Titel

Maya Angelou

Nur mit meiner Stimme

Aus dem Englischen von
Gesine Schröder

Suhrkamp

Nur mit meiner Stimme

für
Martha und Lillian,
Ned und Bey,
für das Lachen,
die Liebe und die Musik

Mein Dank geht an das Bellagio Study and Conference Center der Rockefeller Foundation und dort an Bill und Betsy Olsen.

Ganz besonders danke ich meiner Freundin und Sekretärin Sel Berkowitz.

1

Don’t the moon look lonesome shining through the trees?
Ah, don’t the moon look lonesome shining through the trees?
Don’t your house look lonesome when your baby pack up to leave?

Musik war meine Zuflucht. Ich verkroch mich in die Nischen zwischen den Tönen und kehrte der Einsamkeit den Rücken.

In meinem gemieteten Zimmer (Gemeinschaftsküche auf der Etage) legte ich Platten auf und schlang die Arme um die Schultern eines Songs. Wenn wir dann dicht an dicht miteinander tanzten, schmiegte ich mich an seinen Hals, küsste seine Haut und rieb meine Wange an seiner.

Der Melrose Record Shop auf der Fillmore war ein Zentrum für Musik, Musiker, Musikliebhaber und Plattensammler. Sein Lautsprecher beschallte stoßweise die Straße, mit dem unablässigen Nachdruck eines Klageweibs am Grab. Im dunklen Inneren standen entlang einer der Wände telefonzellenähnliche, offene Kabinen. Kunden spielten dort auf Plattentellern ihre Auswahl und hörten sie über Kopfhörer an. Mir blieben zwischen meinen Jobs zwei Stunden. Hin und wieder ging ich in die Bücherei oder, wenn es zeitlich passte, zu einem kostenlosen Tanzkurs der YWCA. Meistens aber begab ich mich in den wohlklingenden Melrose Record Store, wo ich mich suhlte, in der Musik versackte.

Louise Cox, eine kleine Blondine und die Mitinhaberin des Ladens, huschte von Kunde zu Kunde wie ein flatterhafter Schmetterling in einem Rosengarten. Sie war weiß, trug Parfüm und lächelte offen mit den Schwarzen Kunden, also musste sie kultiviert sein. Kultivierte Leute machten mich nervös, und ich blieb auf Distanz. Mein Musikgeschmack schwankte zwischen John Lee Hookers Blues und den blubbrigen Silberklängen eines Charlie Parker. Seit einem Jahr sammelte ich ihre Platten.

Bei einem meiner Besuche kam Louise zu der Kabine, in der ich gerade Musik hörte.

»Hi, ich heiße Louise. Und Sie?«

Mein erster Gedanken war: »My name? Puddin’ in tame. Ask me again, I’ll tell you the same.« Ein herzloser Kinderreim, der das Gegenüber verletzen sollte.

Die letzte Weiße, die mich etwas anderes gefragt hatte als »Kann ich Ihnen helfen?«, war meine High-School-Lehrerin gewesen. Ich schaute sie mir an, die kleine Frau mit dem Kaschmir-Pullover und den Perlen, dem glatten Haar und den rosa Lippen, und beschloss, dass sie mir nichts anhaben konnte und ich ihr daher den Namen nennen würde, den ich allen Weißen nannte.

»Marguerite Annie Johnson.« Ich war nach gleich zwei Großmüttern benannt.

»Marguerite? Das ist ein schöner Name.«

Ich war überrascht. Sie sprach den Namen wie meine Großmutter aus. Nicht Margarite, sondern Marg-you-reet.

»Letzte Woche ist was Neues von Charlie Parker reingekommen. Ich hab’s Ihnen zurückgelegt.«

Das bewies, dass sie geschäftstüchtig war.

»Ich weiß schon, dass Sie John Lee Hooker mögen, aber da ist noch jemand, den ich Ihnen zeigen möchte.« Sie hielt den Plattenteller an, nahm meine Platte herunter und legte eine andere auf.

Lord I wonder, do she ever think of me,
Lord I wonder, do she ever think of me,
I wonder, I wonder, will my baby come back to me?

