GABRIELA KASPERSKI
INS GLÜCK GEBLOGGT
INS GLÜCK GEBLOGGT
Örtlichkeiten, Personen
und Handlung sind frei erfunden.
1. Auflage by Storybakery, November 2016
© Gabriela Kasperski, CH-8617 Mönchaltorf
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlagbild und -gestaltung: Friederike Hofmann,
www.bureaunouveau.de
Vorlektorat: Sylvia Silva
Lektorat: Magdalena Bernath
Satz: Magdalena Bernath
e-Book: mbassador GmbH, Luzern
ISBN: 978-3-906847-06-1
ISBN Epub: 978-3-906847-05-4
ISBN Mobi: 978-3-906847-07-8
www.storybakery.ch
For Women
Stimmen zu Gabriela Kasperski
Sicht Unsichtbar ist ein raffinierter Krimi mit einem ernsthaften Hintergrund.
Fantasia, 26. April 2016
Ich habe noch nie ein Buch gelesen, welches Charme, Witz und Mord so gut vereint.
Wurm sucht Buch, 27. April 2016, Krisi Schoellkopf
http://wurm-sucht-buch.blogspot.ch/2016/04/rezension-sichtunsichtbar.html
Spannung und Nervenkitzel sind garantiert und verschönern jedes Wochenende und jede Zugfahrt. Die sympathischen Hauptfiguren sind von originellen Nebencharakteren umgeben.
Testmania, 20. April 2016
Kasperski gelingt es, eine äußerst vielschichtige Geschichte zu präsentieren.
Zürcher Oberländer, 19. Mai 2016
Inhalt
Stimmen zu Gabriela Kasperski
DAS DATE
KLASSENTREFFEN
DAS OUTBURN
DER SCHOKOLADE-FLASH
ABSCHIED IM SEPTEMBER
ENDLICH ALLEIN
NOCH EIN KLASSENTREFFEN
ELEKTRO-NATASCHA
DESIGNER-GYNÄKOLOGIE MIT LUCIE
DIE BETRÜGT-ER-MICH-HINTS
DER BESTE FREUND
ALARM IM BOOTSHAUS
MAX IST TOT
DIE TOTALE MEDIEN-AUSZEIT
KABELSALAT
AUSGEHEN ZU FÜNFT
PLEITE
DIE FIRMA
OMA ELINOR BLÄST ZUM KAMPF
JOBSUCHE
SPEEDDATING MIT JULIA
MAMAS LOSER-BLOG
POCAHONTAS AM WERK
DER TRAINERPOLIZIST
SKRUPEL
COCOS CHANCE
DIE KUPPLERPARTY
ALLTAGSCOACH
MAGIE AUF DEM FUSSBALLPLATZ
DAS MATTERHORNCAMP
POCAHONTAS IN GEFAHR
DIE BOMBE PLATZT
MEIN MANN MAX
ZUM SCHLUSS NOCH PAT
ANOUKS GROSSE STUNDE
EIN PAAR MONATE SPÄTER
DANK DER AUTORIN
KRIMIS
GABRIELA KASPERSKI
DAS DATE
Nervös stand ich vor dem Kleiderschrank. »Hautfarbene oder schwarze Strümpfe?« Die Farbe war lebenswichtig bei so einem Anlass. Ich entschied mich für die schwarzen, mit den anderen sah ich aus wie eine Melone auf zwei Beinen. Ein Blick in den Spiegel. Gar nicht so schlecht. Bis auf die Tatsache, dass der Rock viel zu eng saß und das Oberteil spannte – je nach Blickwinkel hatte man sogar direkten Einblick.
Um Himmels willen! Violette Bluse weg, gemustertes Top an.
Nun glich ich einer verzweifelten Mettwurst. Das konnte doch nicht sein, vor einigen Monaten hatte alles noch gepasst wie angegossen. Und seither hatte ich praktisch nur gefastet. Schiebung! Diese blöden Kleider waren eingegangen vom bloßen Hängen am Bügel. Die Hänge-Diät – sehr empfehlenswert, wie es schien.
Dann doch lieber Hose und Bluse.
Ich zwängte den Reißverschluss zu und drückte den Rücken durch. Okay, das würde gehen … solange ich die Besenstielhaltung praktizierte. Sehnsüchtig linste ich auf den Stapel Frauenzeitschriften; mein Mann Max ist Chef einer Werbeagentur und erhält die nachgeschmissen. Wäre das nicht göttlich? Schlabberhose, ein Glas Nutella und genüsslich durch geistlosen Hochglanz blättern – vom Garten über die Küche bis zum Outfit: Wie verstecke ich 20 Kilo zu viel?
Schon sprang der Knopf wieder auf.
Feigling, du hast seit Wochen auf dieses Date gewartet, flüsterte der fiese Hämmerli in meinem Kopf. Gewartet war untertrieben. Endlos ausgemalt hatte ich es mir: meinen Auftritt, die erstaunten Japser, die Bewunderung. Ein Griff nach der schwarzen Jacke, meinem allerbesten Stück. Der ultimative Tipp: Kaschmir kaschiert!
»Mama, wo sind meine Fußballschuhe?«, brüllte Lukas von unten.
»Da wo sie immer sind.«
»Sind sie nicht!«
»Schau ganz genau!«
»Hab ich schon gemacht.«
»Dein Pulli liegt darauf.«
Mein Zwölfjähriger und sein selektiver Blick. Ich lächelte vor mich hin, bis ich auf die Uhr sah. Oh nein, ich müsste längst los!
Zu spät, zu dick, zu unattraktiv, flüsterte der Hämmerli.
Verpiss dich, flüsterte ich zurück. Heute ist die Nacht der Nächte, heute werd ich es allen zeigen.
