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Ein Auszug aus »Colours of Africa« von Ellen Alpsten

Kenia – das ist für Ava eine Explosion von Farben, Musik und Gefühlen. Seit ihrem ersten Praktikumstag bei einer Hilfsorganisation schwankt sie ständig zwischen den Extremen. Tagsüber arbeitet sie bei einer Initiative, die Kindern im Slum von Nairobi Kunst näher bringen will, und abends stürzt sie sich in das pulsierende Nachtleben der kenianischen Hauptstadt.

Dabei lernt sie den charmanten James Cecil kennen, der ihr als Sohn eines reichen Großgrundbesitzers eine völlig neue und dekadente Welt eröffnet. Gleichzeitig bemerkt sie aber, dass sie sich auch zu ihrem Teamleiter Mats hingezogen fühlt. Schon bald sitzt Ava zwischen allen Stühlen und muss sich entscheiden, zu wem und wohin sie wirklich gehört.

Träume sind Schäume

Ava griff in die kiloschwere, elfenbeinfarbene Seide ihres Kleides, für die Millionen von Raupen um ihr Leben gesponnen hatten. Der Himmel füllte sich mit Regenbogenfarben, die wie Eiscreme ineinanderliefen. Vanille, Pistazie und Erdbeere tropften auf die Straßen. Ava streckte den Kopf aus dem Fenster und die Zunge raus und kostete davon – hmmm, wie gut! Die Sonne glänzte wie die zur Feier dieses Tages frisch geprägten Münzen. Als Ava vor der großen Kathedrale aus dem von Mäusen gezogenen Kürbis stieg, halfen die fünfzig Pagen und fünfzig Blumenmädchen ihr voran. Ein riesiges Tor schwang vor ihr auf und sie ging den langen Gang inmitten des Kirchenschiffs ganz allein hinunter. Schritt für Schritt, ihrem großartigen Schicksal entgegen. Eine Premiere für eine königliche Braut. Ava kannte ihren Vater nicht und ihre Mutter saß vorn am Altar, der Königin gegenüber. Sie trug einen Hut, so groß wie ein Wagenrad. Ava spürte den Neid der anderen Mütter, die ebenfalls schöne Töchter hatten, wie Nadelstiche auf ihrer Haut. Sie alle wandten ihr die Köpfe zu: fauchende Tiger, spuckende Schlangen, Skorpione, zum Stich bereit.

Als Ava ihren Bräutigam so blond und stattlich in seiner roten Gala-Uniform am Altar stehen sah, ging ihr Atem doch etwas rascher. Wie lange hatte sie auf diesen Augenblick gewartet? Ewig. Nun war er da.

Der Erzbischof lächelte ihr ermutigend zu, als sie nebeneinander vor ihm niederknieten. Blut tropfte dabei von seinen Eckzähnen, spitz wie die von Graf Dracula.

»Ja, ich will …« Der Prinz und Ava murmelten ihren Treueschwur, der im Aufbrausen der Orgel ertrank: School’s out, for ever!, tönte die Musik über den Jubel und das Geschrei der Menge hinweg. Ava schloss kurz wie geblendet die Augen, so grell waren die Blitzlichter, doch dann fasste sie sich: Sie trat auf den Laufsteg, der sich nun vor ihr ausbreitete, und sie riss sich das Brautkleid herunter. RATSCH, hallte es durch das Kirchenschiff. Und dann lief sie los, einfach so, Hüften wackelnd, Blick geradeaus, in einem winzigen Kleid aus goldenen Pailletten, mitten in das Feuer der Kameras hinein.

School’s out, forever! Die Musik heulte wie ein Sturm. Der Rhythmus kam Ava-Top-Model gerade ganz gelegen. Sie war cool. Sie war großartig. Sie überragte alle anderen Mädchen um zehn Meter. Sie wurden kleiner und kleiner, so, als liefe Ava auf Stelzen. Verwirrt wandte sie den Blick wieder nach vorn. Wohin lief sie? Karten vermischten sich in ihrem Kopf. Mailand, New York, Paris, London wurden zu einem bunten Wirbel. Das Kaleidoskop der Städte wartete am anderen Ende des Laufstegs auf sie, wie ein Strudel, der sie ansog. Sie konnte sich nicht dagegen wehren, ihre Stelzen staksten wie von selbst darauf zu.

Ava kam dem sich drehenden Wust aus Farben und Städten näher und näher und sah plötzlich, dass sie auf ein mit Klingen besetztes Rad zusteuerte. Alles in ihr wehrte sich, aber: nicht schreien, nicht nach rechts und links schauen. Immer geradeaus!

»Move it, Baby!«, riefen die Fotografen.

Nein, Ava fühlte sich vor Angst erstarrt, als der Wirbel sie ergriff, ihre Stelzen zermalmt wurden und die Musik dröhnend ihre Ohren füllte: »School’s out, forever!«, gellte es aus den Lautsprechern …

Alle, nur ich nicht!

Ava schreckte auf. BIEB, Bieb, machte ihr Laptop, der aufgeklappt neben ihrem Bett auf dem Boden stand. Sie musste noch einmal eingeschlafen sein – schon zum dritten Mal an diesem Tag. BIEB, Bieb. Jemand rief sie über Skype an! Endlich tat sich mal was.