Der Sänger ächzte mit einer Sehnsucht, die ich ein Leben lang zu kennen meinte. Aber das konnte ich Louise nicht sagen. Sie beobachtete mein Gesicht, und ich zwang mich, stillzuhalten.

Well, I ain’t got no special reason here,
No, I ain’t got no special reason here,
I’m gonna leave ’cause I don’t feel welcome here.

Die Musik passte zu mir wie maßgeschneidert.

Sie sagte: »Das ist Arthur Crudup. Ist er nicht großartig?«, und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung.

»Nicht schlecht. Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam machen.«

Es war nie klug, einem Fremden seine Gefühle zu zeigen. Und nichts hätte mir fremder sein können als eine freundliche weiße Frau.

»Soll ich sie Ihnen einpacken? Und auch den Bird?«

Mein Gehalt von dem kleinen Immobilienmakler und dem Kleiderladen in der Innenstadt reichte kaum für die Miete und die Kinderfrau meines Sohnes.

»Ich hole sie mir nächste Woche. Danke, dass Sie an mich gedacht haben.« Höflichkeit kostete nichts, wenn man nur seine Würde wahrte. Das hatte mich meine Großmutter Annie Henderson gelehrt.

Sie wandte sich ab und nahm die Schallplatte wieder mit zum Tresen. Ich beschloss, kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich hatte kein Freundschaftsangebot verschmäht, sondern eine Geschäftsanbahnung auflaufen lassen.

Ich ging ihr nach.

»Danke, Louise. Bis nächste Woche.« Als ich die Schallplatte auf den Tresen legte, schob sie mir ein in Papier eingeschlagenes Päckchen hin.

»Nehmen Sie sie mit, Marg-you-reet. Ich schreibe es Ihnen an.« Sie wandte sich der nächsten Kundin zu. Ich konnte nicht Nein sagen, weil mir keine elegante Möglichkeit dazu einfiel.

Draußen, auf der abendlichen Straße, versuchte ich mir über ihre Motive klarzuwerden. Was hatte ich, was sie haben wollte? Warum ließ sie mich mit ihrem Eigentum ziehen? Sie kannte mich nicht. Selbst den Namen hätte ich mir spontan ausgedacht haben können. Auf eine Freundschaft mit mir konnte sie nicht aus sein, schließlich war sie weiß, und weiße Frauen waren, soweit ich wusste, niemals einsam, außer in Büchern. Sie wurden von weißen Männern geliebt, von Schwarzen Männern begehrt und von Schwarzen Frauen bedient. Für ihre Geste des Vertrauens gab es keine naheliegende Erklärung.

Zu Hause kratzte ich genug von meinem Notfallgeld aus dem Versteck in der Schublade zusammen, um die Platten zu bezahlen. Im Laden nahm Louise die Scheine an und sagte: »Danke, Marg-you-reet. Aber Sie hätten nicht extra herkommen brauchen. Ich vertraue Ihnen.«

»Warum?« Jetzt hatte ich sie am Wickel. »Sie kennen mich gar nicht.«

»Ich mag Sie.«

»Aber Sie kennen mich nicht. Wie können Sie jemanden mögen, den Sie nicht kennen?«

»Weil mein Herz es mir sagt und ich auf mein Herz vertraue.«

Wochenlang beschäftigte mich die Sache mit Louise Cox. Was konnte sie von mir wollen, ausgerechnet von mir? Mein Verstand, so viel stand fest, war ein gut geölter Mechanismus, der rasch und beinahe lautlos vor sich hin schnurrte. Oft maß ich mich bei Quiz-Sendungen im Radio mit den Kandidaten und stach sie in meinem kleinen Zimmer locker aus. O ja, meine Geistesmaschinerie musste jeden begeistern. Jeden zumindest, der sich für Menschen begeistern konnte, die sämtliche Präsidenten der USA in chronologischer Reihenfolge, sämtliche Hauptstädte der Welt, alle wichtigen Mineralien und die Gattungsnamen etlicher Tierspezies auswendig wussten. Allzu viel Nachfrage schien es nach diesen Qualifikationen nicht zu geben, und ich musste mir eingestehen, dass mir beliebtere Eigenschaften wie körperlicher Liebreiz und weibliche Raffinesse vollkommen fehlten.

