Cover

Buch

New York, Grand Central Station:

In den 1920ern beherbergt das prächtige Bahnhofsgebäude eine angesehene Kunstschule. Hier will sich die junge Illustratorin Clara Darden beweisen und zeigen, dass eine Frau mehr sein kann als Muse und Anhängsel erfolgreicher Männer.

1974 ist von dem alten Glanz wenig übrig. Virginia Clay erscheint ihr Leben so trostlos wie das heruntergekommene Gebäude, in dem sie arbeitet, um sich und ihre Tochter durchzubringen. Doch dann stößt Virginia zufällig auf die verlassenen Räume der Kunstakademie – und auf die Spur einer gefeierten Illustratorin, die 1931 wie vom Erdboden verschwand …

Autorin

Die gebürtige Kanadierin Fiona Davis wuchs in New Jersey, Utah und Texas auf. Ihre Karriere als Schauspielerin führte sie schließlich nach New York, wo sie heute noch lebt. Ihre Wahlheimat New York prägt auch ihr Schreiben, sei es als Journalistin oder als ­Romanautorin.

Fiona Davis im Goldmann Verlag:

Wovon sie träumten. Roman
Die Hoffnung der goldenen Jahre. Roman
Wege ihrer Sehnsucht. Roman

( alle auch als E-Book erhältlich)

Fiona Davis

Wege ihrer Sehnsucht

Roman

Deutsch von
Doris Heinemann

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Masterpiece« bei Dutton, New York.

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Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Fiona Davis

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved.

This edition is published by arrangement with Dutton, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Balustrade: © FinePic®, München;
Gebäude: © gettyimages/Stephen Wilkes; Frau: © Trevillion Images/Elisabeth Ansley

Innenseiten: FinePic®, München

Redaktion: Ele Zigldrum

An · Herstellung: kw

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-24280-0
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Tom

Kapitel 1

New York City, April 1928

Clara Dardens Illustrationskurs in der Grand Central School of Art, der unter den Kupferdächern des besagten Bahnhofs stattfand, wurde von den Zügen, die viele Hundert Fuß unter dem Atelier durch die uralten Schieferschichten Manhattans rumpelten, nicht beeinträchtigt. Ein Überraschungsbesuch von Mr Lorette, dem Schulleiter, schien hingegen die Durchschlagskraft einer Tausende Tonnen schweren Lokomotive zu haben.

Allerdings hätte Clara der jährlichen Ausstellung des Lehrkörpers, die noch am selben Abend um sechs Uhr eröffnet werden würde, auch ohne besonderes Zutun von Mr Lorette beklommen entgegengesehen. Ihre erste Ausstellung in New York City, und alle wichtigen Leute aus der Kunst- und Verlagsszene würden da sein. Seit Monaten hatte sie an ihren Illustrationen gearbeitet, denn sie wusste, dies hier war vielleicht ihre einzige Chance.

Sie hatte ihrer Klasse die Aufgabe gestellt, sich einen anderen Buchumschlag für Virginia Woolfs neustes Buch auszudenken, und die vier Frauen hatten sich eifrig an die Arbeit gemacht, während der einzige Mann – und nebenher auch ein bisschen Lebemann – mit einem vernehmlichen Seufzer die Augen verdreht hatte. Gertrude, die Lernbegierigste der fünf Kursteilnehmer, hatte, empört über Wilburs mangelnden Respekt, nach einer Terpentinflasche gegriffen und gedroht, sie ihm an den Kopf zu werfen. Mitten in diesem lautstarken Streit war Mr Lorette hereingeschneit.

Immerhin waren sie alle erwachsen und keine Kinder mehr. Doch jedes Mal, wenn Wilbur für Aufruhr sorgte, benahm sich die ganze Klasse bedauerlicherweise wie eine Horde unreifer Jugendlicher. Meistens brachte Clara dann die nötige Autorität auf, um für Ruhe zu sorgen, bevor das Ganze ausuferte. Doch Mr Lorette schien ein wundersames Gespür für die seltenen Gelegenheiten zu haben, bei denen Clara die Kontrolle über die Klasse verlor, und man konnte sicher sein, dass er gerade zu solchen Zeiten vorbeischaute, um sich ein Bild von ihren pädagogischen Fähigkeiten zu machen.

