Meine zwei Leben
Aufgezeichnet
von Claudio Honsal
Mit 46 Abbildungen
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© 2018 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT
Umschlagfotos: © Andreas Hochgerner (Cover), © Votava/Imagno/picturedesk.com (Rückseite)
Lektorat: Maria-Christine Leitgeb
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten
Gesetzt aus der 11,5/14,87 pt Chaparral Pro
Designed in Austria, printed in the EU
ISBN 978-3-99050-114-6
eBook 978-3-903217-12-6
Viel Glück, Erik! · Vorwort von Karl Schranz
Krampustag – ein schicksalhaftes Datum in meinem Leben
Portillo
Erik(a)
Mein Weg zu Gott
Ein ganzer Mann
Eine Freundschaft für zwei Leben
Ein Tabu ist ein Tabu und bleibt ein Tabu
Meine Kindheit auf dem Bauernhof
Als Radrennfahrer an die Öffentlichkeit
Vom Rennsportler zum Sportlehrer – eine zweite Karriere
Renate – eine Lebensliebe mit Hindernissen
Liebe auf den zweiten Blick
Wir schaffen das – ein Flüchtlingsheim in der Pension Erika
Erinnerungen an meine einstigen Weggefährten
Erik & Erika im Zeitraffer: Buch – TV-Doku – Kinofilm
Dancing Stars
Meine Reise in die Vergangenheit
Ein Resümee über zwei Leben
Bild- und Textnachweis
Personenregister
Wie die Zeit verfliegt! Über ein halbes Jahrhundert ist es nun schon her, dass ich dich als Erika kennengelernt habe. Schüchtern warst du und nicht die Schönste, aber Rennen fahren, das hast du beherrscht – runter die Abfahrtspisten ohne Rücksicht auf Verluste.
Es war nicht der Weg, sondern einzig und allein der Sieg, der dich angespornt hat, ob in Bad Kleinkirchheim oder später im fernen Chile. Es war der Skirennsport, der dich beflügelt hat, den du gebraucht hast wie die Luft zum Atmen. Das hat uns damals verbunden, ebenso wie unser Arbeitgeber Franz Kneissl, mit dessen »White Star« wir beide Goldmedaillen für ihn und für uns nach Kufstein geholt haben.
Gut kann ich mich noch an die rauschende Party in Portillo erinnern. Alle haben wir dich als Weltmeisterin gefeiert. Du hast gestrahlt und bist förmlich in den Anden-Himmel gewachsen.
Gut kann ich mich aber auch an das Jahr danach erinnern, an die Gerüchte, die wir anfangs nicht glauben wollten. Egon Zimmermann und ich haben zwar schon lange zuvor scherzhalber immer vom »Erich« gesprochen, aber angezweifelt hat wohl keiner aus dem Team, dass du ein Mädchen bist. Du warst etwas grob, du warst etwas burschikos, du warst eben ein Bauernmädel und ein Skitalent. Du hast den Frauen viele Rennen weggenommen.
Groß waren Verwirrung und Aufregung, als dein Schicksal öffentlich gemacht wurde. Noch größer war für mich allerdings das Entsetzen, als ich abseits der Öffentlichkeit erfuhr, was der ÖSV mit dir geplant hatte. Man hat damals schon nach typisch österreichischem Motto »Es muss etwas geschehen, aber es darf ja nichts passieren!« gehandelt. Stück für Stück hat man versucht, dich behutsam aus dem Rampenlicht zu drängen, dich als Erik gänzlich verschwinden zu lassen. Du hast weitergekämpft. Du hast das gebraucht, um ein richtiger Kerl zu werden. Ich habe dich nicht beneidet und beneide dich heute noch nicht um deinen Lebensweg, der dich zur Weltmeisterin werden ließ, dann zum Mann, später zum Menschen, der sich permanent beweisen musste und muss. Nicht für die anderen, sondern für dich selbst hast du diesen steinigen Weg beschritten.
Ich wurde 1972 vom IOC von den Olympischen Spielen suspendiert und ungerechtfertigt ausgeschlossen, du 1968 durch das Leben selbst. Eine ungewisse Zukunft, eine Durststrecke zwischen den Geschlechtern, zwischen der Erziehung als Frau und dem, was du seit Langem in dir tief drin gespürt und wahrgenommen hast, folgte. Keiner kann sich diese emotionale Gratwanderung, diese Achterbahn der Gefühle, nur annähernd vorstellen – auch ich nicht.
Heute bist du Ehemann und Vater und deinem Lebensinhalt, unserem Sport, als erfolgreicher Skischulbesitzer treu geblieben. Gratulation!
Hut ab vor deinen Leistungen als Erika und tiefe Verneigung, wie du dein Leben seither als Erik gemeistert hast.
Alles Gute und viel Glück!
Karl Schranz
Am Abend des 5. Dezembers des Vorjahrs hatte ich Tränen in den Augen. Nicht gewollt, nicht beherrschbar – ein inneres Gefühl, eine tief in mir verankerte Sentimentalität hatte Besitz von mir ergriffen. Auch mit beinahe siebzig Jahren gibt es immer wieder solche Momente, in denen sich meine Vergangenheit in mein Jetzt drängt.
Es war dieser verschneite Krampustag, an dem – wie jedes Jahr – eine schöne volkstümliche Tradition im gesamten Alpenraum und ganz besonders in meiner Kärntner Heimat für Spannung, Gaudium und Schrecken zugleich sorgt. Wilde Perchten streifen bei Einbruch der Dunkelheit mit ihren zotteligen Fellkostümen, grauenhaften Holzmasken, mit ihrem ohrenbetäubenden Kettenrasseln und den spitz zugeschnittenen Weidenruten durch unser Dorf. Ein Brauch, der seit ewigen Zeiten auch im kleinen St. Urban praktiziert wird. Wie ein Blitz sind mir an diesem Dezemberabend 2017 zwei für mein Leben prägende Ereignisse aus längst vergangenen Tagen durch den Kopf gegangen, zwei Begebenheiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zwei maßgebliche Weichenstellungen für mein Leben, die mich gehörig aus der Bahn geworfen und nachhaltig geprägt haben.