Ava blinzelte in den warmen August-Sonnenschein. Es war der erste sonnige Tag nach wochenlangem Regen, doch die gelbe Sau am Himmel konnte ganz schön nerven! Beinahe fünf Uhr nachmittags, verriet ihr ein Blick auf den altmodischen Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand. BIEB, Bieb!

Jajajajaja … JA! Ava streckte sich nach dem Computer, zog ihn zu sich und sah auf den Bildschirm. Camille ruft an, sagte die Skype-Anzeige.

Avas Herz machte einen kleinen Sprung. Sie hatte schon lange nichts mehr von ihrer Freundin Camille aus Paris gehört. Hatte sie ebenfalls ihr Abitur bestanden? Klar hatte sie das! Camille war immer eine Musterschülerin gewesen. Aber eben dennoch cool. Sie hatte stets das gemacht, was sie wirklich wollte – gegen alle Widerstände. Ava drückte auf Antworten und dann schnell auf die Kamera-Taste, obwohl sie aussah wie ein Schwein: Haare ungekämmt, Pickel am Kinn, Zähne nicht geputzt. Machte nichts. Das musste eine Freundschaft aushalten.

»Oui, Camille?«, sagte sie.

»Ava, super, dass du da bist! Regnet es bei euch?«

Ava warf einen Blick aus dem Fenster, in den strahlend blauen Himmel. Affenhitze herrschte, zum ersten Mal seit Wochen. »Ausnahmsweise nicht, wieso?«

»Na, weil du mitten am Tag so zu erreichen bist. Solltest du nicht zum Baden am See sein?«

»Hm. Vielleicht. Wir waren gestern Nacht noch lange aus«, – eine glatte Lüge, denn sie hatte bis in die frühen Morgenstunden DVDs auf ihrem Computer geschaut –, »und mir tun vom Tanzen alle Muskeln weh. Ich werde halt alt.«

»Ava!«, lachte Camille, und Ava fiel auf, wie gut ihre Freundin aussah. Sie trug ein kleines weißes Hängekleid und hatte sich die dunkelblonden Haare zu losen Zöpfen um den Kopf geschlungen, was ganz süß aussah.

»Aber warum bist du denn zu Hause vor dem Computer, Camille? Solltest du nicht auf dem Land bei deinen Großeltern sein?« In Paris waren immer alle auf dem Land, à la campagne, sobald nur ein Wochenende oder eben die großen Ferien nahten.

»Sollte ich. Aber ich wollte hier sein, wenn der Brief kommt.«

Ava schwante Übles. Nein, nicht auch noch Camille! Verräterin. Sie vertrieb den Gedanken und lächelte tapfer in die Kamera ihres Laptops.

»Welcher Brief denn?« Ihre Stimme klang rau. Sie versuchte zu schlucken und bereitete ihr Gesicht auf einen Ausdruck freudiger Anteilnahme vor, obwohl sie am liebsten Galle gespuckt hätte. Das ging nicht speziell gegen Camille, sondern einfach gegen alle und alles.

Camille presste ein Papier gegen die Kamera ihres Computers, sodass alles sich in einen weißen Nebel hüllte, und kreischte plötzlich los: »Ich hab’s geschafft!! Ich bin angenommen! Ich werde Medizin studieren! Aaaaah!«

Ava fiel kameradschaftlich in ihr Kreischen mit ein. Alles andere wäre grenzwertig asozial und unverzeihlich gewesen.

»Félicitations, Camille!«, sagte sie und es klang echt. Fand Ava zumindest. Ganz herzlichen Glückwunsch. Die Worte schmeckten sauer wie Sodbrennen.

Camille zog den Brief von der Kamera weg, sprang auf und drehte eine Pirouette. Dann ließ sie sich wieder lachend auf ihren Platz plumpsen. »Dir wollte ich es als Erste sagen. Und jetzt kann ich Koffer packen und zu meinen Großeltern aufs Land fahren. Das Leben geht los, Ava, ist das nicht fantastisch?!«

»Ja, ganz fantastisch«, knurrte Ava.

»Was machst du denn jetzt?«

»Wie bitte …?« Ava klickte mehrere Male auf den Kamerabutton auf ihrem Bildschirm. Ein. Aus. Ein. Aus.

Camille zwinkerte irritiert. »Was du denn jetzt machst? Außer die Nacht durchfeiern, meine ich …«

Ava klickt noch ein paar Mal herum. Das Bild verzerrte sich und kriegte sich nicht wieder ein. »Camille, die Verbindung wird so schlecht … ich kann dich kaum hören.«

»Ich kann dich super hören. Als ob du hier neben mir in Montparnasse in einem Café säßest …«

»Camille? Hallo, Camille …?« Ava drückte nun diskret auf den »Auflegen«-Knopf.

Das musste ihre Freundschaft schon mal ertragen. Der Bildschirm wurde dunkel und still. Endlich. Ava ließ sich auf ihr zerknautschtes und nicht mehr ganz frisches Kissen fallen. Sie schnupperte daran und verzog angewidert das Gesicht. An den letzten Abenden war sie vor dem Einschlafen immer zu faul gewesen, sich abzuschminken – und das rächte sich jetzt! Seitdem sie 18 geworden war, hatte sich ihre Mutter schlicht geweigert, weiterhin auch nur einen Finger in Avas Zimmer krummzumachen und hatte sogar der Putzfrau verboten, es zu betreten.