»Miss Darden, brauchen Sie schon wieder pädagogische Unterstützung?« Mr Lorettes kahler Schädel glänzte, als wäre er von einem der Schuhputzjungen in der Haupthalle des Bahnhofs poliert worden. Seine Mundwinkel hingen selbst dann noch herunter, wenn er sich freute, und seine beiden Augenbrauen führten ein Eigenleben und strebten wie zwei haarige Raupen in unterschiedliche Richtungen. Obwohl erst Anfang dreißig, versprühte er bereits den schnippischen Charme einer ewig nörgelnden alten Jungfer.

Drei Jahre zuvor, nachdem einer der berühmten Gründer der Schule, John Singer Sargent, gestorben war, hatte man ihn zum Direktor ernannt. Die Studentenzahlen und der gute Ruf der Schule waren mit jedem Studienjahr gewachsen, ein Erfolg, den Mr Lorette im Vorstellungsgespräch mit Clara als seine ganz persönliche Leistung dargestellt hatte. Dann hatte Mr Lorette sie von der studentischen Hilfskraft zur stellvertretenden Dozentin befördert, weil der Dozent, den er eigentlich ausgesucht hatte, in letzter Minute abgesagt hatte. Sie hatte also von Anfang an nicht auf einer Stufe mit den anderen Dozenten gestanden. Und dann war die Klasse auch noch von den im Januar eingeschriebenen fünfzehn Studenten auf fünf zusammengeschrumpft. Zehn dieser ursprünglichen Studienanfänger waren nämlich gleich am ersten Tag beleidigt abgezogen, weil sie von einer Frau unterrichtet werden sollten.

Mr Lorettes Unzufriedenheit und die Wahrscheinlichkeit, dass sie im nächsten Semester nicht wieder eingestellt würde, wuchsen von Woche zu Woche. Was bedeutete, dass diese Ausstellung am heutigen Abend vermutlich ihre letzte Chance war, den Herausgebern der wichtigsten New Yorker Zeitschriften ihre Illustrationen vorzuführen.

Seit sie im Jahr zuvor nach New York City gekommen war, hatte Clara in Abständen von einigen Monaten gewissenhaft immer wieder Entwürfe in den Büros von Vogue und McCall’s abgegeben, aber ohne Erfolg. Die Antworten reichten vom niederschmetternden »Nein, nicht originell genug« zum ermutigenden »Versuchen Sie es später noch einmal«. Und heute Abend würde sich das alles ändern. Hoffte sie wenigstens. Wenn die Herausgeber ihre Arbeiten erst in den heiligen Hallen der Grand Central Art Galleries neben den Werken namhafter anderer Dozen­ten hängen ­sähen, würden sie ihr Talent endlich zu schätzen wissen. Und vielleicht umso mehr, als sie die einzige Illus­tratorin des Lehrkörpers war und daher hervorstechen würde.

Mr Lorette räusperte sich.

»Nein, Sir. Wir brauchen keinerlei Unterstützung. Danke, dass Sie nach uns geschaut haben.« Sie schob sich vor den Tisch, an dem sie gearbeitet hatte, um ihm die Sicht auf ihre eigenen Zeichnungen zu versperren.

Doch vergebens. Er ging um sie herum und stellte sich hinter ihren Arbeitstisch. Seine Nase zuckte. »Was ist das?«

»Einige Figuren, an denen ich gearbeitet habe, um zu zeigen, wie man mithilfe eines Zirkels die Proportionen richtig wiedergibt.«

»Ich dachte, das hätten Sie bereits durchgenommen?«

»Man kann die Grundlagen gar nicht oft genug wiederholen.«

Er nickte misstrauisch und ging dann langsam zwischen den Tischen hindurch, sein Blick flog über die einzelnen Zeichentische. Ihre Studenten traten einen Schritt zurück und hofften auf ein Lob.

»Wieso scheint jeder Student etwas völlig anderes zu zeichnen?«

Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf den ­Roman, den sie auf den Tisch für die Stillleben gestellt hatte. »Die Aufgabe war die Gestaltung eines ­Buchumschlags. Ich ermunterte sie dazu, ihre Fantasie spielen zu lassen.«

»Nun, die Leuchttürme und Strände passen ja auch dazu. Aber Sie zeichnen doch da Unterwäsche?«

Selbst wenn er ein einfühlsamerer Mensch gewesen wäre, hätte sie ihm nicht erklären können, wie schmerzhaft lang sich die Stunden dehnten, wenn man so wenige Studenten unterrichtete. Und wie die Dachfenster das Licht in einer Weise streuten, bei der sich ein Tag, ganz gleich, ob er sonnig oder bewölkt war, genauso anfühlte wie jeder andere. Sie machte ihre Routinerunden, wies darauf hin, dass die Trockenbürstentechnik Texturen am besten hervorhob, oder ermunterte Gertrude, wenn diese den Mut verlor – doch von einem gewissen Punkt ab mussten die Studenten ihre Arbeit allein machen. Und deshalb hatte sie heute einen Hocker vor einen Zeichentisch gestellt und die Figuren für ihren neusten Auftrag vom Wana­maker Department Store skizziert: drei Seiten Damenhemden für den Sommerkatalog. Eine miserabel bezahlte Arbeit, aber besser als nichts.

