Dr. Daniel
– Box 4 –

Box 17-22

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-864-3

Weitere Titel im Angebot:

Ein Doktor in Nöten

Roman von Marie-Francoise

Ein Doktor in Nöten

Roman von Marie-Francoise  

Das klirrende Geräusch von zerspringendem Glas lockte Dr. Robert Daniel unweigerlich ins Labor.

  »Das ist ja wieder typisch für diesen Tag«, knurrte seine junge Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau, während sie vorsichtig die größeren Glasscherben vom Boden aufhob.

  Hilfsbereit ging Dr. Daniel ihr zur Hand, doch Sarina wehrte ab.

  »Bemühen Sie sich nicht, Herr Doktor«, bat sie. »Sonst schneiden Sie sich womöglich noch.« Sie zögerte. »Wundern würde es mich nicht. Heute muß einfach alles schiefgehen.«

  Mit einem amüsierten Schmunzeln betrachtete Dr. Daniel seine Sprechstundenhilfe. Normalerweise war sie die Ruhe in Person, und manchmal hatte er schon den Eindruck gehabt, es gebe nichts, was sie erschüttern könnte.

  »Was ist denn mit diesem Tag so Besonderes?« wollte er wissen.

  Sarina betrachtete ihn mit einem Blick, als hätte er eine ganz törichte Frage gestellt.

  »Heute ist Freitag der Dreizehnte«, erklärte sie in Weltuntergangsstimmung.

  Da lachte Dr. Daniel auf. »Sie sind doch wohl nicht abergläubisch, Fräulein Sarina?«

  »Doch, und wie«, gestand die Sprechstundenhilfe offen. »Und an solchen Tagen passieren mir auch immer die unmöglichsten Sachen.«

  Dr. Daniel nickte. »Das glaube ich gern. Sie gehen schon mit einem Vorurteil an den Tag heran, aber wenn Sie mal objektiv sind, werden Sie merken, daß Ihnen an einem Freitag dem Dreizehnten nicht mehr Mißgeschicke passieren als sonst.«

  Sarina seufzte. »Vielleicht haben Sie recht.« Sie schwieg kurz. »Aber heute ist mir zu allem Überfluß auch noch eine schwarze Katze über den Weg gelaufen, als ich zur Arbeit gegangen bin. Das konnte wirklich nichts Gutes bedeuten.«

  Dr. Daniel lachte wieder. »Sie sind unverbesserlich, Fräulein Sarina.« Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Können wir heute etwa schon Feierabend machen?«

  Sarina schlug sich mit einer Hand an die Stirn. »Das hätte ich ja beinahe vergessen. Frau Heger ist vorhin gekommen – ohne Termin. Sie hat starke Unterleibsschmerzen.«

  Dr. Daniel nickte. »Ich kümmere mich sofort darum. Haben Sie mir die Karteikarte schon herausgesucht?«

  »Ja, Herr Doktor, sie liegt beim Empfang«, erklärte Sarina. »Ich wollte Frau Heger gerade anmelden, als ein Schwangerschaftstest dazwischenkam. Und dann dieses Malheur.« Sie deutete auf die Scherben, die sie jetzt auf dem kleinen Tisch in der Ecke gestapelt hatte.

  »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen«, riet Dr. Daniel ihr, dann verließ er das Labor und betrat das Wartezimmer, um seine Patientin persönlich ins Ordinationszimmer zu holen.

  »Meine Sprechstundenhilfe hat mir gesagt, daß Sie Schmerzen haben«, begann Dr. Daniel, als er der knapp vierzigjährigen Frau gegenübersaß, dann warf er einen Blick auf die Karteikarte. »Sie waren schon ziemlich lange nicht mehr bei mir.«

  Konstanze Heger nickte. »Ich war nie krank, Herr Doktor, und die Pille oder so was brauche ich nicht. Sie wissen ja…« Sie beendete den Satz nicht, aber Dr. Daniel wußte auch so Bescheid.

  Konstanze Heger war bereits wenige Jahre nach ihrer Heirat Witwe geworden und von da an allein geblieben. Sie war eine sehr ruhige Frau, die ganz zurückgezogen lebte.

  »Und jetzt haben Sie also Schmerzen«, hakte Dr. Daniel nach. »Seit wann?«

  Konstanze zuckte die Schultern. »Seit einem halben Jahr etwa.«

  Völlig fassungslos sah Dr. Daniel sie an. »Und da kommen Sie erst heute zu mir? Oder waren Sie vielleicht bei einem anderen Arzt?«

  Konstanze schüttelte den Kopf. »Zu wem sollte man hier in Steinhausen wohl gehen? Der alte Dr. Gärtner ist nicht gerade der Typ Arzt, zu dem man unbedenklich Vertrauen haben kann.«

  Dr. Daniel begriff das alles immer noch nicht. »Aber wenn Sie seit einem halben Jahr Schmerzen haben…«

  »Ach, Herr Doktor«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich bin nicht wehleidig. Und wegen jedem bißchen Bauchzwicken renne ich nicht gleich zum Arzt.« Wieder zuckte sie die Schultern. »Und als die Schmerzen dann schlimmer wurden, habe ich mir aus der Apotheke ein leichtes Schmerzmittel geholt. Aber das hilft jetzt nicht mehr.«

  Dr. Daniel zeigte sein Entsetzen ganz offen. Es war ihm unbegreiflich, wie ein Mensch so nachlässig mit seiner Gesundheit umgehen konnte, doch es hatte keinen Sinn, Konstanze Heger jetzt noch Vorwürfe zu machen.

  »Was sind denn das für Schmerzen?« wollte er daher nur wissen.

  »Tja, wie soll ich das beschreiben? Ziehende Schmerzen… manchmal sticht es auch. Ich weiß nicht so recht… es tut einfach schrecklich weh.«

  »Und wo sitzt dieser Schmerz?«

  Konstanze fuhr mit einer Hand über ihren Unterbauch. »Hier überall.«

  »Haben Sie sonst noch etwas an sich festgestellt… irgendeine andere Veränderung? Blutungen, Ausfluß oder etwas in der Art?«

  Konstanze runzelte die Stirn. »Ja, ich hatte öfter mal Zwischenblutungen, aber das kam bei mir auch vorher schon hin und wieder vor.«

  »Ich fürchte, das muß ich mir ansehen«, meinte Dr. Daniel und hatte dabei ein sehr ungutes Gefühl.