Im Badezimmer herrschte das übliche Chaos. Kann mir mal einer erklären, warum mein Jüngster, von uns allen liebevoll Luki genannt, vor dem Training duscht und dafür drei Tücher und eine Stunde braucht? Im Vorbeigehen räumte ich den Saustall auf, nur um gleich darauf zu merken, dass mein Schminkzeug verschwunden war. Keine halbe Stunde mehr. Panik! Ich fahre nämlich sehr langsam Auto – ein Tick von mir. Nun brach auch noch ein frischlackierter Fingernagel. Dass ich dafür das kaputte Fieberthermometer und einen Tampon ohne Hülle fand, konnte mich nicht wirklich erheitern.
»Luki, hast du mein Schminkzeug gesehen?« Ich hetzte die Treppe hinunter.
»Da, wo es immer ist.«
»Ist es nicht!«
»Schau ganz genau, Mama!«
»Äffst du mich etwa nach?«
»Es liegt auf der Kommode.«
Klar, ich hatte mich diese Woche schon mal geschminkt, für Elterngespräche lege ich Farbe auf. Ehrensache. Leider hatte es mir nicht geholfen. Ich hatte versagt, der Blick der Lehrerin hatte Bände gesprochen. Nick, mein Mittlerer, schreckliche 17 Jahre alt, war nämlich verstummt. Was fatale Auswirkungen auf seine Leistungen hatte. Er machte das aus Protest, inspiriert vom Film Little Miss Sunshine; da tut der Teenagersohn genau dasselbe. Als ich Nick geistigen Diebstahl vorgeworfen hatte – zugegeben, nicht gerade sehr sensibel –, war er ausgerastet. Stumm natürlich. Das war schrecklich gewesen, viel schlimmer als jedes stimmbrüchige Brüllen. Seither behandelte ich ihn wie ein rohes Ei. Hatte er nicht alles Recht der Welt auf seinen Protest? Er hatte nämlich nicht in dieses schicke Haus ziehen wollen, unseren neuen Wohntraum aus Glas, Holz und Fließbeton – Max’ neues Lieblingswort –, entworfen von seinem besten Freund André.
Logisch, du dumme Nuss, flüsterte der fiese Hämmerli. Wer zieht schon freiwillig aufs Land und lässt all seine Freunde in der Stadt zurück? – Aber Nick geht ja immer noch auf dieselbe Schule. – In dem Alter zählt nur die Après-Schule, ist wie beim Skifahren. – Das Haus hat doch Stil. Und wir haben viel mehr Platz! – Nick braucht keinen Platz, er braucht Freunde.
»Halt endlich die Klappe, blöder Hämmerli«, murmelte ich und leerte das Schminkzeug aus. »Wo ist dieser elende Lippenstift? Nagelneu, passt genau zur Bluse.«
»Rebecca hat ihn geklaut«, petzte Luki. »Sie war heute Nachmittag hier. Wow, hat sie gesagt, seit wann kauft Mam denn Modefarben?«
Meine Tochter, charmant wie immer. Ich seufzte. Statt mit uns aufs Land war sie in eine WG gezogen. Max überwies ihr ein großzügiges Taschengeld – für seine wildlockige Älteste, Schauspielstudentin im ersten Jahr, gab er alles. Seither hatte sie sich aus dem Familienleben ausgeklinkt. Nur wenn sie etwas brauchte, kam sie noch vorbei.
»Ich muss los, Mama, heute kommt der neue Trainer«, jammerte Luki.
Der neue Trainer, wie hatte ich das vergessen können? Seit Wochen war er Lukis Gesprächsthema Nummer eins.
»Ich bin gleich da«, schrie ich und starrte verzweifelt auf meine dezimierten Schminksachen. Was tust du so hysterisch? Sonst machst du doch auch aus jeder Not eine Tugend. Also drehte ich den Deckel vom winzigen Konturenstift und übermalte meine Lippen. Es fühlte sich an wie Schmirgelpapier, aber immerhin sah ich nicht mehr so fade aus.
»Setz deine Brille auf, Mama. So bekommst du Falten.«
»Sei nicht frech!«
Luki griff nach dem Autoschlüssel. »Ich fahr ihn mal vor.«
»Bist du verrückt?«
»Bei Papa darf ich das.«
Dagegen war ich machtlos. Und Zeit hatte ich auch keine mehr, weil ich die Brille suchen musste. Sie war nirgends. Hatte meine Tochter die auch mitgehen lassen? Na toll, da hatte ich einmal ein Date und kam viel zu spät! Hastig tuschte ich die Wimpern zu klumpigen Spinnenbeinen. Rouge war überflüssig, das würden meine Wallungen besorgen. Jetzt nur noch den Regenmantel, draußen goss es wie aus Kübeln. Ein Schirm war nicht aufzutreiben, die verschwinden bei uns wie Socken. Nicht gerade optimal für meine glattgeföhnte Frisur.
Ein Sprint zum Auto.
»Mama, gehst du barfuß?«
Natürlich, die Schuhe! Wie ich sie hasste. Aber wollte ich nun schön, jung und begehrenswert sein oder nicht? Wieder zurück durch den Matsch, mittlerweile trieften meine Haare. Ich zwängte meine Zehen in hochhackige Pumps. Konnten auch Füße zu dick werden?
Hinkend erreichte ich das Auto, Wasser tropfte mir in den Kragen.
»Platz da!«
Maulend rutschte Luki auf den Beifahrersitz. »Bei Papa …«
»Bin ich Papa?« Ich atmete einmal tief durch und startete den Wagen.
»Mama …«
»Lass mich in Ruhe, ich muss mich konzentrieren. Ohne Brille ist das schwierig.«
»… gehst du eigentlich auf eine Halloweenparty?«
Ich machte eine Vollbremsung. Hinter uns ertönte ein Hupkonzert.
»Wie kommst du denn darauf?«
Luki drückte mir meine Brille in die Hand. »Du hast Farbe an den Zähnen, sieht irgendwie gruselig aus.«
*
Das erste, was mir auffiel, war das Schild: blutrote Schrift auf violettem Grund. Hatte ich etwas verpasst, war doch Halloween?