»Das ist für den Unterricht morgen«, log sie. »Da wir kein lebendes Modell haben, mit dem wir arbeiten können, wollte ich ihnen mit einer Zeichnung von mir eine Orientierung geben.«

Wie sie gehofft hatte, lenkte ihn diese Erinnerung an ihre ständige Bitte um ein Modell ab.

Seine Stimme wurde so hoch wie die eines Schulmädchens. »Die Studenten können jederzeit eine Aktzeichenklasse besuchen. Dies hier ist ein Illustrations­kurs, und all unsere Modelle sind für die Kurse in bildender Kunst reserviert. Und wie Sie schon sagten, können Ihre Studenten ja auf ihre Fantasie zurück­greifen, nicht wahr?«

»Aber ideal ist es nicht. Wenn wir ein Modell hätten, an dem wir die Anatomie unter der Mode erkennen könnten, könnten wir mit dem nackten Modell beginnen und es dann nach und nach mit Kleidungsschichten bedecken, um auf das bereits Gelernte aufzubauen.«

Sie hatte nicht lästig fallen wollen, aber irgendwie weckte Mr Lorette immer ihren Widerspruchsgeist.

»Da es sich hier um eine gemischte Klasse handelt, die noch dazu von einer Frau unterrichtet wird, wäre ein Aktmodell höchst unpassend. Es tut mir leid, dass unsere Schule in Ihren Augen so viele Mängel hat, Miss Darden.« Er schnalzte mit der Zunge, was in ihr die Lust weckte, ihm in den Mund zu greifen und sie herauszureißen. »Die anderen Dozenten, allesamt weit erfahrener als Sie, scheinen sehr gut zurechtzukommen.«

Die anderen Dozenten – allesamt Männer – bekamen jeden noch so abwegigen Wunsch von Mr Lorette erfüllt. Sie hatte ja erlebt, wie der Direktor sie dazu ermunterte, auf eine Zigarette in sein Büro zu kommen, wo sie zusammen über irgendeinen Männerwitz lachten und der Direktor die Füße auf den Schreibtisch legte, um männliche Lässigkeit zu ­demonstrieren. Clara passte nicht in dieses Klischee, und das gefährdete ihre Stellung.

»Ich bin sicher, auch wir kommen zurecht.«

Er ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Sie wies die Klasse an weiterzuarbeiten. Auf Gertrudes Arbeit waren lediglich drei Schürfspuren, wo sie mit der Rasierklinge korrigiert hatte, für sie ein echter Rekord.

»Die Sturmwolken sind herrlich, aber wo sollen Buchtitel und Name der Autorin hin?«, fragte Clara.

Gertrude rieb sich mit dem Handgelenk die Nase und hinterließ dabei auf der Nasenspitze einen grauen Streifen. »Stimmt. Ich war so bei der Sache, dass ich es vergessen habe.«

Clara zeigte auf den oberen Rand. »Versuchen Sie, mit einem feuchten Schwamm etwas Farbe aus den nassen Bereichen zu entfernen.«

Diese junge Frau gab sich immer viel Mühe, wenngleich ihre energischen Handbewegungen besser für Ton oder Ölfarben geeignet waren als für den vorsichtigen Auftrag von Aquarellfarben, bei denen sich Fehler nur schwer korrigieren ließen. Ein bisschen zu viel Wasser, und dort, wo eine glatte Linie hätte sein sollen, blühte ein lebhaftes Blumenkohlmuster. Zu wenig Wasser, und die gesättigte Farbe klebte am Papier und ließ sich nicht weichwischen. Doch Clara liebte Aquarellfarben trotz oder vielleicht auch gerade wegen ihres komplizierten Charakters. Wie das Papier nach einer Lavierung in Hellorange, die einen Sonnenuntergang darstellen sollte, leuchtete und wie die Farben, wenn man sie miteinander mischte, ganz neue Farbtöne bildeten, die wahrscheinlich nicht einmal einen Namen hatten.

