Cover

James Rollins

Im Dreieck
des Drachen

Roman

Deutsch von Alfons Winkelmann

Die Originalausgabe erschien 2001 unter dem Titel
»Deep Fathom« bei HarperCollins Publishers Ltd, New York.

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Copyright © der Originalausgabe 2001 by Jim Czajkowski

Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc.,
Armonk, New York, USA.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Copyright © der deutschen Übersetzung
by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

2003 erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag innerhalb der
Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München.

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com

wr · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-08502-5
V002

www.blanvalet.de

Buch

Eine Sonnenfinsternis mit einer ungewöhnlich hohen Zahl von Sonnenstürmen löst ein gewaltiges Beben im Pazifik aus – mit katastrophalen Folgen: Von Alaska über Japan bis Neuseeland versinken Küstenregionen unter gigantischen Flutwellen. Und mitten in dem tödlichen Chaos stürzt die Air Force One des amerikanischen Präsidenten vom Himmel.

Der Tiefseespezialist Jack Kirkland erhält den Auftrag, die Black-box aus dem Flugzeugwrack zu bergen – in über sechshundert Metern Tiefe. Auf dem Meeresgrund entdeckt Kirkland eine Kristallsäule, die außer einer starken magnetischen Strahlung noch einige weit rätselhaftere Eigenschaften aufweist. Eine genaue wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens bleibt Kirkland allerdings verwehrt, denn die CIA hat ganz eigene Pläne zur Erforschung und Nutzung der geheimnisvollen Energie. Was niemand ahnt: Das Beben war nur ein Vorbote einer ungleich verheerenderen Katastrophe, die auf die Erde zurast. Eine uralte Kraft droht, entfesselt zu werden …

Autor

James Rollins wurde 1968 in Chicago geboren. Er ist promovierter Veterinärmediziner und betreibt eine Tierarztpraxis in Sacramento, Kalifornien. Dort geht der Bestsellerautor, der mit seinen actionreichen Romanen immer wieder zahllose Leser begeistert, neben dem Schreiben auch seinen beiden anderen Leidenschaften nach: Höhlenforschung und Tauchen.

Von James Rollins außerdem lieferbar

Feuermönche (36738) · Der Genesis-Plan (36795) · Sandsturm (37292) · Der Judas-Code (37316) · Das Flammenzeichen (0345, geb. Ausgabe) · Das Messias-Gen (37217)

WIDMUNG UND DANKSAGUNG

Für Steve und Judy Prey …
Lehrer, Freunde und Gründer der »Spacers«

Kein Mensch ist eine Insel, und ganz bestimmt kein Autor. So viele nette Leute und Freunde haben dabei geholfen, diesem Roman den letzten Schliff zu geben. Zuallererst möchte ich Lyssa Keusch, meiner Lektorin, und Russ Galen, meinem Agenten, meinen Dank aussprechen.

Mehrere Personen haben unschätzbare »technische Hilfe« geleistet, wenn es um den wissenschaftlichen und historischen Hintergrund ging: Stephen R. Fischer, Ph. D. (polynesische Sprachen); Dr. Charles Plummer vom CSUS (Geologie); Vera Rubin (Artikel über Astronomie); Dr. Phil Nuytten von Nuytco Research Ltd. sowie die Leute bei Zegrahm Deep Sea Voyages (Einzelheiten der Dynamik des Tiefseetauchens); Laurel Moore, Bibliothekar des Woods Hole Oceanografic Institution (sein Buch Ancient Micronesia, eine unschätzbare Quelle). Schließlich muss ich zwei weiteren Autoren meinen besonderen Dank aussprechen, deren Bücher diese Geschichte inspiriert haben: Colonel James Churchward mit seinem Books of the Golden Age sowie Charles Berlitz mit seinem The Dragon’s Triangle.

Natürlich darf ich nicht diejenigen vergessen, die dabei geholfen haben, den ersten Entwurf auseinanderzunehmen und aufzupolieren: Chris Crowe, Michael Gallowglas, Lee Garrett, Dennis Grayson, Penny Hill, Debra Nelson, Chris Koehler, Dave Meek, Chris Smith, Jane O’Riva, Steve und Judy Prey, Caroline Williams – sowie für ihre kritische Analyse und jahrzehntelange Freundschaft Carolyn McCray.

Und last but not least, besonderer Dank an Steve Winters vom Web Stew für sein Geschick bei der Internet-Recherche und Don Wagner für seine engagierte Unterstützung, die besser nicht hätte sein können.

PROLOG

Der Tag der Sonnenfinsternis
Dienstag, 24. Juli

I

VORHER

8.14 Uhr, Pacific Standard Time
San Francisco, Kalifornien

AM TAG DER Sonnenfinsternis verließ Doreen McCloud eilig das Starbucks. Sie hatte um zehn Uhr einen Termin auf der anderen Seite der Stadt, und für die U-Bahn-Fahrt zu ihrem Büro nahe am Embarcadero blieb ihr weniger als eine Stunde. Sie zitterte in der morgendlichen Kühle und umklammerte ihren Becher Mocha, als sie zügig zur U-Bahn-Station an der Kreuzung Market and Castro hinüberging.

