Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert
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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74093-269-5
Dieses Buch behandelt ein Kapitel, dem leider immer zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. Es ist ein Kapitel über Männer, die tapfer gewesen sind. Nicht alle von ihnen waren Engel, dazu lebten sie in einer zu harten Zeit und in einer Welt, die wir heute manchmal schwer verstehen können.
Dies ist die Geschichte, die auf Tatsachen fußt, die eine Handvoll Männer – wie viele andere ihresgleichen – in den Wirren des sich dem Ende nähernden Bürgerkrieges zwischen den Nord- und Südstaaten erlebt haben.
Eine Handvoll Männer, die härtesten und erfahrensten Männer, die es auf der Seite der Südstaaten gab, wurden ausgeschickt, um Sonderkommandos auszuführen.
Heute würden wir sagen, sie waren Soldaten, die man zu einem »Himmelfahrtskommando« hinter die feindlichen Linien schickte.
Aber damals – damals entbehrte der Krieg nicht einer gewissen Ritterlichkeit. Heute ist sie beinahe gänzlich ausgestorben.
Damals entschied der persönliche Mut, die ganz persönliche Tapferkeit. Die Umsicht und die Kenntnis eines Truppenführers über Leben und Tod seiner Männer. Zwar war der amerikanische Bürgerkrieg ohne jeden Zweifel der erste moderne Krieg mit »offenem Visier«.
Damals lockte Männer das Abenteuer. Und so fanden sich Spezialisten zusammen, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kamen. Der eine diente als Scout bei der Armee, nachdem er lange Jahre in der Wildnis auch Scout gewesen war. Der andere konnte mit einem Messer wie mit einem Zahnstocher umgehen. Der nächste wieder konnte alles in die Luft sprengen, angefangen vom Geldschrank, aufhörend beim Stein in einem Steinbruch. Und einer schließlich konnte auch Fachmann für das Wasser sein. Es mußten Flüsse überquert, Seen durchschwommen oder mit einem Floß bezwungen werden.
Ja, es gab Männer, die mit einer Nußschale von Boot die fürchterlichste Blockade, die jemals ein Land – die Südstaaten von Amerika – über sich ergehen lassen mußte, durchbrechen konnten.
Wie gesagt, eine Handvoll Männer, die aus allen möglichen Berufen kamen und aus einem Straflager der Armee. Dieses Lager existiert heute noch, allerdings nicht mehr als Straflager.
Es waren die wildesten, rauhesten Männer die es gab. Und sie ritten Ios, sie durchquerten Flüsse und jagten im Rücken des Feindes seine Bahnlinien hoch. Diese Taten sind historisch belegt, aber sie werden zu wenig erwähnt, jedenfalls bei uns in Europa.
Die Männer zogen aus, zogen wie der berühmte Morgan in seinem Ritt von Bunkesville in Kentucky bis New Lisbon in Ohio, dicht an den Erie See, weit in den Rücken des Feindes.
Südstaatengeneräle wie Kirby Smith, Bragg und der berühmte Morgan, trieben sich mit mehreren hundert Mann im Hinterland der Nordstaatenarmeen herum. Zum Beispiel brachte Morgan das Kunststück fertig, mit viertausend Mann aufzubrechen, von denen aber vierhundert, also zehn Prozent, keine Waffen besaßen. Als er losritt, da versprach Morgan, daß er für seine vierhundert Waffenlosen den Yankees, also den Nordstaatlern, die Waffen abnehmen würde.
Er tat es!
Die Louisville und Nashville Eisenbahngesellschaft hatte von Februar bis März 1863 über zwanzig Attentate auf Züge, Brücken und die Gleiskörper zu verzeichnen. Die Südstaatler jagten die längste, schönste und teuerste Brücke der L und N über den Green River in die Luft. Sie ließen, nachdem sie die Gleise im South Tunnel, Tennessee, blockiert hatten, einen ganzen Zug, den sie erbeutet hatten, in den Tunnel rollen. Und der Zug brannte dabei. Der Tunnel war restlos blokkiert. Der Tunnel stürzte ein. Fast vier Meter hoch lagen Felsen und Erde im Tunnel, zweihundertfünfzig Yards lang krachte der Tunnel zusammen. Erfolg: Der Nachschub der Nordstaatenarmeen kam gewaltig ins Stocken.
Bei Shepherdsville jagten sie die Brücke über den Salt River in die Luft. Sie fuhren frech, frank und frei in einem angehaltenen und erbeuteten Zug nach Glasgow, kamen am Heiligabend dort an, überrumpelten die Nordstaatenbesatzung, die natürlich mit ihrem schönen Zug auch Nordstaatler, aber nie im Leben Südstaatler erwartet
hatte – und – nun ja, dann setzten sich die Südstaatler hin und brieten
die Truthähne der Nordstaatler zu Ende, die für das Weihnachtsmahl bestimmt waren, um sie letztlich aufzuessen.
Man könnte diese Schilderung seitenlang fortsetzen. Jedoch schweifen diese absoluten Abenteuertaten weit von der eigentlichen Materie ab.
Als der Süden nun buchstäblich in den letzten Zügen lag, als der Hunger umging, die Munition sehr knapp wurde und kaum noch Schiffe die Blockade durchbrechen konnten, da schickte General Kirby Smith wieder einmal einen Trupp jener Tapferen los. Dieser Trupp bestand nur aus Spezialisten, von denen eigentlich keiner ein Engel war. Dieser Trupp bekam eine bestimmte Aufgabe, die er – im Krieg sind fast alle Mittel erlaubt – auf Biegen und Brechen zu lösen hatte. Die Armee brauchte Geld, gutes Geld, also Yankeegeld, denn der Südstaatendollar war nicht mehr – wie Jay Gould, der größte Finanzier des Nordens einmal sagte – das Papier wert, auf dem er gedruckt wurde.
Diese Männer holte man aus einem Straflager mit dem schönen Namen »Camp Seeblick«. Es war jedoch ein Moorlager. Dorther holte man sie. Einige von diesen Männern waren schon im Zivilleben gefährlich für ihre Umwelt gewesen. Jetzt wurden sie im Krieg mit dem Befehl, auf Biegen und Brechen ihren Auftrag auszuführen, losgelassen. Und sie taten es, aus ganz verschiedenen Beweggründen.