Endlich war es fünf Uhr. Die Studenten verstauten ihre Arbeiten in den Holzregalen, und als alle gegangen waren, versteckte Clara ihre eigenen Zeichnungen ganz oben auf dem Schrank, wo sie vor Mr Lorettes neugierigen Blicken sicher waren.

Ziemlich hungrig lief sie nach unten in die Bahnhofshalle, wo die mit bräunlich-rosa Botticino-Marmor verkleideten Wände in die Höhe ragten. An der dunkeltürkisen Gewölbedecke funkelten elektrisch beleuchtete Sterne und gemalte Sternbilder, allerdings hatte der arme Künstler den Himmel versehentlich verkehrt herum gemalt, ein Fehler, über den sich die Kunststudenten gern mokierten.

Als sie im vergangenen September mit dem Zug aus Arizona angekommen war und zum ersten Mal diese erhabene Halle betreten hatte, war sie wie gebannt stehen geblieben und hatte mit offenem Mund alles angestaunt, bis sich ein Mann an ihr vorbeigedrängt und leise über ihr dummes Herumstehen geflucht hatte. Allein die Größe dieser Halle mit den glänzenden Bronzeleuchtern und den riesigen Fenstern, durch die das Tageslicht strömte, raubte ihr den Atem. Mit ­seiner inspirierenden Mischung aus Licht, Luft und Bewegung war dieser Bahnhof der perfekte Ort für eine Kunstakademie.

Und seither hatte sie immer kurz nach oben zu den Sternen an der Decke geschaut, bevor sie sich dem anschloss, was ein kunstvoller Tanz von Männern und Dienstmädchen zu sein schien, von rot bemützten Gepäckträgern und gut gekleideten Damen der Gesellschaft, die in den verschiedensten Winkeln aneinander vorbeiglitten und dabei nie zusammenstießen. Am liebsten lehnte sie sich über das Geländer des Westbalkons und beobachtete die Muster, die die dahinflutenden Menschenmassen rings um den runden Informationsstand bildeten, der mitten in der Halle stand und dessen vierseitige Uhr von einer glänzenden goldenen Eichel gekrönt wurde.

Ihr Magen knurrte. Sie folgte einer Gruppe elegant gekleideter Männer hinunter in die äußere Bahnhofshalle und betrat das Grand Central Terminal Restaurant, wo sie sich einen Platz am Tresen sichern konnte.

»Miss Darden?«

Eine junge Frau in einem schwarzen Samtmantel mit Pelzbesatz war hinter Clara aufgetaucht und lächelte sie fragend an. »Ich dachte doch, dass Sie es sein müssten. Ich bin Nadine Stevenson. Ich nehme Malunterricht an der Kunstschule. Essen Sie noch einen Happen vor der Ausstellung?«

»Ja, das habe ich vor, Miss Stevenson.«

»O bitte, nennen Sie mich Nadine.«

Nadine hatte eine große Nase und engstehende, tief liegende Augen. Ihr rechtes Auge war ein wenig größer als das linke, und diese Asymmetrie war ebenso verwirrend wie faszinierend. Clara stellte sich sofort vor, wie Picasso sie wohl sehen würde, in vielen schlecht zusammenpassenden Würfeln und Farben. Neben ihr stand ein Adonis von einem Mann, dessen symmetrische Schönheit einen aparten Kontrapunkt bot. Glänzende blaugraue Augen unter schön gewölbten Brauen und weizenblondes Haar.

»Und das ist ein Freund von mir, Mr Oliver Smith, er ist Dichter.«

Clara hatte eigentlich gehofft, sie könnte in Ruhe zu Abend essen, doch daraus würde nun nichts werden. »Wie nett, Sie beide kennenzulernen. Bitte setzen Sie sich doch zu mir.«

Sie setzten sich auf die Hocker neben ihr, und der Kellner kam mit gezücktem Stift zu ihnen. Clara bestellte einen Austerneintopf, Oliver ebenso. Nadine verlangte geschälte Muskattrauben und danach einen Hummercocktail.

Viele der jungen Frauen an der Grand Central School of Art hatten sich nur angemeldet, um es irgendeines schönen Tages in ihrer Heiratsanzeige erwähnen zu können – eine kreative Betätigung, die künftige Schwiegerfamilien nicht abschreckte. Nadine mit ihren Perlen und ihrem Gehabe schien zu genau dieser Kategorie zu gehören.