Stirnrunzelnd schaute sie zum Himmel auf. Noch musste die Sonne, im Augenblick lediglich eine blasse Scheibe, die dichte Nebeldecke auflösen. Die Sonnenfinsternis war für kurz nach vier Uhr am heutigen Nachmittag angesagt – die erste des neuen Jahrtausends. Es wäre zu schade, würde der Nebel die Sicht verwehren. Die Medien hatten ein regelrechtes Trommelfeuer veranstaltet, und so wusste auch sie, dass die ganze Stadt sich bereithielt, das Ereignis zu feiern. Eine so günstige Gelegenheit konnte San Francisco unmöglich ohne das übliche Tamtam verstreichen lassen.

Doreen schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! In San Francisco herrschte sowieso immer der verdammte Nebel, da rechtfertigten ein paar düstere Augenblicke mehr kaum die ganze Hektik. Zudem war es nicht mal eine totale Sonnenfinsternis!

Seufzend schob sie diese flüchtigen Gedanken beiseite und zog sich ihr Tuch fester um den Hals. Sie hatte wahrhaftig andere Sorgen. Wenn sie diese Sache mit der Delta Bank unter Dach und Fach brachte, war ihr eine Partnerschaft in der Kanzlei sicher. Dieser Gedanke munterte sie auf, während sie die Market Street in Richtung U-Bahn-Station überquerte.

Als sie dort ankam, fuhr gerade der nächste Zug ein. Mit zittrigen Fingern steckte sie ihre Karte in den Entwerter, eilte die Treppe zum Bahnsteig hinab und wartete darauf, dass die Bahn stehen blieb. Erleichtert, dass sie den Termin locker schaffen würde, hob sie den Becher an den Mund.

Ein Stoß gegen den Ellbogen riss ihn ihr von den Lippen. Er flog ihr aus den Händen, und heißer brauner Kaffee spritzte heraus. Nach Luft schnappend fuhr sie herum.

Eine ältere Frau in schlecht zueinander passenden Lumpen und löcheriger Decke starrte sie von unten her an, ihre Augen wirkten irgendwie abwesend. Doreen musste plötzlich an ihre Mutter denken, wie sie im Bett gelegen hatte: der Gestank nach Urin und Medikamenten, die eingefallenen Züge, dazu der gleiche leere Blick. Alzheimer.

Sie wich zurück und klemmte ihre Handtasche unter den Arm. Aber die Obdachlose stellte anscheinend keine unmittelbare Bedrohung dar. Doreen erwartete die übliche Frage nach etwas Kleingeld.

Stattdessen starrte die Frau sie weiterhin mit diesen leeren Augen an.

Doreen wich noch einen Schritt zurück. In ihren Ärger und ihre Furcht mischte sich ein Gefühl des Mitleids. Die anderen Pendler wandten sich langsam ab. Typisch Großstadt. Nur nicht zu genau hinsehen. Sie versuchte, es ihnen nachzutun, doch es gelang ihr nicht. Vielleicht war’s die Erinnerung an ihre Mutter, die längst im Grab lag, oder eine Art Mitgefühl. »Kann ich Ihnen helfen?«, hörte sie sich fragen.

Als die alte Frau sich rührte, entdeckte Doreen inmitten der Lumpen einen halb verhungerten Terrierwelpen. Das spindeldürre Geschöpf drückte sich dicht an die Füße seines Frauchens.

Die Obdachlose bemerkte ihren Blick. »Brownie weiß Bescheid«, sagte sie mit heiserer, vom Alter und vom Leben auf der Straße rau gewordener Stimme. »Er weiß Bescheid, ja, ja.«

Doreen nickte scheinbar verständnisvoll. Man sollte Verrückte am besten nicht provozieren, das hatte sie bei ihrer Mutter gelernt. »Ganz bestimmt.«

»Er sagt mir Dinge, weißt du.«

Erneut nickte sie, kam sich allerdings dabei auf einmal albern vor. Hinter ihr öffneten sich zischend die Türen des Zugs. Wenn sie ihn nicht verpassen wollte, musste sie sich beeilen.

Sie wollte sich schon abwenden, als ein welker Arm unter der löcherigen Decke hervorgeschossen kam; knochige Finger umklammerten ihr Handgelenk. Instinktiv riss Doreen ihren Arm weg. Zu ihrer Überraschung hielt die alte Frau sie weiterhin fest und schlurfte noch näher heran. »Brownie ist ein guter Hund«, sagte sie sabbernd. »Er weiß Bescheid. Er ist ein guter Hund.«

Doreen riss sich von der Frau los. »Ich … ich muss los.« Die Alte wehrte sich nicht. Ihr Arm verschwand in ihrer Decke.

Doreen wich in die offene Tür des Zugs zurück, den Blick nach wie vor auf die alte Frau geheftet, die sich jetzt offenbar wieder in ihre Lumpen und ihre qualvollen Träume zurückzog. Sie entdeckte, dass der Welpe ihren Blick erwiderte. Als sich die Zugtüren schlossen, hörte sie die Obdachlose murmeln: »Brownie. Er weiß Bescheid. Er weiß, dass wir alle heute sterben müssen.«

13.55 Uhr, PST (11.55 Uhr Ortszeit)
Aleuten, Alaska

Am Morgen der Sonnenfinsternis arbeitete sich Jimmy Pomautuk geübt und vorsichtig den vereisten Hang hinauf. Sein Hund Nanook trabte ihm ein paar Schritt voraus. Der große Malamute kannte den Weg gut, doch hielt er, stets der getreue Gefährte, nach wie vor ein wachsames Auge auf seinen Herrn gerichtet.