  Sein veränderter Tonfall fiel auch Konstanze auf. Und plötzlich erschrak sie.

  »Glauben Sie, daß das etwas… Schlimmes ist?« fragte sie plötzlich ängstlich.

  »Das kann ich so nicht sagen«, wich Dr. Daniel aus. »Allerdings wäre es in jedem Fall besser gewesen, Sie wären früher zu mir gekommen.« Er stand auf. »Gehen wir nach nebenan, dann werde ich Sie untersuchen.«

  Konstanze folgte ihm in den Nebenraum und machte sich auf seine Aufforderung hin hinter dem dezent gemusterten Wandschirm frei, dann legte sie sich auf den gynäkologischen Stuhl.

  »Ich werde erst mal einen Abstrich nehmen«, erklärte Dr. Daniel, während er mit seinem fahrbaren Stuhl näher rückte. Er griff nach den Instrumenten, doch schon ein erster Blick in den Gebärmutterhals ließ ihm den Atem stocken. Er wußte genau, daß hier kein Abstrich mehr nötig war. Vorsichtig zog Dr. Daniel die Instrumente zurück und stand auf.

  »Kleiden Sie sich bitte wieder an, Frau Heger«, bat er, und seine Stimme klang dabei ein wenig rauh. »Ich muß Sie sofort in die Klinik überweisen.«

  Konstanze erschrak. »Ist es so schlimm?«

  Dr. Daniel nickte. »Ich fürchte schon. Deshalb will ich hier auch keine Zeit vertrödeln, indem ich Untersuchungen durchführe, die in der Klinik sicher wiederholt werden würden. Bitte, Frau Heger, ziehen Sie sich an, dann fahre ich Sie persönlich nach München.«

  »Nach München?« wiederholte Konstanze gedehnt, während sie vom Untersuchungsstuhl stieg. »Wieso denn das? Steinhausen hat doch jetzt auch ein Krankenhaus.«

  »Das stimmt, aber ich will Sie bei einem Spezialisten haben«, erklärte Dr. Daniel, dann verließ er das Untersuchungszimmer.

  »Fräulein Meindl«, wandte er sich an seine junge Empfangsdame. »Ich muß dringend nach München. Nehmen Sie für heute keinen Termin mehr an. Ich weiß nicht, wann ich in die Praxis zurückkomme.«

  Gabi Meindl nickte. »Ist in Ordnung, Herr Doktor.«

  Doch das hörte Dr. Daniel schon nicht mehr. Er wandte sich Sarina zu.

  »Leisten Sie Frau Heger ein bißchen Gesellschaft«, bat er. »Ich muß Professor Thiersch anrufen.«

  Obwohl Sarina noch nicht lange in der Praxis von Dr. Daniel arbeitete, wußte sie, was das bedeutete. Konstanze Heger schien an einer schrecklichen Krankheit zu leiden.

  Dr. Daniel wartete Sarinas Zustimmung gar nicht erst ab. Er wußte, daß er sich auf seine Sprechstundenhilfe blind verlassen konnte. Mit langen Schritten ging er zu seinem Ordinationszimmer und schloß gewissenhaft die Tür hinter sich. Er wollte nicht, daß Konstanze Heger von seinem Telefongespräch etwas mitbekommen würde.

  Hastig wählte er eine Münchner Nummer und wartete dann ungeduldig darauf, daß sich endlich jemand von der Thiersch-Klinik melden würde.

  »Thiersch-Klinik, guten Tag«, erklang in diesem Moment eine freundliche Frauenstimme.

  »Hier Dr. Daniel aus Steinhausen. Verbinden Sie mich bitte mit dem Herrn Professor. Es ist dringend.«

  Es knackte in der Leitung, dann ertönte die herrische Stimme des Chefarztes.

  »Thiersch!«

  »Guten Tag, Herr Professor, hier Daniel«, begann er, doch weiter kam er gar nicht erst.

  »Was wollen Sie um diese Zeit noch von mir, Daniel?« fragte Professor Thiersch im üblichen barschen Ton. »Es ist Freitag, und ich habe mir mein Wochenende redlich verdient.«

  »Daran besteht kein Zweifel, Herr Professor«, entgegnete Dr. Daniel. »Aber es ist wirklich dringend. Es geht um eine Patientin von mir, Frau Konstanze Heger. Ich möchte Sie bitten, möglichst heute noch eine umfangreiche Untersuchung durchzuführen.«

  »Sind Sie noch zu retten, Daniel?« bellte der Professor ins Telefon. »Glauben Sie denn, wir haben hier nichts anderes zu tun, als auf Ihre Patienten zu warten?«

  »Herr Professor, ich würde Sie nicht bitten, wenn es nicht wirklich dringend wäre«, betonte Dr. Daniel noch einmal. »Es besteht bei Frau Heger der begründete Verdacht auf ein ausgedehntes Zervixkarzinom. Sie hat Schmerzen… seit einem halben Jahr.«

  »Verdammt«, knurrte Professor Thiersch, dann änderte er seinen Ton plötzlich. »Bringen Sie sie her, Daniel. Wir werden alle nötigen Untersuchungen durchführen, und wenn es noch Sinn hat, operiere ich morgen.«

  »Morgen ist Samstag«, wagte Dr. Daniel einzuwenden, obwohl er wußte, daß so etwas für Professor Thiersch bedeutungslos war, wenn es um ein Menschenleben ging.

  »Na und?« brüllte der auch schon ins Telefon. »Ist es nun dringend oder nicht?« Und dann legte er einfach auf.

  Dr. Daniel seufzte. Warum fühlte er sich im Gespräch mit Professor Thiersch immer wieder wie ein dummer kleiner Junge?