Ava schloss die Augen. Als sie sie nach ein, zwei Atemzügen wieder öffnete, war die Lage um sie herum unverändert deprimierend. Neben ihrem Bett lag aufgeschlagen ein buntes Klatschblatt, aus dem ihr eine bezaubernde Kate Middleton entgegenstrahlte – von Waity Katie zur Prinzessin, verdammt nochmal, hatte die ein Glück! Auf der anderen Seite kommentierte Heidi Klum in drei Spalten Herbstmode von den Laufstegen der Welt. Die Models auf den Fotos waren klapperdürre Freaks, die auch in einem Müllsack gut aussähen.

Ava ließ den Blick weiter durch den Raum schweifen. Unter einem vor einigen Wochen angefangenen Roman lugte ihr Strickzeug hervor. Eine Masche rechts, drei fallen lassen, zwei links, irgendwie so oder eben andersherum. Das wollige, löchrige Ding, das dabei herausgekommen war, hatte nichts mit der Abbildung gemein, die ihr eine Klassenkameradin zugesteckt hatte. »Du solltest mal sehen, wie glücklich es macht, etwas zu erschaffen!«, hatte die Kuh dabei geflötet. Weiter hinten im Zimmer lagen Berge von schmutzigen Kleidern, Kopfhörer, Stiefel, zerknüllte McDonalds-Tüten, hochhackige Schuhe. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Das musste die Maske sein, die sie sich vor zwei Tagen aus Avocadomus und Mandelöl angerührt hatte. Sie griff nach der Schale auf ihrem Nachttisch und warf einen vorsichtigen Blick hinein. Beurgh. Das sah mittlerweile aus wie Hundekacke. Und groß geholfen hatte es auch nichts. Der Pickel auf ihrer Nasenspitze war noch immer leuchtend rot, und um ihn herum juckte es, als bekäme er gerade Kinder und Kindeskinder.

Ava schob die Schale schnell von sich, drehte sich zur Wand und krümmte sich wie ein Fötus zusammen.

Alles war so grässlich. Sie hatte Abitur gemacht. »School’s out, forever«, hatte die Schulband ins Mikrofon geheult und Ava hatte mit den anderen aus ihrer Stufe bis morgens gefeiert – sogar mit den Leuten, mit denen sie während der restlichen Schulzeit quasi gar nichts zu tun gehabt hatte. Alles schien möglich, sie waren endlich frei!

Dann, am nächsten Morgen, dem ersten Tag dieser Freiheit, hatte sich ein Loch aufgetan und sie verschluckt, einfach so. Es fühlte sich an wie ein langer Schlund, dessen Inneres mit fünf Reihen von Zähnen, so spitz wie Dornen, besetzt war. Der Schlund führte zu einem von vier Mägen, der sie knackte und bis in alle Ewigkeit wiederkäuen würde. Es war wie in Dantes Inferno.

Ava wälzte sich auf die andere Seite und stieß einen langen Seufzer aus. Da klingelte ihr Handy.

Mogens, sagte die Anzeige, und sein Bild erschien: lächelnd, freundlich und frisch. Mogens war mal ihr Freund, mal war er nicht ihr Freund, aber immer auf Armeslänge Abstand. Meistens nicht ihr Freund, sondern eben nur ein Freund.

»Ja?«, knurrte Ava. Bei Mogens konnte sie sich fast alles erlauben, was schon mal ganz schlecht war. Wenn er ihr sagen würde, dass sie sich zusammenreißen solle, würde es sicher viel besser zwischen ihnen laufen.

»Hey, gut, dass ich dich erreiche. Wo bist du denn unterwegs?«

»Ich bin auf der Post und gebe gerade zehn Anträge für ein Stipendium in Harvard ab«, sagte Ava mit bitterer Ironie.

»Oh … Musst du noch lange anstehen?«

Ava biss sich auf die Lippen. Hinter Mogens hörte sie Hupen, Stimmen, Lachen. Sie seufzte. Eigentlich war Mogens echt clever – aber manchmal kapierte er einfach nichts. »Ich mache nur Spaß, Mogens. Ich bin daheim und liege noch im Bett. Und du?«

Sie hörte seine kurze erstaunte Pause, aber seine Stimme klang neutral, als er sagte: »Ich bin in München. Hab eine Wohnung gefunden. Mein Vater kennt da jemanden, der jemanden kennt … Ein Zimmer, Küche, Bad in der Türkenstraße. Da muss ich aus dem Bett nur in den Hörsaal fallen.«

Mogens hatte mit seinem Einser-Abitur sofort einen Studienplatz in Jura bekommen, noch dazu in München. Avas Abschluss dagegen bewegte sich in der Drei-Komma-noch-was-Zone, die man am besten totschwieg. Sie hatte sich für all ihre Wunschfächer nur Absagen eingehandelt – von Kulturmanagement bis Modedesign, von London bis Wien. Obwohl, halt, aus London hatte sie nichts gehört, was ihr noch schlimmer und beleidigender als eine Absage erschien. Bei anderen Schulen hatte sie den Abgabetermin für die Mappe verpasst, wofür sie leider die Schuld auf niemand anderen schieben konnte. Es war einfach zu frustrierend.

