Unsere Haustür knallte so, dass das ganze Haus zitterte, danach folgte ein fürchterlicher Lärm und lautes Geschrei.
»So ein blöder Mist!«
Verschlafen tappte ich auf den Flur. Dort stand bereits meine Familie, mit vom Schlaf zerzaustem Haar und verwirrtem Blick. Minda, meine große Schwester, hatte erst ein Auge geöffnet. Papa sah aus, als wüsste er nicht, ob er Mann oder Bettdecke war.
»Peng!«, sagte Krølla laut.
»Was war das?«, fragte Magnus, mein großer Bruder.
»Entweder«, bemerkte meine Mutter, »ist es eine Naturkatastrophe, oder Lena Lid ist aus dem Urlaub zurück.«
Es war keine Naturkatastrophe. Als ich die Treppe hinunterging, stand Lena, meine beste Freundin und Nachbarin, unten im Flur.
»Hallo, Trille«, seufzte sie.
»Hallo. Was ist los?«
»Das ist dein Geschenk.«
Ich rieb mir die Augen.
»Danke schön. Was ist das denn?«
»Ein Haufen Stöckchen und Glasscherben, das sieht du doch! Aber es war eine Flasche mit einem Segelschiff drinnen.« Lena sah ganz unglücklich aus.
»Kann man das reparieren?«, fragte ich.
Reparieren? Das war das tollste Geschenk der Welt gewesen. Das konnte man nicht reparieren!
»Ich verstehe einfach nicht, wie sie es geschafft haben, das Schiff in die Flasche zu kriegen, Trille. Das Segel war voll gehisst und viel breiter als der Flaschenhals.«
Mama half, das Schiffswrack aufzukehren. Sie wollte es wegwerfen, aber ich sammelte alle Glassplitter und Stöckchen in einer leeren Keksdose und stellte sie in mein Zimmer. Schließlich war es trotz allem ein Geschenk.
Lena setzte sich zu uns an den Frühstückstisch. Ich musste sie immer wieder ganz genau angucken. Sie hatte die Haare abgeschnitten und bunte Zopfbänder ins Haar geflochten. Braun gebrannt war sie auch. Ich selbst fühlte mich irgendwie wie immer, hatte sogar die gleichen Shorts an wie an dem Tag, als sie abgereist war. Unsere Familie fährt so gut wie nie in Urlaub, jedenfalls nicht ins Ausland. Wir haben den Hof und das alles. Aber Lena, dieser Glückspilz, war zwei lange Wochen zusammen mit ihrer Mutter und Isak auf Kreta gewesen.
Sie hatte Smoothies mit einem kleinen Regenschirm dekoriert getrunken, wie ich erfuhr, während ich mein Brot mit Leberwurst aß. Und sie hatte sich im Bett nur mit einem Laken zugedeckt und im warmen Meer gebadet. Es hatte Hunderte kleiner Läden dort gegeben, mit Millionen cooler Sachen, die sie sich hätte kaufen können. So wie die Flasche. Und zum Mittag hatte sie jeden Tag Pommes gegessen. Und auf Kreta, da war es mitten am Tag so heiß, dass man fast das Gefühl hatte, die ganze Zeit neben einem Mittsommerfeuer zu stehen.
»Das hättest du auch erleben sollen, Trille!«
»Ja«, sagte ich nur und kaute weiter.
Es war ärgerlich, nie im Süden gewesen zu sein. Aber ich hatte auch etwas zu erzählen, oh ja. Also wartete ich gespannt darauf, dass Lena mich fragte, ob denn in der alten Heimat etwas Neues passiert sei. Aber nein. Auf Kreta hatte es ein Schnellboot gegeben, mit dem sie auf eine Insel gefahren waren, und Lenas Mutter hatte versucht, hinter dem Boot in so was wie einem Ballon in der Luft zu hängen.
»Habe ich eigentlich schon erzählt, wie heiß es war?«, fragte sie.
Ich nickte. Lena redete weiter über einen herrenlosen Hund, der Porto hieß und vielleicht die Tollwut gehabt hatte, und über ein paar Mädchen, mit denen sie gespielt hatte, die sich aber nie getraut hatten irgendwo herumzubalancieren, und über Pfannkuchen zum Frühstück.