Von klein auf hatte mein Körper erfolgreich gegen meinen edleren Charakter rebelliert. Ich war zu groß und zu rauhäutig. Meine riesigen, extrovertierten Zähne drängten sich enthusiastisch ins Rampenlicht, und ich, die ich ihnen den Erfolg nicht gönnen wollte, verkniff mir das Lächeln. Ich mochte mir noch so viel Dixie Peach in die Haare schmieren – immer kräuselte und wölbte sich die dichte schwarze Masse, sträubte sich gegen die erstickende Pomade und platzte in alle Richtungen daraus hervor wie ein Schwarm wütender Bienen. Nein, um bei der Wahrheit zu bleiben, musste ich zugeben, dass Louise Cox sich nicht meiner Schönheit wegen mit mir abgab.

Vielleicht war sie aus Mitleid so freundlich. Diese Vorstellung war ein Bindfaden, der sich erst lose und verschlissen wand, sich dann langsam zuzog und mir das Denken einschnürte. Meine Seele scheute vor solchen Zudringlichkeiten zurück. Eine Weiße? Die mit mir Mitleid hatte? Die sollte sich hüten! Ich würde sofort in den Laden marschieren und es ihr zeigen. Ich würde ihre widerliche Rührseligkeit zu einem Klumpen kneten und ihr ins Gesicht schleudern. Würde sie mit der Nase in das ungebetene Bedauern tauchen, bis ihr die Tränen kullerten und sie einsah, dass ich eine Königin war, der Bäuerinnen wie sie sich besser nicht zu nähern wagten, nicht einmal heulend und auf Knien.

Louise beugte sich über den Tresen und redete mit einem Schwarzen Jungen. Durch meine Ankunft ließ sie sich nicht unterbrechen.

»Wie viele Kartons hast du genau gefaltet, J.C.?«, fragte sie in nüchternem Ton.

»Achtzehn.« Die Antwort des Jungen klang genauso sachlich. Sein Kopf reichte nur knapp bis zur Höhe des Tresens. Sie nahm eine kleine Schachtel aus einem Regal an der Rückwand.

»Dann bekommst du achtzehn Cent.« Sie fuhr mit dem Finger durch die Münzen, um sie abzuzählen, und ließ sie in seine geöffneten Hände rieseln.

»Okay.« Er drehte sich auf ungeübten jungen Beinen um und stieß mit mir zusammen. »Danke«, murmelte er.

Louise kam hinter dem Tresen hervor und folgte dem kleinen Stimmchen. Sie stürzte an mir vorbei und erwischte die Ladentür eine Sekunde, nachdem er sie zugeknallt hatte.

»J.C.« Mit in die Hüften gestemmten Armen stellte sie sich auf den Gehweg und hob die Stimme. »J.C., wir sehen uns nächsten Samstag.« Sie kam in den Laden zurück und schaute mich an.

»Hi. Marg-you-reet. Mensch, bin ich froh, Sie zu sehen. Bitte entschuldigen Sie das eben. Ich musste einen meiner Arbeiter ausbezahlen.«

Ich wartete auf die Fortsetzung. Wartete darauf, dass sie sagen würde, was für ein niedlicher, armer kleiner Kerl er sei und was für eine Schande so etwas. Sie ging hinter den Tresen und steckte Schallplatten in ihre Hüllen.

»Als ich hier aufgemacht habe, kamen sämtliche Kinder aus der Nachbarschaft gelaufen. Entweder haben sie gesagt ›Gi’mir’n Penny‹« – ich hasste es, wenn Weiße den Akzent von Schwarzen nachahmten – »oder sie wollten, dass ich ihnen Platten vorspiele. Ich habe gesagt, Geld bekämen sie nur, wenn sie dafür arbeiten würden, und Platten würde ich nur für ihre Eltern auflegen, bis sie selbst groß genug wären, an die Plattenteller ranzukommen. Seitdem lasse ich sie für einen Penny das Stück die leeren Kartons zusammenfalten.« Dann sagte sie: »Ich bin froh, dass Sie da sind, weil ich Ihnen einen Job anbieten möchte.«

Ich hatte eine Menge Dinge getan, um mich über Wasser zu halten, aber beim Putzen in den Haushalten der Weißen zog ich die Grenze. Ich hatte es ausprobiert und kaum einen Tag lang durchgehalten. Die polierten Tische, die Schnittblumen, die fremde Kleidung in den Schränken verwirrten mich vollkommen. Und ich hasste die gemusterten Teppiche, gefliesten Küchen und Kühlschränke voller fremder Essensreste.