Vage, aber doch irgendwie klar kann ich mich an das Jahr 1954 erinnern. Sechs Jahre alt war ich, als am besagten Krampusabend die wilden Kerle – drei an der Zahl – die Stube unseres Bauernhofes stürmten. Mutter, Vater und die Geschwister versorgten noch das Vieh im Stall oder waren irgendwo draußen unterwegs. Ganz alleine saß ich am klobigen Holztisch in der riesigen, dämmrigen Stube, als völlig unerwartet die alte Holztür abrupt aufgerissen wurde. Von der Ankunft der wilden Gesellen hatte ich nichts geahnt, denn normalerweise kam Knecht Ruprecht nur als Begleitperson und erst am 6. Dezember gemeinsam mit dem Heiligen Nikolaus zu uns Kindern. Allein, weinend und völlig verstört ließ ich damals das nur wenige Minuten dauernde, schreckliche Prozedere über mich ergehen. Ich kauerte mich unter den Tisch, um mich dem Kettenrasseln und den ohrenbetäubenden Brülllauten der satanischen Horde zu entziehen. Endlich kam die Mutter, die durch mein wimmerndes Schluchzen alarmiert worden war, in die Stube gestürmt. Sie beendete den Spuk und warf die ungebetenen Gäste raus. »Erika, musst keine Angst haben, die wollten dich nur erschrecken!« Tröstend drückte sie mich an ihren Körper.
Auch der Vater und die Geschwister eilten nun herbei und versuchten, dem weinenden Mädchen Trost zu spenden. Selbst der strenge Bauer war etwas überrascht, dass die wilden Krampusse bereits einen Tag früher ihr Unwesen auf seinem Hof trieben. Wie sich später herausstellen sollte und mir noch viel später berichtet wurde, handelte es sich bei den verkleideten Gesellen um keine mir Unbekannten. Ausgerechnet jene Mieter, denen meine Eltern die Wohnungen in unserem Gasthaus nebenan vermietet hatten, weil sie nicht gewusst hatten, wohin, hatten mir diesen schlimmen Streich gespielt. Noch heute bin ich mir nicht ganz sicher, ob sie die Lage bewusst ausgekundschaftet und nur auf den Moment gewartet haben, in dem ich mich ganz alleine in der Stube aufhielt. Oft zuvor und auch später noch versuchten mir genau diese Leute Angst einzujagen und bezichtigten mich, ein »eigenartiges Kind« zu sein. Warum, ist mir bis heute unklar. War es, weil ich immer alles besser machen wollte? War es, weil ich die aufgeweckte Tochter ihres Unterkunft- und Arbeitgebers war? Egal, die Folgen des dramatischen Auftritts jener Krampusse für das kleine Mädchen – also mich – waren jedenfalls fatal. Sie konnten auch durch die wohlwollenden Worte und kleinen Geschenke des Nikolaus am nächsten Tag nicht mehr wettgemacht werden. Gleichsam über Nacht begann ich zu stottern.
Diese abrupt aufgetretene psychosomatische Reaktion auf den Vorfall sollte über ein Jahr anhalten. Ich besuchte also die Volksschule in St. Urban für eine Zeit lang als unsicheres, stotterndes Mädchen. In dieser Zeit begann wohl auch eine gewisse Abgrenzung der anderen Kinder mir gegenüber. Warum sich dieser Krankheitszustand ebenso schnell verflüchtigte, wie er gekommen war, darauf konnte mir selbst meine Mutter nie eine Antwort geben. Wesentlich länger habe ich mit der ebenfalls durch die Krampusse ausgelösten Angst vor Dunkelheit gekämpft. Die Toilette befand sich in unserem Bauernhaus am anderen Ende des Ganges. Allein konnte und wollte ich diese in der Nacht nicht mehr aufsuchen. Wir waren vier Kinder in einem Zimmer, und so musste meistens meine ältere Schwester Anneliese herhalten. Ich zerrte sie regelmäßig aus dem Bett und bat sie, mich sicher zum WC zu begleiten. Bis ins fortgeschrittene Teenageralter habe ich es tunlichst vermieden, in der Dunkelheit alleine unterwegs zu sein. Erst in den Tagen meiner ersten Erfolge als Skiläuferin löste sich auch dieser traumatische Angstzustand in Luft auf.
So ein lächerlich erscheinendes Krampustrauma haben wohl abertausende Kinder. »Also, was soll’s?«, könnte man nun sagen. In meinem Fall hat es jedoch auch noch ein zweites entscheidendes Ereignis gegeben, das ausgerechnet wieder auf einen 5. Dezember fiel – nur eben dreizehn Jahre später.
Ihren Anfang nahm die besagte schicksalhafte Begebenheit zur Zeit um Allerheiligen des Jahres 1967. Erfolgreich hatte ich die Trainingseinheiten mit der Nationalmannschaft im italienischen Cervinia abgeschlossen. Alle Teilnehmerinnen waren schon in freudiger Erwartung und hochkonzentrierter sportlicher Vorbereitung auf die Olympischen Spiele in Grenoble im Februar 1968 – ich ganz besonders als frischgebackene Weltmeisterin von Portillo. Ich strotzte geradezu vor Energie und Zuversicht. Da würden für mich leicht zwei bis drei Medaillen zu erringen sein. Gegen Ende des Trainingslagers nahm man an allen Mitgliedern der Damenmannschaft diverse medizinische Untersuchungen vor. Reine Routine. Schließlich wollte man ja ein gesundes Team auf Medaillenjagd nach Frankreich schicken. Bestimmt würde es vor der Abreise zu den Olympischen Spielen noch weitere Untersuchungen geben.