Schließlich mochte ich nicht länger warten: »Ich bin vom höchsten Wellenbrecher gesprungen!«
Endlich hörte Lena auf zu reden und kniff die Augen misstrauisch zusammen.
»Du machst Witze.«
Ich schüttelte den Kopf.
Meine Nachbarin stand auf. Mir war sofort klar: Das war so eine Sache, die sie sehen musste, bevor sie sie glaubte. Und das sollte sie nur zu gern!
»Danke fürs Essen«, murmelte ich mit noch vollem Mund und schnappte mir mein Badehandtuch vom Treppengeländer.
Die Wellenbrecher in Knert-Mathilde haben in ihrer Innenseite einen Badeplatz. Im Winter blasen die Stürme feinen Sand dort hinein, sodass wir hier Sandburgen bauen können. Aber nachdem Lena in diesem Sommer in Urlaub gefahren war, war ich zusammen mit Minda und Magnus und deren Freunden auf der Außenseite der Wellenbrecher gewesen. Dort, wo alles hoch, tief und kalt ist. Das war fast, als begänne ich ein neues Leben.
Wenn es darum geht, von hohen Dingen zu springen, ist Lena die Meisterin in Knert-Mathilde. Keiner hat so wenig Angst wie sie. Oder so wenig Grips in der Birne, wie Magnus immer sagt. Aber von den Wellenbrechern ist Lena noch nie gesprungen. Das Wasser trägt sie so schlecht, wie sie immer behauptet.
»Lena aus dem Meer zu ziehen, ist ungefähr, wie einen Anker zu lichten«, sagt Opa.
Es war eine Sensation, dass es etwas gab, was ich konnte, sie aber nicht. Und ich spürte, dass Lena diese Tatsache ganz und gar nicht gefiel.
Jetzt stand ich also auf dem obersten Stein des Wellenbrechers. Es war noch ganz früh am Morgen und es waren nur sechzehn Grad Lufttemperatur.
»Bist du dir sicher, dass du den Mumm hast zu springen?«, fragte Lena ernst.
Sie hockte auf einem der anderen Steine, mit Jacke und Kreta-Halstuch. Ich nickte. Während sie weg gewesen war, hatte ich das schon oft getan. Aber immer nur, wenn Flut war. Jetzt herrschte Ebbe und das bedeutete, dass es tiefer nach unten ging. Ich konnte den Grund sehen. Der Wind zerrte an meinen Badeshorts. Einen Moment lang dachte ich, das hier sei es gar nicht wert. Aber dann sah ich, wie Kreta-Lena sich gegen einen Stein lehnte, sie glaubte mir nicht. Ich schloss die Augen und holte tief Luft: Eins. Zwei. DREI!
Padadamm!, ertönte es, als ich auf das Wasser traf, und schworschj, gurgelte es, als sich die Wasseroberfläche über meinem Kopf schloss. Als ich das erste Mal so in der Tiefe verschwunden war, hatte ich gedacht, ich ertrinke. Jetzt wusste ich es besser: Ich musste nur wie blöd mit den Beinen zappeln und die Luft anhalten.
»Puh!«, stieß ich die Luft aus, als ich wieder die Wasseroberfläche durchbrach und zurück im Sommermorgen war.
Lena war auf den Absprungstein geklettert und schaute misstrauisch zu mir herunter. Ich lächelte triumphierend. Da hatte ich es ihr aber gezeigt!
Den Gedanken hatte ich noch gar nicht zu Ende gedacht, da stellte Lena einen Fuß vor, schlug sich auf die Wange und grölte: »A-i-a-i-aaaaaaaaaa!«
Und dann flog sie durch die Luft, in Jeans, Pullover, Jacke, Tuch und Turnschuhen.
»Padadamm!«
≈
Der Sprung von den Wellenbrechern brachte Lena wohl endgültig vom Urlaub zurück nach Hause. Irgendwie ist es nicht mehr ganz so spannend, von Smoothies auf Kreta zu erzählen, wenn man in Knert-Mathilde gerade fast ertrunken war. Sie kam nach endloser Zeit wieder an die Oberfläche und verschwand gleich wieder mit einem Glucksen. Wäre Opa nicht mit seinem Boot gekommen, ich weiß nicht, was passiert wäre. Er zog sie wie einen großen Fisch an Land, während Lena schlimmer als je zuvor hustete und keuchte.