»Klasse, Mogens«, würgte sie hervor. »Da hast du ja Schwein gehabt.«

»Ich muss auflegen, Ava. Da kommt mein Alter mit dem Vermieter. Wir müssen unterschreiben. Wollen wir heute Abend was unternehmen?«

»Gern. Hol mich ab. So um neun, okay?«

Bis dahin konnte sie ihren Pickel mit Make-up besiegen und ihren inneren Schweinehund an die Kette legen. Was ihn für gewöhnlich nur noch bissiger und schärfer machte. Sie legte auf und im selben Moment klopfte es an ihre Zimmertür. Ehe Ava »Herein« sagen konnte, stand ihre Mutter schon an ihrem Bett. Das ging hier ja zu wie im Taubenschlag, dachte Ava und blinzelte zu ihrer Mutter hoch, die gerade die Arme in die Hüften stemmte.

»Ava! Du liegst ja immer noch im Bett. Was soll denn das werden, wenn es fertig ist? Ein Lie-in zum Protest gegen den Hunger in der Welt?«

Ava streckte und reckte sich, ehe sie gewaltig gähnte. Nach all den Jahren wusste sie genau, wie sie ihre Mutter auf die Palme bringen konnte.

»Nein. Das ist moderne Kunst. Ein Statement, wie lange man es ohne jeglichen Komfort im Bett aushalten kann.«

»Soso. Ohne jeglichen Komfort. Nur mit Laptop und iPhone auf einer einsamen Insel gestrandet, was?«

»Hmpf«, grunzte Ava nur.

Ihre Mutter seufzte. »Ich in deinem Alter…«, begann sie, doch Ava legte sich die Hände auf die Ohren und schüttelte flehend den Kopf.

Ja, ja, JA! In ihrem Alter hatte ihre Mutter das Abitur an der Abendschule nachgemacht, während sie tagsüber als Friseuse im Salon von Avas Großvater gearbeitet hatte. Der Säugling Ava hatte meist schon geschlafen, wenn ihre Mutter noch gesessen und gebüffelt hatte. Heute war sie Architektin und hatte in ihrem Büro auf der feinen Augsburger Maximilianstraße an die zehn andere Architekten unter sich.

Energisch zog ihre Mutter nun Ava die Hände vom Gesicht weg. »Ava. Steh bitte auf. Meine Freundin Eva kommt doch heute Abend. Sie dreht in München und fährt extra zu uns.«

»Sie dreht?« Ava riss die Augen auf. »Woran? Am Rad?«

»Das machst nur du, habe ich den Eindruck«, schnaubte ihre Mutter. »Mein Gott, deine Ohren sind wirklich auf Durchzug geschaltet, was? Ich habe dir schon zehnmal gesagt, dass Eva heute vorbeischaut. Du kennst sie doch von ihrem Besuch vor ein paar Jahren.«

»Hm. Kann schon sein …«, murmelte Ava. Natürlich erinnerte sie sich genau an Eva. Das wollte sie nur nicht zugeben. Eva Born – Mamas erfolgreiche Schauspieler-Freundin aus München. Die beiden hatten sich während des Studiums kennengelernt und inzwischen flimmerte Eva ständig mit irgendeiner Serie oder TV-Adaption eines englischen Bestsellers über den Bildschirm. Noch so ein glänzender Erfolg – einfach ätzend!

Avas Mutter redete weiter: »Egal. Sie kommt zum Grillen und ich habe sie seit fast drei Jahren nicht mehr gesehen. Bitte steh jetzt auf und sei einigermaßen präsentabel, ja?«

»Ich gehe heute Abend aber aus. Mit Mogens«, sagte Ava trotzig.

»Kann Mogens nicht zu uns kommen? Dann kann er sich auch um den Grill kümmern.«

Ha! Ihre Mutter mochte noch so harmlos lächeln, sie wusste genau, wie sie ihren Willen bekam, das musste Ava ihr lassen. Nichts verführte einen Mann mehr als die Aussicht, mit Feuer spielen zu können. Mit richtigem Feuer. Dann ging der Neandertaler in ihm durch.

»Okay«, seufzte Ava. Kämpfen war sinnlos.

»Also, bitte, steh auf und geh duschen. Du stinkst! Danach kannst du mir helfen, die Salate vorzubereiten. Ich versuche mich an einem neuen Rezept.«

»Komme gleich«, knurrte Ava und zog sich die Bettdecke wieder über den Kopf. Wie gut das Dunkel und die Stille taten. Die Energie und die Tatkraft ihrer Mutter fühlten sich an wie ein feindliches Magnetfeld. Doch ihre Mutter riss Ava die Bettdecke weg.

»JETZT, Ava. Und wenn ich jetzt sage, dann meine ich auch jetzt, okay? Oder ich sperre dir das Internet.«

Das zog. Ava sprang auf, bedachte ihre Mutter noch mit einem giftigen Blick, stapfte ins Badezimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Dann schnupperte sie vorsichtig an ihrer Achselhöhle. Sie stank wirklich. Kraftlos stützte sie sich auf das Waschbecken und studierte ihr deprimierendes Spiegelbild.

Was willst du denn mal werden, wenn du groß bist?, hatten sämtliche alten Tanten sie früher gefragt. Ava hatte sich dann wie ein Insekt unter dem Mikroskop gefühlt, das von einem riesengroßen Tanten-Auge inspiziert wurde, dessen Wimpern wie Spinnenbeine von zu viel Mascara verklebt waren. Sie hatte sich dann die tollsten Antworten ausgedacht: Abenteurerin. Astronautin. Königin. Filmstar. Forscherin. Sahne- Schlägerin. Meist hatte sie dafür nur ein müdes Lächeln geerntet. Ach ja, Kind, in deinem Alter hat man noch Träume, sagte dann meist der mitleidige Ausdruck der verklumpt-verklebten Tanten-Augen hinter dem Mikroskop.