»Miss Darden ist die einzige Frau im Lehrkörper der Grand Central School of Art«, erklärte Nadine Oliver. »Sie unterrichtet Illustration.« Mit einem strahlenden Lächeln wandte sie sich an Clara. »Bitte erzählen Sie uns doch, was Sie uns heute Abend zeigen werden.«

»Vier Zeichnungen, die vier Saisons der Haute Couture zeigen.« Clara konnte nicht anders, sie beschrieb es genauer. Sie hatte so viel über diese Zeichnungen nachgedacht. »Die für den Winter zeigt zum Beispiel drei Frauen in Pelzmänteln, die an der Leine Pudel mit passenden Pelzmäntelchen führen.«

»Nun, das klingt doch hübsch.«

Machte sich Nadine über sie lustig? Clara hätte es nicht zu sagen gewusst. Sie hatte nur selten Zeit für Geselligkeiten gehabt, einmal abgesehen von gelegentlichen kurzen Gesprächen mit den anderen Künstlerinnen, die im selben Apartmenthaus in Greenwich Village wohnten. Sie hatte viel zu viel damit zu tun gehabt, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Nadine stützte sich mit einer Hand auf den Tresen und beugte sich zu ihr. Die Zitrusnote des Parfüms Emeraude stieg Clara in die Nase. »Wussten Sie, dass Georgia O’Keeffe – die mit den unglaublichen Blüten – anfangs kommerzielle Zeichnerin war? Dafür braucht man sich nicht zu schämen. Gar nicht. Illustration ist oft ein Sprungbrett hinauf zur wahren Kunst.«

»Ich schäme mich nicht im Geringsten.« Was für eine Frechheit. Clara fand eine solche Herablassung vonseiten einer Studentin anmaßend. »Ich habe nicht vor, mich der ›wahren Kunst‹ zu widmen, wie Sie sie nennen, Nadine. Ich illustriere sehr gern. Das kann ich am besten.«

»Also ich arbeite für mein Leben gern in meiner Zeichen- und Malklasse. Ich lerne so viel von Mr Zakarian, meinem Dozenten. Er hat mich zur studentischen Hilfskraft ernannt, und er ist einfach wunderbar.«

Clara empfand einen Stich von Eifersucht. Keiner ihrer Studenten würde sie mit derart enthusiastischen Worten beschreiben, dessen war sie sich ziemlich sicher. »Studentische Hilfskraft, das ist doch eine Ehre. Haben Sie denn vor, Künstlerin zu werden?«

Nadine lachte schrill auf. »Aber nein. Ich nehme den Unterricht nur, um mich persönlich besser zu entfalten.«

Der Kellner brachte ihre Teller, und für eine kurze Weile fiel kein Wort. Wenn Clara allein gewesen wäre, hätte sie unauffällig ein Dutzend oder mehr Cracker in ihr Taschentuch gewickelt, um vor dem Zubettgehen noch einen kleinen Snack zu haben.

Der Dichter, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, ergriff nun endlich das Wort. »Meine Mutter war Künstlerin, aber mein Vater hat darauf bestanden, dass sie die Kunst nach der Heirat aufgab. In letzter Zeit ist sie kränklich, sie leidet sehr darunter, dass sie nicht mehr in Museen und Ausstellungen gehen kann.«

»Das tut mir leid«, sagte Clara freundlich. »Nadine sagte, Sie seien Dichter?«

»Nadine entwirft ein viel zu großartiges Bild von mir. Eher sich freikämpfender Dichter, würde ich sagen. Ich nehme an, ich schlage meiner Mutter nach, mit dieser angeborenen Liebe zur Kunst. Mein Vater hofft, dass ich es irgendwann aufgebe und Banker werde.«

Nadine legte ihm mütterlich die Hand auf den Arm. »Oliver hatte eine Zusage von der Harvard University, wollte aber nicht hin. Können Sie sich das vorstellen? Stattdessen vegetiert er mit uns armen Bohemiens dahin.«

Bei Nadine konnte man kaum von Dahinvegetieren sprechen. Doch Clara wusste aus eigener Erfahrung, was es hieß, seine Familie zu enttäuschen. »Als ich meinem Vater erklärte, dass ich nach New York gehen würde, sagte er zu mir, dass ich dann nicht mehr zurückzukommen bräuchte. Es war keine leichte Entscheidung, aber ich bin froh, dass ich sie getroffen habe.«

Olivers blaue Augen funkelten. »Es gibt also Hoffnung für uns verlorene Söhne und Töchter?«

»O nein, nie!«

Sie tauschten einen Blick und ein kurzes wissendes Lächeln, das Claras Puls beschleunigte.