»Was steht denn da?«, murmelte ich und schob meine Brille zurecht. Café Totenbeinchen. Komischer Name. Die Fenster waren dunkel, kein Mensch weit und breit. Ob ich mich in der Adresse geirrt hatte? Das sah mehr nach illegaler Spielhölle aus als nach geselliger Bar. Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen, aber die dunklen Wolken verbreiteten Weltuntergangsstimmung. Ideales Wetter für einen gemütlichen Fernsehabend: Nichts wie heim und als Erstes die Bluse ausziehen.
»Nina?«
Ich drehte mich um. Zwei Frauen musterten mich. Kritisch.
Hilfe! Mit gesenktem Kopf drückte ich mich an ihnen vorbei.
»Stopp! Wohin willst du? Da gehts lang.«
»Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Was? Auf den Satz hatte ich gewartet. Vielleicht würde es doch die Nacht der Nächte. Ich blieb stehen und lächelte die beiden an. »Ihr aber auch nicht. Als ob es gestern gewesen wäre. Nur eure Namen …«
»Ich bin Julia«, meinte die Kleine und schüttelte mir die Hand. »Und das ist Pat.«
Pat? Bei mir schrillten die Alarmglocken. War sie nicht irgendwie mit Max liiert gewesen, bevor ich ihn erobert hatte? Achtung! Vermintes Terrain, sofortiger Rückzug!
Aber Julia verbarrikadierte mir den Weg. »Schön, dass du auch da bist, Nina.« Dann wandte sie sich an Pat. »Nun erzähl mal, was machst du so?«
Aha, die beiden hatten sich auch erst getroffen.
Pat war genauso scharfzüngig wie früher und arbeitete als Anwältin; außerdem war sie immer noch gertenschlank. Julia hingegen schien wesentlich netter, richtig herzlich; sie trug ihr graublondes Haar und das Zuviel an Gewicht mit beneidenswerter Anmut und war als Familientherapeutin erfolgreich. Als ich gerade ihre Frage nach meinem Beruf beantworten wollte – obwohl ich zu Hause vor dem Spiegel geübt hatte, begann ich zu stammeln –, hielt direkt vor uns ein Minicooper im Parkverbot.
»Ist hier das Klassentreffen der 6 B?« Eine Frau mit strohblonder Stoppelfrisur streckte den Kopf aus dem Fenster.
Julia lachte. »Wer bist du? Susanne?«
»Seh ich so aus? Soviel ich weiß, ist die gerade in Südamerika.«
»Entweder Regula oder …«
»Connie!«
»Bitte nicht! Auf den Namen hör ich schon lange nicht mehr. Coco, einfach Coco. So steht es auch im Abspann meiner Sendung.« Schwungvoll stieg sie aus.
Angeberin. »Arbeitest du beim Fernsehen?«, fragte ich. »Ich habe dich noch nie gesehen, wobei ich dich ohnehin nicht mehr erkannt hätte.«
Sie warf mir einen Blick zu. »Dafür siehst du noch genauso aus wie früher.«
Ich konnte ein stolzes Lächeln nicht unterdrücken. »Das haben die anderen auch gesagt.«
»Hältst du mal?« Sie drückte mir ihre Laptoptasche in die Hand und schloss ihr Auto ab. »Ich mache investigativen Journalismus. Meine Freunde fürchten mich, meine Feinde hassen mich.«
Stimmt. Ihre blöden Aktionen waren schon in der Schule umstritten gewesen.
Als ich ihr die Tasche zurückgab, deutete Coco auf meine Bluse. »Da steht ein Knopf auf.«
Peinlich! Eilig zog ich die Kaschmirjacke zusammen.
»Wie niedlich, sie wird rot! Schaut mal, genau wie damals.«
Blöde Petze.
Da erklang vom Haus her ein lauter Schrei. »Nina trägt immer noch die gleiche Brille!« Die kupferrot gelockte Gestalt, die gerade die Haustür aufgerissen hatte, musterte mich. »Na ja, Retro ist in.«
Autsch. Dass mich jede sofort erkannte, lag nicht an meiner jugendlichen Ausstrahlung, sondern an meiner Brille. All meine Träume, wie ich die anderen mit meinem faltenlosen Kindergesicht beeindrucken würde, zerplatzten in der feuchten Abendluft. Ich will heim!
Aber Lucie zog uns mit sich. »Kommt! Fast alle sind hier, nur Susanne fehlt, die ist …«
»… in Südamerika«, ergänzte Coco.
»Das war gestern, jetzt ist sie in Alaska.« Lucie hielt die Tür auf. »Herzlich willkommen in meiner Gruft.«
KLASSENTREFFEN
Wir betraten einen großen Raum mit dunkel verhängten Fenstern, in dem viele Frauen plaudernd um eine mit Kerzen erleuchtete Bar standen. »Alle mal herhören, ich bringe euch Coco, Pat, Julia und Nina.«
Wiedersehensfreude pur. Es war wie ein warmer blubbernder Strudel, dem auch ich mich nicht entziehen konnte. Eine Bowlenschüssel machte die Runde und nach nostalgischen Blicken in die Vergangenheit – »Wisst ihr noch, der Eiterpickel auf der Nase des Deutschlehrers« –, brachten sich alle auf den neuesten Stand.
»Ich arbeite sechzig Prozent als Kulturbeauftragte, ein Kind.«
»Achtzig Prozent als Ärztin, zwei Kinder.«
»Neunzig Prozent als Chemikerin, ein eigenes, zwei angeheiratete.«
»Teilzeit-Architektin, ein Kind. Und wie viele hast du?«
»Keine, aber bewusst!«
»Geht mir gleich. Was willst du, als Kadermitglied? Aber Erfolg macht genauso glücklich.«
»Findest du? Ich würde keines meiner Kinder hergeben.«
»Wie viele hast du denn?«
»Fünf. Ich arbeite nur 30 Prozent. Mein Partner hilft mit.«
»Meiner auch.«
»Ich habe keinen. Aber bewusst.«
So ging das hin und her. Mein ohnehin angeknackstes Selbstbewusstsein schwand in dem Maß, in dem mir klar wurde, dass ich hier die einzige Nur-Hausfrau war. Auch von den Abwesenden erhielt ich keine Unterstützung: Susanne war eine weltbekannte Bergsteigerin – außer mir hatten das alle gewusst – und Ursina war tot.