Hinter dem alten Hund führte Jimmy drei englische Touristen – zwei Männer und eine Frau – auf den Gipfel des Glacial Point oberhalb von Fox Island. Die Aussicht von dort oben war unglaublich. Seine Inuit-Vorfahren waren dorthin gekommen, um den großen Orca anzubeten, hölzerne Totems zu errichten und Opfersteine über die steilen Felsen ins Meer zu werfen. Sein Urgroßvater war der Erste gewesen, der ihn zu diesem heiligen Ort mitgenommen hatte. Fast dreißig Jahre war das jetzt her. Damals war er noch ein Knabe gewesen.

Heutzutage war der Ort auf den meisten Karten verzeichnet, und die Schlauchboote der verschiedenen Kreuzfahrtlinien luden ihre menschliche Fracht an den Kais des zauberhaften Port Royson ab.

Neben dem malerischen Hafen galten die Felsen von Glacial Point als die andere Hauptattraktion der Insel. An einem klaren Tag wie heute konnte man die gesamte Inselkette der Aleuten überblicken, wie sie sich in einem unendlichen Bogen in die Ferne erstreckte. Dieser Anblick war Jimmys Vorfahren unbezahlbar gewesen; die moderne Welt hatte dafür jedoch vierzig Dollar pro Kopf in der Nebensaison und sechzig Dollar während der warmen Monate zu entrichten.

»Wie weit ist das denn noch, verdammte Scheiße?«, fragte eine Stimme hinter ihm. »Ich friere mir hier noch den Arsch ab!«

Jimmy wandte sich um. Er hatte die drei darauf aufmerksam gemacht, dass es immer kälter werden würde, je weiter sie sich dem Gipfel näherten. Die Gruppe war mit gleichartigen Overalls, Handschuhen und Stiefeln von Eddie Bauer ausgestattet. Kein einziger Faden ihrer teuren Kleidung zeigte auch nur eine Gebrauchsspur. Hinten am Parka der Frau baumelte sogar noch ein Preisschild.

Jimmy zeigte mit dem Arm in die Richtung, in die sein Hund gerade verschwunden war. »Gleich über die nächste Anhöhe. Fünf Minuten. Dort gibt’s eine Hütte zum Aufwärmen.«

Der Mann, der sich beklagt hatte, schaute knurrend auf seine Uhr.

Jimmy verdrehte die Augen und setzte seinen Marsch den Hügel hinauf fort. Wenn er nicht auf sein Trinkgeld als Führer verzichten wollte, sollte er besser der Versuchung widerstehen, die ganze Bande über die Felsen zu werfen. Ein Opfer an die Meeresgötter seiner Vorfahren. Also trabte er wie stets einfach weiter und erreichte schließlich den Gipfel.

Hinter sich hörte er die drei nach Luft schnappen. Die meisten Leute reagierten bei diesem Anblick so. Jimmy drehte sich um und wollte seine übliche Ansprache über die Bedeutung dieses Orts vom Stapel lassen, erkannte dann aber, dass seine Begleiter überhaupt nicht auf die grandiose Aussicht achteten, sondern damit beschäftigt waren, hastig jeden Quadratzentimeter bloßliegender Haut vor den milden Winden zu schützen.

»Ist das kalt!«, meinte der zweite Mann. »Hoffentlich zerspringt die Linse meiner Kamera nicht. Ich fände es absolut scheiße, wenn ich den ganzen verdammten Weg hier raufgewandert wäre und könnte nicht mal was vorzeigen.«

Jimmy ballte die Hände zu Fäusten. Er zwang sich, gleichmütig zu sprechen. »Die Hütte liegt zwischen der Gruppe schwarzer Kiefern da drüben. Warum gehen Sie nicht hin? Wir müssen noch ein bisschen auf die Sonnenfinsternis warten.«

»Gott sei Dank«, sagte die Frau. Sie lehnte sich an den Mann, der sich als Erster beklagt hatte. »Beeilen wir uns, Reggie.«

Jetzt bildete Jimmy das Schlusslicht. Die drei Engländer rannten auf das dürre Gestrüpp aus Kiefern zu, das geschützt in einer Senke lag. Nanook gesellte sich zu ihm und stieß mit der Nase gegen seine Hand – eine Aufforderung, ihn hinter dem Ohr zu kraulen.

»Guter Junge, Nanook«, murmelte Jimmy. Sein Blick fiel auf die Rauchspur im blauen Himmel. Wenigstens hatte sein Sohn seine Pflichten erfüllt und heute Morgen die Kohlen aufgelegt, bevor er zum Festland abgefahren war, um dort die Sonnenfinsternis mit Freunden zu feiern.

Einen äußerst merkwürdigen Augenblick lang überrollte Jimmy eine Woge der Melancholie beim Gedanken an seinen einzigen Sohn. Diese plötzliche Stimmung war ihm unerklärlich, und er schüttelte den Kopf. Das lag an diesem Ort. Irgendwer schien hier stets gegenwärtig zu sein. Vielleicht die Götter meiner Vorväter, dachte er nur halb im Scherz.

Jimmy ging weiter auf die wärmende Schutzhütte zu. Auf einmal wollte er der Kälte ebenso sehr entkommen wie die Touristen. Sein Blick folgte der Rauchspur zur Sonne tief am östlichen Horizont. Eine Finsternis. Seine Vorfahren hatten dazu gesagt, dass ein Wal die Sonne fraß. Die Verfinsterung sollte in den kommenden paar Stunden eintreten.