  »Er hat schon eine ganz besondere Art, mit Menschen umzugehen«, murmelte sich Dr. Daniel zu, dann betrat er durch die Zwischentür das Untersuchungszimmer, in dem Konstanze Heger in Gesellschaft der Sprechstundenhilfe auf ihn wartete.

  »Kommen Sie, Frau Heger«, erklärte er. »Fahren wir sofort los.«

  »Herr Doktor, bitte, sagen Sie mir doch, was meine Schmerzen zu bedeuten haben«, bat Konstanze. »Ist es… Krebs?«

  »Möglicherweise«, räumte Dr. Daniel ein. »Genaues kann erst eine gründliche Untersuchung ergeben, aber selbst wenn es Krebs sein sollte, dann sind Sie bei Professor Thiersch in den besten Händen.«

  »O Gott«, stöhnte Konstanze, und dann schlug sie beide Hände vors Gesicht. »Ich hätte früher zu Ihnen kommen sollen, aber ich dachte… wegen so ein bißchen Bauchschmerzen… erst als die Medikamente nichts mehr nützten…«

  »Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern«, meinte Dr. Daniel, während er mit seiner Patientin die Praxis verließ, dann sperrte er sein Auto auf und ließ Konstanze einsteigen, bevor er sich hinter das Steuer setzte und losfuhr.

  Eine gute halbe Stunde später hielt er seinen Wagen auf dem Parkplatz der Thiersch-Klinik an.

  »Ein Stückchen müssen wir noch gehen«, erklärte er, aber Konstanze nickte nur völlig geistesabwesend.

  Dann erreichten sie den Haupteingang der Klinik, doch Dr. Daniel hielt sich hier nicht lange auf. Er steuerte auf einen düsteren Flur zu, an dessen Ende das Zimmer des Chefarztes lag.

  Nach kurzem Anklopfen betrat er das Vorzimmer.

  »Professor Thiersch erwartet uns«, erklärte er und vergaß in seiner Sorge völlig, sich vorzustellen oder die Sekretärin des Professors wenigstens zu begrüßen.

  Herta Bogner wußte allerdings, wen sie vor sich hatte, und machte daher nicht viele Umstände. Über die Gegensprechanlage meldete sie Dr. Daniel an.

  »Herein mit ihm!« bellte der Professor in den Apparat, und als Dr. Daniel mit seiner Patientin das Nebenzimmer betrat, kam er ihm ein paar Schritte entgegen – ein kleiner, untersetzter Mann Mitte Sechzig mit dicker Hornbrille, die ihm ein strenges Aussehen verlieh, was von seiner forschen, manchmal unfreundlichen Art noch unterstrichen wurde.

  »Es ist alles vorbereitet, Daniel«, erklärte er knapp. »Gehen wir in die Untersuchungsräume.«

  Und ohne Konstanze Heger eines Blickes zu würdigen, verließ Professor Thiersch mit kurzen, energischen Schritten sein Büro. Dr. Daniel, den den Professor seit mittlerweile fünfundzwanzig Jahren kannte, wußte, daß diese unhöfliche Art nur Ausdruck seiner Sorge um die Patientin war. Konstanze hatte davon natürlich keine Ahnung.

  »Herr Doktor, ich flehe Sie an, lassen Sie mich nicht bei diesem ungehobelten Menschen«, bat sie flüsternd.

  Tröstend griff Dr. Daniel nach ihrer Hand. »Keine Sorge, Frau Heger, der Professor ist nicht so ruppig wie er tut, und das Schicksal seiner Patienten liegt ihm sehr am Herzen.«

  »So sieht er aber nicht aus«, erwiderte Konstanze.

  »Professor Thierschs Art ist sehr gewöhnungsbedürftig«, gab Dr. Daniel bereitwillig zu. »Und ich kann Ihnen versichern, daß ich während meiner Assistenzzeit, die ich hier an der Klinik absolviert habe, schwer damit zu kämpfen hatte. Aber glauben Sie mir, der Professor ist ein herzensguter Mensch – auch wenn er es nicht so recht zeigen kann.«

*

  In den sehr modern und zweckmäßig ausgestatteten Untersuchungsräumen der Thiersch-Klinik warteten der Oberarzt, Dr. Rolf Heller, und der neue Stationsarzt, Dr. Sebastian Kreis, bereits auf die Patientin. Dr. Kreis nahm Konstanze gleich in Empfang und begleitete sie fürsorglich zu einem riesigen Gerät.

  »Keine Angst, Frau Heger«, meinte er mit einem freundlichen Lächeln. »Ihnen wird hier nichts passieren. Wir müssen ein Computertomogramm machen. Das ist nichts anderes als eine Röntgenaufnahme. Es tut also nicht weh.«

  Konstanze war so nervös, daß sie das Gefühl hatte, ihre Beine würden jeden Moment unter ihr nachgeben, und so war sie fast froh, als sie sich auf die Liege legen durfte und in die Röhre des Geräts geschoben wurde. Blicklos starrte sie vor sich hin und verlor dabei jegliches Zeitgefühl. Sie wußte nicht mehr, wie lange es dauerte, bis man sie wieder herausholte.

  »So, Frau Heger, das war’s schon«, erklärte Dr. Kreis, während er der Patientin beim Aufstehen half und sie dann in den Nebenraum brachte.

  »Legen Sie sich bitte auf diese Liege, die Beine in die Stützen«, bat Dr. Kreis. »Wir machen jetzt eine Kolposkopie, und dann wird der Herr Professor Sie untersuchen.«

  Dr. Kreis schob ein Gerät zu der Liege, bereitete Konstanze geübt, aber dennoch sehr vorsichtig für die Untersuchung vor und warf dann einen ersten Blick durch das Kolposkop. Mit der montierten Kamera machte er einige Aufnahmen, bevor er das Gerät wieder zur Seite schob.

  In der Zwischenzeit hatte sich Professor Thiersch bereits dünne Plastikhandschuhe übergestreift und trat jetzt zu der Patientin.

  »Sie werden die Untersuchung als unangenehm, vielleicht sogar als schmerzhaft empfinden«, erklärte er. »Aber seien Sie versichert, daß ich nur das mache, was unbedingt sein muß.«

  Professor Thiersch bemühte sich, vorsichtig zu sein, trotzdem stöhnte Konstanze leise vor sich hin.