Was wir damals nicht wussten: Erstmals in der Geschichte des Sports wurde vor Olympischen Spielen ein sogenannter Chromosomentest durchgeführt, ein schlichter Speicheltest, wie man ihn heute in jedem Tatort oder CSI-Krimi im Fernsehen mitverfolgen kann. Als Sextest sollte diese Untersuchung in die künftige Sportgeschichte eingehen. Als notwendig empfand man sie seit den olympischen Sommerspielen in Tokio im Jahr 1964. Ebendort hatte sich der Verdacht erhärtet, dass vor allem Russland und die Oststaaten absichtlich und vom Regime wohlgesteuert »Mannsweiber«, also aufgeputschte, hormonbehandelte und übertrainierte Zwitterwesen, ins Rennen geschickt hatten. Diese weiblichen Muskelprotze stellten selbst die männliche Konkurrenz in den Schatten. Auf das UdSSR-Leichtathletik-Geschwisterpaar Tamara und Irina Press prasselte so förmlich ein Goldmedaillenregen nieder.
Ein Routinetest also, der vor Olympischen Spielen von den Teamärzten nun immer durchgeführt werden musste. Nichts Besonderes, dachte ich. Selbst als ich am letzten Tag in Cervinia von Herrn Hoppichler, unserem Sportdirektor, in sein Hotelzimmer zitiert wurde. »Du, Erika, bei deinem Test hat es kleinere Probleme gegeben. Da ist noch irgendetwas unklar, aber es herrscht kein Grund zur Besorgnis«, meinte er mit unsicherer, ernster Miene. Ich wusste nicht, dass es sich um den Sextest handelte, von dem er sprach. »Du wirst im Dezember vor unserem nächsten Einsatz einen Tag früher in Innsbruck anreisen und wir werden den Test in der Klinik wiederholen. Das passt dann schon«, beruhigte mich mein Trainer Hermann Gamon und ergänzte: »… aber von diesem Gespräch muss niemand etwas erfahren – also Stillschweigen.«
Immer noch kam mir absolut nichts verdächtig oder eigenartig vor, nicht einmal, als gänzlich unerwartet unser Sportarzt und Alpinwart Dr. Sulzbacher angereist kam – meinetwegen, wie sich bald herausstellen sollte. Er war während der vorangegangenen Trainingstage nicht im Camp gewesen. »Ja, hoffentlich bin ich gesund und bleibe es auch bis zu den Olympischen Spielen«, schoss es mir durch den Kopf. All jene Zweifel und eigenartigen Gedanken, die mich in meiner Kindheit in stillen Stunden immer wieder belastet hatten, wie »Erika, du bist anders, du empfindest anders und siehst auch anders aus als der Rest der Mädchen um dich herum«, all diese verdrängten Ängste kamen just in dieser Situation nicht auf. Mein Körper war mir schon immer etwas fremd gewesen. Bei mir hatte sich nie auch nur ein Ansatz von Brüsten gezeigt wie bei meinen Kolleginnen. Ich verspürte keine Erregung, wenn ein Bursche mich berührte. An all das dachte ich jetzt nicht. Meine sportlichen Erfolge ließen mich diese unnötigen Gedanken längst gekonnt kompensieren. Es war eben so und ich akzeptierte es, zumal eine Christl Haas auch viel zu viel Muskelmasse für eine Frau hatte. Ich fand mich hübscher als sie. Immerhin war ich gut durchtrainiert und besonders begabt, was den Bewegungsablauf anging. Dem klassischen weiblichen und auch dem skifahrerischen Schönheitsideal entsprach ich natürlich nicht, dafür hatte ich gerade in Cervinia einige sehr gute Rennläufer aus dem Herrenteam deklassiert. An meiner Gesundheit konnte es also nicht liegen, so kräftig und voller Energie, wie ich war. Hatte ich das nicht bei diesem internationalen Trainingscamp allen bewiesen? Warum also den Test wiederholen? Schwamm drüber. Schließlich war ich die amtierende Weltmeisterin!
Während der Tage in der Heimat bis zum 4. Dezember arbeitete ich wie immer hart auf dem Hof mit. Jede helfende Hand wurde benötigt, zusätzlich war es ein guter Ausgleich für mich. Meine Gedanken kreisten beim Ausmisten des Stalls schon um die zeitnahen Tiroler Meisterschaften und die ersten Weltcuprennen in Frankreich. Ich fühlte mich wohl, war kerngesund und voller Tatendrang.
Dann reiste ich nach Innsbruck ab, einen Tag vor dem offiziellen Termin. Es stand ja noch der besagte Test an. Wie ein menschgewordener Packesel sah ich aus mit der ganzen Ausrüstung für zwei Wochen: Abfahrtsskier, Slalomskier, die schweren Schuhe und alles, was ich eben brauchen würde, schleppte ich in meinen VW. In der Tiroler Landeshauptstadt, dem Ausgangspunkt für alle unsere Teamfahrten, checkte ich wie immer im Hotel Sailer in der Adamgasse ein. Dieses Mal hatte man mich jedoch anders als sonst in einem Einzelzimmer untergebracht.
Der nächste Weg führte mich in die Klinik. Stundenlang wurde ich auf Herz und Nieren untersucht. Auch den besagten Speicheltest musste ich noch einmal absolvieren. Todmüde kehrte ich abends ins Hotel zurück. Am nächsten Tag sollte sich das Skiteam sehr früh vor dem Hotel einfinden und den Bus besteigen. »Es scheint ja alles in bester Ordnung zu sein. Wir werden jetzt noch einige Ergebnisse auswerten und falls sich bis morgen früh um 6 Uhr niemand bei dir meldet, kannst du getrost mit den anderen Mädchen mitfahren. Andernfalls müsstest du nochmals auf einen Sprung in der Klinik vorbeikommen. Zur Abfahrt um 7 Uhr wärst du ganz bestimmt rechtzeitig beim Bus«, hatte einer der Ärzte bei der Verabschiedung in der Klinik gemeint. Er hatte ausdrücklich betont, ich solle darauf achten, dass das Telefon am Zimmer nicht blockiert sei. Und noch etwas hatte man mir mit auf den Weg gegeben: »Bitte, kein Wort zu den anderen Mädels!«
Natürlich schlief ich in der folgenden Nacht nicht sonderlich gut. Was konnte nur mit mir los sein, schließlich hatte man mir gegenüber nach der Untersuchungsorgie nichts Konkretes, keine Diagnose, keine Vermutung und auch keinen wie auch immer gearteten Verdacht geäußert.