Wie sie es taten, und warum sie es taten, das beschreibt dieses Heft von der ersten Sekunde an, in der diese Männer zusammentrafen. Aus den Taten dieser Männer ersieht man ihre Charakterstärke. Einer besaß wenig davon, der andere mehr.
So zogen sie los, aber die Rückkehr – nun, das muß man selber lesen.
Hier ist er, der Bericht über eine Handvoll Männer.
Über die »Rotte der Tapferen«.
Quellenangaben: S. H. Holbrook: American Railroads. – John E. Conroy: Behind The Lines.
*
Das Camp hat einen schönen Namen, es heißt »Seeblick«. Und es liegt zweieinhalb Meilen unterhalb der Einmündung des Village Baches in den Neches River.
Es gibt keinen Ausblick auf einen See, es gibt hier nichts, was schön zu nennen ist. Dafür aber gibt es Sumpf, schmutzigen, schmatzenden, saugenden Sumpf. Es gibt Schilf hier. Mit Schilf kann man ein Feuer machen, wenn es trocken ist. Mit Schilf kann man auch Häuserdächer decken. Und am Schilf kann man sich schneiden.
In der Phantasie der 36 Männer ist das Schilf wie Barthaar, das ein großes Maul bedeckt. Das Schilf ist die Oberfläche, durch die niemand blicken kann. Unter dem Schilf, jenem sehr schwankenden, von Wurzelwerk durchzogenen Boden, der schwankt, wenn man auf ihn tritt, ist Sumpf. Wie tief, das wissen sie nicht. Sie wissen nur, daß es Wahnsinn ist, in das Schilf zu springen, denn dann werden sie ertrinken. Nicht etwa im klaren Wasser, sondern in der sumpfigen Brühe, die Blasen wirft und stetig irgendwo ein Glucksen von sich gibt.
Der kleine, magere Kliburn blickt nach vorn. Er kann die Bajonette sehen. Es sind sechs schöne, blanke Bajonette, die ab und zu blinken, wenn die Sonne durch die Wolken kommt.
Sechs, denkt Kliburn, vorn sechs und hinten sechs, das sind zwölf. So wahr ich meines Vaters Sohn bin und rechnen kann, es sind nur zwölf. Und wir sind sechsunddreißig.
36 Männer, die die Hölle ausgespuckt haben kann. Jedenfalls sagt das Master-Sergeant Ducan. Und da der alles immer weiß, so wird er auch hierin recht haben. Die Hölle hat uns ausgespuckt, wie?
»Verdammte Mücke!«
Der das sagt und einmal mit der Hand in seinen Nacken klatscht, ist Quincy Morgen.
Kliburn blickt nach rechts. Die Biegung des Sumpfweges kommt. Und hinter der Biegung…
Quincy reibt seine große, breite Hand, die die Form eines Kuchentabletts hat, an der Hose ab und sagt böse:
»Morgen schlage ich euch alle tot. Verdammtes Mückenpackzeug!«
Dann muß er wohl bemerken, daß der kleine, zähe Kliburn, der über ungewöhnliche Kräfte verfügt, obwohl er so klein und mager wirkt, nach vorn sieht auf jene Biegung. Und schon sagt Quincy wütend:
»Morgen schmeiße ich Ducan rein!«
Es ist sein Glück, daß die vorderen Posten mehr als zehn Yards und die hinteren etwa 20 Yards entfernt sind. Wenn einer von ihnen Quincy reden hörte, vielleicht würden sie Quincy wieder durch den Schlamm jagen. Und dann eine halbe Stunde später Uni-formappell machen – mit Quincy, versteht sich.
»Quincy, sei leise!«
»Blödsinn, hört uns ja doch keiner«, sagt Quincy Morgen verbissen. »Da ist schon wieder so ein kleines, schmutziges elendes Vieh. Es kommt, siehst du, es sucht sich meine Nasenspitze zur Landung aus, als wenn es sich nicht…«
Kliburn sieht sich um. Und tatsächlich – es ist eine der schönsten Sumpfmücken, die sich auf Quincy Morgens Nase setzt. Dann interessiert Kliburn die Mücke nicht mehr, denn Quincys Augen erwecken seine volle Aufmerksamkeit.
Quincy versucht mit beiden Augen nach seiner Nasenspitze zu blicken, eine Sache, die den Augäpfeln eine mehr als eigenartige Stellung gibt. In diesem Augenblick schielt Quincy wie die letzte Indianersquaw der Schielaugen-Indianer. Ob es die jemals gegeben hat, das weiß Kliburn nicht, aber bei der Armee hat man die seltsamsten Ausdrücke, dies ist auch einer.
Dann holt Quincy aus. Er macht es langsam, denn er könnte sich mit seiner riesengroßen Hand bestimmt die Nase zertrümmern. Kliburn, der den Kopf nach hinten gewendet hat, geht einen Takt zu schnell. Darum stolpert er über Steve Mulligans rechten Hakken.
Mulligan stolpert nun auch und fällt dann der Länge nach hin. Mitten in den schönsten Schlamm, der in einer Lache auf dem Weg ist. Dort liegt er nur einen Moment, dann schnellt er hoch und sieht Kliburn wild an. Er sieht aus wie ein Nigger.
»Du kleiner, windiger Messerwerfer«, sagt er wütend. »Kannst du nicht aufpassen?«
»Tut mir leid, Steve.«
»Blöder Kerl, tut ihm leid. Als wenn dir jemals was leid täte. Paß gefälligst auf, ich bin jetzt schon dreckig wie die letzte…«
In diesem Moment klatscht es hinter Kliburn, und Qunicy Morgen sagt befriedigt:
»Dich kleines Luder hab’ ich erwischt, was? Von wegen Quincy in die Nase stechen, daß die wie eine Gurke aussieht, was? Morgen bringe ich euch alle um, ihr Mistviecher.«
Dann wischt er sich über die Nase und grinst Kliburn an, der genauso weitertrottet wie Mulligan.