  »Schon vorbei«, meinte Professor Thiersch, dann trat er zurück und wandte sich an den Stationsarzt. »Bringen Sie die Patientin nach oben, Kreis, und dann kommen Sie in mein Büro.«

  Dorthin ging er jetzt mit Dr. Heller und Dr. Daniel.

  »Ihre Diagnose war richtig, Daniel, aber daran habe ich sowieso nicht gezweifelt«, erklärte er, nachdem sie alle in seinem Zimmer Platz genommen hatten, dann legte er die Aufnahmen, die Dr. Kreis gemacht hatte, auf den Tisch. »Eindeutig Gebärmutterhalskrebs, meines Erachtens fünftes, vielleicht sogar schon sechstes Stadium, aber das wird erst das CT zeigen. Kreis wird die Aufnahmen bringen, sobald sie fertig sind.«

  In diesem Moment betrat Dr. Kreis auch schon nach kurzem Anklopfen das Büro und hatte die Röntgenbilder dabei. Professor Thiersch heftete sie an den beleuchteten Schirm an der hinteren Wandseite. Die Bilder waren deutlich – so deutlich, daß minutenlang betroffenes Schweigen herrschte.

  »Aussichtslos«, urteilte Professor Thiersch, und seinem Tonfall hätte niemand entnehmen können, wie schwer ihm diese Diagnose fiel.

  »Herr Professor, Sie müssen operieren«, drängte Dr. Daniel, der nicht einsehen wollte, daß für Konstanze Hegen bereits jede Hilfe zu spät kam. »Gleich morgen früh!«

  Professor Thiersch warf Dr. Heller und Dr. Kreis einen kurzen Blick zu. »Lassen Sie uns allein.«

  Die beiden Ärzte gehorchten.

  »Daniel, schauen Sie sich diese Bilder an!« verlangte Professor Thiersch streng. »Der Krebs sitzt überall – in der Blase, im Rektum, im Becken und teilweise sogar schon außerhalb des Beckens. Was soll ich da noch operieren? Nicht einmal eine Radikaloperation könnte diese Frau noch retten – abgesehen davon, daß ich das keiner Patientin antun möchte… oder wie stellen Sie sich ein Leben ohne Blase, ohne Rektum und ohne Scheide vor, wenn Sie sich in die Lage einer Frau versetzen – von den anderen Dingen, die ich herausschneiden müßte, ganz zu schweigen?«

  Dr. Daniel fühlte bei diesen Worten Übelkeit aufsteigen.

  »Herr Professor, Sie können Frau Heger doch nicht einfach sterben lassen«, brachte er mühsam hervor.

  »Daniel, glauben Sie ja nicht, daß mir das leichtfällt!« entgegnete Professor Thiersch. »Aber wir sind nun mal Ärzte, und das bedeutet, daß wir auch den Tod akzeptieren müssen.«

  Dr. Daniel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Das kann ich nicht! Herr Professor, die Frau ist noch nicht mal vierzig!«

  »Hören Sie zu, Daniel, ich weiß genau, daß Frau Heger in einem Alter ist, in dem man ans Sterben gewöhnlich noch nicht einmal denkt, aber ich hatte hier in meiner Klinik schon ganz andere Fälle – zwanzig-, fünfundzwanzigjährige Menschen, denen ich nicht mehr helfen konnte… sogar Kinder.«

  Mit forderndem Blick sah Dr. Daniel den Professor an. »Ich habe einen Eid geleistet, Menschenleben zu retten.«

  »Ich auch«, entgegnete Professor Thiersch ernst. »Aber das können wir nicht immer, Daniel. Frau Heger hat meines Erachtens keine vier Wochen mehr, und daran würde auch eine Operation nichts ändern.«

  »Das nehme ich nicht so einfach hin!« widersprach Dr. Daniel hartnäckig. »Ich verlange, daß Sie Frau Heger operieren und anschließend einer Strahlentherapie unterziehen.«

  »Normalerweise würde ich einen solchen Ton mir gegenüber nicht dulden«, erklärte Professor Thiersch. »Doch ich weiß, daß Sie im Moment unter einer extremen psychischen Spannung stehen. Aber gleichgültig, wie Sie Ihr Anliegen vorgebracht haben – mein Entschluß steht fest: Ich werde nicht operieren, und zwar aus einem einfachen Grund: Meiner Meinung nach könnte sich Frau Hegers momentaner Zustand durch eine Operation nur noch verschlechtern – vorausgesetzt, sie würde sie überhaupt überstehen. Ihr Allgemeinzustand ist nicht besonders gut… vermutlich durch die Schmerzen und die vielen Medikamente, die sie deswegen eingenommen hat.«

  Dr. Daniel hatte das Gefühl, einen schrecklichen Alptraum zu erleben, und irgendwie rechnete er damit, daß er gleich aufwachen würde. Sein Blick glitt unkontrolliert durch das Zimmer und blieb an dem Wandkalender hängen. Die große schwarze Dreizehn sprang ihn förmlich an.

  Freitag, der Dreizehnte! Wie hatte seine Sprechstundenhilfe gesagt? An diesem Tag muß einfach alles schiefgehen. Sollte ihr Aberglaube doch eine Berechtigung haben?

  »Was ist jetzt, Daniel?« fragte Professor Thiersch und riß ihn damit aus seinen Gedanken. »Akzeptieren Sie meine Entscheidung?«

  Dr. Daniel antwortete mit einer Gegenfrage. »Bleibt mir denn etwas anderes übrig?«

  »Nein«, entgegnete Professor Thiersch knapp, dann stand er auf. »Ich will nicht, daß Sie in diesem Zustand nach Hause fahren, Daniel. Sie bleiben heute in meiner Klinik.«

  »Nein, danke«, lehnte Dr. Daniel ein wenig barsch ab. »In einer Klinik, in der Menschenleben einfach abgeschrieben werden, bleibe ich nicht!«

  Damit wollte er das Büro des Chefarztes verlassen, doch Professor Thiersch hielt ihn fest. In seinen Augen lag ein eigenartiges Funkeln.