Normalerweise würdigten die Männer sie keines zweiten Blickes. Ihr Vater pflegte sie wegen ihres hellen Haars, der blassen Haut und der überaus schmalen, aber hohen Gestalt als »ätherisch« zu bezeichnen. Ihre Mutter hingegen sagte, sie sehe einfach ausgeblichen aus und solle Kleidung tragen, die ein wenig Farbe in ihr Gesicht bringe, doch Clara trug am liebsten Schwarz und Grau. Sie hatte sich immer für ihre gespenstische Blässe und die Körpergröße geschämt, deshalb vermied sie es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Oliver tauchte den Löffel in seinen Eintopf. Sie folgte verlegen seinem Beispiel. Wahrscheinlich hatte sie sich diese kurze Verständnisinnigkeit nur eingebildet.

Nadine übernahm wieder die Führung des Gesprächs. »Und woher stammen Sie, Miss Darden?«

»Arizona.« Clara wartete auf das unvermeidliche Luftholen. Der amerikanische Westen musste ähnlich entlegen sein wie Australien, jedenfalls waren die meisten, die an der Ostküste zur Welt gekommen waren, geradezu schockiert über den weiten Weg, den sie zurückgelegt hatte.

»Von so weit her? Himmel! Was macht Ihr Vater? Ist er Cowboy?«

»Er verkauft Metalle.«

Durchaus bewusst sprach Clara in der Gegenwart statt in der Vergangenheit von den ehemals guten und jetzt sehr schlechten Geschäften ihrer Familie. Doch die betrügerischen Machenschaften ihres Vaters waren jetzt nicht mehr Claras Sorge und gingen auch sonst niemanden etwas an. Zum Glück redete Nadine endlos über das Immobiliengeschäft ihres Vaters und wandte sich dabei mehr an Oliver als an Clara, die rasch ihren Eintopf auslöffelte.

Clara blickte zur Uhr hoch. »Ich muss los, die Ausstellung wird bald eröffnet.«

Aber es gab kein Entkommen. Als sie das Restaurant verließen, hakte sich Nadine bei Clara unter, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Links und rechts führten von prachtvollen Marmorbögen überspannte Rampen wieder hinauf in die Bahnhofshalle, und über ihnen erhob sich im Fischgrätmuster eine Gewölbedecke. Clara hatte versucht, die Erd- und Sandtöne der Kacheln in einer ihrer Illustrationen wiederzugeben, die heute Abend ausgestellt werden würden.

»Nein, wartet, ich will euch etwas zeigen.« Oliver deutete auf eine Stelle, an der zwei Bögen sich trafen. »Stellt euch dorthin, mit dem Gesicht zur Ecke, und lauscht aufmerksam.«

Clara hatte keine Zeit für derlei Spielchen, doch sie sah zu, wie Nadine seinen Anweisungen folgte. ­Oliver stellte sich in der gegenüberliegenden Ecke auf und bewegte die Lippen zu Worten, die Clara nicht hören konnte. Nadine kicherte.

»Was ist denn so lustig?«, fragte Clara.

»Sie müssen es selbst ausprobieren. Wir sind in der Flüstergalerie.«

Widerwillig nahm Clara Nadines Platz ein.

»Clara, Clara.«

Wie ein Geist schwebten die Wörter über ihr. ­Oliver hätte genauso gut dicht neben ihr stehen und sie ihr ins Ohr sagen können. Sie sah hoch und versuchte zu erkennen, in welcher Weise die Konstruktion der Decke Schallwellen so mühelos übermitteln konnte. Sie kehrte ihr Gesicht wieder der Ecke zu. »Sagen Sie mir ein Gedicht auf.«

Einen Moment lang war sie unsicher, ob er es tun würde. Dann hörte sie wieder die körperlose Stimme.

Dies Flüstern wird zur Stimme

eines Geistes, der zu mir spricht,

ganz nah, doch unsichtbar,

und mich in seinen Bann schlägt.

Clara hätte schwören können, die Wärme von Olivers Atem zu spüren. Sie sahen sich in die Augen, als sie sich in der Mitte des Raums trafen.

»Thomas Hardy. Er hat tatsächlich ein Gedicht über eine Flüstergalerie geschrieben«, sagte Oliver beiläufig.

Nadine verschränkte empört die Arme. »Mir hast du kein Gedicht aufgesagt.«

»Beim nächsten Mal, versprochen. Aber jetzt muss ich zu einer Dichterlesung im Stadtzentrum und weitere Inspiration sammeln.«

Clara schüttelte ihm die Hand und ging mit Nadine weiter, wobei ihr das Gedicht immer noch durch den Kopf ging.