»Dich trete ich noch, verlaß dich darauf«, zischelt Mulligan im Weitergehen. »Kleiner, frecher Kerl, der du bist, dich schlage ich windelweich.«
»Laß den Kleinen in Ruhe«, meldet sich Quincy Morgen. »Du bist ein Schläger, Steve, aber faß den nicht an, wer weiß, in welchen Hals ich das bekomme, wie? Laß ihn in Ruhe, was ist denn schon dabei, wenn er stolpert?«
Mulligan wirft ihm einen stechenden Blick zu und schweigt. Es ist besser, nichts mit Quincy Morgen anzufangen. Warum ausgerechnet Quincy Morgen, ein Mann wie ein Baum, eine Schwäche für den kleinen Kliburn hat, das weiß keiner, es ist aber so. Kliburn bekommt – und alle beneiden ihn darum, von Quincy Morgens selbstgebrautem Schnaps jedesmal eine Portion ab. Diese Auszeichnung erhält sonst keiner, höchstens mal Harris, der hinter Quincy marschiert.
»Ducan möchte ich haben«, sagt Quincy Morgen hinter Kliburn fauchend. »Den möchte ich mal haben – und eine Stange, ist mir ganz gleich, was für eine Stange es ist, aber eine möcht’ ich schon haben. Und dann würde ich ihn da hinten mal eben in den Schlamm stoßen. Das möchte ich zu gern, das kannst du mir glauben, Max.«
Maxwell Harris sieht seinen düsteren Blick und schüttelt den Kopf.
»Du wirst ihn nie bekommen, Quincy, nicht heute, nicht morgen, nie mehr. Wir werden alle etwas bekommen, ein Stück Blei, wenn sie uns wieder nach vorn schicken, damit wir gute Soldaten sind.«
»Morgen«, erwidert Quincy wild. »Morgen erwische ich ihn. Und dann halte ich ihn hoch und werfe ihn ins Moor, ich tue es. Morgen.«
»Ja, morgen«, murmelt Max Harris. »Morgen – alles wird bei dir morgen sein. Du träumst, Quincy!«
»Du nicht?« fragt Quincy heiser. »Träumst du nicht auch? Erzählst du nicht immer von Bergen, auf denen oben der Schnee liegt, du NevadaOchse? Bah, wenn ich dich schon reden höre, immer deine Berge. Was will ich denn mit Bergen, frage ich dich? Erstens muß man klettern, zweitens kann man nicht weit genug sehen. Wasser mußt du haben, Planken unter den Stiefeln. Irgendein Block muß knarren, ein Seil sich reiben und Wasser glucksen, verstehst du?«
»Wasser? Hast hier auch welches, wie?«
»Dreckwasser, Mistzeug! Das nennst du Wasser? Sumpf ist das, Sumpf, in dem man wie eine Ratte ersaufen kann.«
Der dritte Mann hinter ihm, Dallard, sagt:
»Du hast ein Gemüt wie ein Fleischerhund, Morgen, was?«
»Gleich komm ich und werfe dich rein«, sagt Quincy.
»Narr, immer sagst du dein Morgen.«
»Was ich sage oder nicht, das bestimme ich hier, Drückeberger, ist dir das langsam klargeworden?« fragt Quincy scharf. »Wenn du unseren Stall heute wieder nicht saubermachst, dann passiert dir was. Darüber denke mal nach.«
Daraufhin schweigt Dallard und schlägt nur etwas zu heftig nach einer Mücke, die sich auf sein linkes Handgelenk gesetzt hat. In diesem Schlag liegt die ohnmächtige Wut, die er seit Tagen auf Quincy mit sich herumträgt.
Quincy hat ihn dabei erwischt, wie er nachts heimlich an Mulligans Maisbrot gegangen ist. Mit dieser Entdeckung haben sie alle endlich gewußt, wer ihnen immer Essen stiehlt. Zuerst haben sie Dallard verprügeln wollen, dann aber gemeinschaftlich das Urteil gefällt: Dallard das Zeltinnere sechs Wochen säubern zu lassen, die beste Strafe für Dallard, der sich sonst dauernd drückt.
Vor ihnen liegt nun das Sumpfgelände, jene Wiese, die sie mit einem Grabensystem durchziehen sollen, um sie zu entwässern. Sie haben sogar Schienen und Loren, um einen Damm zu bauen. Jedoch ist es eine völlig sinnlose Arbeit, denn das nächste Hochwasser reißt den kaum befestigten Damm sicher wieder ein.
Die Kolonne marschiert, 36 Mann, die alle etwas ausgefressen haben, denn umsonst kommt niemand nach Camp Seeblick, bestimmt nicht. Einer hat einen Vorgesetzten fast erstochen, ein anderer hat versucht, die Armee zu verlassen. Der nächste hat bei Zivilisten geplündert. Und so weiter… Jeder hat etwas ausgefressen, was ihn in das Strafcamp Seeblick gebracht hat.
Sam Kliburn, der Mann, der am Rio Grande aufgewachsen ist und mit dem Messer wie kein anderer umgehen kann, trottet weiter.
Dreckslager, denkt Sam Kliburn bitter, alles voller Mücken, und keine richtigen Baracken. Ein paar dieser Holzdinger sind ja da, aber sonst nur Zelte. Die Planen werden nie trocken, der Boden auch nicht. Das Stroh ist ständig feucht, das Leder unserer Schuhe – und was für Schuhe haben wir denn? – ist immer voller Schimmelflecken. Waffen – mein lieber Mann, die wissen verdammt genau, warum sie uns keine Waffen geben, die Burschen.
Es ist unmöglich zu fliehen. Es haben schon viele Männer versucht. Erstens ist ringsumher nur Sumpf, zweitens wird die einzige Straße, die aus dem Sumpf führt, ständig durch Wachen kontrolliert. Es würde leichter sein, aus einem Jail zu fliehen, statt aus Camp Seeblick, soviel ist sicher.
Zu Fuß, das ist die einzige Chance, aber es gibt hier Bluthunde, eine Menge Bluthunde, die man sich von Baumwollpflanzern geholt hat. Diese Hunde sind auf jede Spur dressiert, sie finden alles, was sie zu suchen haben. Man kommt nicht weg, hat man kein Pferd.