  »Also schön«, meinte er. »Sie sollen Ihren Willen haben, Daniel. Ich operiere morgen, und Sie übernehmen die Erste Assistenz, damit Sie mit eigenen Augen sehen, wie sinnlos diese Operation ist.« Bei diesen Worten ahnte Dr. Daniel nicht, daß Professor Thiersch seinem Wunsch nur entsprochen hatte, um ihn davon abzuhalten, sich in seinem Zustand hinter das Steuer zu setzen.

*

  Dr. Daniel verbrachte eine unruhige Nacht, trotzdem fühlte er sich am nächsten Morgen frisch und ausgeruht, und er brannte förmlich darauf, in den Operationssaal zu gehen.

  Professor Thiersch erkannte auf den ersten Blick, in welcher Verfassung Dr. Daniel war, und im Normalfall hätte er ihn nicht einmal in die Nähe des Operationssaales gelassen.

  Jetzt wurde die Patientin durch die großen Doppeltüren hereingefahren, und Dr. Daniel eilte sofort zu ihr. Mit großen, ängstlichen Augen sah Konstanze Heger zu ihm auf.

  »Herr Doktor, diese Operation… ich… ich habe Angst«, stammelte sie.

  »Keine Sorge, Frau Heger«, erklärte Dr. Daniel in seiner ruhigen Art. »Es wird alles gutgehen, und wenn Sie aufwachen, sind Sie Ihre Bauchschmerzen bestimmt los.«

  »Herr… Doktor…«, begann Konstanze, doch dann wirkte die Spritze, die sie vor einer knappen halben Stunde bekommen hatte. Die Augen fielen ihr zu, und fast im selben Moment war auch schon der Anästhesist zur Stelle.

  Professor Thiersch und Dr. Daniel wuschen sich gründlich die Hände und ließen sich von den OP-Schwestern schließlich die keimfreien Handschuhe überstreifen, dann traten sie an den Tisch. Konstanzes Körper war vollständig mit sterilen grünen Tüchern abgedeckt, nur das Operationsfeld war frei.

  Professor Thiersch streckte die rechte Hand aus. »Skalpell.«

  Er wechselte einen Blick mit Dr. Daniel, dann machte er den Bauchschnitt.

  »Wo sollen wir anfangen?« fragte er, als das kranke Gewebe freilag.

  Dr. Daniel schluckte. »O mein Gott.«

  Professor Thiersch atmete tief durch. »Also, entfernen wir erstmal Gebärmutter und Eierstöcke, aber ich sag’s Ihnen gleich, Daniel, das sind nur Schönheitsoperationen. Es wird am Schicksal dieser Frau nichts ändern.«

  Unwillkürlich begann Dr. Daniel zu schwanken.

  »Reißen Sie sich zusammen!« herrschte der Professor ihn an. »Sie wollten diese Operation, also stehen Sie sie jetzt auch durch!«

  Nur mit Mühe konnte Dr. Daniel der Aufforderung des Professors folgen. Er war schon bei vielen Operationen dabeigewesen, aber vor einem so aussichtslosen Fall hatte er noch nie gestanden. Wenn er allerdings ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß er das gestern schon gewußt hatte. Die Aufnahmen des Computertomogramms waren schließlich eindeutig genug gewesen, doch Dr. Daniel hatte es einfach nicht wahrhaben wollen. Irgendwie hatte er gedacht, es müsse eine Möglichkeit geben, um Konstanze Heger zu retten.

  »Blutdruck fällt«, erklärte der Anästhesist und riß Dr. Daniel aus seinen Gedanken.

  Ohne seine Arbeit zu unterbrechen, gab Professor Thiersch Anweisung für ein anderes Medikament, doch es schlug nicht an.

  »Herzstillstand.«

  »Verdammt«, knurrte Professor Thiersch.

  Dr. Daniel reagierte sofort. Er trat neben die Patientin und begann mit Herzmassage, die schließlich Erfolg hatte. Doch schon Minuten später blieb das Herz erneut stehen, und diesmal scheiterten die Maßnahmen der Ärzte. Der schrille Piepton des Monitors, der anzeigte, daß die wichtigste Körperfunktion ausgefallen war, drang nahezu schmerzhaft an Dr. Daniels Ohr. Exitus! Das Schlimmste, was einem Chirurgen passieren konnte. Und Dr. Daniel war es heute zum ersten Mal passiert, obgleich er mit seinen fünfzig Jahren schon eine lange Laufbahn hinter sich hatte und unzählige Male am Operationstisch gestanden hatte.

  »Kommen Sie, Daniel«, bat Professor Thiersch mit ungewöhnlich leiser Stimme. »Hier können wir nichts mehr tun.«

  Doch Dr. Daniel konnte sich nicht vom OP-Tisch lösen. Wie gebannt starrte er den Monitor an, den der Anästhesist jetzt ausschaltete, doch die plötzliche Stille legte sich noch drückender auf Dr. Daniels Gemüt. Sein Blick umfaßte die Frau, die soeben gestorben war – unter seinen und Professor Thierschs Händen. Er fühlte sich schuldig.

*

  Wohl zum ersten Mal in seinem Leben war Professor Thiersch ratlos. Unmittelbar nach der Operation, die so tragisch geendet hatte, hatte er Dr. Daniel in ein freies Einzelzimmer gebracht und ihm ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt. Jetzt schlief er, doch diesen Zustand konnte der Professor nicht ewig aufrechterhalten. Irgendwann würde Dr. Daniel wieder erwachen und sich weiter in seine Schuldgefühle verstricken.

  Professor Thiersch wußte, daß Dr Daniel sich schuldig fühlte, obwohl er es mit keinem Wort erwähnt hatte. Die ausgesprochen gute Menschenkenntnis, über die der Professor verfügte, und die Tatsache, daß er Dr. Daniel seit fünfundzwanzig Jahren kannte, hatten ihm deutlich gezeigt, was mit dem Arzt los war.