Plötzlich knurrte Nanook an seiner Seite, ein tief aus der Kehle kommender Laut. Jimmy sah zu ihm hinunter. Der Malamute starrte nach Süden. Stirnrunzelnd folgte er seinem Blick.

Von dem hölzernen Totem abgesehen waren die Felsen leer. Das Ding war übrigens eine Attrappe für die Touristen, irgendwo in Indonesien maschinell gefertigt und per Schiff hierherverfrachtet. Nicht einmal das Holz stammte aus diesen Breitengraden.

Nanook knurrte nach wie vor.

Jimmy konnte sich nicht erklären, was seinem Hund einen solchen Schrecken einjagte. »Ruhig, mein Junge.«

Gehorsam wie immer setzte sich Nanook, zitterte jedoch noch immer am ganzen Leib.

Mit zusammengekniffenen Augen schaute Jimmy über das leere Meer hinaus. Dabei kam ihm ein altes Gebet über die Lippen, das ihn sein Großvater gelehrt hatte. Er war überrascht, dass er sich sogar an den Wortlaut erinnerte, und hätte nicht sagen können, warum er den Drang verspürte, die Worte jetzt auszusprechen. Wenn man allerdings in Alaska überleben wollte, lernte man, der Natur und den eigenen Instinkten Respekt entgegenzubringen – und genau das tat Jimmy jetzt.

Es war, als stünde sein Großvater neben ihm, zwei Generationen, die hinaus aufs Meer schauten. Sein Großvater hatte einen Ausdruck für Augenblicke wie diesen: »Der Wind riecht nach Sturm.«

16.05 Uhr PST (10.05 Uhr Ortszeit)
Hagatna, Guam

Jeffrey Hessmire verfluchte sein Pech, während er durch die Korridore des Regierungsgebäudes eilte. Es war der Tag der Sonnenfinsternis, und die erste Sitzung des Gipfeltreffens war für einen frühen Brunch unterbrochen worden. Die Staatschefs der Vereinigten Staaten und der Volksrepublik China würden laut Terminplan erst anschließend wieder zusammentreffen.

Als Praktikant war Jeffrey mit der Aufgabe betraut worden, während der Sitzungspause die Notizen zu tippen und zu fotokopieren, die der Außenminister sich am Morgen gemacht hatte, und sie dann unter der amerikanischen Delegation zu verteilen. Während sich also die anderen Mitarbeiter am Buffet im Innenhof gütlich taten und ihre Netze zu den Mitgliedern des Präsidentenstabs spannen, musste er den Stenografen spielen.

Was taten sie eigentlich hier draußen mitten im Pazifik? Eher würde ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen, als dass die beiden Pazifik-Mächte jemals ein atomares Abrüstungsabkommen schließen würden. Keines der beiden Länder wollte nachgeben, insbesondere nicht bei zwei entscheidenden Punkten. Der Präsident hatte darauf bestanden, dass auch Taiwan unter den Schutz des allerneuesten Raketenabwehrsystems seines Landes stehen sollte, und der Ministerpräsident der Chinesen hatte jeglichen Vorstoß abgewehrt, die Anzahl der eigenen Interkontinentalraketen mit Nuklearsprengköpfen zu begrenzen. Der einzige Erfolg dieses einwöchigen Gipfeltreffens hatte lediglich darin bestanden, dass die Spannungen zwischen beiden Ländern noch größer geworden waren.

Es hatte nur einen einzigen Lichtblick gegeben, und das war gleich am ersten Tag die Annahme eines Geschenks des chinesischen Ministerpräsidenten durch Präsident Bishop gewesen: die lebensgroße Jadeskulptur eines alten chinesischen Kriegers auf einem Streitross, die Kopie einer ihrer berühmten Terrakotta-Statuen aus der Stadt Xi’an. Die Presse hatte ihren großen Tag gehabt, als sie die beiden Staatsoberhäupter neben der prächtigen Figur fotografiert hatte. Es war ein Tag voller Versprechen gewesen, die bislang unerfüllt geblieben waren.

Als Jeffrey die Bürosuite betrat, die ihrer Delegation zugewiesen worden war, ließ er kurz seinen Ausweis bei dem Wachmann aufblitzen, der kalt nickte. An seinem Schreibtisch angekommen, fiel er in den Ledersessel. Obwohl ihm eine solche Fronarbeit zuwider war, würde er sein Bestes geben.

Er stapelte sorgfältig die handgeschriebenen Notizen neben seinem Computer und machte sich an die Arbeit. Seine Finger flogen nur so über die Tasten, als er Außenminister Elliots Notizen in saubere, klare Maschinenschrift übertrug. Während er dort arbeitete, schwand nach und nach seine Enttäuschung. Dieser Blick hinter die Kulissen der Politik auf höchster Ebene faszinierte ihn. Anscheinend war der Präsident tatsächlich gewillt, bei Taiwan nachzugeben, feilschte jedoch mit der chinesischen Regierung um den Preis dafür. Er beharrte auf einem Moratorium im Hinblick auf einen zukünftigen Ausbau der atomaren Sprengkörper, darüber hinaus auf einer chinesischen Beteiligung am Missile Technology Control Regime, das den Export von Lenkwaffen-Knowhow begrenzte. Elliot war offenbar der Ansicht, dass ein solches Ergebnis durchaus im Bereich des Möglichen lag, wenn sie nur ihre Karten richtig ausspielten. Den Chinesen war nicht an einem Krieg wegen Taiwan gelegen, unter dem alle zu leiden haben würden.