Der frühe Morgen des 5. Dezembers 1967: Die Koffer waren gepackt, längst war ich angezogen. Es war 6 Uhr. Es wurde 6 Uhr 15. Die Frist für den Anruf aus der Klinik war wohl verstrichen. Ich wollte mich gerade auf den Weg in die Hotellobby machen, als kurz vor halb sieben das Telefon schrillte. Unerträglich laut, lauter als sonst, kam mir dieser aufdringliche Klingelton vor. »Erika, du musst doch noch kurz in die Klinik rüberkommen«, befahl mir Professor Raas. »Ja, was ist denn los mit mir?« Meine verzweifelte, verstörte Stimme wurde sogleich durch ein »Es ist nicht viel, aber wir wollen nur hundert Prozent sicher sein, also komm, bitte!« beruhigt. Das Taxi wartete bereits auf mich. Es war ein milder Morgen, kaum Schnee, nur die Berge der Nordkette waren leicht weiß angezuckert. Die zwei Kilometer zur Universitätsklinik erschienen mir endlos.
Im Sportinstitut wurde ich schon sehnlichst erwartet. In einem großen Konferenzzimmer saßen Professor Raas, der ÖSV-Präsident, der Alpinsportwart Sulzbacher, Rennsportleiter Professor Franz Hoppichler, Trainer Hermann Gamon und Charly Kahr an einem langen Tisch. Die Szenerie erinnerte mich an Leonardo da Vincis Letztes Abendmahl. Beim Anblick der versammelten ÖSV-Elite sackte ich völlig in mich zusammen. Später erzählte man mir, dass mein Gesicht von einer Sekunde auf die andere weißer als die Wand geworden war. Man erwähnte meine sportlichen Erfolge, lobte mich als außerordentliche Rennläuferin und betonte geradezu euphorisch, was ich denn nicht alles für den Skisport und unser Land erreicht hätte. Minutenlang salbungsvolle Worte, bis die Herrschaften – es waren ja ausschließlich Männer – ganz unvermittelt die Bombe platzen ließen: »Erika, wir sind dir sehr, sehr dankbar, aber mit dir stimmt etwas nicht. Du musst leider mit heutigem Tag den aktiven Skirennsport vorerst aufgeben!«
Wie in Zeitlupe bahnte sich das Gesagte einen Weg über meinen Gehörgang ins Gehirn. Noch ehe ich darauf reagieren konnte, wanderte schon eine vorgefasste schriftliche Erklärung mit genau diesem eben zitierten Inhalt vor meine Augen und auf den Tisch. »Brauchst nur hier zu unterschreiben, und alles wird gut werden!« Von privaten und gesundheitlichen Problemen war da zu lesen und von einem freiwilligen Rückzug aus dem aktiven alpinen Skisport. »Ja, aber was ist denn mit mir?« Unter Schock und Tränen versuchte ich, eine Antwort zu bekommen. »Es ist der Sextest, der Probleme bereitet«, wurde mir unmissverständlich entgegengeworfen. »Und was ist los mit mir? Was passiert jetzt?« Diese Frage kam, wie aus der Pistole geschossen. Ich wollte Klarheit. »Bitte, liebe Erika, unterschreibe einfach hier. Alles andere klären wir dann später.«
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wer da tröstend und fordernd zugleich auf mich eingeredet hat. Zu aufgeregt war ich, als ich in diesem Zustand der totalen Verwirrung meine Unterschrift, mein »Erika Schinegger«, unter das Schriftstück setzte. Mein hochoffizieller Rücktritt war damit besiegelt. »Erika, du erholst dich jetzt einmal ein paar Wochen in Afrika und dann werden wir weitersehen!« Zu dieser Zeit war es die neueste Mode und absolut »in«, im Norden Afrikas Urlaub zu machen. Eigentlich wollte jeder dorthin. Es war ein Traumreiseziel. Nur, was sollte ausgerechnet ich dort? Die Wintersaison hatte begonnen und Grenoble stand vor der Tür. Die Olympischen Spiele kamen mir in den Sinn und – laut meiner letzten Trainingsergebnisse – mindestens zwei Medaillen, die ich mit links erringen hätte können. »Aber ein paar Wochen? Wie soll das gehen?« Ich versuchte, wieder um Erklärungen zu ringen, der Ernst der Situation und ihre Konsequenzen wollten immer noch nicht von meinem Verstand wahrgenommen und begriffen werden.
Wie ein Schuss vor den sprichwörtlichen Bug schlug dann die Aussage von Professor Hoppichler bei mir ein: »Schau, Erika, du erholst dich jetzt, sagst niemandem etwas und fährst auf Urlaub. Es ist doch so, wenn jemand stirbt, dann reden die Leute noch zwei Wochen nachher darüber. Dann aber interessiert das keinen mehr. Bei dir als Weltmeisterin wird man wohl drei oder vier Wochen über deinen Rücktritt reden, dann gehört auch das der Vergangenheit an.« Von notwendiger Regulierung, von einem kleinen Eingriff wurde da noch geredet und davon, dass ich dann – später, in der nächsten Saison – auch wieder Ski fahren würde können, auch im Team. Nur vorerst müsse ich mich aus dem Rennsport und vor allem aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Ich könne später wieder Ski fahren und wieder ganz vorne im Team mitmischen. Diese Aussage der mächtigen ÖSV-Herren war das Einzige, was in meine Wahrnehmung kommen wollte. Ich war beruhigt, hatte Hoffnung. Dennoch fühlte ich mich alleine, so alleine wie nie zuvor in meinem Leben. Ich musste warten, bis ich meine Stärke als Rennläuferin erneut unter Beweis stellen konnte, bis ich einen weiteren Titel erringen konnte – bei den nächsten Olympischen Spielen. Eine Welt, meine einzige Welt, war für mich zusammengebrochen an diesem 5. Dezember, dem Krampustag des Jahres 1967. An diesem Tag vor einem halben Jahrhundert war mein Leben auf einen Schlag nicht mehr das, was es bislang gewesen war. Ein für mich mehr als denkwürdiger und schicksalsträchtiger Krampustag, ein Tag, der aus meiner Erinnerung nicht mehr auszublenden ist.