  Bei jedem anderen hätte Professor Thiersch in einem solchen Fall die Ehefrau verständig und sie gebeten, sich eine Weile ganz besonders intensiv um ihren Mann zu kümmern, doch das war bei Dr. Daniel nicht möglich. Er war schon vor etlichen Jahren zum Witwer geworden.

  Professor Thiersch wußte zwar, daß Dr. Daniel einen Sohn und eine Tochter hatte, doch das war nicht dasselbe wie eine Frau. Nachdenklich saß der Professor an seinem Schreibtisch und starrte das Telefon an, dann griff er nach dem Hörer und wählte die Nummer der Waldsee-Klinik. Der dortige Chefarzt hatte früher bei ihm als Assistenzarzt gearbeitet, und Professor

Thiersch hoffte, daß er an diesem Samstagnachmittag in der Klinik sein würde.

  »Verbinden Sie mich mit Dr. Metzler«, verlangte er, nachdem sich die Sekretärin der Waldsee-Klinik, Martha Bergmeier, gemeldet hatte.

  Martha, die den Professor bereits an der Stimme erkannt hatte, legte das Gespräch ins Chefarztzimmer.

  »Metzler!« erklang gleich darauf eine tiefe Stimme.

  »Thiersch«, entgegnete der Professor knapp. »Ich brauche Ihre Hilfe, Metzler.«

  Dr. Wolfgang Metzler war erstaunt. Es war wohl das erste Mal, daß sich der Professor mit einem solchen Anliegen an ihn wandte.

  »Es geht um Daniel«, fuhr Professor Thiersch auch schon fort, und dann schilderte er in groben Zügen den Fall. »Daniel hat mich mehr oder weniger zur Operation gezwungen. Unglücklicherweise ist uns die Patientin noch auf dem Tisch gestorben. Jetzt fühlt er sich schuldig.«

  »Das ist doch Unsinn«, entgegnete Dr. Metzler energisch. »So, wie ich die Sache bis jetzt sehe, hätte es für die Frau ohnehin keine Rettung gegeben.«

  »Sie kennen doch Daniel!« erklärte Professor Thiersch, dann schwieg er kurz. »Aber darum geht es eigentlich nicht. Ich brauche jemanden, der sich jetzt um ihn kümmert. Seine Frau ist tot, und seine Kinder… ich weiß nicht, ob sie allein ihn jetzt aufrichten können.«

  »Dr. Sommer«, erwiderte Dr. Metzler. »Der Chefarzt der Sommer-Klinik in München. Er ist Roberts bester Freund. Wenn ihm in dieser Situation jemand helfen kann, dann er.«

  Professor Thiersch nickte, obwohl sein Gesprächspartner das ja nicht sehen konnte. »Ich rufe ihn sofort an. Danke, Metzler.«

  Professor Thiersch erreichte den Chefarzt der Sommer-Klinik zu Hause. Auch ihm schilderte er in groben Zügen, was vorgefallen war, und für Dr. Sommer gab es nun natürlich kein Halten mehr. Für ihn war es eine Selbstverständlichkeit, dem Freund in dieser schwierigen Situation beizustehen.

*

  Als Dr. Daniel erwachte, saß Dr. Georg Sommer an seinem Bett. Noch ein wenig benommen von dem Beruhigungsmittel, das der Professor ihm gespritzt hatte, richtete sich Dr. Daniel auf.

  »Schorsch, was tust du denn hier?« fragte er, und seine Stimme klang dabei noch rauh und leise.

  Dr. Sommer zögerte, entschloß sich dann jedoch zur Wahrheit. Es hatte ja keinen Sinn, seinem Freund etwas vorzumachen.

  »Professor Thiersch hat mich alarmiert«, erklärte er. »Er meinte, du könntest jetzt einen guten Freund gebrauchen.«

  Im selben Moment war alles wieder gegenwärtig. Mit einem trockenen Aufschluchzen vergrub Dr. Daniel das Gesicht in den Händen.

  »Ich habe sie getötet«, brachte er mühsam hervor.

  »Das ist doch Unsinn, Robert!« widersprach Dr. Sommer entschieden. »Die Frau hatte Krebs, und zwar im Endstadium. Sie wäre so oder so gestorben, und jeder Tag, den sie noch gelebt hätte, wäre mit schrecklichen Schmerzen verbunden gewesen.«

  »Ich hatte ihr versprochen, daß ihre Bauchschmerzen nach der Operation weg wären.«

  »Das sind sie jetzt«, meinte Dr. Sommer leise, dann legte er einen Arm freundschaftlich um Dr. Daniels Schultern. »Weißt du was, Robert, du kommst jetzt mit zu mir, und dann redest du dir alles von der Seele, einverstanden?«

  Doch Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Ich muß nach Steinhausen zurück.«

  »Das mußt du nicht«, entgegnete Dr. Sommer mit Bestimmtheit. »Ich habe deine Schwester bereits angerufen und ihr gesagt, daß du bis auf weiteres bei mir bleiben wirst.«

  »Was heißt ›bis auf weiteres‹? Morgen ist Sonntag, und übermorgen muß ich wieder in der Praxis sein.«

  »Fehlanzeige«, meinte Dr. Sommer. »Deine Praxis wird vorerst geschlossen. Mein lieber Freund, du bist urlaubsreif, und das schon ziemlich lange. Was du in letzter Zeit alles auf dich genommen hast, hält niemand unbeschadet durch, und ich will nicht, daß du irgendwann mit einem Nervenzusammenbruch in deiner eigenen Klinik landest.«

  »Du bist doch verrückt, Schorsch!« hielt Dr. Daniel seinem Freund entgegen. »Ich kann nicht von heute auf morgen meine Praxis schließen und Urlaub machen!«

  »Ist bereits geschehen«, entgegnete Dr. Sommer gelassen. »Deine beiden Damen wissen bescheid, und Notfälle übernimmt die Waldsee-Klinik. Dort arbeitet ja eine erstklassige Gynäkologin – Frau Dr. Alena Kern, erinnerst du dich?«

  »Sprich nicht mit mir wie mit einem Idioten«, erklärte Dr. Daniel ärgerlich. »Ich war bei Alenas Einstellung selbst dabei.«

  »Na also, dann weißt du ja, daß deine Patientinnen bei ihr in den besten Händen sind.« Dr. Sommer stand auf und reichte seinem Freund Hemd und Hose. »Komm, Robert, zieh dich an, und dann fahren wir. Duschen kannst du bei mir, das ist dir sicher lieber als hier in der Klinik.«

  »Schorsch…«, versuchte Dr. Daniel sein Glück noch einmal.