»Ach ja?« So eisig war mein Tonfall, dass er nach der aristokratischen Vivien Leigh klang (vor Vom Winde verweht).

»Bisher hat meine Schwester hier ausgeholfen, aber sie will jetzt studieren. Ich dachte, Sie wären der perfekte Ersatz.«

Meine Entschlossenheit begann unter mir wegzuknicken wie weiche Knie.

»Ich weiß nicht, ob Sie das wissen, aber ich habe einen großen Kundenkreis und habe mir vorgenommen, jedes einzelne Album jedes Schwarzen Musikers vorrätig zu halten. Und wenn ich doch einmal etwas nicht habe, gibt es einen umfassenden Katalog, aus dem ich es bestelle. Was denken Sie?«

Sie schaute mich mit einem schlichten Lächeln offen an. Ich fahndete in ihrem Blick nach irgendwelchen Hintergedanken und konnte nichts entdecken. Trotzdem musste ich ihr meine Stärke demonstrieren.

»Es gefällt mir nicht, wenn Weiße Schwarze imitieren. Haben die Kinder Sie wirklich mit den Worten gebeten: ›Gi’mir’n Penny‹? Wohl kaum.«

Sie sagte: »Sie haben Recht: Sie haben mich nicht gebeten, sondern es gefordert.« Ihr Lächeln verschwand. »Sagen Sie es mal.«

»Gib mir einen Penny.« Ich modulierte jede Silbe.

Sie griff nach der Schachtel und überreichte mir eine Münze. »Vergessen Sie nicht, dass Sie eine Schulbildung haben, und lassen Sie uns beide nicht vergessen, dass wir Erwachsene sind. Ich würde mich freuen, wenn Sie den Job annehmen.« Sie nannte das Gehalt und die Arbeitszeiten und die Aufgaben, die ich zu erledigen hätte.

»Vielen Dank für das Angebot. Ich werde es mir überlegen.« Ich verließ den Laden hocherhobenen Hauptes. Ich versuchte Gleichgültigkeit zu verströmen wie Tintenfischtinte, um darunter meine Begeisterung zu verbergen.

Zuallererst musste ich mit Ivonne Broadnax, der Realistin, sprechen. Sie war meine beste Freundin. Ivonne hatte die lästige romantische Verklärung abgeschüttelt, an der ich mein Leben lang krankte. Sie besaß den glasklaren Blick einer geborenen Überlebenskünstlerin. Ich lief zu ihrer Adresse in der Ellis Street, wo sie mit ihren 25 Jahren eine achtjährige Tochter und eine fünfzehnjährige Schwester großzog.

»Vonne, du kennst doch die Frau vom Plattenladen?«

»Die kleine Weiße mit dem schiefen Lächeln?« Sie hatte eine leise, schneidende Stimme, die sich zwischen geraden weißen Zahnreihen hindurchpressen musste.

»Genau.«

»Warum?«

»Sie hat mir Arbeit angeboten.«

»Arbeit als was?« Auf ihren Zynismus konnte ich mich verlassen.

»Als Verkäuferin.«

»Warum?«

»Genau das will ich ja herausfinden. Warum? Und warum ich?«

Ivonne saß ganz still und dachte nach. Sie war eine große Schönheit und ging völlig ungezwungen damit um. Sie schürzte ihre herzförmigen Lippen, und als sie den Kopf hob, überzog der erhöhte Puls ihr Gesicht mit Rot- und Cremetönen.

»Ist sie eine von denen?«

Wir wussten beide, dass das die einzig logische Erklärung war.

»Nein. Ganz sicher nicht.«

Ivonne senkte wieder den Kopf. Hob ihn wieder und sah mich an.

»Hast du sie gefragt?«

»Nein.«

»Ich meine, hast du sie um einen Job gebeten?«

»Nein. Sie hat ihn mir angeboten.« Ich ließ ein kleines bisschen Gekränktheit in meinen Ton einfließen.