Ein Pferd, denkt Kliburn, mein Gott, ich möchte wirklich mal wieder auf einem Pferd sitzen, aber die Pferde stehen in einem Schuppen außerhalb des eingezäunten Lagers. Die Posten sehen jeden, der hinaus will. Ausgerechnet ich, ein Pferdemann, muß marschieren. So ein Irrsinn von mir, aber wir haben nun mal Hunger gehabt. Bei der Armee gibt es im vierten Kriegsjahr nichts mehr zu essen, wenn man Pech hat. Darum habe ich die beiden Pferde gestohlen, und dann haben wir sie gegessen. Was macht man nicht alles aus Hunger, was? Und was nicht alles für andere? Das ist das letzte Mal in meinem Leben gewesen, daß ich etwas für andere getan habe, soviel ist sicher. Zuerst haben sie gesagt: Du bist der geborene Pferdedieb, Sam, also versuch mal, ob du uns was für unsere leeren Mägen verschaffen kannst! – Und dann habe ich es versucht, aber danach – da haben sie mich im Stich gelassen. Na gut, habe ich gesagt, ich habe sie gestohlen, ist richtig, Captain, ich bin’s gewesen, ich allein. Konnte ich wissen, daß es der Gaul vom Colonel war, den wir aufgegessen haben?
Er grinst, der Sam Kliburn. Vielleicht hätte sein Captain die Sache abbiegen können, aber... Mensch, klaue einer bei der Armee ausgerechnet den Gaul vom Colonell Das gibt vielleicht einen Wirbel, Leute!
Sam Kliburn kichert, Quincy hebt den Kopf, er hat schon wieder ein halbes Dutzend Mücken um ihr kurzes Leben gebracht und fragt:
»Warum kicherst du, Kleiner?«
»Ich hab’ an den rotgesichtigen Colonel und seinen Gaul denken müssen, Quincy.«
»Höh«, antwortet Quincy. »Dessen Gesicht hätt’ ich mal sehen wollen, als er seinen Gaul vermißt hat.«
Quincy Morgen lacht laut, und Sergeant Ducan, der vorn geht, fährt herum.
»Wer lacht da, welcher Hornochse findet hier etwas lächerlich?« fragt er scharf und böse. »Quincy Morgen, sieh mal einer an, der Bulle da hinten, der ist es schon wieder. Quincy, was hast du zu lachen?«
Er läßt die anderen weitermarschieren und kommt auf seinen kurzen, stämmigen Beinen, die die Hosen prall sitzen lassen, einige Schritte herangestapft. Dabei blickt er aus seinen tiefliegenden, manchmal stechend wirkenden Augen Quincy an, der das Gesicht verzieht, nicht mehr lacht und knapp sagt:
»Der Kleine hat einen Witz gemacht. Na und? Kann man hier nicht mal mehr lachen? Willst du mir das verbieten, Ducan?«
Die 35 Strafsoldaten verlangsamen unwillkürlich ihre Schritte, sie kennen Ducan alle. Und kaum einer ist unter ihnen, der den Sergeanten nicht fürchtet. Dieser Ducan mit seiner vierschrötigen Figur, dem herabhängenden Schnauzbart und dem kurzgeschorenen Haar kann gemein werden, wenn man ihn ärgert. Und Quincy Morgen ist genau der Mann, über den sich Ducan immer ärgert. Die beiden mögen sich nicht. Weder kann Ducan Quincy leiden noch kann Quincy den Sergeanten sehen, ohne daß er ihn irgendwie frech ansieht.
Vielleicht kommt die Spannung zwischen den beiden daher, daß sie beide auf ihre Art unheimlich stark sind. Von Ducan sagt man, daß er eine volle Kneipe allein leerprügeln kann. Und von Quincy sagt man genau dasselbe.
Nun nennt Quincy den Sergeanten einfach Ducan, etwas, was Ducan sofort wild werden lassen muß.
»Abteilung«, sagt da Ducan auch schon fauchend und tritt zwei Schritte zur Seite. »Abteilung – halt!«
Sie halten an, aber wie sie anhalten, das kann jeden Sergeanten auf den höchsten Baum treiben. Dieser Haufen, den Ducan den größten Sauhaufen nennt, der ihm jemals untergekommen ist, bleibt so stehen, daß sich einem Sergeanten der Magen umdrehen muß. Hier schwankt ein Mann, dort macht einer noch einen halben Schritt – jener kratzt sich am Hinterkopf, der andere spuckt aus und zwei reden sogar.
»Das nennt ihr also halten?« fragt Ducan gefährlich leise. »Ihr nachgemachten Figuren, das soll die Ausführung eines Kommandos sein? Euch werde ich noch die Beine lang machen!«
Und dann folgen zwei Minuten all jene Ausdrücke, die sie alle kennen. Es sind so schöne Ausdrücke, daß man sie nur bei der Armee zu hören bekommen kann.
Endlich schweigt Ducan, er sieht die Männer der Reihe nach unheilverkündend an und konzentriert seinen Blick dann auf Quincy Morgen.
»Du lachst also, Morgen?« fragt er freundlich. »Du Großmaul, dessen Klappe einen Walfisch verschlingen könnte, du lachst, wie? Und der da, dieser Pferdedieb und Strolch, der erzählt Witze beim Marsch, Kliburn, du Schrumpf-Amerikaner, dir geht es also gut, wie? Dir geht es so herrlich, daß du sogar Witze erzählen kannst? Kliburn – Quincy! Achtung!«
Quincy starrt den Sergeanten an und nimmt langsam so etwas wie eine halbmilitärische Haltung ein. Kliburn wird etwas blaß, zuckt zusammen und drückt im Strammstehen das Kinn gegen die Brust.
»Liiinks!« brüllt Ducan. »Um!«
Sie führen das Kommando aus. Kliburn schnell, denn er kann nichts langsam tun, Quincy aber so bedächtig wie ein satter und müder Bär, den man aus dem Winterschlaf gescheucht hat. Nun stehen sie ihm Auge in Auge gegenüber. Kliburn sieht Harry Ducan so ruhig wie nur möglich an. Er ahnt schon, was jetzt kommt, es ist unabänderlich. Ducan ist so ruhig, daß man hinter der Ruhe seine Wut spüren kann.
