernprozeß starten kann).
Im Verlauf eines Lernprozesses treten immer wieder Abschnitte auf, in denen keine Entwicklung zu erkennen ist. Man spricht von Lernplateaus, auf denen das bisher Erlernte wohl innerlich gefestigt werden muß, was ja, wie schon erwähnt, unbewußt stattfindet, also auch ohne zusätzliches Üben. Manchmal ist man sogar überrascht, wie gut und anstrengungsfrei ein Stück, eine Passage trotz längeren Nicht-Übens läuft! Der Lernprozeß ist also nicht in dem Moment unterbrochen, in dem man sein Instrument aus der Hand legt: „Es“ arbeitet unbewußt in einem weiter.
Die Kenntnis dieser Lerngesetzlichkeit ist eine Hilfe zur richtigen Selbsteinschätzung und Gelassenheit beim Üben; jeder sollte von sich selbst wissen und akzeptieren, daß er nicht lineare Fortschritte erzielen kann, ganz abgesehen davon, daß er nicht zu allen Zeiten in der gleichen Form, auch nicht in der gleichen „Lernform“ ist.
Hier also eine schematische Darstellung der motorischen Lernphasen:
a)In der