Ivonne sagte: »Du weißt ja, wie seltsam die Weißen sind. Ich weiß nicht mal, ob sie selbst wissen, warum sie irgendetwas tun.« Ivonne war in einer Kleinstadt in Mississippi aufgewachsen, ich in einem noch kleineren Kaff in Arkansas. Weiße waren in unserer Vorgeschichte so allgegenwärtig wie die Jahreszeiten und so unvertraut wie der Wohlstand.

»Vielleicht will sie sich etwas beweisen.« Sie überlegte. »Was will sie dir bezahlen?«

»Genug, dass ich die anderen beiden Jobs aufgeben und mein Baby nach Hause holen könnte.«

»Na, dann mach’s.«

»Ich müsste Platten nachbestellen und Inventur machen und all so was.« Der Duft eines besseren Lebens hatte noch kaum meine Nase umweht, da wurde mir schon schwindlig.

»Hör mal, Maya«, (sie benutzte meinen Familienspitznamen). »Wenn du es geschafft hast, einen Puff zu leiten, dürfte ein Plattenladen ja wohl kein Problem sein.«

In San Diego, mit achtzehn, hatte ich einmal einen Prostitutionsbetrieb geleitet, in dem zwei qualifizierte Fachkräfte die Kundschaft versorgten, während ich als Geldgeberin an den Einnahmen beteiligt wurde. Diese Erfahrung hatte ich seitdem unter immer neuen Lagen der Vergebung und der vorgeschützten Unschuld vergraben. Aber es stimmte – ich hatte wirklich ein gewisses Talent für organisatorische Tätigkeiten.

»Nimm die Stelle an, und dann beobachte sie mit Adleraugen. Du weißt ja, wie das ist mit den weißen Frauen. Die ziehen sich den Slip aus, legen sich hin und nennen’s dann Vergewaltigung. Wenn du nicht aufpasst, kriegt sie vielleicht Schwächeanfälle, und ehe du dich’s versiehst, putzt du doch ihre Fenster und wischst die Böden.« Wir gackerten wie zwei alte Weiber in Gedanken an die finsteren Geheimnisse ihrer Vergangenheit. Es war ein bitteres Lachen und richtete sich nicht wirklich gegen weiße Frauen. Unser Gelächter war ein bewährter Trick, um die Schwarze Verletzlichkeit zu verbergen; wir lachten, um nicht zu weinen.

Den Job nahm ich an, ließ Louise aber nicht aus den Augen. Kein Handgriff blieb unbeobachtet, kein Gespräch unbelauscht. Die Frage war nicht, ob sich ihr Rassismus verraten würde, sondern wann und wie. Monatelang lebte ich mitten in einem Krimi. Ich achtete auf ihren Tonfall und folgte jedem ihrer Blicke.

Sonntags, wenn nach dem Gottesdienst die alten Leute in den Laden kamen, um sich Reverend Joe Mays Predigten auf 78-rpm-Platten anzuhören, bebte ich vor kriminalistischer Erwartung. Füllige Korsettträgerinnen versammelten sich mit vor religiösem Eifer geschwelltem Busen um die Plattenteller, während ihre in dunkle Anzüge gewandeten Ehegatten sich mit vor Hingebung an den Heiligen Geist leeren Gesichtern, die schwarzen und braunen Hände auf der mitgebrachten Bibel ruhend, der Musik überließen.

Louise bot den Damen Klappstühle an und kehrte hinter den Tresen zu ihren Büchern zurück. Ich lauerte auf ein Feixen, auf ein einziges Augen-zum-gnadenreichen-Himmel-Heben – den Beweis, dass sie ihr Weißsein für eine überlegene Eigenschaft hielt, die sie und Gott zu ihrem gemeinsamen Vorteil ausgeklügelt hatten.