»Bei einem Flugzeugabsturz, es war groß in den Medien.«
Alle nickten bedrückt und Coco fügte an: »Ich habe einen Bericht darüber gemacht, den habt ihr bestimmt gesehen.«
Als keine reagierte und sich Verlegenheit breitmachte, klatschte Lucie in die Hände. »So Ladies, dann wollen wir zum offiziellen Teil übergehen. Zuerst möchte ich euch das Café Totenbeinchen vorstellen.«
In ihrer viel zu langen Rede ließ sie kein Detail aus: dass das frühere Friseurgeschäft jahrelang leer gestanden habe, der Besitzer gestorben sei und dass sie, bis klar sei, ob das Haus verkauft werde, das Lokal zu einem äußerst günstigen Preis mieten könne.
»Ich mache eine Frauenbar auf. Und ihr seid meine ersten Gäste!«
Das rief wahre Begeisterungsstürme hervor.
Sei kein Frosch, flüsterte der Hämmerli. Mach mit, lass dich gehen, entspann dich mal! Na gut, wenn ich schon hier war, konnte ich wenigstens versuchen, etwas Spaß zu haben.
Mit Bowlegläsern bewaffnet, zogen wir los. In einem Zimmer stand ein alter Friseurstuhl, allerlei Zubehör lag herum: von weichen Bürsten mit Schildpattgriffen bis zu verschnörkelten Rasierwasserflaschen. Der Hinterhof war ziemlich überwuchert, der Plattenboden übersät mit verfaulten Blättern, verblühten Glyzinien und Werkzeug aller Art, in einer Ecke stand ein kleiner Schuppen, daneben eine längliche Kiste.
»Was ist denn das?«
»Den Hinterhof teile ich mit einem echten Freak, er baut Hundesärge in der Größe XXL.«
Kollektives Erstaunen machte sich breit. »Gibt es denn so etwas?«
Lucie nickte. »Für wohlhabende Besitzer von Doggen und ähnlich gigantischen Hunden.« Sie deutete ins Innere des Hauses. »Der Tresen ist auch ein Sarg, habt ihr es nicht bemerkt? Darum heißt mein Projekt Totenbeinchen. Ich sage euch: Willst du Erfolg, musst du auffallen. Eine Frauenbar mit gigantischen Hundesärgen, das gabs noch nie!«
Die Frauen sahen sich verblüfft an. Nicht alle fanden Lucies Idee überzeugend, doch in einem Punkt herrschte Einigkeit: Frauenbars waren total angesagt.
»Sind denn Männer ausgeschlossen?«, entfuhr es mir.
»Na, Deiner darf schon kommen«, meinte Lucie vielsagend. »Solange er nichts anbrennen lässt.«
Daraufhin brachen alle in Gelächter aus. Offenbar hatten sie meine Liebesgeschichte in bester Erinnerung: Ich, das Mauerblümchen, hatte mir den Strahlemann aus der Parallelklasse geangelt.
»Ich hab keine Brandwunden«, gab ich zurück.
»Ich auch nicht. Dabei hätte ich alles darum gegeben«, rief Kathrin.
»Das kann sich ändern. Nina will ihn ja mitbringen«, grinste Coco.
»Er ist bestimmt alt und hässlich. Hast du ein Foto dabei?«
Fordernd sahen mich alle an. Auf den Moment hatte ich gewartet. Auch ich habe etwas erreicht, ihr aufgeplusterten Hühner! Schon zückte ich mein Handy. »Das ist zwei Jahre her.«
An ein Holzgeländer gelehnt, schaute Max in die untergehende Sonne, die Arme um mich und unsere Kinder geschlungen. Ich erinnerte mich noch genau, weil Max von den vier Wochen nur drei Tage am Stück mit uns in Griechenland verbracht hatte, sonst war er hin- und hergependelt. Aber nie im Leben würde ich das zugeben. Denn einen Augenblick, einen winzigen Augenblick lang spürte ich uneingeschränkte Bewunderung. Oder war es gar Neid? Auf jeden Fall ging es mir runter wie Öl.
In die Stille hinein fragte Lucie: »Habt ihr Hunger?«
Wie auf Kommando fuhr draußen ein Auto vor. Indisches Catering! Jubelgeschrei. Der Sarg wurde in ein Buffet verwandelt und bald waren alle plaudernd am Essen. Ich dagegen wurde immer schweigsamer; umgeben von all diesen Berufshyänen, fühlte ich mich völlig fehl am Platz. Selbst Kathrin mit den fünf Kindern hatte vor, ihr Pensum zu erhöhen, sobald ihre Jüngste im Kindergarten war. Und nicht nur das. Sie schienen auch alle glücklich zu sein mit ihren Partnern – keine sprach von ihrem Mann –, die ganze Tage lang Kinder UND Haushalt übernahmen.
Das hat dein Max nie gemacht!, flüsterte der Hämmerli hämisch. Sein Grausen vor den verkackten Windeln ist nahtlos in eine Familienbetreuungs-Allergie übergegangen. Sei ehrlich, Nina, dein Mann ist doch nie da. – Aber er sorgt für uns! – Mit Geld. – Klare Rollenteilung. Was ist schlimm daran? – Du klingst wie ein Sechzigerjahre-Modell. – Wenn man Kinder hat, muss man Opfer bringen, Hämmerli. – Wirst du jetzt religiös? Und was machst du, wenn die Kinder ausgeflogen sind? – Luki ist noch klein … – Ha, er kocht sogar seine Spaghetti selber. Keiner braucht dich!