»Ich war tatsächlich für kurze Zeit ertrunken«, erklärte Lena später.
»Ich habe ein großes Licht gesehen.«
Wir hatten zwei Tassen von Isaks glühend heißem Juli-Kakao getrunken, trotzdem zitterte Lena immer noch wie ein Rasenmäher im Leerlauf.
»Quatsch«, sagte ich. »Man kann nicht ertrinken und dann weiterleben. Das war nur die Sonne, die sieht unter Wasser so aus.«
»Das entscheidest ja wohl nicht du! Das Meer ist auf Knert-Mathilde kälter als Eistee. Die Leute von Kreta würden sterben, müssten sie hier baden gehen!«
Ich erwiderte nichts. Schließlich badeten wir doch immer hier!
»Ja«, sagte Lena. »Jedenfalls werde ich nie wieder in meinem ganzen Leben von den Wellenbrechern springen, einmal reicht ja wohl völlig.«
Zufrieden legte sie den Kopf zurück und trank den letzten Schluck Kakao.
Als Mama von unserem Badeausflug hörte, gab sie jedem von uns einen ziemlich großen Eimer in die Hand.
»Leute, die so groß sind, dass sie vom größten Wellenbrecher springen können, die können auch ein bisschen mehr helfen. Kommt mir erst wieder nach Hause, wenn die Eimer bis zum Rand mit Blaubeeren gefüllt sind!«, befahl sie uns.
Lena schaute erschrocken auf die Eimer.
»Aber ich gehöre nicht zu deiner Familie, Kari.«
»Soll ich dich daran erinnern, wenn es das nächste Mal Pfannkuchen mit Blaubeeren in diesem Haus gibt und du ganz zufällig zu Besuch kommst?«, fragte Mama.
Ich konnte sehen, dass Lena gern etwas darauf erwidert hätte. Doch selbst Lena traute sich nicht, Mama zu widersprechen. Manchmal ist Mama streng wie ein alter Oberschullehrer. Magnus nennt sie dann »Den Diktator«, wenn sie es nicht hören kann. Und Lena meint, es sei auch gar nichts anderes zu erwarten. In der Familie Danielsen Yttergård sei sowieso alles außer Kontrolle, behauptet sie. Minda und Magnus schlagen so oft mit den Türen, dass unser Haus eigentlich die ganze Zeit wackelt. Und Krølla nervt ununterbrochen, sodass man einen Helm bräuchte, um sich davor zu schützen.
»Und du läufst sowieso nur in Gedanken herum und denkst nie dran, nach dem Essen deinen Teller abzuräumen. Kein Wunder, dass Kari hier alles dirigiert. Nur eine Schande, dass davon auch unschuldige Personen betroffen sind, die nichts Böses getan haben und nur zufällig im Nachbarhaus wohnen.«
Lena ist froh, selbst ihre eigene, friedliche Familie zu haben, in der sie sich entspannen kann. Seit Isak zu ihr und ihrer Mutter gezogen ist, hat es sich dort im Haus beruhigt. Isak läuft mit zotteligem Haar im Haus herum und wird nie sauer. Ich frage mich, ob er so ruhig ist, weil er Arzt ist – weil er es so gewohnt ist mit den Krankheiten und anderen Tragödien, dass ein Zusammenleben mit Lena keinen Stress für ihn bedeutet. Ab und zu nennt Lena ihn sogar Papa, aber das sagt sie so schnell und es scheint ihr fast peinlich zu sein, fast als hätte sie Angst, er könnte verschwinden, wenn er es hört.
≈
Als wir an diesem Tag den Blaubeerwald hinter Hügel-Jons Hof erreichten, hatten wir die Meereskälte abgeschüttelt. Lena steckte den Kopf in ihren Eimer und grölte »Kinderarbeit« aus vollem Hals.