Quincy Morgen aber grinst nur. Er grinst ganz offen, denn weder Ducan noch irgendein anderer Sergeant der Armee werden ihn jemals fertigmachen können, das weiß er nur zu gut.
»Quincy, du grinst ja noch immer?« fragt Ducan wütend. »Dir geht es auch zu gut, was? Du lachst gern, wie, und der da erzählt Witzchen, sieh mal einer an. Sie sind hier auf einem Sonntagsausflug, die schwatzen, erzählen sich Witze und lachen wie pilgernde Ausflügler am Sonntag. Quincy, weißt du, warum du hier bist?«
»’türlich«, sagt Quincy gelangweilt. »Ich hab’ drei Fässer mit Alkohol, die für ein Lazarett bestimmt gewesen sind, gestohlen, den Alkohol verdünnt und ihn ausgetrunken, Ducan. Ich sage dir, Mann, ich bin selten so prächtig betrunken gewesen!«
Ducan wird weiß vor Wut, knirscht mit den Zähnen und sagt dann:
»Der Alkohol ist für Verwundete bestimmt gewesen, für ein Lazarett, Mann! Sie hätten dich erschießen sollen, sofort erschießen.«
»Hätte dir so gepaßt«, erwidert Quincy. »Stell dir vor, dann hätte ich dich ja gar nicht zu sehen bekommen, du Etappenbulle!«
Jetzt ist Ducan schneeweiß, wird aber gleich darauf feuerrot.
»Private Quincy Morgen«, sagt Ducan – aber das gilt sicher für alle anderen, denn keiner hat mehr seinen alten Dienstrang. »Ich habe drei Jahre lang an der Front gestanden, ich bin nur hier, weil meine Beinwunde so lange Zeit gebraucht hat, um endlich zu heilen.
Ich habe sieben Auszeichnungen bekommen, damit du es genau weißt. Und wenn der Major mich gehen lassen würde, dann wäre ich längst nicht mehr bei euch Gesindel. Er läßt mich nur nicht gehen, weil er Leute wie mich braucht, Leute, die mit derartigem Gesindel, wie ihr es seid, fertig werden können. Darum bin ich noch hier, Burton, ich würde dreimal lieber an der Front sein. So, jetzt wißt ihr es. Und nun paß mal auf, Private Morgen! Da vorn fängt der Graben an, siehst du den, ja? Du auch, Kliburn? Dann ist es gut. Hinlegen!«
Quincy läßt sich im Zeitlupentempo auf die Knie herab, er sieht Ducan an und legt sich dann ächzend, dabei jedoch irgend etwas murmelnd, hin.
»Was hast du gesagt, Morgen? Was du gesagt hast? Du hast gesagt, daß ich eine verkommene Dreck… Hast du das gesagt?«
»Du mußt dir mal die Ohren waschen, Sergeant«, erwidert Quincy Burton spöttisch. »Vielleicht hörst du dann besser?«
»Ja, ich höre dann besser. Kliburn, kriechen, auf den Graben zukriechen!«
Er sieht Kliburn gar nicht an. Kliburn wird kriechen, weil er weiß, was geschieht, wenn er den Befehl nicht ausführt. Sie bekommen ohnehin schon nicht genug Verpflegung, aber in dem Loch, das sich Strafjail nennt, bekommen sie fast nichts. Zudem kommen die Mücken!
»Corporal Dennison, das Gewehr!«
Dennison rennt los, bringt Ducan das Gewehr und sieht den Sergeant die Waffe mit dem aufgepflanzten Bajonett senken, vier Schritt machen und hinter Quincy Burton treten.
»Morgen«, sagt Ducan leise. »Jetzt kriech mal. Und kriech schnell, denn ich werde gehen. Und du kannst dich darauf verlassen, daß ich das Bajonett die ganze Zeit gesenkt halten werde. Sollte in meinem Weg irgendein Gegenstand liegen, dann wird die Bajonettspitze ihn berühren. Wie sie ihn berührt, das kannst du dir mal ausdenken, Morgen. Du kannst doch schön denken, was?«
Quincy Burton hat den Kopf gewendet und sieht Ducan starr und mit mahlenden Kiefern an.
»Also das«, sagt er heiser. »Sergeant, eines Tages wirst du dich daran erinnern müssen!«
»Nicht schon morgen?« fragt Ducan spöttisch. »Du bist doch sonst für morgen, Burton? Also kriech jetzt. Und sing dabei! Singen, Morgen, singen: Ich liege hier im kühlen Grund, verstanden?«
Die anderen stehen sehr steif und gespannt in einer Reihe. Sie wissen es, Ducan hat sein Morgenopfer gefunden. Und Quincy ist selber schuld daran.
»Ich kann nicht singen, Sergeant.«
»Du kannst alles, wenn du nur willst. Du kannst auch eine Woche in das Loch gehen, Quincy. Such es dir aus, ich bin ganz human mit dir, du kannst sogar wählen. Die Mücken aber werden dich im Loch besuchen, wie? Hast du nicht immer gesagt, daß du zu süßes Blut hast und die Mücken darum zu dir kommen?«
Quincy stemmt den breiten, schweren Oberkörper langsam hoch und beginnt dabei zu singen.
»Ich liege hier im kühlen Grund,
seh über mir des Himmels Rund,
an dem die Wolken heimwärts
ziehn.«
Er kriecht. Und der gefürchtete Sergeant geht hinter ihm, immer so entfernt, daß das langläufige Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett ihn beinahe berührt.
Sie entfernten sich von den anderen, sie kommen schnell voran, sehr schnell. Quincy Morgen kriecht durch das noch vom Tau feuchte Gras, das an seinen Knien grüne Spuren hinterläßt, das seine Jacke an den Ellbogen färbt. Es ist eine einfache, grobe Leinenjacke, die schon mehrmals geflickt worden ist. Das Gras ist so feucht, daß der Tau nach weniger als zwei Minuten das Leinentuch feucht werden läßt und es langsam zu durchtränken beginnt.