Wie anders hatten die Dinge noch vor rund einem Jahr ausgesehen: Im Juli 1966 stand ich noch siegessicher in der Bundeshauptstadt. Erst vor ein paar Wochen war ich achtzehn Jahre alt geworden. Ich fühlte mich fast schon erwachsen, durfte den Führerschein von der Bezirkshauptmannschaft in Feldkirchen abholen, endlich mit meinem neuen Auto, dem silbergrauen VW Käfer, durch Kärnten düsen und war somit nicht mehr abhängig von Bus, Bahn und diversen Mitfahrgelegenheiten. Das größte Glück meines Lebens sollte mir nun aber erst bevorstehen. Ich hatte es geschafft, mich von der wilden, kleinen Erika, dem hässlichen Bauernmädel aus dem Bergdorf St. Urban, nicht nur an die Spitze des ÖSV-Kaders, sondern auch in die Herzen einer ganzen Skination zu fahren – mit viel Fleiß, vielen Rückschlägen, aber meinem kontinuierlichen Ehrgeiz, der mir bislang über jede Lebenshürde hinweggeholfen hatte.
Im Zeitraffer schossen Einzelbilder meiner sportlichen Laufbahn wie Blitze durch meinen Kopf: mein erstes primitives Paar Skier, das ich zu Weihnachten 1958 von meiner Mutter bekommen hatte, mein erster Sieg am Schulskikurs 1961, der zweite Platz bei den Kärntner Schülermeisterschaften 1962, ein Jahr später dann mehrere Siege im Kärntner Jugendkader und die Empfehlung von Trainer Charly Kahr für das ÖSV-Team, die Aufnahme in den ÖSV-Jugendkader im Jahr 1964, die unzähligen Erfolge dort und schließlich die Aufnahme in das Damenteam des Österreichischen Nationalkaders. Die Rennsaison 1966 hatte ich mit dem einzigen Sieg für das österreichische Damenteam bei den Überseerennen in Colorado abgeschlossen. Ich schien den Erfolg geradezu gepachtet zu haben. Mag sein, dass sich dieser Erfolgsfilm in meiner Gedankenwelt ganz unbewusst nur aus positiven sportlichen Ereignissen zusammengesetzt hatte. Ich war eben bester Laune, voll motiviert und glücklich. Mit meiner sportlichen Ambition konnte ich all meine privaten Probleme fabelhaft kompensieren. Wie es in mir wirklich aussah, bekam ja niemand mit.
Jetzt hatte ich einen Grund zum Jubeln: An diesem heißen Julivormittag durfte ich Wien von einer ganz anderen und neuen Seite kennenlernen. Nicht das urige Heurigenlokal unserer Gastfamilie im 18. Bezirk diente diesmal als Location, nein, ich befand mich mitten im imperialen Ambiente der Wiener Hofburg. Wie eine Prinzessin fühlte ich mich in den prunkvollen Sälen und ellenlangen Gangschluchten, die einst von Kaiserin Maria Theresia und Kaiserin Sisi durchschritten worden waren. Den Titel »Kronprinzessin« trug ich damals ja auch selbst. Die Journalisten hatten mich dazu gekürt, weil ich schon seit einiger Zeit als härteste Konkurrentin von Altstar und »Skikönigin« Christl Haas sehr gute Platzierungen für das Damenteam holte.
Nun also wurde »Prinzessin Erika« verabschiedet, in Wien, in der Hofburg, hochoffiziell und mit viel Tamtam vom Herrn Bundespräsidenten und vom Herrn Bundeskanzler höchstpersönlich. Die Österreichische Weltmeisterschafts-Mannschaft war auf dem Weg nach Portillo, und ich war dabei. Ich konnte es immer noch nicht so richtig glauben, als ich dastand unter den 16 aktiven Teilnehmern und schon bald die lange Reise nach Chile antreten sollte. Insgesamt waren es etwa vierzig Personen, die dem rot-weiß-roten Team angehörten und in der stickigen Atmosphäre der ehrwürdigen Räumlichkeiten vor sich hin schwitzten. Es war drückend schwül. Ein Getränk nach dem anderen kippte ich förmlich in mich hinein. Fruchtsäfte und Mineralwasser halfen mir, die Schwüle und die Aufregung bis zum alles entscheidenden Moment des Händeschüttelns mit den obersten Würdenträgern der Republik etwas zu unterdrücken.
Wie alle Mädchen des Teams trug ich ein einfaches blaues Kostüm. Auf der linken Brusttasche des Jacketts war das Bundeswappen mit dem Adler auf silbernem Grund gestickt. Es passte mir zu meiner Verwunderung ausgezeichnet, und selbst meine Haare wirkten diesmal fraulicher, nicht so wild wie meistens. Ich fühlte mich wohl, als mir Bundespräsident Franz Jonas zum Abschied die Hand drückte. Wie allen anderen Athleten hat er auch mir Wünsche mit auf den Weg gegeben. Erhebend, denn ich kannte den Mann bislang nur von dem gerahmten Foto, das neben dem Lehrertisch in jedem Klassenzimmer hing. Die Fotoapparate der Reporter klickten ohne Unterbrechung.
Unser Bundeskanzler Josef Klaus verwickelte mich danach in ein längeres Gespräch. Ich hatte nicht gewusst, dass er ein Landsmann war. Wenn zwei Kärntner in Wien ins Reden kommen, kann das schon dauern. Meine Teamkolleginnen warteten in der Schlange auf ihren Händedruck, der Bundeskanzler plauderte jedoch weiter mit mir. Im Laufe der Unterhaltung erzählte er mir, dass sein jüngerer Bruder einen gastwirtschaftlichen Betrieb in Kötschach-Mauthen führte. Ausgerechnet in diesem Gasthof hatte man unser Team während der Landesmeisterschaften immer untergebracht. Ich musste dem Präsidenten gegenüber erwähnen, dass ich bei den letzten Meisterschaften alle Bewerbe für mich entscheiden hatte können und dass ich seinen Bruder gut kannte. Niemand aus dem Team unterhielt sich wohl so ausführlich mit dem Bundeskanzler. Es vergingen sicherlich fünfzehn Minuten und meine Angst vor den obersten Herren des Staates und die Ehrfurcht vor der beeindruckenden historischen Kulisse waren wie weggeblasen. Selbst meine Werte waren wieder annähernd im normalen Bereich. Mein Herz schlug wieder ruhig und das unerträgliche Hitzegefühl war zur Gänze verschwunden, als sich der Bundeskanzler mit den berührenden Worten »Erika, ich wünsche Ihnen alles Gute! Obwohl Sie noch so jung sind, haben Sie für Kärnten unerhört viel geleistet. Sie haben unsere schöne Heimat mit einem Schlag auch für den Winterfremdenverkehr bekannt gemacht. Danke dafür und viel Glück bei den kommenden Rennen!« ganz herzlich von mir verabschiedete. Stolz und glücklich konnte es nun für mich und den Rest der rot-weiß-roten Equipe zum Flughafen Wien-Schwechat gehen.