»Da ist ein Echo drinnen, Trille. Außerdem hätte Kari uns auch gleich eine Badewanne geben können, um die zu füllen.«
Ich hockte mich wortlos vor einen Busch und fing an, die Blaubeeren von den Zweigen zu zupfen. Die Sonne schlängelte ihre Strahlen durch tausend Blätter bis auf den Boden und malte Sonnenflecken auf mein T-Shirt. Ein Stück weiter hockte Lena und warf mit Tannenzapfen um sich. Für eine Weile war es ganz still und sommerfriedlich, dann sagte sie: »Nur ein winziger kleiner Bruder, Trille. Ist das zu viel verlangt? Was meinst du? Mal ganz ehrlich?«
Ich seufzte.
Meine beste Freundin ist keine Person, die sich etwas wünscht. Sie bestimmt. Und schon vor zwei Jahren, gleich nachdem ihre Mama Isak geheiratet hatte, beschloss Lena, dass sie ein Baby bekommen sollten, und zwar einen Bruder.
»Das dauert eine Weile«, erklärte sie Opa und mir, »aber bald wird ein Bruder kommen, der schreit und Kacka macht und mir ähnlich ist.«
Lena war sich ihrer Sache vollkommen sicher, und Opa und ich, wir waren es so gewohnt, dass alles so wird, wie Lena es will, dass wir diesen Bruder eigentlich schon als eine Selbstverständlichkeit ansahen. Aber inzwischen waren zwei lange Jahre vergangen. Lena und ich sollten nach den Ferien in der siebten Klasse anfangen, und immer noch gab es nicht das geringste Zeichen, nicht einen winzigen kleinen Zeh eines Bruders drüben im Nachbarhaus.
»Kinder kommen nicht einfach, wenn man es will«, sagte ich. »Das sagt jedenfalls Mama.«
»Was meint deine Mama damit? Du hast doch so viele Geschwister, dass sie die Türen bei euch einschlagen.«
Ich pflückte weiter Blaubeeren. Nach einer Weile gab es um Lena herum keine Tannenzapfen mehr. Da fing sie an, stattdessen Mooskissen herauszuzupfen. Sie legte sie sorgfältig in ihren Eimer, und als er fast voll damit war, begann sie, zusammen mit mir Blaubeeren zu pflücken.
»Lena«, sagte ich seufzend.
»Ein voller Eimer im Nullkommanichts. Das solltest du auch versuchen, Trille. Das merkt doch kein Mensch.«
»Doch«, widersprach ich. »Die werden das merken, wenn sie die Beeren waschen wollen.«
»Schon, aber dann bin ich nicht da«, erklärte Lena. »Psst, was war das?«
Verzweifeltes Jammern ertönte plötzlich in dem sommerlich stillen Wald. Wir drehten uns um und spähten zwischen den Bäumen hindurch. Zuerst sahen wir nichts, doch dann war wieder das Jammern zu hören.
»Das ist ein Hund!«, rief Lena und rannte in die Richtung, aus der wir die Töne gehört hatten. »Er hängt mit seiner Leine fest! Der arme Kerl!«
Stellt euch vor, wir hatten doch tatsächlich einen Hund mitten im Wald gefunden! Und wenn es nun noch Labben, Aiko oder Tjorven gewesen wäre oder einer der anderen Hunde aus dem Ort, aber es war keiner von ihnen. Das war ein nigelnagelneuer Hund, den weder Lena noch ich jemals zuvor gesehen hatten. Er hatte braunes Fell, das schön in der Sonne glänzte, und er schaute uns mit traurigem Blick an.
»Ich glaube, das ist ein Zeichen«, verkündete Lena mit ernster Stimme, während sie ihn vorsichtig befreite. »Ich glaube, das ist ein Hund, der nach Knert-Mathilde gekommen ist, um hier zu bleiben. Und in dem Fall kann ich problemlos noch ein Jahr auf einen Bruder warten. Sonst ist es vielleicht zu viel auf einmal …«
Ich schaute die lange Leine an.
»Der gehört jemandem, Lena.«
Worauf Lena keine Antwort gab.
»Komm, komm mit!«, lockte sie den Hund.
Dann lief sie aus dem Wald und durch das kniehohe Gras der Hügel-Jon-Wiese – mal zurück, dann wieder weiter nach vorn –, während sie den neuen Freund anstrahlte. Zu Lena passte ein Hund.