Dazu muß Quincy singen.
»Lauter«, sagt Sergeant Harry Ducan grimmig. »Wirst du lauter singen, Nachtigall? Du kannst doch sonst brüllen und laut lachen, warum willst du denn nicht singen können, Vogel? Du wirst noch Kliburn, deinen kleinen Freund, einholen. Ich sehe es noch kommen, daß du neben ihm kriechst. Schneller, Morgen, schneller! Hast du etwa gestern wieder deinen Fusel in einer Pfanne gekocht und bist schlapp an diesem schönen Morgen? So ein Bulle, wie du einer bist, der müßte doch mehr Ehrgeiz als die anderen haben, er müßte alles schneller tun können. Nur keine Müdigkeit vorschützen.«
Quincy Burton knirscht mit den Zähnen vor Wut. Er sieht Sam Kliburn keine elf Schritt vor sich und spürt, als er etwas langsamer wird, die Bajonettspitze.
»Verdammter Schinder«, sagt Quincy zwischen den Zähnen und blickt sich um. »Wenn ich dich mal allein erwische, dann nehme ich dich auseinander, du Sklaventreiber.«
»Was sagst du, Burton? Was hast du da von Sklaven gesagt?«
»Nichts«, erwidert Burton würgend und schwitzt bereits. »Ich habe nur laut gedacht.«
»Du sollst doch singen, also, wird es bald?«
Er singt wieder, er schwitzt und ist nun an der Brust, an den Schenkeln und an den Armen vollständig naß.
In seiner Wut kriecht er nun wirklich schneller, fast von allein, ohne daß ihn Ducan anzutreiben braucht. Er denkt an sein Schiff, das vor Galveston einigen Schiffen der Yankees begegnet ist. Ihr Schiff ist bedeutend kleiner und flacher gebaut gewesen, als die schweren Blockadeschiffe der Yanks. Darin hat ihr Kapitän die Chance zur Flucht erblickt. Hinein in die seichten Gewässer der East Bay, immer dicht unter Land geblieben.
Die Yanks sind hinterhergekommen und haben das Feuer dann eröffnet. Mit gebrochenem Ruder und brennend ist das Schiff, auf dem Quincy damals Maat gewesen ist, auf den Strand getrieben worden.
Immer, wenn sich Quincy an diesen Tag, den letzten von vielen Tagen, an denen er schwankende Planken unter den Füßen gehabt hat, erinnert, dann erinnert er sich auch an die Lagen aus den Kanonen des Yankee-Blockadeschiffes, die den Rumpf ihres Schiffes förmlich zerfetzt haben.
Die haben Munition genug, denkt Quincy, die haben alles im Überfluß. Sie haben selbst dann noch geschossen, als wir an Land geschwommen sind. Ich weiß nicht genau, ob sie nun daneben oder direkt auf das Schiff gefeuert haben. Ich weiß nur, daß mehr als drei Lagen zwischen uns gelegen haben. Wir im Wasser und hinter uns die Yanks mit ihren Kanonen. Neben mir die Schreie, denn im Wasser bist du wehrlos.
Selbst an Land haben sie uns noch zwei Lagen nachgeschickt. Ich möchte noch mal ein Schiff haben, so eine kleine, wendige Schaluppe mit nachtschwarzen Segeln. Und dann kein Mondschein, stockdunkel müßte die Nacht sein.
An einen dieser Blockadeburschen lautlos heransegeln, drei schwere Kanonen möchte ich an Bord haben. Und dann feuern, sobald ich auf der Breitseite liege. Ehe die sich von ihrem Schrecken erholt haben und an die Kanonen rennen, sind wir längst weg.
Verkehrt ist das alles gewesen, alles falsch, genauso falsch wie die Sache mit den drei Tonnen. Alkohol. Vergraben hätte ich sie sollen – oder einen Nagel in die Tonne schlagen, einen Strick dranbinden und sie im Wasser versenken. Statt dessen juckt mich der Teufel, ich muß den anderen einige Runden spendieren. Und als der ganze Verein betrunken gewesen ist – wen haben sie sich gegriffen?
Quincy Morgen. Packzeug – lauter Packzeug. Dieser Ducan ist ein Oberpackzeug. Wenn ich den mal allein zwischen meine Hände bekomme. Der jagt mich mit dem Bajonett, wie die Yanks mich mit Kanonen gejagt haben.
Das ist eine Landratte, denkt Quincy, dem würde ich es zeigen. Sicher kann er nicht mal schwimmen, was? An ein langes Tau würde ich ihn binden und dreimal kielholen lassen. Ob er dann wie ein Fisch aussieht?
Er grinst bei diesem Gedanken und hat Kliburn erreicht.
Sie sind nun auf einer Höhe und dicht nebeneinander, Kliburn und er. Der kleine Kliburn ist ein Meister im Organisieren, was? Was der alles besorgt, was dem alles an den Fingern kleben bleibt.
Kliburns Gesicht ist feuerrot vor Anstrengung. Der Schweiß rinnt in kleinen Perlen von Kliburns Stirn, seine Blicke sind starr nach vorn gerichtet.
»Na, ihr beiden, nun kriecht mal immer weiter, diese Sumpfwiese ist lang, mächtig lang«, sagt Ducän hinter ihnen. »Morgen, stell dir vor, daß hinter dem Graben dort Yankees liegen und euch beide sehen können. Sie werden auf euch schießen, Kliburn, ist dir das auch klar? Nun mal ganz herunter. Und schnell weiterkriechen, ganz flach machen, Kliburn, robben, verstehst du, robben mußt du!«
Nun rutschen sie fast über das Gras, vor sich den Graben, die Reste jener braunschwarzen Moorerde, die sie mit den Karren und Loren zum Damm gefahren haben. Eine, vielleicht drei Schritt große Fläche von jenem braunschwarzen Erdreich wartet auf sie. Noch zehn Schritte, noch acht sind zu kriechen. Nun noch sechs – fünf.