»Halt endlich die Klappe, fieser Hämmerli!«, meinte ich mit vollem Mund und schaufelte Dal auf Gemüsecurry-Lasagne in mich hinein, bis mir der Blusenknopf absprang; den scheelen Blick von Julia, die neben mir saß und mein Gemurmel wohl ziemlich seltsam fand, ignorierte ich.
Frustriert fuhr ich später nach Hause. Max hatte leider recht gehabt. »Klassentreffen einer Mädchenklasse, bist du bescheuert? Das ist schlimmer als ein überfülltes Haifischbecken«, hatte er gehöhnt, als er die Einladung gelesen hatte.
Ich würde auf keinen Fall mehr hingehen, auch wenn sich die Bande, angeregt von Wiedersehensfreude und Bowle, ab jetzt regelmäßig treffen wollte. Auch das hatte Max kommen sehen. »Hüte dich vor irgendwelchen Folge-Veranstaltungen, das ist reine Sentimentalität.«
Er war doch ein Goldschatz, mein Liebster.
DAS OUTBURN
»Eine Auszeit?«, fragte ich. »Wie meinst du das?«
»Was verstehst du nicht?« Gereizt sah mich Max über den Rand seiner gestylten Lesebrille an, während er gleichzeitig irgendwelche Daten auf seinem Smartphone checkte. Das macht er immer, wenn er mit mir spricht. Normalerweise regt mich das extrem auf, aber diesmal beachtete ich es kaum; zu sehr hatte mich seine Mitteilung irritiert.
»Heißt das, du bist am Wochenende weg?«
»Wir fahren Samstag früh.«
So ein Egoist, zischte der Hämmerli.
»Dann verpasst du Lukis Fußballspiel. Und Rebeccas Aufführung.«
»Nina, hör auf, mich zu erpressen.«
»Ich meine nur, es ist doch wichtig, dass du wenigstens am Wochenende an den Aktivitäten der Kinder teilnimmst.«
»Rebecca ist zwanzig!«
»Trotzdem, es ist ihre erste Aufführung in der Schauspielschule.«
»Nimm es auf.«
»Du weißt, dass ich nicht filmen kann, da sind immer nur Beine drauf oder Nasen.«
»Dann lern es endlich.« Im Vorbeigehen zwickte mich Max liebevoll in die Wange, zumindest bildete ich mir ein, es wäre so gemeint gewesen.
Auf der Treppe fiel ihm noch was ein. »Kannst du mir die schwarze Winterjacke raussuchen, Schatz? Und die Wollmütze.«
»Wieso brauchst du im September eine Mütze?«
»Wir fahren übers Tessin nach Genua und dann kurven wir das Mittelmeer entlang, da kann es schon mal stürmisch werden.«
»Alles an einem Wochenende?«
»Das schaffen wir kaum.«
»Eben. Bleibt doch besser im Tessin. Ich könnte ja mitkommen, wir bitten Elinor, für die Jungs …«
»Bist du bescheuert?«, unterbrach mich Max. »Du weißt genau, dass meine Mutter nicht kochen kann. Außerdem: Ich nehm mir eine Auszeit, ich will allein sein!«
»André fährt auch mit.«
»Ist was anderes.«
»Das musst du mir erklären. Wieso kann dein bester Freund mit, deine Frau aber nicht?«
»Der Witz an einer Auszeit ist, dass man komplett abschaltet.«
»Vom Job, hab ich gedacht.«
»Von allem anderen auch. Einfach weg. Hat mir unsere Hausärztin verordnet.«
»Auf die hörst du! Aber dass ich dir seit Jahren sage, du sollst es ruhiger nehmen und am Wochenende keine Mails beantworten zum Beispiel …«
»Gönnst du mir das etwa nicht, Nini?« Er kam zurück. »Ich brauche es einfach. Seit dreißig Jahren bin ich nur am Liefern.«
Ja und was ist mit mir?
»Du wirst sehen, das wird auch für dich spannend.« Max zog mich an sich.
Miese Taktik, zischte der Hämmerli.
Verpiss dich, du Spielverderber, das hat er seit Wochen nicht mehr gemacht.
»Und Weihnachten bin ich wieder da«, flüsterte Max mir ins Ohr, während seine Hände an meiner Hose herumfummelten.
»Was?« Ich riss mich los, dabei fiel meine Brille zu Boden.
Max, aus dem Gleichgewicht gebracht, konnte sich nur noch mit einem Ausfallschritt retten. »Die ist hin.« Er hielt mir das angeknackste Gestell hin. »Sorry, aber da bist du selber schuld.«
Die Brille war mir egal. Fassungslos starrte ich meinen Mann an. »Bist du etwa bis Weihnachten weg?«
»Klar.«
»Du machst eine dreimonatige Auszeit mit deiner Harley und mit André?«
»Nein, der kommt nur eine Woche mit. Sag mal, hast du mir überhaupt zugehört?«
Da wurde die gläserne Eingangstür aufgerissen und Luki stürmte herein. »Hallo, Papa!« An uns vorbei rannte er zum Kühlschrank. »Ich habe voll Hunger.« Er schnappte sich die Milch und trank gleich aus der Packung. »Was ist denn los?« Fragend musterte er uns. »Gehts dir nicht gut, Mama?« Dann fiel sein Blick auf meine halboffene Hose.
Super, so was will ein fast pubertärer Nachzügler sicher nicht sehen. »Doch, doch.« Hastig raffte ich meine Jacke um mich herum. »Papa hat mir nur gerade mitgeteilt, dass er für drei Monate wegfährt.«
»Cool. Wohin?«
»Eine Tour ums Mittelmeer«, erklärte Max. »Ganz ohne Medien. Ich lasse alles hier: Laptop, Tablet, Handy. Wenn ich euch anrufen will, muss ich eine Telefonzelle suchen.«
»Echt?« Luki machte große Augen. »Wow. Kann ich dein iPhone haben?«
»Auf den Trick fällt Papa nicht herein. Du bekommst ein Handy zu Weihnachten«, ging ich dazwischen.