Jeffrey war so in die Notizen des Außenministers vertieft, dass er nicht mitbekam, wie jemand an ihn herantrat. Erst ein Husten hinter ihm ließ ihn hochschrecken. Er drehte hastig seinen Sessel um und sah den groß gewachsenen, silberhaarigen Mann vor sich, der leger mit Hemd und Krawatte gekleidet war und ein Sakko über dem Arm hängen hatte. »Was halten Sie also von der Sache, Mr Hessmire?«

Jeffrey erhob sich so hastig, dass sein Sessel zurückrutschte und gegen einen benachbarten, verlassenen Schreibtisch stieß. »M … Mister President!«

»So beruhigen Sie sich doch, Mr Hessmire.« Der Präsident der Vereinigten Staaten, Daniel R. Bishop, beugte sich über Jeffreys Schreibtisch und las die teilweise fertig gestellte Transkription der Notizen des Außenministers. »Was halten Sie von Toms Überlegungen?«

»Von denen des Außenministers? Mr Elliot?«

Der Präsident richtete sich auf und lächelte Jeffrey müde an. »Ja. Sie haben in Georgetown internationales Recht studiert, nicht wahr?«

Jeffrey war überrascht. Er hätte nie gedacht, dass ihn Präsident Bishop unter den Hunderten anderer Praktikanten erkennen würde, die im Bauch des Weißen Hauses arbeiteten. »Ja, Mr President. Ich lege kommendes Jahr mein Examen ab.«

»Jahrgangsbester und spezialisiert auf Asien, wie ich gehört habe. Was halten Sie also vom Gipfeltreffen? Sind Sie der Meinung, wir können eine Übereinkunft mit den Chinesen herausschinden?«

Jeffrey leckte sich die Lippen. Er war außerstande, Daniel Bishop, dem Kriegshelden, dem Staatsmann und Führer der freien Welt, in die stahlblauen Augen zu sehen. Seine Worte waren lediglich ein Gemurmel.

»Lauter, mein Junge. Ich werde Ihnen schon nicht den Kopf abreißen. Ich möchte lediglich Ihre ehrliche Meinung hören. Warum habe ich wohl Tom gebeten, Ihnen diese Aufgabe zu übertragen?«

Verblüfft blieben Jeffrey die Worte im Hals stecken. Das hätte er nicht gedacht.

»Holen Sie tief Luft, Mr Hessmire.«

Er beherzigte die Empfehlung des Präsidenten, holte tief Luft, räusperte sich und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Langsam sagte er: »Ich … ich bin der Ansicht, Außenminister Elliot hatte völlig recht mit seiner Annahme, dass die Festlandchinesen Taiwan gern ökonomisch vereinnahmen würden.« Er sah auf und schöpfte erneut Atem. »Ich habe die Rückgabe von Hongkong und Macau an China studiert. Anscheinend benutzen die Chinesen diese Regionen als Testgebiete für die Integration demokratischer ökonomischer Strukturen innerhalb einer kommunistischen Struktur. Einige vermuten, dass diese Experimente als Vorbereitung für Chinas Versuche dienen, über Taiwans Integration zu verhandeln. Sie sollen zeigen, wie sehr alle von einer solchen Vereinigung profitieren können.«

»Und was ist mit Chinas wachsendem nuklearem Arsenal?«

Jeffrey sprach fließender, da er sich an der Debatte erwärmte. »Sie haben uns die Kenntnisse auf dem Gebiet der Kernwaffen- und Raketentechnologien gestohlen. Aber China ist von seiner gegenwärtigen Infrastruktur her gesehen nicht in der Lage, diese neuesten Technologien auch anwenden zu können. In vielerlei Hinsicht handelt es sich immer noch um einen Agrarstaat, der schlecht für eine rasend schnelle Ausweitung seines nuklearen Arsenals gerüstet ist.«

»Und Ihre Schlussfolgerung?«

»Die Chinesen haben genau beobachtet, wie eine solche Hochrüstung die Sowjetunion in den Ruin getrieben hat. Den gleichen Fehler werden sie nicht begehen wollen. Im kommenden Jahrzehnt muss China seine eigene technologische Infrastruktur stärken, wenn es seine globale Stellung beibehalten will. Es kann sich ein Wettpinkeln um Atomraketen mit den Vereinigten Staaten nicht leisten.«

»Ein Wettpinkeln?«

Jeffrey bekam große Augen, und sein Gesicht verfärbte sich tiefrot. »Tut mir leid …«

Der Präsident hob eine Hand. »Nein, nein, ich weiß den Vergleich durchaus zu schätzen.«

Plötzlich kam sich Jeffrey wie ein Trottel vor. Was hatte er da für einen Unsinn von sich gegeben? Wie konnte er wagen zu glauben, er dürfe mit seinen Ansichten Präsident Bishops Zeit beanspruchen?

Der Präsident ließ den Schreibtisch los, richtete sich auf und schlüpfte in sein Sakko. »Ich glaube, Sie haben recht, Mr Hessmire. Keines von beiden Ländern möchte es auf einen neuen Kalten Krieg ankommen lassen.«

»Nein, Sir«, murmelte Jeffrey leise.