Nach zwei Monaten begann mich die ständige Wachsamkeit zu ermüden, und ich hatte noch immer keinen Hinweis auf Vorurteile gefunden. Ich entspannte mich allmählich und begann die Fülle einer Welt der Musik zu genießen. Den Morgen widmete ich Bartok und Schoenberg. Am Vormittag schwelgte ich im Gesang von Billy Eckstine, Billie Holiday, Nat Cole, Louis Jordan und Bull Moose Jackson. Eine Piroschki aus dem russischen Feinkostladen nebenan war mein Mittagessen, und dann tanzten die Giganten des Bebop durch die Luft des Ladens. Charles Parker und Max Roach, Dizzy Gillespie, Sarah Vaughan und Al Haig und Howard McGhee. Der späte Nachmittag gehörte dem Blues, und die Worte der Sänger über verlorene Liebe erzählten von meiner Einsamkeit.

Ich bestellte Ware nach und nahm Musikwünsche entgegen, leerte Aschenbecher und staubte die Pappaufsteller im Schaufenster ab. Louise und ihr Geschäftspartner, David Rosenbaum, drückten ihre Freude mit einer Gehaltserhöhung aus, und ich konnte bei aller Dankbarkeit für die Arbeitsstelle und für die erste freundschaftliche Beziehung zwischen Schwarz und Weiß meines Lebens meine Gefühle nur zum Ausdruck bringen, indem ich stets pünktlich kam, tüchtig arbeitete und ihnen einen kühlen, grauen Respekt entgegenbrachte.

Zu Hause dagegen schillerte das Leben in herrlichen Farben. Jeden Abend holte ich meinen Sohn jetzt von der Kinderfrau nach Hause. Er war fünf Jahre alt und so schön, dass sein Lächeln jedem Schlägertypen das Rückgrat gebrochen hätte.

Zwei Jahre lang hatten wir uns wie Wasserspinnen in einem unentrinnbaren Strudel im Kreis gedreht. Ich brauchte Zeit, um für unseren Lebensunterhalt arbeiten zu können, aber die Kinderbetreuung war so teuer, dass ich zwei Jobs brauchte, um sie und die Miete zu finanzieren. Sechs Tage und fünf Nächte pro Woche gab ich ihn weg.

Am Vorabend meines freien Tages ging ich immer zum Haus der Kinderfrau. Erst packte er meinen Rocksaum, umklammerte dann meine Beine und schrie, während ich die wöchentliche Rechnung bezahlte. Ich machte ihn von mir los, nahm ihn auf den Arm und ging die Straße hinunter. Noch viele Häuserblocks weiter schrie er. Wenn wir weit genug weg waren, lockerte sich der Würgegriff um meinen Hals, und ich konnte ihn absetzen. Den Rest des Abends verbrachten wir in meinem Zimmer. Er folgte mir auf Schritt und Tritt und traute mir nicht einmal zu, aus dem Badezimmer wiederzukommen. Nach dem Abendessen, das ich in der Gemeinschaftsküche kochte, las ich ihm vor und ließ ihn versuchen, mir vorzulesen.

Den Tag darauf verbrachten wir immer im Park, im Zoo, im San Francisco Museum of Art, im Zeichentrickkino oder mit sonstiger preisgünstiger oder kostenloser Unterhaltung. Am zweiten Abend dann kämpfte er gegen den Schlaf an wie ein Greis gegen den Tod. Gegen Morgen, noch nicht ganz wach, zuckte er im Schlaf und gab Schmerzenslaute von sich wie ein verletztes Tier. Ich brachte mein Herz zum Schweigen und weckte ihn auf. Sobald er angezogen war, machten wir uns auf den Weg zur Kinderfrau. Mehrere Häuserblocks vor dem Ziel begann er zu weinen. Meine eigenen Tränen hielt ich zurück, bis seine Schreie durch die geschlossenen Türen drangen und sich mir wie Speerspitzen ins Herz bohrten.

Die ewige Wiederholung dieses Elends machte es kein bisschen besser. Ich erwog Alternativen. Wenn ich verheiratet wäre, würde »mein Ehemann« (Worte, die ebenso unrealistisch klangen wie »mein Bankkonto«) mich in einem schnuckligen Haus einquartieren, das ich mit meinem guten Geschmack in ein Zuhause verwandeln würde. Mein Sohn und ich würden ganze Tage zusammen verbringen, und ich würde zwei weitere Kinder bekommen, Deirdre und Craig, und ich würde Rosen und prächtige Zinnien pflanzen. Ich würde übergroße Gartenhandschuhe tragen, so dass, wenn ich sie auszog, meine Hände zart wären und meine Maniküre top in Schuss. Wir würden alle gemeinsam Schach und Halma spielen und Wer bin ich und Whist. Wir wären eine lärmende, liebevolle, lustige Meute wie die Großfamilie aus Im Dutzend billiger.