Die Menge der schick gekleideten Kunstliebhaber, die sich durch den Eingang der Galerie zu quetschen versuchten, staute schon bis zum Aufzug zurück, als Clara und Nadine ankamen. Sie drängelten sich durch, mit ganz kleinen Schritten, damit ihnen niemand auf die Zehen trat, bis sie es hineingeschafft hatten.

Die Grand Central Art Galleries waren zwei Jahre ­älter als die Kunstschule, damals hatte Walter Clark, ein zum Künstler mutierter Geschäftsmann, mit der Hilfe von John Singer Sargent einen Teil des fünften Stocks in einen riesigen Ausstellungsbereich umgewandelt, eine Art Künstlergenossenschaft mit ganz besonders geringen Verkaufskommissionen. Clara schaute hier mindestens einmal in der Woche vorbei, um die neusten Werke zu sehen, und sie ermutigte ihre Studenten, es ihr nachzutun. Die Säle waren selten leer, da eigentlich immer irgendwelche New-York-Touristen oder auch manche Pendler durch die Räume streiften.

Heute Abend summte die Galerie vor Energie. Die Arbeiten der Dozenten würden eine Woche lang hängen bleiben und dann durch die Werke der Studenten ersetzt werden, um den Beginn des Frühjahrssemesters und das wachsende Prestige der Hochschule zu feiern. Claras Illustrationen würden an denselben Wänden hängen, an denen einst Sargents Porträts ausgestellt worden waren. Ihr wurde fast schwindelig bei dem Gedanken.

Die Grand Central Art Galleries, an der Südfassade des Bahnhofs gelegen, waren viermal so lang wie breit und bestanden aus einem Labyrinth von insgesamt zwanzig Sälen und Gängen, in dem die Besucher unwillkürlich entgegen dem Uhrzeigersinn herumwanderten, ohne einen Weg zweimal machen zu müssen. Clara musterte die Wände des ersten Saals, um ihre Arbeiten zu entdecken, doch vergeblich. Mitten im Raum stand der Dozent für Bildhauerei in der Nähe eines ­Tisches mit zwei nackten Nymphen, von denen eine auf einer Schildkröte balancierte.

»Nicht besonders bemerkenswert«, sagte Nadine.

Clara fand das auch, sagte aber nichts. Sie gingen weiter zu einer Gruppe von Studenten, die das Ölgemälde eines grobschlächtigen Pferdes betrachteten. Sie alle wurden überragt vom Künstler, dem Dozenten der Stillleben- und Zeichenklasse.

Clara hatte ihn schon vorher einige Male gesehen. Er war Ausländer, und es war bekannt, dass er während des Unterrichts laut sang und manchmal sogar tanzte. An diesem Abend stand er ganz ruhig da und hörte aufmerksam seinen Bewunderern zu, die ihm Honig ums Maul schmierten, wobei er immer wieder den Kopf nach hinten warf, in dem vergeblichen Versuch, eine Haarsträhne aus seinen Augen zu bekommen. Er selbst hatte wahrhaftig mehr Ähnlichkeit mit einem Pferd als das Tier auf seinem Bild.

»Das ist Mr Zakarian, mein Lehrer.« Nadine schlängelte sich zu ihm durch. Clara hatte solche Frauen schon früher erlebt, sie drängten sich in den Umkreis gut aussehender oder mächtiger Männer, um sich vor ihrer eigenen Unsicherheit zu retten. Für derlei Unsinn hatte Clara keine Zeit.

Es gab wichtigere Dinge zu tun. Je mehr Menschen in die Räume drängten, desto stickiger wurde die Luft. Clara sichtete Raum um Raum und ging dann noch einmal die Runde zurück, doch immer noch keine Spur von ihren Illustrationen.

Panik überfiel sie. Ihr Auftrag für Wanamaker war bald erledigt. Kürzlich hatten sie mitgeteilt, sie würden in Zukunft nur noch Künstler aus dem eigenen Haus beschäftigen. Ihr Unterrichtshonorar in Höhe von fünfundsiebzig Dollar monatlich deckte so gerade eben ihre Kosten. Und sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie im nächsten Semester noch hier arbeiten würde.

Noch einmal bahnte sie sich den Weg durch das Laby­rinth der Räume. Nichts. Am Ende eines Flurs ging rechts eine Tür ab, auf der SALES OFFICE stand. Clara hatte sie auf ihrer ersten Runde nicht weiter beachtet, weil sie angenommen hatte, dass dort die Buchhaltung untergebracht war. Die Tür stand halb offen, das Licht brannte. Sie spähte hinein.