»Vielleicht können wir darauf hoffen, die Sache zu bereinigen, bevor unsere Beziehungen sich weiter verschlechtern, aber das wird einer geschickten Hand bedürfen.« Der Präsident ging zur Tür. »Bringen Sie Ihre Arbeit hier zum Abschluss, Mr Hessmire, und kommen Sie dann zum Fest im Innenhof herunter. Sie sollten sich die erste Sonnenfinsternis des neuen Jahrtausends nicht entgehen lassen.«

Jeffrey merkte, dass der Kloß in seinem Hals zu dick war, um Antwort geben zu können, als der Präsident den Raum verließ. Er tastete nach seinem Schreibtischstuhl und sank hinein. Präsident Bishop hatte ihm zugehört … ihm zugestimmt!

Er dankte den Sternen für so viel Glück, setzte sich kerzengerade auf und machte sich mit frischen Kräften wieder an die Arbeit.

An diesen Tag würde er bestimmt noch lange zurückdenken.

II

WÄHRENDDESSEN

16.44 Uhr, Pacific Standard Time
San Francisco, Kalifornien

VOM BALKON IHRES Büros hatte Doreen McCloud einen weiten Blick über die San Francisco Bay bis hinüber zu den Molen. Sie erkannte sogar die auf dem Ghirardelli Square versammelten Menschen. Dort war eine Party im Gange, aber sie verlor rasch das Interesse an der Menge unten, denn so etwas wie drüben jenseits der Bay bekäme sie wohl nie mehr im Leben zu Gesicht.

Über dem blauen Wasser hing eine schwarze Sonne, deren Korona hell um die Scheibe des Mondes aufflammte.

Doreen, die eine bei Sharper Image erworbene schmale Sonnenbrille trug, beobachtete, wie lange feurige Streifen vom Rand der Sonne hervorschossen. Sonnenstürme, Flares. Die Astronomieexperten beim CNN hatten eine aufsehenerregende Finsternis vorausgesagt, denn das Ereignis wurde von einer Periode mit einer ungewöhnlich hohen Zahl Sonnenflecken begleitet. Ihre Vorhersagen hatten sich als zutreffend erwiesen.

Die anderen Anwälte und Sekretärinnen links und rechts von ihr stießen Seufzer des Entzückens und der Ehrfurcht aus.

Ein langes Flare schoss von der Sonnenoberfläche hoch. In einem Radio, das im Hintergrund lief, knisterte und knackte es entsetzlich; ein Beweis für die Wahrheit einer weiteren Ankündigung der Astronomen. CNN hatte vorhergesagt, dass die höhere Zahl der Sonnenflecken und die damit verbundene Strahlungsaktivität kurze Interferenzen hervorrufen würden, wenn der Sonnenwind die obere Atmosphäre bombardierte.

Doreen bestaunte die schwarze Sonne und deren Spiegelbild in der Bay. Wie wunderbar, das erleben zu dürfen!

»Hat das noch jemand gemerkt?«, fragte eine der Sekretärinnen mit einem Anflug von Besorgnis.

Da spürte es Doreen – ein Zittern unter den Füßen. Es wurde totenstill. Im Radio knisterte und knackte es fürchterlich. Blumentöpfe begannen zu klappern.

»Erdbeben!«, kreischte jemand überflüssigerweise.

Nachdem sie jetzt so viele Jahre in San Francisco gelebt hatte, waren leichte Beben kein Grund zur Panik mehr. Dennoch hatte natürlich jeder ständig Angst vor dem »Großen Beben«.

»Alle rein!«, ordnete der Chef der Kanzlei an.

Die Leute schubsten und drängelten, um die offenen Balkontüren zu erreichen. Doreen blieb zurück und suchte den Himmel über der Bucht ab. Die schwarze Sonne hing wie ein Loch im Firmament über dem Wasser.

Da kam ihr die andere Vorhersage für diesen Tag wieder in den Sinn. Sie sah die alte, obdachlose, in Lumpen gekleidete Frau vor sich – und ihren Hund.

Heute müssen wir alle sterben.

Doreen wich zur offenen Tür zurück. Der Balkon unter ihren Füßen begann heftig zu schaukeln. Das war kein kleineres Beben.

»Beeilung!«, befahl ihr Chef. »Alle in Sicherheit bringen!«

Doreen floh auf die inneren Büros zu, wusste jedoch, dass sie dort alles andere als in Sicherheit war. Heute müssten sie alle sterben.

16.44 Uhr PST (14.44 Uhr Ortszeit)
Aleuten, Alaska

Jimmy Pomautuk starrte von den Felsen des Glacial Point zur Sonne hinüber, vor die sich langsam eine schwarze Scheibe schob. Nanook trabte ruhelos an seiner Seite auf und ab. Links riefen die drei Engländer einander ehrfürchtige Bemerkungen zu. Die Kälte hatten sie in der Aufregung längst vergessen. Blitze und das Surren der Kameras würzten ihre überschwänglichen Ausrufe.

»Hast du das Flare da gesehen?«

»Mein Gott! Das werden Wahnsinnsaufnahmen!«

Seufzend ließ sich Jimmy auf dem kalten Stein nieder und lehnte sich an das hölzerne Totem, während er zu der schwarzen Sonne über dem Pazifik hinüberschaute. Eine äußerst merkwürdige Düsternis hatte sich über die Inseln gelegt und tauchte alles in ein unwirkliches Licht. Sogar das Meer wirkte glasig und zeigte einen bläulich silbernen Schimmer.