Oder ich könnte von der Sozialhilfe leben.

Von einem Heiratskandidaten fehlte in meinem Leben weit und breit jede Spur. Genauer gesagt schienen sich Männer ganz generell nicht für mich zu interessieren. Vielleicht schreckte meine kühle, kontrollierte Fassade sie ab, oder vielleicht war meine vermeintlich sorgsam kaschierte Not so offensichtlich, dass sie sie in die Flucht schlug. Nein, Ehemänner waren ungefähr so verbreitet wie das gewöhnliche Wald- und Wieseneinhorn.

Und die Sozialhilfe kam überhaupt nicht in Frage. Mein gut gesteifter Stolz verdankte sich einer Familie, die ihre eigenen Angelegenheiten stets kompromisslos selbst geregelt hatte. Die Großmutter, die mich, meinen Bruder und ihre eigenen zwei Söhne großgezogen hatte, betrieb einen Kramerladen. Sie hatte ihr Geschäft zu Beginn des Jahrhunderts in Stamps, Arkansas, begründet, indem sie Fleischpasteten an die Arbeiter eines Sägewerks verkaufte und dann vier Meilen quer durch den Ort eilte, um auch die Belegschaft der Egrenierfabrik zu versorgen.

Mein Bruder Bailey, der ein Jahr älter als ich und einen halben Kopf kleiner war, hatte mir in jungen Jahren eingehämmert: »Du bist genauso intelligent wie ich« – dass er ein Genie war, da waren wir uns einig – »und wunderschön. Und du kannst alles erreichen.«

Meine wunderschöne Mutter, die ihre Geschäfte und ihre Männer mit harter Hand regierte, hatte mir beigebracht, mein Boot selbst zu steuern, mein Kanu selbst zu paddeln, selbst die Segel zu setzen. Wörtlich hatte sie gesagt: »Wenn du willst, dass irgendetwas getan wird, tu es selbst.«

Meine Familie konnte ich unmöglich um Hilfe bitten (ich konnte ihre Ablehnung nicht riskieren), und das waren die Menschen, die mich liebten. Keine Notlage der Welt konnte mich je dazu bewegen, gesenkten Hauptes die Unterstützung einer Institution zu erflehen, die mich verachtete, und einer Regierung, die mich ignorierte. Es hatte alles danach ausgesehen, als würde ich in den zwei Jobs und dem wöchentlichen Kinderfrauenterror feststecken bis ans Ende meiner Tage. Jetzt aber, mit dem guten Gehalt, konnten mein Sohn und ich wieder bei meiner Mutter einziehen.

Ein Lächeln erhellte wie ein Blitzschlag ihr Gesicht, als ich ihr erzählte, dass ich meinen Sohn zu mir zurückgeholt hatte und wir heimkehren wollten. Ihre Augen glänzten. Es war beunruhigend. Meine Mutter war alles Mögliche, aber wenn sie eins nicht war, dann sentimental. Ich staunte, wie schnell sie ihr altes Selbst wieder ans Steuer zerrte. Wie immer stellte sie nur direkte Fragen.

»Wie lange bleibt ihr diesmal?«

»Bis ich mir ein Haus für uns leisten kann.«

»Das klingt gut. Dein Zimmer ist noch so, wie du es hinterlassen hast, und Clyde kann das kleine Hinterzimmer bekommen.«

Ich beschloss, ein bisschen Angeberei könne nicht schaden. »Ich arbeite jetzt im Plattenladen auf der Fillmore und habe eine Gehaltserhöhung bekommen. Ich zahle dir Miete und einen Teil der Lebensmittel.«

»Wie viel verdienst du?«

Ich sagte es ihr, und sie rechnete rasch einen Prozentsatz aus. »Okay. So viel zahlst du mir und beteiligst dich einmal die Woche am Einkauf.«

Ich gab ihr Geld. Sie zählte sorgfältig nach. »Schön, das ist die Miete für einen Monat. Ich merk’s mir.«

Sie gab mir das Geld zurück. »Geh in die Stadt und kauf dir was zum Anziehen.«

Ich zögerte.