  »Widerrede zwecklos, mein Freund«, fiel Dr. Sommer ihm ins Wort. »Ich habe bereits alles arrangiert. Du wirst um einen Urlaub also nicht herumkommen. Und jetzt zieh dich an. Ich will hier in der Klinik keine Wurzeln schlagen.«

  Dr. Daniel gehorchte mit einem tiefen Seufzer, aber dabei gestand er sich nicht ein, daß ihm Dr. Sommers Bestimmtheit im Augenblick sehr gut tat. In seiner jetzigen Verfassung hätte er es nicht geschafft, irgendwelche Entscheidungen zu treffen.

  Eine knappe halbe Stunde später erreichten sie Dr. Sommers Villa in Grünwald. Im selben Moment wurde die Haustür aufgerissen, und Margit Sommer trat heraus. Ohne zu zögern ging sie auf Dr. Daniel zu und umarmte ihn.

  »Robert«, sagte sie nur, doch in ihrer Stimme lag so viel Mitgefühl, daß Dr. Daniel unwillkürlich Tränen in die Augen stiegen.

  »Sie war noch nicht mal vierzig«, brachte er mühsam hervor. »Es war… wie bei Christine.«

  Dr. Sommer und seine Frau wechselten einen raschen Blick. Genauso hatten sie es sich vorgestellt.

  »Mit deiner Frau darfst du das nicht vergleichen, Robert«, meinte Dr. Sommer ernst, dann schob er ihn sanft vor sich her ins Innere des Hauses. »Christine hatte eine akute Leukämie, die sich in rasender Schnelligkeit entwickelte. Deine Patientin dagegen hätte gerettet werden können, wenn sie früher zu dir gekommen wäre.«

  »Du bist erstaunlich gut informiert«, stellte Dr. Daniel fest.

  »Professor Thiersch hat mir den Fall geschildert«, erklärte Dr. Sommer.

  »Verbotenerweise«, ergänzte Dr. Daniel. »Auch ein Professor unterliegt der Schweigepflicht.«

  Dr. Sommer nickte. »Das ist richtig. Aber die Patientin ist tot und hinterläßt keine Verwandtschaft. Und ich hatte den Eindruck, daß sich der Professor um dich weit mehr Sorgen machte als um die Verletzung seiner Schweigepflicht.«

  Dr. Daniel senkte den Kopf. »Das ist unnötig. Ich werde mit meinen Problemen ganz gut allein fertig.«

  »Das bezweifle ich«, entgegnete Dr. Sommer entschieden. »Robert, du nimmst den Tod dieser Patientin zu persönlich. Und weißt du, warum? Du wirst in deiner Praxis nur selten mit dem Tod konfrontiert, sonst wüßtest du, daß er zum Arztberuf dazugehört.«

  »Du verdrehst die Tatsachen, Schorsch«, hielt Dr. Daniel ihm vor. »Es ist nicht so, daß die Patientin einfach gestorben ist. Sie ist während der Operation gestorben, die ich unbedingt erzwingen wollte. Hätte ich Professor Thiersch gegenüber meinen Willen nicht durchsetzen können, dann wäre die Frau noch am Leben.«

  »Ja, heute und morgen, vielleicht noch eine Woche oder einen Monat, aber im Endeffekt hätte es nichts daran geändert, daß die Frau totkrank war und diese Krankheit sie sehr bald besiegt hätte.«

  »Mit Strahlentherapie hätte man vielleicht…«, begann Dr. Daniel, doch sein Freund schnitt ihm mit einer heftigen Handbewegung das Wort ab.

  »Robert! Das sind Hirngespinste!« erklärte er mit Nachdruck. »Bei einem Zervixkarzinom im Endstadium gibt es keine Rettung mehr! Begreif das doch endlich!«

  »Schorsch, das reicht jetzt«, meinte Margit Sommer, dann streichelte sie flüchtig durch Dr. Daniels dichtes, blondes Haar. »Komm, Robert, ich bringe dich nach oben. Dort kannst du ein schönes Bad nehmen, das wird dich entspannen und beruhigen. Anschließend legst du dich ins Bett, und wenn du nicht einschlafen kannst, wird Schorsch dir ein leichtes Schlafmittel geben.«

  »Danke, Margit«, murmelte Dr. Daniel. »Aber ihr solltet euch meinetwegen nicht so…«

  »Das ist doch Unsinn«, unterbrach sie ihn. »Du würdest im umgekehrten Fall für Schorsch genau dasselbe tun. Und jetzt komm. Du mußt ein bißchen zur Ruhe kommen.«

  Dr. Daniel stand auf.

  »Ich habe bis vor einer Stunde geschlafen«, wandte er ohne rechte Überzeugung ein.

  »Das macht nichts«, meinte Margit. »Ich bin sicher, daß dir ein paar weitere Stunden Schlaf auch noch ganz gut tun werden. Und morgen sieht vielleicht alles schon etwas anders aus.«

  Dr. Daniel nickte zwar, doch im Grunde glaubte er nicht daran. Er war sogar überzeugt davon, daß ihn der Tod von Konstanze Heger noch lange verfolgen würde.

*

  »Robert ist fix und fertig«, stellte Dr. Sommer fest, als er wieder zu seiner Frau ins Wohnzimmer herunterkam. Er hatte seinem Freund noch ein leichtes Schlafmittel gespritzt und war bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen war.