Aber jetzt, umgeben von Abitur-Überfliegern, Self-made-Mutter-Architektinnen und international bekannten Schauspielerinnen, wurde sie bald nur noch eines:

Nämlich verrückt.

Ellen Alpsten

Colours of Africa

Jugendbuch

ISBN 978-3-649-62024-2 (eBook)

ISBN 978-3-649-61703-7 (Buch)

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Sind wir jetzt zusammen?

Erde an Leonie, Erde an Leonie – pennst du schon oder schmachtest du noch?«, flötet mir eine helle Stimme ins Ohr und bringt mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Genauer gesagt in den Nachtbus Richtung Weststadt. Und die helle Stimme gehört Maja, meiner besten Freundin, der ich einfach nicht böse sein kann, auch wenn sie gerade die herrlichsten Träume unterbricht und mir dabei sogar noch mit spitzem Zeigefinger in den Oberarm pikst.

»Ich bin hellwach«, behaupte ich, und das ist nicht einmal gelogen, denn zum Träumen muss man schließlich nicht unbedingt schlafen. Im Gegenteil, es ist sogar viel besser, dabei wach zu bleiben, denn dann kann man wenigstens das Drehbuch bestimmen. Und in meinem Script dreht sich alles nur um einen Superhelden: Daniel!

Daniel, der mit seiner blonden Wuschelmähne aussieht wie Brad Pitt, als der noch jung und knackig war.

Daniel, der erst seit ein paar Monaten an unserer Schule ist und für den seitdem alle Mädchen schwärmen, selbst die aus der Unterstufe – und vielleicht sogar die eine oder andere Referendarin.

Daniel, der nicht nur ein Einser-Abi anpeilt, sondern auch den Sprung in die U19-Nationalmannschaft der Basketballer. Oh ja, er ist groß. Seeehr groß. So groß, dass einem beim Küssen ein klein wenig der Nacken wehtut.

Aber ach, was für ein angenehmer Schmerz das doch ist! Den habe ich gern in Kauf genommen, vorhin bei der Oberstufen-Sommerparty. Denn das ist die große Nachricht des Tages: Daniel hat mich geküsst! Hach …

»Okay, Süße, ich muss aussteigen«, reißt mich Maja schon wieder aus den Gedanken. »Bis Montag, schlaf gut!«, sagt sie noch, drückt mir einen fetten Schmatzer auf die Wange und verschwindet zum Hinterausgang des Busses.

»Du auch«, rufe ich ihr hinterher. Ein bisschen plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich sie heute Abend mehr oder weniger links liegen gelassen habe. Aber hey – als beste Freundin versteht sie das, wetten?

Deal mit mir selbst: Wenn sie sich gleich noch mal zu mir umdreht, ist alles okay.

Der Bus hält und Maja steigt aus. Durch das leicht beschlagene Fenster sehe ich noch, wie sie mir fröhlich zuwinkt, und ich winke zurück. Sie wirkt kein bisschen beleidigt! Uff. Dann wendet sie sich um, und ihre Gestalt, die mich immer ein wenig an die Penny aus The Big Bang Theory erinnert, nur mit ein paar Kilos mehr auf den Rippen, verschwindet um eine Hausecke.

Für einen kurzen Moment denke ich nicht an den Kuss, sondern daran, dass ich mich wirklich glücklich schätzen kann, Maja zur Freundin zu haben, und das schon seit einer halben Ewigkeit. Damals drehte sie eine Ehrenrunde, wiederholte die siebte Klasse und wurde meine Banknachbarin. Keine Ahnung, wie ich ohne Maja die Mittelstufe überstanden hätte! Sie war es, die mir mit einer Engelsgeduld die binomischen Formeln so erklärt hat, dass ich sie halbwegs kapierte und in der Arbeit immerhin eine Vier schrieb. Sie war es auch, die mir gezeigt hat, wie man sich aus nervigen Zickenkriegen heraushält, und die mir erfolgreich eingeredet hat, ich sähe auch trotz Megapickel am Kinn aus wie Robin in How I Met Your Mother, mit dem Unterschied, dass ich Locken habe und braune anstelle von grünen Augen.

Ja, wir sind schon ein klasse Team – eine rundliche Penny und eine wuschelhaarige Robin. Oder wie Maja zu sagen pflegt: Wir sind die Originale, die Fernsehstars sind doch bloß unsere mageren und glatt geföhnten Doppelgängerinnen.

Ohne Maja hätte ich wohl auch den aufregendsten Moment meines Lebens verpasst, denn eigentlich wollte ich heute lieber zu Hause bleiben. Ein bisschen chillen, ein bisschen Musik hören, einfach mal nichts tun. Hey, das hab ich mir verdient! Schließlich habe ich vorher fünf Abende am Stück geschuftet.