Doch das Glück währte nicht lange. Auf dem Hof von Hügel-Jon stand ein großer weißer Transporter, und vor dem Wagen stand eine ganze Gruppe von Leuten.
»Haas!«, riefen sie alle zugleich.
Der Hund sprang mit einem Ruck zur Seite, sodass Lena in eine matschige Treckerspur fiel und ihr die Leine aus der Hand rutschte. Als sie aufstand, sah sie selbst wie ein großer Haufen Kacka aus. Zwei Sekunden lang stand sie reglos da und starrte auf die Menschengruppe, die Arme steif vom Körper abgespreizt. Dann marschierte sie los.
»Sie passen nicht gerade besonders gut auf Ihren Hund auf!«, donnerte sie los.
Die Menschen starrten uns verwirrt an – natürlich besonders die Matsch-Lena. Ich trat von einem Fuß auf den anderen. Ganz hinten am Wagen sah ich ein Mädchen, das fast wie eine Sonne aussah. Blonde Locken standen wie eine Wolke um ihren Kopf herum ab, und sie lächelte verlegen, während sie den Hund hinterm Ohr kraulte.
Dann fingen alle an, englisch zu reden. In der Schule bin ich viel besser darin als Lena. Sie kapiert einfach nicht, warum sie Englisch lernen soll, wo sie doch Norwegisch kann. Aber jetzt war sie auf Kreta gewesen und hatte es begriffen. Bevor ich nur ein Wort herausgebracht hatte, war sie schon in Gang: »The dog was fast in a tree!«
»Ah! Thank you, thank you!«, sagte einer, der aussah, als wäre es der Vater des blonden Mädchens.
Lena starrte ihn mit wütendem Blick an. Sie sah geradezu lebensgefährlich aus, wie sie reglos dastand und der Matsch von ihr heruntertropfte.
»The ferry is that way!«, erklärte sie kurz und zeigte in die Richtung.
»Komm, Trille.«
Ich lächelte angestrengt das Mädchen mit den blonden Locken an und folgte dann Lena.
»Verdammt, diese Touristen!«, zischte sie. »Wie konnten sie sich zwischen den Misthaufen nur so verfahren, dass sie hier oben in den Bergen gelandet sind? Sie sollten Warnschilder tragen, die ganze Truppe.«
Am nächsten Tag hatte Lena keine Lust, weiter für die Wintervorräte zu sorgen, also beschlossen wir, lieber eine Flaschenpost ins Meer zu werfen. Früher haben wir jede Menge Flaschen mit Nachrichten ins Wasser geworfen. Aber in diesem Sommer waren es erst zwei gewesen. Einmal von der Fähre und einmal von der Mole aus. Aber es schien, als zöge Knert-Mathilde die Flaschen magisch an. Immer wieder landeten sie an einem der Strände bei uns zu Hause und damit waren wir angeschmiert. Denn eine richtige Flaschenpost sollte doch nach England oder Island treiben. Oder nach Kreta natürlich. Jetzt waren wir also um fünf Uhr aufgestanden, um mit Opa rausfahren zu können. Er wollte ganz bis zum Kobbholmen raus, um eine Angelschnur einzuholen, die über Nacht dort gestanden hatte.
»Kann dein Boot nicht schneller fahren?«, fragte Lena, sobald wir von Land abgelegt hatten. »Auf Kreta, da bin ich mit einem Schnellboot gefahren, das …«
»Auf Kreta, dass ich nicht lache!«, schnitt ihr Opa das Wort ab. »Glaubst du etwa, das hier ist irgendein Boot?«
Er schlug mit der Faust gegen die Wand des Steuerhauses.
Ich glaube, es gibt niemanden, der stolzer auf sein Boot ist als Opa. Troll heißt es. Und Opa hatte es schon immer.
»Könntest du dir denn nicht jedenfalls einen Motor mit ein paar Pferdestärken mehr anschaffen und ihn in deine Troll einbauen?«, nörgelte Lena. »Wir brauchen ja einen ganzen Tag, um weit genug rauszukommen.«
»Ich habe den ganzen Tag Zeit«, erwiderte Opa.