Es war eher eine Abstellkammer als ein Zimmer, mit einem zerkratzten Schreibtisch an einer Wand und einem hölzernen Aktenschrank in einer Ecke.

Und da, über dem Schreibtisch, hingen, sorgsam mittig ausgerichtet und mit gleichen Abständen zwischen den Rahmen, ihre Illustrationen.

Als sie Mr Lorette endlich gefunden hatte, zitterte Clara am ganzen Körper vor Zorn. Er unterhielt sich angeregt mit Mr Zakarian, während Mrs Lorette zuhörte. Clara hatte sie bei einer geselligen Zusammenkunft des Lehrkörpers bereits flüchtig kennengelernt und war tief beeindruckt gewesen von ihrer altmodischen, dicken Pompadour-Frisur, die wie eine langhaarige Katze auf ihrem Kopf thronte.

Sie stellte sich zu der Gruppe. »Mr Lorette, meine Illustrationen sind in ein Hinterzimmer gehängt worden. In ein Hinterzimmer!«

Während Mr Lorette wegen ihrer Unhöflichkeit noch nach Worten rang, sprach sie weiter. »Ich gehöre zum Lehrkörper der School of Art, und dennoch wurden meine Arbeiten in eine Abstellkammer gehängt, die kein Mensch von sich aus aufsuchen würde.«

»Es tut mir leid, Miss Darden. Es wurde eben sehr eng, wissen Sie.« Er schwieg kurz. »Ganz buchstäblich.«

Während Mr Lorette über seinen eigenen Witz lachte, sah Clara, wie der Herausgeber der Vogue dem Ausgang zustrebte. Ganz sicher hatte er ihre Arbeiten nicht gesehen.

Jetzt mischte sich Mr Zakarian ins Gespräch. »Wo wurden ihre Werke aufgehängt?«

»In einem Raum direkt am Hauptflur«, sagte Mr ­Lorette. »Es sind Illustrationen. Wir fanden, dass sie sich in einem intimeren Rahmen besser machen würden.«

»Vielleicht könnten Sie ihr für nächstes Jahr eine Ausstellung gleich hier im ersten Saal versprechen, um das wiedergutzumachen.« Mr Zakarian streckte Clara die Hand entgegen. »Ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Ich bin Levon Zakarian, einer Ihrer Kollegen.«

Sie schüttelte ihm die Hand, ohne ihn anzusehen, sie starrte immer noch voller Zorn auf Mr Lorette. »Nächstes Jahr ist es zu spät. Es ist jetzt schon zu spät.«

Anders als die Studentinnen à la Nadine, für die die Grand Central School of Art nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum Eheglück war, hatte Clara all ihre Energien in ihre Künstlerinnenkarriere gesteckt. Sie war gegen den Willen ihrer Eltern nach New York gegangen, wo sie niemanden kannte, und hatte getan, was sie nur konnte, um als Illustratorin Erfolg zu haben. Und besonders schlimm war das Wissen, dass sie eine Chance gehabt hatte, um die andere Künstler sie beneideten: Sie hatte an der Grand Central School of Art unterrichten und ihre Arbeiten in der Galerie ausstellen dürfen – doch jetzt hatte sich diese Chance in Luft aufgelöst.

Mr Lorette zuckte die Schultern. »Heute Abend scheine ich es niemandem recht machen zu können. Wir werden es wiedergutmachen, Miss Darden, meine unterwürfigste Entschuldigung.« Er wandte sich wieder an Mr Zakarian: »Haben Sie Edmunds neuste Werke gesehen? Kommen Sie mit. Ich versichere Ihnen, er wird Ihnen Stoff zum Nachdenken geben.«

»Ich denke, auch Miss Darden könnte Ihnen Stoff zum Nachdenken geben, wenn Sie versuchen, sie abzuschütteln.« Mr Zakarian lächelte verschmitzt. »Ich habe eine Idee. Nehmen wir doch eins von meinen Bildern ab, und ersetzen wir es durch eine ihrer Illustrationen. Nehmen Sie es hier in der Mitte heraus.«

Das fehlte ihr noch, dass einer der Stars des Lehrkörpers wie ein Raubvogel auf sie herunterstieß, um sie zu protegieren. Schon bei dem Gedanken an eine solche Peinlichkeit wurde ihr übel.

Da Mr Lorette sich nicht länger an ihrer Verzweiflung weiden sollte, stürmte Clara ohne ein weiteres Wort hinaus.