»Darf’s noch ein Dessert sein?« – »Vorsicht, das Lamm ist sehr heiß!« – »Haben Sie schon gewählt?« – »Dort drüben wird gleich ein Tisch frei!« – »Das macht dann dreiundfünfzig achtzig, zahlen Sie bar oder mit Karte?«

Ja, man hat’s nicht leicht als einzige Tochter zweier Restaurantbesitzer, auch wenn man dadurch quasi im Schlaraffenland aufwächst. Denn so ein Schlaraffenland macht ganz schön viel Mühe, und wenn man darin arbeitet, bekommt man Plattfüße, Rückenschmerzen und obendrein jede Menge dummer Fragen zu hören: »Kann ich das Couscous mit Reis bekommen statt mit Weizengrieß?« – »Warum steht denn kein Schweineschnitzel auf der Karte?« – »Wie groß ist denn ein nullfünfer Bier?«

Oh ja, dieser Job kostet ganz schön viel Schweiß und Nerven, und besonders anstrengend ist es, dabei auch noch freundlich zu bleiben und »Natürlich können Sie auch Reis haben!« zu sagen, anstatt stöhnend zu erklären, dass Couscous ohne Weizengrieß ungefähr so paradox ist wie ein Schnitzel ohne Fleisch – oder wie ein Schweinefleischgericht auf einer orientalischen Speisekarte. Und wer nicht weiß, wie viel ein halber Liter ist, dem ist eh nicht mehr zu helfen …

Wie komme ich da jetzt drauf?

Ach so, ja. Wegen Maja. Weil sie mich davon abgehalten hat, heute Abend zu faulenzen, obwohl ich mir einen Couchabend redlich verdient hätte.

»Stell dich nicht so an«, hat sie gemeint, »du bist doch noch nicht hundert!«

»Arbeite du erst mal so hart wie ich«, habe ich empört widersprochen und mir damit ein gepflegtes Eigentor geschossen. Denn während ich nur ab und zu im Marrakesh Nights aushelfe, arbeitet Maja fast täglich. Sie hat sogar gleich mehrere Jobs – trägt Zeitungen aus, geht für Senioren einkaufen, gibt Nachhilfeunterricht und fotografiert für ein Stadtmagazin. Fotografieren ist ihre große Leidenschaft. Wie auch immer: Irgendwie schafft sie all diese Jobs mit links. Liegt wohl daran, dass sie mit superwenig Schlaf auskommt – ganz im Gegensatz zu mir. Wenn man mich ließe, bliebe ich bis kurz vorm Mittagessen im Bett. Leider orientiert sich das deutsche Schulsystem mit seinen Unterrichtszeiten nicht an meinem Biorhythmus …

»Reiß dich mal zusammen und komm mit«, hat Maja mich angefeuert, »die Stufenparty wird garantiert legendär.« Tja, und damit hat sie tatsächlich recht behalten.

Dabei sah es zuerst gar nicht so aus. Auf der Party trieben sich auffällig viele Lehrkräfte herum – wandelnde Stimmungskiller. Offiziell wollen sie »den Umsatz ankurbeln«, wie sie immer behaupten, denn bekanntlich werden diese Veranstaltungen vor allem organisiert, um ordentlich Kohle zu machen für die Abifeier im nächsten Jahr. Inoffiziell sind die Party-Pädagogen natürlich als Schnüffler unterwegs – und somit als Spaßbremsen.

Dagegen gibt es nur ein wirksames Rezept: Bowle. Besser gesagt: Gratis-Bowle. Darauf fahren sie alle ab. Und nach ein paar Gläsern ist selbst der strengste Pauker plötzlich richtig verständnisvoll und hält den berühmten Wir-waren-schließlich-auch-mal-jung-Monolog.

Naja, auf jeden Fall ist dann Daniel aufgetaucht. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, ihn dort zu sehen, denn als disziplinierter Supersportler meidet er sonst eigentlich allzu ausgelassene Partys. Mein Herz hat sofort einen Riesensatz gemacht, als ich seinen Blondschopf entdeckte. Verdammt, sah er mal wieder gut aus! Weiße Jeans, weiße Sneakers, hellblaues Hemd, braun gebrannt, durchtrainiert und so was von lässig! Ich hätte wer weiß was drum gegeben, von ihm ein Lächeln zu bekommen oder wenigstens irgendwie beachtet zu werden. Doch erst einmal ist nichts passiert. Er hat sich ein Bier geschnappt – natürlich ein alkoholfreies, wer würde schon so einen Luxusbody mit Drogen vergiften? – und mit seinen Basketball-Kumpels gequatscht.

Dass um ihn herum alle Mädchen wie auf Knopfdruck den Bauch einzogen, die Brust rausstreckten, aufreizend mit dem Po wackelten, den Kopf neckisch schief hielten und eine Haarsträhne um den Finger wickelten, schien er überhaupt nicht wahrzunehmen.

Na ja, wenn er mich eh nicht registriert, kann ich derartige Balzbemühungen ebenso gut bleiben lassen, dachte ich mir und entspannte mich. Maja zog mich auf die Tanzfläche, wo wir ausgelassen zu Katy Perry abrockten.

Danach war mir heiß, und ich bin mit einem Glas Wasser rausgegangen, um mich abzukühlen.

Das mit dem Abkühlen hat dann allerdings nicht geklappt, denn plötzlich stand Daniel so dicht neben mir, dass meine Temperatur eher in Richtung Fieber anstieg.

»He, Fräuleinchen – das hier ist die Endhaltestelle! Wollen Sie etwa im Bus übernachten?«

Oops! Ich habe völlig verpeilt, dass ich hier aussteigen muss.