Ich setzte mich auf den Boden. Wenn nun unsere Flaschenpost es tatsächlich übers Meer schaffen sollte. Wir hatten auf Englisch geschrieben, wie wir heißen und wo wir wohnen, dazu unsere Telefonnummern. Außerdem hatten wir ein Foto von uns dazugelegt. Vielleicht wurden wir ja eingeladen, wenn jemand sie in einem anderen Land fand, wer weiß?
»Ausländer sind einfach cool«, sagte Lena. »Da auf Kreta, da …«
Opa und ich tauschten Blicke und verdrehten die Augen.
»Nein, verdammt, jetzt halte ich es nicht länger aus!«, meinte Lena plötzlich hinter mir, und dann warf sie mit voller Kraft die Flaschenpost über Bord.
»Lena!«, rief ich wütend. »Wir sind doch gerade erst aus dem Fjord raus!«
Meine beste Freundin schaute trübsinnig der Flasche hinterher. Diese schaukelte ein wenig im Wasser hin und her und legte sich dann ruhig im Wind zurecht, der aufs Land zuwehte.
»Vielleicht sollte ich hinterherspringen und sie wiederholen?«, schlug sie vor.
»Nein, vielen Dank, Lena Lid«, erklärte Opa. »Heute brauche ich das Boot für andere Dinge.«
Lena ließ sich voller Dramatik neben mir auf die Decksplanken sinken.
»Dann bin ich wohl für den Rest des Tages als Geisel auf der Troll gefangen, was? Gibt es Kekse hier?«
Wir tuckerten am Ufer entlang, bis sich das Meer vor uns öffnete. Hier draußen schaukelten die Wellen wie ein riesiges Wiegenlied, und vom Lärm an Land war nichts mehr zu hören. Meine Wut über die Flaschenpost löste sich einfach auf.
»Geradeaus ist England«, erklärte ich Lena und zeigte dorthin, wo Himmel und Meer einander berührten.
»Und da ist der Kobbholmen.«
Die schwarze Insel lag ganz allein in all dem Blau. Nur ein einsamer Leuchtturm stand auf ihr.
»Ist das eine unbewohnte Insel?«, fragte Lena.
»Nun ja, heute schon«, antwortete Opa. »Aber in früheren Zeiten wohnten Leute dort.«
Lena und ich betrachteten die kleine Insel und den schweigenden Leuchtturm. Das musste man sich mal vorstellen: Hier zu leben. Mitten im Meer. Als wir näher kamen, sahen wir, dass auch noch ein Haus und ein Stall dort standen. Kleine Wiesen waren zwischen den dunklen Felsen zu erkennen. Auch Opa schaute eine Weile schweigend zum Kobbholmen hinüber.
»Trille, du weißt, dass deine Oma dort aufgewachsen ist, nicht wahr?«, bemerkte er schließlich.
»Hä?«
Opa nickte und begann, das Boot in den Wind zu legen, der ein Stück weiter draußen die See aufwühlte.
»Hast du eine Großmutter?«, fragte Lena verwundert. »Wo ist die denn?«
»Sie ist tot«, erwiderte ich. »Sie ist schon gestorben, als Papa noch klein war.«
»Ach.«
Mehr sagte Lena nicht. Sie starrte nur nachdenklich den Leuchtturm an.
Mit eingespielten, ruhigen Bewegungen machte Opa alles fertig, um die Angelschnüre einzuholen. Es kommt nicht so oft vor, dass er von Oma spricht. Aber wenn wir auf den Friedhof gehen, haben wir immer zwei Blumensträuße dabei. Einen für Tante-Omas Grab und einen für Omas. Auf dem Grab meiner richtigen Großmutter liegt ein runder, ziemlich kleiner Stein, der ganz anders aussieht als die anderen. »Von Herzen vermisst«, steht ganz unten darauf. Ich betrachtete lange die Insel da vor uns. Es schien mir, als leuchte um den Kobbholmen und den Leuchtturm ein ganz spezielles Licht. Das muss man sich mal vorstellen: Meine Oma ist hier aufgewachsen. Ob ihr Vater wohl der Leuchtturmwärter war?