»Das ist kein Kredit, sondern ein Geschenk. Du solltest doch wissen, dass ich keine unsauberen Geschäfte mache.«

Für Vivian Baxter war das Geschäft eben Geschäft, und ich war ihre Tochter; das eine hatte mit dem anderen nicht das Geringste zu tun.

»Du weißt, dass ich nicht als Kindermädchen tauge, aber Poppa Ford ist immer noch da und hält das Haus in Ordnung. Er könnte Clyde im Auge behalten. Natürlich müsstest du ihm wöchentlich ein bisschen was bezahlen. Nicht so viel wie den Kinderfrauen, aber ein bisschen. Denk dran: Du kriegst nicht immer das, wofür du bezahlt hast, aber du musst immer für das bezahlen, was du kriegst.«

»Ja, Mutter.« Ich war zu Hause.

Monatelang war das Leben ein Bannkreis aus Glück, und wir wandelten innerhalb seiner Grenzen. Mein Sohn ging zur Schule, konnte sehr gut lesen und ließ sich, von mir ermuntert, auf eine Liebesaffäre mit der Literatur ein. Er war gesund. Die alte Angst, ich könnte ihn verlassen, begann sich aufzulösen. Ich las ihm Thorne Smith vor und rezitierte mit einem schweren Südstaatenakzent Paul Laurence Dunbars Gedichte.

Als wir eines Abends die Fillmore entlangspazierten, hörten Clyde und ich lautes Geschrei und sahen auf einer gegenüberliegenden Straßenecke, wie sich eine Gruppe von Menschen um einen Einzelnen scharte. Wir blieben stehen, um zu lauschen.

»Herr, wir, deine Kinder. Wir kommen zu dir wie neugeborene Babys. Silber und Gold haben wir keines. Aber o Herr!«

Clyde nahm meine Hand und versuchte mich in die Gegenrichtung wegzuzerren.

»Komm schon, Mom, komm mit.«

Ich beugte mich zu ihm herunter. »Warum?«

»Der Mann ist verrückt.« Sein kleines Gesicht zog sich vor lauter Widerwillen zusammen.

»Warum denkst du das?«

»Weil er mitten auf der Straße so rumschreit.«

Ich hockte mich zu meinem Sohn, ohne auf die anderen Passanten zu achten. »Das ist eine von vielen Möglichkeiten, Gott zu loben. Manche tun das in der Kirche, andere auf der Straße und wieder andere in ihrem Herzen.«

»Aber Mom, gibt es Gott wirklich? Und was macht Er die ganze Zeit?«

Diese Frage verdiente eine bessere Antwort, als sie mir aus dem Stegreif eingefallen wäre. Ich sagte: »Darüber reden wir später, aber jetzt lass uns hingehen und zuhören. Stell dir die Predigt als Gedicht vor und den Gesang als tolle Musik.«

Er folgte mir, und ich bahnte uns einen Weg durch die Menge, bis er etwas sehen konnte. Meinem Sohn waren die Verrenkungen des Predigers und die Reaktionen der Zuhörer peinlich. Ich war erschüttert. Ich war in einer Bischöflichen Methodistenkirche aufgewachsen, in der mein Onkel als Superintendent der Sonntagsschule fungierte und meine Großmutter als Mutter der Kirche. Bis ich mit dreizehn Jahren von Arkansas nach Kalifornien umzog, verbrachte ich jeden Sonntag mindestens sechs Stunden in der Kirche. Montagabends nahm mich Momma mit zum Treffen der Gottesdiensthelfer; dienstags versammelten sich die Mütter der Kirche; mittwochs wurden Gebetstreffen abgehalten; donnerstags kamen die Diakone zusammen; freitags und samstags bereitete man den Gottesdienst am Sonntag vor. Und mein Sohn fragte, ob es einen Gott gab. Zu wem hatte ich denn mein Leben lang gebetet?

Am selben Abend sang ich mit ihm »Joshua Fit the Battle of Jericho«.