»Bin schon weg«, beeile ich mich zu rufen und springe auf. Wenig später laufe ich durch die milde Sommernacht. Es sind nur zwei Straßen bis nach Hause. Im Biergarten des Marrakesh Nights ist noch einiges los. So viel Betrieb herrscht nur an Wochenenden, an denen es in Deutschland tropisch heiß ist und man fast glauben könnte, das Restaurant stünde tatsächlich in Nordafrika. Also durchschnittlich etwa drei bis zehn Mal im Jahr. Und heute ist so ein Tag. Ma und Pa hätten meine Hilfe bestimmt gut gebrauchen können. Aber für kein Trinkgeld der Welt hätte ich auf das verzichtet, was ich stattdessen erlebt habe! Und ich bin fest entschlossen, sofort wieder in den Schwärm-und-Schmacht-Modus zu verfallen, sobald ich mein Zimmer erreicht habe. Aber vorher muss ich unauffällig an zwei Menschen vorbeikommen, die die NSA geradezu harmlos erscheinen lassen: Miriam und Latif Madouni. Meine Eltern.

»Da bist du ja endlich, Leonie!«, kommt dann auch gleich die befürchtete mütterliche Begrüßung. »Du könntest mir rasch noch beim Abkassieren helfen. Oder die Theke übernehmen, was dir lieber ist. Sophie ist schon weg und allein ist es die Hölle heute.«

Na klasse. Ma schafft es mal wieder, so zu tun, als ließe sie mir eine Wahl.

Kurz überlege ich noch, ausführlich zu gähnen und die Ich-bin-zu-müde-zum-Arbeiten-Nummer abzuziehen, aber darauf fällt sie bestimmt nicht rein. Und Pa, der für meine Tricks eher empfänglich ist, scheint noch in der Küche zu sein. Außerdem wäre es wirklich fies, Ma im Stich zu lassen. Schlimm genug, dass die studentische Aushilfe so rücksichtslos war, pünktlich Feierabend zu machen. Also ergebe ich mich in mein Schicksal – das Weiterträumen muss warten.

»Ich kassiere ab«, entscheide ich. Wenigstens winkt dabei etwas Trinkgeld.

Dankbar gibt mir Ma einen Kuss, überreicht mir Geldbeutel und Kassenschlüssel und verschwindet hinter der Theke. Ich muss grinsen. Mit ihrer hellen Porzellanhaut, den rotblonden Haaren und den himmelblauen Augen passt sie in das orientalische Ambiente des Marrakesh Nights ungefähr so gut wie ein Eisvogel in die Wüste. Wenn es wirklich stimmt, dass sich Gegensätze anziehen, dann sind meine Eltern das perfekte Beispiel dafür.

Genau wie Daniel und ich …

Es dauert noch eine gute Stunde, bis sich das Restaurant endlich so weit geleert hat, dass Ma und Pa allein klarkommen und ich durch die Tür mit der Aufschrift »Privat« verschwinden kann. Müde, aber mit immerhin siebzehn Euro Trinkgeld in der Tasche, steige ich die Treppe hinauf zu unserer Wohnung. Die liegt zwar direkt über dem Marrakesh Nights, ähnelt dem Tausendundeine-Nacht-Stil des Restaurants aber kein bisschen. Hier gibt es keine verzierten Lampen, keine bemalten Keramikteller an den Wänden, keine Fliesen mit orientalischen Ornamenten und keine Teppiche mit verschnörkelten Mustern. Alles hier ist hell und modern gehalten. Eindeutig die Handschrift meiner Mutter. Sie steht auf Glas, Licht, Chrom und klare Linien. Ehrlich gesagt kommt mir Pa in dieser Umgebung manchmal mindestens so fehl am Platz vor wie Ma hinter der Theke. Mit seinen schwarzen Locken, den dunklen Bartstoppeln, dem hellbraunen Teint und seinem gemütlichen Kugelbauch wirkt er immer, als hätte er sich nur zufällig in diesen Raum verirrt. Doch der Anschein täuscht: Pa fühlt sich hier, wie er immer wieder betont, pudelwohl. Genauer gesagt: so wohl, dass ich nur dann die Chance auf einen Platz auf dem Sofa habe, wenn er nicht da ist.

Jetzt zum Beispiel wäre so ein Moment. Aber ich habe keine Lust, noch aufzubleiben. Auch auf das Entspannungsbad, mit dem ich mich eigentlich für die ungeplante Spätschicht belohnen wollte, verzichte ich lieber. Immerhin ist es schon halb zwei. Zeit, ins Bett zu gehen – und mich endlich wieder ganz der Erinnerung an den aufregendsten Moment des heutigen Abends hinzugeben.

Mein Bett ist der perfekte Ort zum Träumen. Pa hat es für mich unter der Dachschräge eingebaut wie eine Schiffskoje. An den Seitenwänden sind Bücherregale montiert, und direkt über dem Kopfende gibt es ein Dachfenster, das mir den Blick in den Nachthimmel freigibt.

Ich verzichte auf kosmetischen Schnickschnack, putze nur die Zähne und flechte meine langen Locken zu einem Zopf, damit sie morgen früh nicht komplett verfilzt sind. Dann krieche ich in meine Koje. Es gibt auf der ganzen Welt keinen gemütlicheren Ort!