Endlich in der Luft auf dem Weg nach Portillo, dachte ich mir beim Abheben in Schwechat mit einem zufriedenen Lächeln übers ganze Gesicht. Ich hatte in meiner Glückseligkeit völlig vergessen, dass sich unsere Anreise zur 19. Alpinen Weltmeisterschaft noch über mehrere Tage ziehen würde. Den ersten Zwischenstopp legte das Team in Paris ein.
Zwei Tage machte man uns in der Seine-Metropole zum Geschenk. In der »Stadt der Liebe« wurde uns ein reichhaltiges Programm geboten: der Eiffelturm, Museen und jede Menge Zeit zum Entspannen und Abschalten – Regeneration der angenehmen Art, bevor die Weltkämpfe beginnen sollten. Es war heiß während dieser Julitage in Paris. An Liebe dachte ich im Gegensatz zu anderen Mädchen vom Team sehr wenig, denn meine einzige Liebe galt doch dem Skisport. Dennoch genoss ich meinen ersten Aufenthalt in Frankreichs Hauptstadt sehr.
Dakar, Buenos Aires und endlich Santiago de Chile lautete die weitere Flugroute des gecharterten WM-Fliegers, der ausschließlich Sportler und Funktionäre transportierte. Fast einen ganzen Tag verbrachten wir in der Luft. Die Strapazen waren uns allen anzusehen. Immer noch hatten wir keinen Schnee gesehen im südamerikanischen Winter.
Am nächsten Tag ging es weiter nach San Carlos de Bariloche, einem Wintersportort im benachbarten Argentinien. Es gab erste Testfahrten und ein Kennenlernen der Beschaffenheit des Anden-Schnees. Es hatte kurz zuvor heftig geschneit. Dieser südamerikanische Schnee in gut 2800 Metern Höhe war einfach anders. Wir alle mussten uns auf die unterschiedliche Qualität des Schnees einstellen, die Service-Crew, die Funktionäre und natürlich wir Sportler. Während andere Teamkolleginnen mit den neuen Verhältnissen ihre liebe Not hatten, war es für mich einfach nur Schnee – das weiße Gold, auf dem ich unbedingt Gold holen wollte. Meine Euphorie war groß, mein Selbstbewusstsein schien durch gute Trainingsergebnisse ins Unendliche zu wachsen.
Nach einer Woche der Akklimatisierung ging es wieder zurück in die chilenische Hauptstadt, eine sehr fremde Welt für ein Kärntner Mädchen aus der tiefsten Provinz. Ein paar Tage später fand in Santiago die – meiner Meinung nach – völlig überdimensionierte, pompöse Eröffnungsfeier der ersten Ski-Weltmeisterschaft in der südlichen Hemisphäre statt. Es sollte übrigens auch die einzige WM in diesen Breiten bleiben, bis heute. Vor dem Staatspräsidenten defilierten die nationalen Teams mit ihren bunten Fahnen und in ihren einheitlichen Outfits. Ich mitten drin. Es war ein erhebender Moment, ein internationales Spektakel, ein pompöser Auftakt.
Abgelenkt wurde ich nur von dem unangenehmen Ziehen in meinem Kiefer. »Erika, die müssen raus, sonst kannst du nicht fahren«, hatte nur zwei Tage zuvor die Diagnose eines aus Wien stammenden und in Santiago ansässigen Zahnarztes gelautet. Mein Trainer Hermann Gamon hatte ihn ausfindig gemacht, nachdem ich ihm die entzündeten Eiterherde in meinem Mund gezeigt hatte. »Mit Tabletten ist da nichts mehr zu machen, die würden deinen Körper beeinträchtigen und deinen Start womöglich verhindern!« »Besser gleich als oben in den Bergen«, dachte ich mir. Fazit: Der Herr Doktor zog mir vier Stockzähne auf einmal. Die Schmerzen ließen zwar nach, aber reden konnte ich für ein paar Tage nicht mehr so recht. Heute wäre das ein undenkbarer Eingriff so kurz vor entscheidenden Skirennen. Vorerst hatte der Spontaneingriff jedoch geholfen.
Tags darauf starteten wir frühmorgens endlich nach Portillo. Wir waren auf mehrere geländegängige Busse aufgeteilt worden. Zum Glück, wie sich schon bald herausstellen sollte, denn nur wenige Kilometer nach der Stadtgrenze begann die mühsame Anreise über kaum asphaltierte, holprige Straßen. Ich fühlte mich wie auf dem Forstweg auf die Simonhöhe hinauf, den ich schon mehrmals mit Vaters Traktor befahren hatte. Plötzlich bot sich uns ein völlig anderes Bild der Andenrepublik: kleine Holz- oder Blechhütten, kaum Infrastruktur, Menschen, die nicht wie in der Hauptstadt in Reichtum und Prunk, sondern in Armut und Elend lebten. Wie konnte es sich ein so armes Land nur leisten, eine millionenteure Ski-WM auszurichten? Meine schon immer vorhandene soziale Ader begann kräftig zu pulsieren. Hätte man das Geld lieber den armen Menschen hier gegeben und die WM wie die Jahre zuvor im reichen Europa veranstaltet, dachte ich mir. Zeit zum Nachdenken und Sinnieren hatte ich genug, denn die Fahrt dauerte ungefähr achtzehn Stunden. Eine Qual.