Er wird uns doch nicht, denkt Kliburn, der wird uns doch nicht etwa…
Er zaudert, spürt plötzlich etwas sehr Spitzes hinter sich an seinem Gesäß und hört Ducan sagen:
»Weiter, was ist denn, immer weiter, Freunde. Ihr habt doch Spaß, wie? Gehabt habt ihr welchen, ihr bekommt noch mehr, damit die anderen sehen, wie es ihnen geht, wenn sie dumme Witze erzählen. Ist dir was, Morgen, sagst du was?«
»Nichts, Sergeant«, erwiderte Quincy Burton knirschend. »Mir ist gar nichts, aber vielleicht wird dir eines Tages etwas sein, darauf kannst du Gift nehmen, Sergeant. Du bist der größte Schinder der Armee, das werde ich dir nie vergessen.«
»Und ihr seid der größte Banditenhaufen, der jemals Uniformen getragen hat«, antwortet Ducan eisig. »Euch Gesindel werde ich so behandeln, wie ihr behandelt werden müßt, um hier auf keine dummen Gedanken zu kommen. Einige Tage habe ich mir eure Faulheit und Frechheit nun mitangesehen, jetzt ist damit Schluß. Ihr zwei seid die schlimmsten Radaubrüder unter all den anderen. Und euch beide mache ich nun fertig, das müßt ihr verstehen. Ihr seid wie zwei Geschwüre, die aufplatzen und den ganzen Verein vergiften können. Ich kenne euch, ich weiß genau, Quincy, was du denkst, weil ich es auch denken würde, läge ich an deiner Stelle hier. Du möchtest mich umbringen, was?«
»Da brauchst du nicht mal zu raten«, antwortet Burton fauchend. »Ducan, ich bin genau dasselbe wie du gewesen, ich habe den gleichen
Dienstrang gehabt, aber ich würde niemals so zu meinen Leuten gewesen sein.«
»Jeder ist anders, hier bin ich anders als du denkst, Morgen. Man kann euren Haufen nicht anders als auf diese Art behandeln. Ihr seid schon so schlimm genug. Läßt man euch etwas Freiheit, dann werdet ihr frech wie Galgenvögel. Weiter, Kliburn… Quincy, weiter!«
»Der Graben«, sagt Kliburn heiser. »Der Graben, Sergeant!«
»Welcher Graben, Mensch? Ich sehe keinen Graben.«
»Er sieht keinen Graben, dieser Schinder«, keucht Quincy abgerissen. »Er sieht ihn nicht. Vor uns ist der Graben, wir kriechen ja schon in diesem verfluchten Schlamm, Ducan!«
»Schlamm? Ich sehe keinen Schlamm, ich sehe keinen Graben. Wenn ihr das alles seht, dann seht ihr mehr als ich. Weiter, habe ich gesagt, kriechen!«
Quincy kriecht und sieht die Kante vor sich, eine schroffe und glitschige Kante, die Grabenböschung. Und unten, einen guten Schritt tief, ist Wasser, schmutzigdunkles Sumpfwasser, das sich im Graben gesammelt hat.
Er zaudert, sieht Kliburn an, der seinen Blick mit einem wilden, mörderischen Ausdruck erwidert.
»Was ist denn?« fragt Sergeant Harry Ducan gelangweilt. »Willst du nicht, Dicker? Dann muß ich…«
Quincy Burton spürt einen Stich und kriecht ruckhaft vorwärts. In der nächsten Sekunde ist er über die Kante und kommt auf die Böschung.
Auf einmal rutscht er, kann sich nicht mehr halten und glitscht nach unten.
Da ist das Wasser, dieses Sumpfwasser, das kein Mensch trinken kann. Er taucht ein und stemmt sich hoch. Er kann knien, denn so blickt er gerade noch mit dem Kopf aus dem Wasser.
Neben ihm klatscht es, Kliburn ist drin und taucht langsam wieder auf. Sein vom Moorwasser überschwemmtes Gesicht ist braun gefärbt wie das eines Mischlings. Er muß kauern, denn für ihn gibt es keine kniende Stellung, dazu ist er zu klein.
»Kriechen, habe ich gesagt«, knurrt Ducan hinter ihnen. »Warum kriecht ihr denn nicht weiter, Freunde? Kriechen, immer weiterkriechen, hört ihr nicht? Marsch, vorwärts, die richtige Erfrischung, was, Quincy? Sage nur, daß du keine Erfrischung verdient hättest.«
»Hundesohn«, zischt Quincy zwischen den Zähnen. »Du ver…«
Er rutscht auf den Knien weiter, dann kommt ein Loch in der Grabensohle, von dem nichts zu ahnen gewesen ist. Irgendwer hat vielleicht einen der halbverfaulten Baumstämme, die man oft unter der Moordecke findet, ausgegraben und so ein tieferes Loch gemacht.
Quincy sinkt nach vorn, ehe er sich zurückwerfen kann. Er macht unwillkürlich den Mund auf und schluckt beim Fall nach vorn Wasser. Danach taucht er wieder auf, spuckt das Wasser im weiten Bogen aus, sieht hoch zu Ducan und in dessen unbewegliches Gesicht.
»Das bezahlst du«, sagt er heiser. »Ich sage dir, ich schwöre dir, du wirst es eines Tages bezahlen!«
»Was?« fragt Ducan eiskalt. »Du bist doch eine Wasserratte, Morgen. Weiter, du auch, Kliburn!«
Sam Kliburn spürt seine Muskeln in dieser angespannten Stellung doppelt. Er schiebt sich weiter, ist dicht neben Quincy, als der auf einmal den Ellbogen unter der trüben Wasserfläche zur Seite stößt.
Der Ellbogen trifft den kleinen Sam Kliburn an der rechten Schulter, alles aber unter der Wasserfläche.
»Links«, sagt er im Plätschern zischend. »Sammy, links. Der Ast.«
Sam Kliburn dreht langsam den Kopf herum, er tut es unauffällig und sieht aus den Augenwinkeln Ducan links über sich. Dann erfaßt er mit seinem Blick den Ast, einen dicken Zweig, der hier am Rande der Grabenböschung liegengeblieben ist. Oben ist der Ast gegabelt und anscheinend
geknickt. Genau kann Kliburn das nicht erkennen, aber seine Zweige oben werden weit über der Kante liegen.