»Aber alle haben ein iPhone.«
»Sind wir alle?«
»Ich bin voll der Loser, Mama, nur wegen deinen blöden Prinzipien.«
»Luki!«
»Jetzt hört auf, ihr beiden.« Stirnrunzelnd sah Max seinen Sohn an. »Du bist ja richtig mediensüchtig, mein Kleiner. Und das mit zwölf. Vielleicht sollte ich dich mitnehmen.«
»Au ja«, lachte Luki begeistert. »Krieg ich dann schulfrei?«
»Das war ein Scherz.« Max fuhr ihm durch die Haare. »Nein, ich fahr allein.«
»Geil!«
Was? Kein Einwand, keine Kritik, rein gar nichts. Das Kind hatte vollstes Verständnis für seinen Vater.
»Auszeit ist wichtig«, sagte Luki und klang wie meine Schwiegermutter. »Sonst bekommst du ein Outburn.«
»Ein was?«
»Das ist, wenn die Batterie ganz unten ist. Haben jetzt viele, hatten wir in der Schule.«
»Da lernt ihr kluge Sachen.«
»Geht so.« Plötzlich fiel Luki etwas ein. »Dann verpasst du meinen Match, Papa!«
Bedauernd schüttelte Max den Kopf. »Tut mir echt leid, Kumpel.«
»Egal. Ich frag Nick, der nimmt es auf, dann stellen wir es für dich auf Dropbox.«
Max sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Geht doch, sagte sein Blick, schneid dir mal eine Scheibe von unserem Jüngsten ab. »Okay, Nini?«
Was konnte ich da noch sagen? Blöde Macho-Typen, alle beide!
Plötzlich war mir zum Heulen. Sentimentale Nuss! Wo der Hämmerli recht hatte … Keinesfalls würde ich hier stehen und meine Gefühle zeigen. Blinzelnd eilte ich zur Haustür. »Ich muss schnell zum Optiker. Brille flicken.«
»Willst du wieder barfuß fahren?« Luki winkte mit meinen Flipflops.
»Ich hab Schuhe im Auto.«
»Und wer kocht?«, brüllte Max.
»Wie wärs mit dir?«
Das saß.
»Nina, ich hab echt keine Zeit, ich muss packen.«
»Weißt du was, Papa? Bestellen wir Take-away.«
»Gebongt!«
Hatte ich richtig gehört? Max war doch derjenige, der immer vollwertige Mahlzeiten wünschte. In der Firma esse ich nur Fast Food, da will ich einmal pro Tag was Gesundes.
»Cool! Ich nehme Pizza.«
»Und ich Thai. Komm Luki, spielen wir noch ein Billard.«
»Aber …« Ich verstummte.
Feigling!, brüllte der Hämmerli. Er lässt dich im Stich und du nimmst es einfach hin? – Halt die Klappe, er hat ja recht. Seine Firma, der Umzug, das Haus, das war viel für ihn. – Für dich doch auch. – Stimmt, aber hast du schon mal was von ausgebrannten Hausfrauen gehört? The Burnout Housewifes! Die neue Montagsserie.
Darauf wusste sogar der Hämmerli keine Antwort.
Ich startete das Auto und fuhr davon, im Rückspiegel sah ich die Flipflops in der Einfahrt liegen.
DER SCHOKOLADE-FLASH
Natürlich hatte ich keine Schuhe im Auto. Hat jemand mal versucht, barfuß durch die Stadt zu gehen? Es ist die Hölle. Meine Laune war entsprechend unterirdisch.
Das mit der Brille klappte auch nicht, der Optiker schüttelte nur bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, Frau Keller, aber die ist nicht mehr zu retten, ist ziemlich angejahrt, um es vornehm auszudrücken.«
Ich schnappte nach Luft. Wie kam er dazu, meine geliebte Brille herunterzumachen? Obwohl mir keines der Gestelle im Angebot gefiel, ließ ich mich zu einem Kauf überreden: drei Monate Lieferzeit, weil das Modell so angesagt war. Ich würde es mir unter den Weihnachtsbaum legen.
Typisch Nina, nicht mal bei deinem Optiker kannst du dich durchsetzen!
Frustriert tappte ich zum Auto zurück, als mein Blick an einer Auslage hängenblieb. Was um alles in der Welt … Hatten die etwa die Limited Edition? War sie wieder lieferbar? Im Glanz der untergehenden Sonne sah das riesige Glas geradezu königlich aus. Ich war nicht mehr zu halten.
»Soll es ein Geschenk sein?«, fragte der Verkäufer gelangweilt.
»Nein, nein, ich esse es gleich«, rutschte es mir heraus.
Jetzt hatte ich seine volle Aufmerksamkeit.
»Ich meine nicht mich … meine Kinder natürlich … haufenweise Kinder … ein Kinderfest … Geburtstag … meine Tochter hat Geburtstag«, stammelte ich.
»Also doch ein Geschenk?«
»Ja bitte.« Kleinlaut ertrug ich seinen genervten Blick und sah ihm zu, wie er das unförmige Ding stilvoll verpackte.
Kaum saß ich im Auto, riss ich das Papier weg. Deckel abschrauben, Zellophan durchbohren, Finger eintauchen. Oh ja! Speichel, Schokolade und Gier verschmolzen zu einer einzigen wunderbaren Sinfonie bittersüßer Seligkeit.
Hinter mir hupte es, ein ungeduldiger Städter wollte meinen Parkplatz.
»Beruhig dich, bin ja schon weg.« Ich fuhr los, meinen vollen Bauch tätschelnd. Wie jedes Mal nach zu viel Schokolade fühlte ich mich besser und schlechter zugleich. Immerhin konnte ich nun meiner Familie gefasst gegenübertreten.