Den Austragungsort Portillo bekamen wir erst am nächsten Morgen bei Tageslicht zu sehen. Der Ort bestand aus einem riesigen Hotel, dem Grand Hotel, und verschiedenen kleinen Chalets, in denen die Mannschaften untergebracht waren. Plötzlich kam mir mein St. Urban wieder groß vor. Das konnte doch nicht sein, dass ausgerechnet hier, in 2860 Metern Höhe eine Ski-WM, auf die die ganze Welt blicken würde, stattfinden sollte. Wir befanden uns im weißen Nichts. Noch kurz zuvor war dieser winzige Wintersportort von der Außenwelt abgeschnitten gewesen, weil die für Ende Juli außergewöhnlichen Schneefälle nicht enden hatten wollen.
Das hiesige Organisationskomitee hatte für diese Weltmeisterschaften sagenhafte neun Millionen US-Dollar, damals ca. 234 Millionen Schilling, lockergemacht. Man hatte die gesamte Infrastruktur dafür eigentlich aus dem Boden gestampft, neu gebaut. So sah sie auch aus. Warum hatten im Jahr zuvor 38 der 43 FIS-Delegierten für diesen Austragungsort gestimmt? Warum hatten ausgerechnet Deutschland, die Schweiz und Österreich, also die klassischen Alpennationen, dagegen gestimmt? Erst viel später sollte ich erfahren, dass diese WM nicht den Chilenen zugutekam, sondern dem Milliardärs-Clan der Rockefellers, der einflussreichen Industriellenfamilie aus New York, die mit einer verdeckten Fundation und harten Dollars nur Jahre zuvor Portillo gleichsam aus dem Felsen geschlagen hatten. Das hoch in den Anden versteckte Wintersportgebiet sollte durch die Weltmeisterschaft international bekannt gemacht werden und so die Investitionen der reichen Investoren vervielfachen. Der internationale Skiverband hatte bei diesem korrupten Spiel, ohne mit der Wimper zu zucken, mitgemacht. Das vermutete man zumindest. Was das betrifft, hat sich bis heute, ein halbes Jahrhundert später, auch nicht viel geändert. Geld wird immer die Welt und auch den Sport regieren.
Die Zimmer waren groß und modern ausgestattet. Ich teilte das Zimmer mit Traudl Hecher und Grete Digruber. Die Wetterverhältnisse wechselten im Stundentakt, unsere Stimmung auch. Vom gewohnten Rummel, den ich von europäischen Rennen gewohnt war, fehlte jede Spur. Kein Wunder an einem Ort, der doppelt so hoch gelegen war wie meine geliebte Simonhöhe in der Heimat. Hier tummelten sich, abgesehen von den Aktiven, den Funktionären und den Medienvertretern, höchstens ein paar reiche Amerikaner. Diese waren jedoch nicht wegen der WM angereist, sondern als Skitouristen im noblen Grand Hotel abgestiegen. Die Wege durch den Ort waren wie ausgestorben.
Am 5. August war es dann auch für mich so weit. Mein erster Einsatz, allerdings nur als Vorläuferin im Damenslalom, denn für diese Disziplin war ich 1966 noch nicht vorgesehen gewesen. Meine Stärken lagen in der Abfahrt und im Riesenslalom. Das wusste ich auch. Um 10 Uhr 45 Ortszeit stand ich im improvisierten Starthäuschen und legte meine wärmende Windjacke ab. Man hatte mir, wie es für Vorläufer üblich war, die Startnummer 00 verpasst. Was weder die Funktionäre noch die Kolleginnen wussten: Ich hatte mir kurz vor dem Start einen dicken, schwarzen Filzstift ausgeliehen, weil ich mir einen Scherz ausgedacht hatte. Zu dieser Zeit schwärmten alle von den James-Bond-Filmen, die mit Sean Connery in der Rolle des Agenten Ihrer Majestät die Jugend in die Kinos lockten. Über Goldfinger und Feuerball redeten damals alle, und auch ich war begeistert von dem feschen Geheimagenten mit der Bezeichnung 007. Kurzerhand pinselte ich in einem unbeobachteten Moment zu der Doppelnull meiner Startnummer eine fette Sieben dazu. Das Gelächter der Kolleginnen und später das im Zielraum genoss ich dann sehr. Manchmal war ich eben auch eine schelmische Entertainerin und gerade in diesen Tagen fühlte ich mich stärker denn je zuvor, also konnte ich mir diesen kleinen Jux erlauben. Ein kleines 007-Kuriosum am Rande: Ausgerechnet in der für mich so schicksalhaften Weihnachtszeit des Jahres 1967 kam der nächste James Bond-Film in die Kinos. Er trug einen Titel, der auch für mich zum Programm werden sollte: Man lebt nur zweimal.
Die gute Stimmung und das Lachen vergingen unseren Funktionären und auch mir schnell, denn unser favorisiertes Damenteam war schon beim ersten Renneinsatz leer ausgegangen. Die Französin Annie Famose siegte vor Marielle Goitschel und der Amerikanerin Penny McCoy. Im Tross der Österreicher sah man nur lange und enttäuschte Gesichter.
Die nächsten Tage verbrachte ich beim Abfahrtstraining auf der schwierigen Roca de Jack-Piste. Gleich bei der ersten Besichtigung sagte ich mir: »Erika, das ist deine Strecke. Wie gebaut für dich!« Sie war 2300 Meter lang und verzeichnete einen Höhenunterschied von 648 Metern. Ein steiler Starthang, knifflige Kurvenkombinationen, ein wunderschönes Stück zum Gleiten im mittleren Abschnitt und zum Schluss noch eine S-Kurve, die mit einem kräftigen Sprung in den steilen Zielhang führte! Mein erster Eindruck bestätigte sich im Laufe der Trainings, obwohl ich nie das Letzte gab. Meine stärkste Konkurrentin, Christl Haas, bäumte sich bei den Läufen förmlich auf. Sie wusste, dass ich es auf ein Duell zwischen uns beiden angelegt hatte. Die Trainingsbestzeiten teilten sich Traudl Hecher und die Kanadierin Nancy Greene. Ich wusste, dass ich mich beim Rennen noch steigern konnte. Ich würde gewinnen!