  Margit nickte. »Das habe ich auch gemerkt.« Sie strich mit einer Hand eine blonde Strähne zurück, die ihr in die Stirn gefallen war. »Er ist eigentlich viel zu sensibel für diesen harten Beruf.«

  »Das ist es nicht«, wehrte Dr. Sommer ab. »Ein Exitus nimmt jeden Arzt mit. Und bei Robert war es der erste. Ich habe nach meinem ersten Exitus eine Woche lang geheult und mir geschworen, nie wieder einen Operationssaal zu betreten.«

  Zärtlich streichelte Margit sein Gesicht. »Aber du hast deinen Schwur gebrochen und stehst fast jeden Tag am Tisch – oft mehrere Stunden lang.«

  Dr. Sommer nickte. »Man muß als Arzt lernen, mit dem Tod zu leben – als Chirurg noch mehr als jeder andere, sonst kann man seinen Beruf gleich an den Nagel hängen. Aber obwohl man das weiß, ist ein Exitus immer wieder eine Sache, die einem das Blut in den Adern gefrieren läßt. Man gewöhnt sich niemals daran, aber das ist vielleicht auch ganz gut so, sonst wäre man sicher irgendwie ein schlechter Arzt.«

  Margit sah ihn bei diesen Worten an und fragte sich wieder einmal, warum sie sich damals, als sie den jungen Georg Sommer kennengelernt hatte, nicht auf den ersten Blick in ihn verliebt hatte. Vielleicht, weil er so groß und breitschultrig war. Irgendwie hatte sie ein bißchen Angst vor ihm gehabt. Doch als ihre Liebe zu Schorsch erst einmal Wurzeln geschlagen hatte, war sie stetig gewachsen, und jeden Tag hatte Margit den Eindruck, als wäre jetzt der Höhepunkt erreicht. Doch sogar nach den vielen Jahren ihrer Ehe bemerkte sie immer wieder, daß ihre Liebe zu Schorsch durchaus noch steigerungsfähig war.

  Als hätte Dr. Sommer ihre Gedanken erraten, nahm er seine noch immer sehr zierliche Frau in die Arme und drückte sie liebevoll an sich. Margit genoß seine Zärtlichkeit, trotzdem wanderten ihre besorgten Gedanken zu Dr. Daniel.

  »Wie soll es denn jetzt mit Robert weitergehen?« fragte sie. »Du kannst ihn nicht ewig von der Praxis fernhalten.«

  »Das will ich ja auch gar nicht«, meinte Dr. Sommer. »Natürlich soll er wieder arbeiten, aber erst mal braucht er Urlaub – mindestens drei Wochen. Er stand in letzter Zeit doch ständig im Streß – körperlich und psychisch. Angefangen hat es mit Karinas Autounfall und ihrer ziemlich überstürzten Übersiedlung nach Freiburg. Robert sagt nichts, aber ich weiß, wie sehr er seine Tochter vermißt. Dann kam die Zeit, wo er sowohl in der Praxis als auch in der Waldsee-Klinik gearbeitet hat. Er hätte sich beinahe zerrissen, um der vielen Arbeit gerecht zu werden, und ich war richtig froh, als er mir sagte, daß eine junge Gynäkologin für die Klinik eingestellt worden ist. Und keine zwei Monate später lag Stefan dann mit einer schweren Diphtherie im Krankenhaus. Die Sorge um seinen Jungen hat Robert wieder eine Menge abverlangt.«

  »Und jetzt die Geschichte mit dieser Frau«, murmelte Margit, dann nickte sie. »Du hast recht, Schorsch, Robert braucht dringend Urlaub. Allerdings bin ich der Meinung, daß er von hier weg müßte. Die Herbstnebel, Wind und Regen können so bedrückend sein – gerade in der Verfassung, in der Robert momentan ist. Vielleicht sollte man ihn in den Süden schicken… irgendwohin, wo’s wärmer ist.«

  Dr. Sommer überlegte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Margit, ich schicke ihn nicht in den Sommer, sondern in den Winter.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Kann man um diese Zeit noch jemanden anrufen?«

  »Kurz vor zehn«, murmelte Margit, dann schüttelte sie den Kopf. »Eigentlich nicht.«

  Dr. Sommer zögerte, bevor er aufstand und zum Telefon trat. »Karina wird mir den Kopf sicher nicht abreißen. und sie ist ja kein kleines Kind mehr, das um acht schlafen geht.« Er blätterte in seinem Notizbuch, dann wählte er eine Freiburger Nummer und wartete.

  »Daniel!« meldete sich Karina forsch und fröhlich wie immer.

  »Hallo, Karinchen, ich bin’s, Onkel Schorsch«, gab sich Dr. Sommer zu erkennen.

  »Onkel Schorsch!« rief sie erfreut aus. »Na, das ist aber eine nette Überraschung!«

  »Ganz so nett leider auch nicht«, wandte Dr. Sommer ein. »Es geht um deinen Vater…«

  Karina erschrak. »Ist Papa etwas passiert?«

  »Nein, nein, keine Sorge. Er hatte keinen Unfall oder etwas ähnliches. Es ist nur… er hatte heute ein sehr schlimmes Erlebnis. Eine Patientin ist ihm praktisch unter den Händen weggestorben.«

  »O mein Gott«, entfuhr es Karina. Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, was das für ihn bedeuten mußte. »Ich komme sofort nach München.«

  »Nein, Karina, das ist nicht nötig«, wehrte Dr. Sommer ab. »Ich habe vielmehr daran gedacht, deinen Vater zu dir… oder besser gesagt zu deinem Freund zu schicken. Seine Eltern haben doch dieses Erholungsheim in der Schweiz, in dem du nach deinem Unfall auch gewesen bist.«

  »Richtig. Im Wallis liegt übrigens schon Schnee. Papa ist doch so ein begeisterter Skifahrer. Er hat nur viel zu selten Zeit dazu.«

  »Genau das habe ich mir auch gedacht«, meinte Dr. Sommer. »Glaubst du, dein Jean kann etwas arrangieren?«

  »Mit Sicherheit!« bekräftigte Karina. »Er ist sowieso gerade hier bei mir in Freiburg. Gleich morgen früh soll er mit seinen Eltern telefonieren. Heute erreicht er dort niemanden mehr. Die Veltlis gehen nämlich immer mit den Hühnern schlafen. Und sobald ich Bescheid weiß, rufe ich dich dann an, Onkel Schorsch.«