Neben ihm begann Nanook leise zu knurren. Der Hund war den ganzen Morgen über völlig schreckhaft gewesen. Offenbar verstand er nicht, was mit dem Sonnenlicht los war. »Ist bloß ein hungriger Wal-Geist, der die Sonne frisst«, beruhigte ihn Jimmy leise und streckte die Hand nach Nanook aus, aber der Hund war verschwunden.

Stirnrunzelnd warf er einen Blick über die Schulter. Der große Malamute stand zitternd wenige Schritte entfernt da. Der Hund sah nicht zur Sonne über dem Pazifik auf, sondern hinaus in die Ferne, nach Norden.

»Mein Gott!« Jimmy stand auf und folgte Nanooks Blick.

Der gesamte nördliche Himmel, abgedunkelt in der Sonnenfinsternis, wurde von glühenden azurblauen und lebhaft roten Wellen und Wirbeln erhellt, die sich vom Horizont bis hoch hinauf in den Himmel ausbreiteten. Jimmy wusste genau, was er da sah – die Aurora borealis, das Nordlicht. Noch nie im Leben hatte er ein so großartiges Schauspiel erlebt. Am Himmel wirbelte und schäumte es wie ein schimmerndes Meer.

Einer der Engländer war durch Jimmys erstaunten Ausruf aufmerksam geworden und meinte: »Die Nordlichter sollten doch zu dieser Jahreszeit eigentlich nicht zu sehen sein?«

»Sollten sie auch nicht«, erwiderte Jimmy ruhig.

Die Engländerin, Eileen, trat näher heran, eine Kamera vor dem Gesicht. »Wunderschön. Fast besser als die Sonnenfinsternis.«

»Das muss seine Ursache in den Sonneneruptionen haben«, bemerkte ihr Gefährte. »Da prasseln energiegeladene Teilchen auf die obere Atmosphäre ein.«

Jimmy sagte kein Wort. Für die Inuit war das Nordlicht stets Bote bedeutender Ereignisse, im Sommer sogar bevorstehender Katastrophen.

Als hätte es seine innersten Gedanken gelesen, zitterte das Totem unter Jimmys Hand. Nanook begann zu heulen, was er ansonsten niemals tat.

»Bebt etwa die Erde?«, fragte Eileen, die schließlich besorgt ihre Kamera senkte.

Wie zur Antwort erschütterte ein gewaltiges Beben die Insel. Mit einem unterdrückten Aufschrei fiel Eileen auf Hände und Knie. Die beiden Engländer eilten ihr zu Hilfe.

Jimmy blieb stehen. Er umklammerte nach wie vor das hölzerne Totem.

»Was tun wir jetzt?«, kreischte die Frau.

»Wird schon gut gehen«, beschwichtigte sie ihr Freund. »Wir reiten einfach drauf, bis es vorbei ist.«

Jimmy schaute zu den Inseln hinaus, die in dieses außerweltliche Licht getaucht waren. Oh, mein Gott. Er flüsterte ein Gebet des Danks, dass sein Sohn aufs Festland hinübergefahren war.

Draußen im Pazifik versanken die entfernteren Inseln der Aleuten wie riesenhafte Ungeheuer, die unter die Oberfläche abtauchten. Schließlich und endlich waren die Götter des Meeres gekommen, um sie für sich zu beanspruchen.

16.44 Uhr PST (10.44 Uhr Ortszeit)
Hagatna, Guam

Jeffrey Hessmire stand im begrünten Innenhof der Residenz des Gouverneurs und sah ehrfürchtig zu der totalen Sonnenfinsternis auf. Als Sechsundzwanzigjähriger hatte er zwar schon die eine oder andere partielle Sonnenfinsternis gesehen, war aber noch nie Zeuge einer totalen geworden. Guam war als Tagungsort für den Gipfel ausgewählt worden, weil es der einzige Platz in ganz Amerika war, an dem man sie erleben konnte.

Jeffrey war hellauf begeistert gewesen von der Möglichkeit, an diesem seltenen Ereignis teilzunehmen. Er war mit dem Niedertippen und Fotokopieren der Notizen des Außenministers so rechtzeitig fertig geworden, dass er noch den Schluss des Spektakels mitbekam.

Mit einer billigen, geschwärzten Brille auf der Nase stand Jeffrey zusammen mit den anderen US-Delegierten am westlichen Eingang zu den Gärten, während sich die Chinesen am entgegengesetzten Ende drängten. Die beiden Gruppen mischten sich nur wenig. Es war, als läge sogar hier der Pazifik zwischen ihnen. Ungeachtet der Spannungen im Innenhof schaute Jeffrey weiter zu, wie heftige Entladungen aus der Sonnenkorona hervorbrachen. Ein paar der Flares schossen weit in den dunklen Himmel hinaus.

Eine Stimme ertönte neben ihm. »Wunderbar, stimmt’s?«

Jeffrey drehte sich um und fand erneut den Präsidenten unmittelbar hinter sich stehen. »Präsident Bishop!« Er wollte schon die Brille absetzen.

»Nicht! Genießen Sie den Anblick. Die nächste Finsternis soll erst wieder in zwanzig Jahren stattfinden.«

»J-ja, Sir.«

Langsam wandte er sich wieder dem Himmel zu.