»Weiter, ihr Schlafmützen«, sagt Ducan scharf. »Niemand hat etwas von einer Ruhepause gesagt. Marsch, weiter!«
Quincy plätschert nun wieder heftig und sagt dann zischelnd:
»Laß mich nach links, rutsche aus und tue so, als wenn du keinen Halt finden kannst. Ich halte dich dann und schiebe dich nach rechts, verstanden?«
Kliburn blinzelt einmal kurz. Es sind noch sieben oder acht Schritte bis zu dem Ast. Langsam schiebt sich Kliburn weiter und kommt plötzlich mit dem Oberkörper nach vorn. Er rutscht anscheinend und streckt die Arme aus. Dann verschwindet er, die Luft anhaltend, im Wasser.
»Sam«, sagt rechts neben ihm Quincy erschrocken. »Sam – he, was ist?«
Dann packt er zu und reißt Sam Kliburn, dabei aber nach links rutschend, mit einem Ruck aus dem Wasser.
»He, Quincy«, meldet sich über ihnen Ducan scharf. »Laß ihn los, nächstens hebst du ihn nicht heraus, verstanden? Wenn er baden will, dann soll er es tun!«
Quincy gibt keine Antwort. Er schiebt Kliburn nach rechts und ist nun endlich linker Hand.
Der Ast, denkt Quincy grimmig, tritt du nur auf den Ast, Mensch, dann erlebst du was. Da oben ist es so herrlich glitschig, daß du dich nicht halten kannst.
Er schiebt sich weiter und konzentriert sich ganz auf den Ast. Der Ast ist braungelb, schmutzig vom Wasser, in dem er gelegen hat. Er ist am Ende etwa drei Zoll dick, gut anzufassen und mit Leichtigkeit zu halten.
Die Zweige oben, es sind viele Zweige, denkt Morgen. Er tritt bestimmt auf die Zweige, er geht ja nahe genug an der Kante. Na, warte, du Halunke, trittst du wirklich auf die Zweige, dann saust du hier herunter, das ist ein Versprechen. Und bist du erst im Wasser, dann kannst du etwas erleben.
Ducan geht nun links neben ihm, genau auf seiner Höhe. Der Sergeant ahnt nichts von jenen Gedanken, die in Quincy Morgens Kopf sind. Im Wasser kommen Quincy und Kliburn zu langsam voran, der Sergeant kann sie antreiben, soviel er will, es geht nicht schneller.
Hoffentlich, denkt Quincy und ist dem Ast bis auf drei Schritte nahe, kommt er nicht auf die Idee, uns jetzt aus dem Graben zu jagen. Dieser Schinder, dieser Bulle, der im ganzen Lager als scharfer Hund verschrien ist, der nichts durchgehen läßt, gar nichts, den möchte ich zu gern mal erwischen, wenn er allein ist.
Fünf Monate habe ich bekommen, fünf Monate, von denen drei herum sind, aber diese drei Monate haben schon genügt. Ich habe einmal 200 Pfund gewogen, vor einem Monat, wie? Heute wiege ich keine 180 Pfund mehr. Das Essen, diese verfaulten Kartoffeln, stinkenden Mais, kaum einmal gibt es Fleisch, wer hält das fünf Monate durch, wer? Am Ende ist man fertig. Ich kann schon meine Rippen zählen, meine Haut flattert bereits an einigen Stellen, aber Kraft habe ich noch. Genug für den dort, diesen Burschen, der mich vom ersten Tag an gefressen gehabt hat. Na, warte, Bursche, gleich geht es los. An der Kante wirst du wohl auf den Ast treten, du Schinder.
Noch einen Schritt und Quincy plätschert, während er leise zischelt:
»Sammy, laß dich fallen, schnell!«
Sam begreift, er muß sich sinken lassen. Er muß genau am Ast ausgleiten, damit es aussieht, als ob er in ein Loch getreten ist. Dann wird Ducan stehenbleiben, er muß ja stehenbleiben, der Schleifer!
»Paß auf«, sagt Quincy leise. »Wenn ich ›jetzt‹ sage, dann tauchst du unter und tust so, als würdest du halb ersticken. Er wird dann nach vorn kommen, er wird auf dich, aber nicht auf seine Füße achten, kapiert? Langsamer – jetzt!«
Sam Kliburn ist zu jeder Schandtat bereit. Er weiß, daß dies nur der Anfang ist. Später werden sie schaufeln müssen, die härteste Arbeit im Moor, der Boden ist feucht und schrecklich schwer. Und während die anderen sich ablösen können, während eine Gruppe einmal schaufelt, um dann wieder die Karren zu schieben, werden sie beide schaufeln müssen.
Es ist warm in diesem März, schrecklich warm. In der Hitze des Mittags in einem Graben stehen und schaufeln, das ist eine Hundearbeit. Der Antreiber, dieser Folterknecht Ducan, der soll was erleben.
Kliburn rutscht weg und stößt einen Schrei aus. Er hat genau gesehen, wie Ducan auf die Zweige getreten ist. Ducan steht nun haargenau richtig.
Auch Quincy hat es erkannt und das Kommando gegeben.
In dieser Sekunde rutscht Kliburn weg. Er verschwindet mit einem heiseren, kurzen Ausruf unter wilden Armbewegungen im Wasser und versinkt. Scheinbar schluckt er Wasser, taucht wieder auf, verdreht die Augen, stößt einige Laute aus, die unheimlich genug klingen und versinkt erneut.
»He, du Pferdedieb!« brüllt Ducan heiser los. »Komm hoch, komm hoch! Quincy, pack ihn, er muß Wasser geschluckt haben, pack ihn, Mann, hole ihn heraus!«
Richtig, du Narr, denkt Quincy, ganz richtig so. Jetzt sollst du dich wundern. Geh nur noch einen halben Schritt auf die Kante zu.
Und da macht Sergeant Harry Ducan den berühmten einen Schritt. Der Ast wippt leicht, Ducan steht also auf einem Zweig.
In diesem Moment greift Quincy Morgen in das Wasser. Er packt Kliburn, aber er hat ihn kaum erwischt und aus dem Wasser gezogen, als er selber ausgleitet.