Gerade hatte ich die Hauptstraße erreicht, als ein rhythmisches Piepsen ertönte und ein paar Buchstaben in Rot aufploppten. Bitte tanken. »Mist!«
An dieser Stelle muss ich etwas beichten: Noch nie in meinem Leben habe ich dieses Auto getankt. Was? – Ja, das hast du nicht bemerkt, blöder Hämmerli. – Aber du fährst doch die ganze Familie von Pontius zu Pilatus, in einem anderen Leben wärst du Chauffeur geworden.
Nur getankt hatte ich eben nie, was mit einer äußerst unangenehmen Geschichte zusammenhing. Bei unserem letzten Wagen hatte ich einmal vergessen, den Tankdeckel zuzuschrauben, daraufhin war Benzin ausgetreten. Die Spur hatte zu unserem Haus geführt, die Polizei war ihr gefolgt und ich hatte eine Anzeige bekommen, ich galt sozusagen als vorbestraft. Seither hatte ich es immer so angestellt, dass ich nicht tanken musste, was sich nun als Nachteil erwies.
Panik erfasste mich, mittlerweile fuhr ich nur noch Schritttempo. Ein mehrstimmiges Hupkonzert erklang, gleich drei Autos überholten mich. Plötzlich hörte ich ein Schnaufen in meinem Rücken. Mir standen die Haare zu Berge. War da einer in meinem Wagen? Der Typ aus Halloween? Der Clown aus Es? Die Axt aus Shining? Als das Geräusch heftiger wurde, trat ich voll auf die Bremse. Mit klopfendem Herzen saß ich da, wagte kaum, mich umzudrehen. Niemand. Und dann wurde mir klar, dass es meine Lunge war, die so vor sich hin pfiff. Na toll, bekam ich nun einen Hyperventilations-Anfall? Oder Alters-Asthma wie meine Schwiegermutter Elinor? Max würde sich kaputtlachen.
Plötzlich klopfte es ans Fenster. Ein Greis mit Schlapphut hatte sich neben meinem Auto aufgebaut und fuchtelte wild in der Gegend herum.
Was will der von mir? Eilig drapierte ich das zerrissene Geschenkpapier über die Limited Edition.
»Sind Sie verrückt? Mein Hund!«, schrie er mich an.
Was um alles in der Welt? Hatte ich seinen Hund überfahren?
In diesem Moment ging ein Gekläff los. Gott sei Dank!
»Anouk, sitz!«
Der Hund ignorierte den Befehl und zwängte seinen Kopf durch die Spalte, der triefende Speichel hinterließ eine schleimige Spur auf dem Geschenkpapier.
»Sehen Sie, was Sie gemacht haben: Er ist völlig außer sich«, jammerte der Schlapphütige.
»Es tut mir leid, ich habe ihn nicht gesehen.«
»Das habe ich gemerkt. Welcher Volltrottel macht denn eine Vollbremsung auf offener Straße?«
»Äh …«
»Geben Sie mir Ihre Koordinaten, der Herzspezialist meines Hundes wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Und das an seinem Geburtstag! Ich hoffe nur, Sie sind versichert. Ich bin Anwalt.«
Schnell platzierte er eine Visitenkarte auf den Nebensitz.
Hatte der nicht alle Tassen im Schrank? Sein Hund war doch quietschfidel. Er würde sich höchstens beim Versuch, bei mir einzudringen, erwürgen.
»Würden Sie ihn festhalten, bitte?« Ich wollte das Fenster wieder hochfahren.
Daraufhin wurde der Hund zur Furie.
»Was haben Sie in Ihrem Auto, verdammt nochmal?«, schäumte der Schlapphütige.
»Drogen«, sagte ich freundlich. »Kokain, Heroin und ein Kilo Haschisch. Daraus kann sich Ihr Köter eine Tüte drehen.«
»Gibt es ein Problem?«, ertönte eine Stimme.
Ich drehte mich um.
Auf der anderen Seite meines Autos stand ein Polizist. Den kläffenden Hund übertönend, erklärte ich, wieso ich mitten auf der Straße parkte und warum ich trotz meiner Aussage kein Drogenkurier war.
»Was ist denn in dem Paket?« Der Polizist zeigte auf den Beifahrersitz.
»Nichts.«
»Das glaube ich kaum.«
Na gut, wenn du es unbedingt wissen willst. Ich zog das Papier weg. Der Polizist und der Schlapphütige starrten auf das Glas.
»Was ist das?«
»Nutella.«
Fassungslose Blicke.
»Ich hatte heute einen schweren Tag«, rechtfertigte ich mich.
»Ist das etwa die Limited Edition?«, rief der Schlapphütige.
Nun war ich echt erstaunt. »Kennen Sie die?«
Da begann er, in seiner Hosentasche zu fummeln. Was denn, holte er eine Pistole hervor? Aber es waren nur ein paar bröselige Hundekekse, die er seinem Kläffer vor die Füße warf.
Die Ruhe danach war paradiesisch. Bis der Schlapphütige, der den Kopf des gierig kauenden Tiers tätschelte, zischte: »Gas geben!« Als ich nicht gleich reagierte, machte er eine herrische Handbewegung. »Hauen Sie endlich ab, Anouk liebt Nutella. Am schlimmsten ist die Limited Edition, die riecht sie sogar durch geschlossene Türen. Beim letzten Mal hatte sie einen Herzinfarkt.«
Kaum hatte Anouk den letzten Keks verdrückt, brachte sie sich erneut in Position.
Höchste Zeit abzuhauen. Ein nutellasüchtiger Hund, was für ein bizarres Erlebnis! Immerhin: Die Stimme des Polizisten war nett gewesen. Sexy irgendwie. Ich grinste. Was war nur los mit mir?
Das ist der Schokolade-Flash! Oder ein Kollaps, du hast ja gehört, was passiert, wenn man zu viel Zucker in sich hineinstopft.