Der Präsident schaute gleichfalls hinauf und sagte leise: »Für die Chinesen bedeutet eine Sonnenfinsternis die Warnung, dass sich die Tiden des Schicksals beträchtlich ändern – entweder zum Guten oder zum Schlechten.«

»Zum Besseren«, erwiderte Jeffrey. »Für unsere beiden Völker.«

Präsident Bishop schlug ihm auf die Schulter. »Der Optimismus der Jugend. Ich hätte Sie mit dem Vizepräsidenten reden lassen sollen.« Er schloss diese Bemerkung mit einem spöttischen Schnauben ab.

Jeffrey verstand. Lawrence Nafe, der Vizepräsident, hatte so seine eigenen Ansichten, wie man mit einer der letzten kommunistischen Bastionen umspringen sollte. Während er nach außen hin Bishops diplomatische Bemühungen unterstützte, die chinesische Lage zu lösen, sprach sich Nafe hinter den Kulissen für eine aggressivere Haltung aus.

»Sie werden bestimmt Erfolg haben und eine Übereinkunft erzielen«, meinte Jeffrey. »Da bin ich mir sicher.«

»Wieder dieser verdammte Optimismus.« Der Präsident wandte sich ab und nickte auf ein Zeichen des Außenministers hin. Mit einem müden Seufzer schlug er Jeffrey nochmals auf die Schulter. »Offenbar ist es erneut Zeit für einen Versuch, die ramponierten Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern wiederherzustellen.«

Als Präsident Bishop sich gerade anschickte zu gehen, bebte die Erde.

Jeffrey spürte, wie ihn der Präsident fester an der Schulter packte. Beide Männer gaben sich alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben. »Erdbeben!«, schrie Jeffrey.

Ringsumher ertönte das Klirren von zerbrechendem Glas. Jeffrey schaute auf und schirmte sich das Gesicht mit einem Arm ab. Alle Fenster der Residenz waren zerbrochen. Mehrere Mitglieder der Delegation, jene, die den Wänden des Innenhofs am nächsten gestanden hatten, lagen inmitten des Scherbenregens, übersät mit Schnittwunden.

Jeffrey wollte hinüber, ihnen helfen, fürchtete sich jedoch zugleich davor, den Präsidenten im Stich zu lassen. Auf der anderen Seite des Innenhofs flohen die chinesischen Teilnehmer am Gipfeltreffen in das Gebäude und suchten dort Schutz.

»Mr President, wir müssen Sie in Sicherheit bringen«, sagte Jeffrey.

Das Poltern unter ihren Füßen wurde schlimmer. Die Kitschskulptur eines Schwans mit langem Hals stürzte um.

Flankiert von zwei stämmigen Agenten des Geheimdienstes kämpfte sich der Außenminister durch die erschrockene Menge zu ihnen herüber. Einmal angekommen, packte Tom Elliot den Präsidenten am Ellbogen. Er musste schreien, damit er über das Poltern und Krachen hinweg zu verstehen war. »Kommen Sie, Dan! Zurück zur Air Force One. Wenn diese Insel auseinanderfällt, müssen Sie von hier verschwunden sein!«

Bishop schüttelte die Hand des Mannes ab. »Aber ich kann nicht gehen …«

Irgendwo im Osten dröhnte eine laute Explosion, die jegliches Gespräch im Keim erstickte. Ein Feuerball flog in den Himmel.

Jeffrey ergriff als Erster das Wort. »Sir, Sie müssen gehen!«

Das Gesicht des Präsidenten zeigte weiterhin besorgte Anspannung. Jeffrey war bekannt, dass der Mann in Vietnam gedient hatte und niemand war, der einfach davonlief.

»Sie müssen«, fügte Tom hinzu. »Sie können nicht Ihr Leben aufs Spiel setzen, Dan. Dieser Luxus steht Ihnen nicht mehr zu … Nicht, seit Sie den Amtseid geschworen haben.«

Der Präsident krümmte sich regelrecht unter der Last ihrer Argumente. Das Beben wurde schlimmer; die Ziegelwände der Residenz zeigten Risse und Spalten.

»Schön, gehen wir«, meinte er angespannt. »Aber ich komme mir wie ein Feigling vor.«

»Ich habe den Wagen zum Hinterausgang beordert«, sagte der Außenminister und wandte sich dann Jeffrey zu, als der Präsident davonging, die beiden Männer vom Geheimdienst im Schlepptau. »Bleiben Sie bei Bishop. Bringen Sie ihn an Bord dieses Flugzeugs.«

»Was … was ist mit Ihnen?«

Tom wich einen Schritt zurück. »Ich werde so viele Delegierte wie möglich einsammeln und zum Flugplatz scheuchen.« Bevor er sich abwandte, fixierte er Jeffrey mit ernstem Blick. »Sorgen Sie dafür, dass dieses Flugzeug abhebt, wenn auch nur das geringste Risiko besteht, dass der Präsident ansonsten hier in der Falle säße. Warten Sie nicht auf uns!«

Jeffrey schluckte heftig und nickte. Dann eilte auch er davon.

Sobald er an der Seite des Präsidenten war, hörte Jeffrey den Mann murmeln, während er zu der abgedunkelten Sonne hinaufschaute: »Anscheinend hatten die Chinesen recht.«