Meine Arme um mein großes Kuschelkissen geschlungen, schließe ich die Augen und stelle mir vor, das Kissen wäre Daniel. Auch wenn der sich definitiv muskulöser anfühlt, kommt die Erinnerung sofort wieder, als hätte ich einen Film zurückgespult …

Erneut stehe ich mit einem Glas Wasser vor der Tür, während drinnen die Stufenfete weitergeht und Maja mit den anderen jetzt auf einen Song von Justin Timberlake tanzt. Und wieder taucht Daniel plötzlich so dicht neben mir auf, dass mir noch viel heißer wird, als mir ohnehin schon ist.

»Was für eine herrliche Nacht«, sagt er leise und ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr. »Viel zu schade, um drinzubleiben.«

Ein paar andere sehen das offensichtlich genauso. Die Plätze auf der Terrasse sind voll besetzt, von dort dringen Gelächter und Gesprächsfetzen zu uns. Doch Daniel hat eine viel bessere Idee.

»Das Beste, was ich mir jetzt vorstellen kann, ist ein kleiner Spaziergang mit einer schönen Frau«, flüstert er. »Hast du Lust?«

An dieser Stelle stoppe ich den Film in Gedanken und spule ein Stück zurück:

»… ein kleiner Spaziergang mit einer schönen Frau. Hast du Lust?«

Und noch mal:

»… mit einer schönen Frau. Hast du Lust?«

Ich kann das einfach nicht oft genug hören, selbst wenn es nur das Echo seiner Worte ist, das mir mein Gedächtnis vorgaukelt.

Was dann kam, war allerdings noch viel besser, deshalb starte ich den imaginären Lovestory-Film erneut:

»Hast du Lust?«

Obwohl ich einen Frosch im Hals habe und nicht in der Lage bin zu antworten, legt Daniel seinen Arm um mich. Mit zittrigen Knien gehe ich mit ihm hinunter zum Fluss. Er liegt nur ein paar Schritte entfernt von dem hippen Vereinshaus des Ruderclubs, in dem wir unsere Party feiern dürfen, weil der Vater unseres Stufensprechers der Vereinsvorsitzende ist.

Daniels Arm auf meinem Rücken löst leichte Stromstöße aus, ich atme flach und würde mich nicht wundern, wenn ich gleich in Ohnmacht fiele. Doch stattdessen schwebe ich weiter – mein Kreislauf ist offenbar stabiler als befürchtet.

Mit jedem Meter wird die Geräuschkulisse aus Musik und Stimmen leiser, und als wir wenig später eng umschlungen am Ufer stehen, sind da nur noch wir beide. Alles andere habe ich völlig ausgeblendet. Oder besser gesagt: Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönt alles.

»Du bist mir gleich aufgefallen, Lea«, flüstert Daniel.

Ähm – ich muss mich wohl verhört haben!

Wahrscheinlich dämpfen meine Wuschelhaare seine Worte. Er hat inzwischen sein Gesicht darin versenkt, während eine Hand unter meinem T-Shirt dazu übergeht, mir die Stromstöße nun ohne dämpfende Stoffschicht zu verpassen.

Oder hat er mich tatsächlich Lea genannt?

Unwichtig. Ich spule diese Stelle einfach nicht zurück, obwohl mir die Sache mit dem »gleich aufgefallen« ausgesprochen gut gefällt.

»Hmmm, das fühlt sich heiß an«, wispert er, als er mit der anderen Hand über meinen Po tastet. »Machst wohl viel Sport, so wie ich, oder?«

»Hm«, antworte ich. Stimmt ja auch fast. Ich liebe Sport. Aber nur just for fun. Inlineskating macht mir Spaß, Beachvolleyball ebenfalls, genauso Schwimmen und Tanzen – aber nur zur Entspannung. Was mir völlig abgeht, ist jeglicher Ehrgeiz. Ich habe noch nie im Leben an irgendeinem Wettkampf teilgenommen, wenn man von den Bundesjugendspielen absieht. Planmäßiges Training wird früher oder später zu freudloser Schinderei, und was daran verlockend sein soll, ist mir ein Rätsel. Wozu sich quälen nur für eine Urkunde, einen Pokal oder eine Medaille? Ist doch vollkommen witzlos. Nein, ich bin eine überzeugte Spaßsportlerin. Aber das muss ich dem Leistungssportler Daniel ja nicht gleich auf die Nase binden. Hauptsache, meine Figur macht ihn an …

»Ach, Lea«, seufzt er, und diesmal sind keine Locken im Weg, die einen Hörfehler erklären würden. Es besteht kein Zweifel: Daniel kennt meinen Namen nicht. Aber hey – immerhin ist er relativ neu an unserer Schule! Und das hier ist unser erstes Gespräch überhaupt. Ein Wunder, dass er immerhin so ungefähr weiß, wie ich heiße.

»Leonie, nicht Lea«, will ich ihn gerade korrigieren, doch in diesem Moment treffen seine Lippen auf meine, und für die nächsten fünf Minuten bin ich weder dazu in der Lage noch daran interessiert, irgendetwas zu sagen. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt weiteratme.

Okay – im Moment atme ich ganz eindeutig. Und zwar heftig. So sehr wühlt mich die Erinnerung an den Kuss auf. Man könnte fast meinen, ich wäre bis heute ungeküsst gewesen. Was natürlich völliger Humbug ist, immerhin bin ich siebzehn und keine Nonne. Aber meine bisherigen Knutscherfahrungen waren eher lästig als berauschend – irgendwie zu nass, zu hektisch, zu anstrengend, zu ZU.