In diesem Moment leuchtete die Tankanzeige erneut auf. Mach das weg, Hämmerli, bitte! Leider blinkten die roten Buchstaben nun ununterbrochen. Schon wieder ein Hupen, der Schweiß lief mir in Strömen. Zum Glück erkannte ich aus dem Augenwinkel ein Schild, das musste eine Tankstelle sein. Endlich! Ich riss das Steuer herum, fast hätte mich das überholende Auto gestreift. Direkt vor der Säule würgte ich den Motor ab. Mein Atem pfiff. Ganz ruhig, Nina, du schaffst das. Es gelang mir, die Bankkarte einzuschieben, den Code einzugeben und die richtige Nummer zu wählen, nur um dann an der Abdeckung zu scheitern. Vergeblich zwängte ich meinen schokoladeverschmierten Finger in die schmale Spalte. »Scheiße!« Ein weiterer Fingernagel blieb auf der Strecke und ich nahm den Autoschlüssel zu Hilfe. Als auch das nicht klappte, griff ich zur Bankkarte. Prompt zerbrach sie. Schließlich hämmerte ich auf die Abdeckung ein, irgendwie musste dieses elende Ding doch aufgehen.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Unfassbar. Wieder dieser Polizist. War ich bereits zur Fahndung ausgeschrieben? Mit gesenktem Kopf sah ich zu, wie sich die Abdeckung öffnete, der Verschluss aufgeschraubt und der Schlauch eingeführt wurde. »Haben Sie mich etwa verfolgt?«
»Das war nicht nötig.« Er musterte mich streng. »Nur zu Ihrer Information: Es gibt Strafzettel für zu langsames Fahren.«
»Das sagen meine Jungs auch immer.«
»Kluge Kinder.«
»Ich mag es einfach nicht zu schnell«, verteidigte ich mich. »Vielleicht sollte ich in Zukunft das Rad nehmen.«
Er verzog keine Miene. »Barfuß?«
Wir sahen auf meine nackten Füße.
»Sind Sie so gefahren?«
»Nein. Also, ja …« Da half nur noch Flucht nach vorn. »Kann ich gleich bezahlen?« Schon kramte ich in meinem Portemonnaie.
»Das weiß ich nicht.« Suchend blickte er sich um.
»Es wäre mir lieber«, insistierte ich. »Das mit dem Onlinebanking hab ich nicht so im Griff.«
Er deutete auf die Zapfsäule. »Dafür brauchts doch kein Onlinebanking.«
»Ich meine den Strafzettel.«
»Welchen Strafzettel?«
War der Mann verrückt? »Na, weil ich zu langsam gefahren bin.«
»Ich schreibe keine Strafzettel. Nicht mein Ressort.«
»Eben haben Sie gesagt …«
»Es sei denn, Sie fahren weg, ohne zu bezahlen«, meinte er und seine Augenbraue zuckte. Hatte er etwa Humor?
»Ich habe bereits bezahlt.« Ich zeigte ihm die kaputte Bankkarte. »Allerdings war das vermutlich die letzte Transaktion, die ich damit gemacht habe.«
»Kein Geld, keine Schuhe«, überlegte er. »Das erinnert mich stark an dieses Märchen. Wie heißt es doch?«
»Schneewittchen? Aschenbrödel?«
»Der Teufel mit den drei goldenen Haaren.«
»Und wer bin ich?«
»Nicht die goldenen Haare.«
»Sie denken, ich bin der Teufel?« Ich schüttelte den Kopf. »Da liegen Sie falsch, in Wirklichkeit bin ich …«
»Pocahontas«, grinste er.
»Sie sind nicht gerade ein Märchenkenner.«
»Ich lese meinem Jungen lieber aus Harry Potter vor.«
Seinem Jungen? Ach so.
Unsere Blicke kreuzten sich. Die Anzeige der Tankstelle funkelte, am Himmel glomm der erste Stern auf. Und mein Herz flatterte.
Da sprang mich etwas von hinten an. Entsetzt starrte ich dem Nutellahund ins aufgerissene Maul.
»Anouk, Fuß!«, erklang es von Weitem.
Das machte das Tier noch wilder.
Mir reichte es! Ich hechtete ins Auto. Ein Kickstart. Luki wäre stolz gewesen. Leider übersah ich dabei eine Mauer, das Rumpeln klang ohrenbetäubend. Immerhin: Wie durch ein Wunder fuhr das Auto weiter. Im Rückspiegel sah ich die fuchtelnden Hände des Polizisten. Nein, nein, darauf fall ich nicht herein! Kaum halte ich an, bekomm ich eine Strafe. Nun lern mich mal kennen, Bulle!
Ich gab Gas.
ABSCHIED IM SEPTEMBER
»Mamaaaaa!«
Es war ein paar Tage später, kurz vor Max’ Abreise. Sein Freund André war eben vorgefahren, das Röhren des Motorrads hatte bestimmt die ganze Nachbarschaft aufgeschreckt. Von der Dachterrasse aus blickte ich auf die Ausfahrt. Meine Familie, wie ich sie liebte! Keine Ahnung, woher dieses Gefühl der Wehmut kam. Sentimentale Nuss! Max geht für ein paar Wochen weg, das ist alles.
Ich stellte einen Eimer unter den Riss in der Glasdecke (hab ich schon erwähnt, dass unser neues Dach bereits kaputt ist?) und rannte die Treppe hinunter.
»Mam!« Rebecca schaute mich vorwurfsvoll an. »Wo warst du so lange?«
»Geflickt!« Triumphierend hielt ich meine Brille hoch.
Alle lachten, nur Rebecca reagierte genervt. »Kauf dir eine neue, echt! Wie alt ist das Ding? Du und dein Klebe-Tick.«
Sie wollte zu einer Strafpredigt ansetzen, als sie unsanft von Nick angerempelt wurde; er hasste ihre Ausbrüche, in denen sie ihr Talent als Schauspielerin jeweils voll unter Beweis stellte.
»Idiot!«, zischte sie feindselig.
»Lass Nick in Ruhe«, sagte Luki und stellte sich vor seinen großen Bruder.
»Halt die Klappe, Nerd.«
»Zicke!«
»Spasti!«
»Jetzt hört auf«, unterbrach ich das Geplänkel. »Wie alt seid ihr?«