Ein Blick auf meine Armbanduhr, meinen Talisman, den ich zur Firmung bekommen hatte, verriet mir, dass es kurz vor 12 Uhr an diesem 8. August 1966 war. Ausgerechnet in diesem Moment musste ich einen Sekundenbruchteil an meine Familie in Kärnten denken. Es war 17 Uhr da drüben in der alten Welt. Mutter war wohl gerade auf dem Weg in den Stall. Da hörte ich schon meinen Trainer Hermann Gamon rufen: »Erika, noch fünf Minuten bis zum Start.« Diesmal trug ich die Nummer 15. Sie hatte ich nicht verändert oder ausgebessert.
Ich war entspannt, auf Sieg programmiert. Ich konnte das schaffen. Angespannt waren nur meine Oberschenkel und die kräftigen Waden, die gerade noch vom Teammasseur aufgewärmt worden waren. Ein paar Schritte neben mir stand Gamon mit betrübter Miene. Ich war die Letzte aus unserem Team am Start. Gerade flüsterte mir der Masseur zu, dass eine der Favoritinnen, nämlich Nancy Greene, beim Zielsprung schwer gestürzt war und das Rennen deswegen kurz unterbrochen war. »Eine Gute weniger, die ich womöglich schlagen müsste!«, schoss mir durch den Kopf. Ich war bereits fest mit der Skibindung verbunden, hatte den Helm und die Brille schon ins Gesicht gezogen, als mein Trainer in diesem Augenblick der absoluten Konzentration die Hand auf meine Schulter legte und mir sanft ins Ohr flüsterte: »Erika, niemand von uns ist ganz vorne. Jetzt liegt’s einzig und allein an dir!« – Ein Ansporn, der mich im nächsten Moment regelrecht explodieren ließ. Mit fünf kräftigen Doppelstockeinsätzen katapultierte ich mich auf den ersten Metern des Steilhanges geradezu in die Tiefe. Diese körperliche Kraft ließ ein innerliches Glücksgefühl aufkommen. Ich ließ die Skier im Vertrauen auf mein Können einfach laufen. Hier wurden keine stilistischen Noten vergeben, hier ging es um Zeit, um Gold. Beim späteren Durchsehen der TV-Mitschnitte konnte ich diese geballte Ladung Siegeswillen an meinem Gesicht ablesen. Weder verzweifelt noch verzerrt, sondern brutal, zugleich aber entspannt wirkten meine Züge.
Zu diesem Zeitpunkt, noch bevor ich zur Zwischenzeit kam, sollen Marielle und Annie im Zielraum schon gefeiert haben. Die beiden Französinnen wurden von den Fotografen schon für ihren Doppelsieg abgelichtet. Niemand rechnete mit der Erika aus Kärnten. Schweigend und betrübt standen Christl Haas, Heidi Zimmermann und Traudl Hecher im Abseits. Sie hatten versagt. Sie konnten die Ehre der Nation in dieser Königsdisziplin nicht mehr retten. Der vorläufige fünfte Platz von Christl Haas war eben nur ein fünfter Platz.
Skitycoon Franz Kneissl hatte mir auf die Reisen zur WM einen harten, aber ehrlichen Rat mitgegeben: »Das Einzige, was dort zählt, ist eine Goldene. Der zweite und der dritte Platz interessieren keinen Menschen!« Diese zwiespältige Stimmung im Zielraum zwischen voreiliger Ausgelassenheit bei den einen und totaler Resignation bei den anderen muss dann wohl der Platzsprecher lautstark unterbrochen haben: »Erika Schinegger – schnellste Zwischenzeit!« Es wird wohl still geworden sein im Zielraum.
Meine Kämpfernatur meldete sich stark wie nie zuvor in mir. Ich befand mich schon auf dem Gleitstück und versuchte, mit kräftigen Schlittschuhschritten das Tempo nochmals zu steigern. Den Zielsprung setzte ich etwas früher an. Im Zielraum herrschte gebanntes Schweigen. Die Blicke waren erwartungsvoll auf mich gerichtet. Für die Französinnen dürften diese Sekunden der Entscheidung eine Ewigkeit gedauert haben. Auch die Augen der Trainer und Funktionäre wanderten in Sekundenschnelle zwischen elektronischer Zeitmessung und Handstoppuhren hin und her. 1:33,42 Minuten von Goitschel mussten geschlagen werden. Ich hob etwas zu früh ab, nicht sehr hoch und doch recht elegant im Vergleich zu meiner sonstigen Fahrweise. »Nur nicht stürzen wie die Nancy!«, schoss mir durch den Kopf. Ich beschleunigte auf dem Talski. Die letzten Meter … Zuerst dumpf und dann immer klarer hörte ich die Aufschreie, als ich über die Ziellinie schoss. »1:32,62 !«, tönte es ohrenbetäubend aus dem Lautsprecher, »Erika Schinegger ist Weltmeisterin!«
Niemand hatte mir diesen Sieg zugetraut. Nur ich selbst hatte daran geglaubt. Ich hatte ihn wahr gemacht, diesen Jugendtraum – für unser Land, für unser Team, für Kneissl, aber vor allem für mich selbst. Jetzt war ich jemand, jetzt musste ich mich nicht mehr verstecken. Ich erlebte ein Glücksgefühl wie noch nie zuvor in meinem Leben. Kaum hatte ich abgeschwungen, fielen meine Mannschaftskolleginnen regelrecht über mich her. Die Heidi Zimmermann, die Traudl Hecher, das gesamte Team hatte Tränen in den Augen, Tränen der Freude und des Stolzes, dass ich das Team, ja den Ruf des Teams und der Skination Österreich doch noch gerettet hatte. Auf ihren Schultern trugen sie mich von links nach rechts immer wieder durch den Zielraum. Es war für mich und meine Mannschaft ein einziger Triumphzug, der nicht enden wollte. Ich hatte es geschafft!
In der österreichischen Tageszeitung AZ