»Seid vorsichtig«, sagte Opa jetzt und schaltete die Schnurwinde ein.
Die Maschine quietschte und zitterte leicht, dann fing sie an, die Angelschnur einzuholen. Die Leine einholen, das ist wie ein Abenteuer. Man weiß nie, was an den Haken hängt, und Opa fängt jedes Mal Fische. Keiner im ganzen Ort kennt die Fischstellen so gut wie er. Einmal, als er noch jung war, hat er einen Heilbutt gefangen, der war größer als er selbst – ich habe es auf einem Foto gesehen!
Und ich träume davon, dass das wieder passiert. Deshalb hänge ich immer fast einen halben Meter aus dem Boot, wenn wir die Leine einholen. Und das darf ich auch. Opa ist nicht so streng auf dem Meer. Das Einzige, worauf er genau achtet: dass wir nicht in die Schnurwinde kommen, denn so hat Onkel Tor einen halben Finger verloren, als er klein war. Papa schimpft immer mit Opa, er solle doch endlich einen Totmannknopf auf die Schnurwinde montieren. Das ist Vorschrift, behauptet Papa. Aber niemand kann über Opa bestimmen, wenn der auf See ist. Sagt ihm jemand, er solle etwas an seinem Boot machen, dann wird er das garantiert nicht tun.
»Es ist besser, den Kindern beizubringen, dass sie aufpassen«, sagt er immer.
Jetzt beugten Lena und ich uns so weit über die Reling, wie wir uns nur trauten, und gaben Opa jedes Mal Bescheid, wenn wir sahen, dass sich ein Fisch der Wasseroberfläche näherte. Ungefähr nach der Hälfte der Leine sahen wir, wie sich etwas Großes, Glattes unten im Dunkel des Wassers wand.
»Ein Gigafisch!«, schrie Lena. »Oh, verflucht noch mal. Das ist ein Gigafisch, Lars. Zieh ihn rein!«
Ein riesiger Dorsch klatschte auf das Bootsdeck. Lena stieß einen Freudenschrei aus und hüpfte herum wie ein Jo-Jo.
»Das nächste Mal, wenn du mitkommst, versuchen wir es mit einer Heilbuttschnur.« Opa lachte und rieb sich die Hände. »Dann kann unsere kleine Nachbarin richtige Fische sehen! Wenn du überhaupt noch Lust hast, auf der Troll mitzufahren.«
»Ob ich Lust habe?«
Lena stellte einen Fuß auf den Dorsch, als wäre es ein Löwe, den sie soeben geschossen hatte.
»Ehrlich gesagt, ist es gut möglich, dass ich Fischerin werde, wenn ich groß bin«, erklärte sie.
»Wolltest du nicht Torhüterin werden?«, fragte ich nach und holte das Messer heraus.
»Doch, schon, aber ich muss ja was haben, was ich machen kann, wenn meine Karriere beendet ist.«
≈
Auf der Rückfahrt konnten wir unsere Flaschenpost nirgends entdecken, und wir hatten reichlich Zeit, Ausschau nach ihr zu halten, denn Opa wollte noch ein Heringsnetz setzen, bevor wir an Land gingen.
»Denk an meine Worte«, sagte Lena. »Bald ruft ein Spanier an und will, dass wir ihn besuchen kommen, Trille!«
Doch dem war nicht so. Es geschah etwas ganz anderes. Und das schon am selben Abend.
Ich lag auf dem Sofa und las, als es an der Tür klingelte. Ich hörte, wie Krølla losrannte, damit sie als Erste an der Tür war, um sie zu öffnen, und ich war ziemlich überrascht, als sie brüllte, dass ich Besuch habe. Wer konnte das sein? Lena klingelte nie.
In der Haustür blieb mir die Spucke weg. Der Hund aus dem Wald schnupperte neugierig an meinen Socken, und auf der untersten Treppenstufe stand sie. Das Sonnenmädchen.
»I found it«, sagte sie vorsichtig und reichte mir die Flaschenpost.
»Was meinst du mit ›hergezogen?‹«, flüsterte Lena und guckte skeptisch zu dem Mädchen im Garten hinüber.
»Die Familie mit dem Hund ist hergezogen! Sie kommen aus den Niederlanden und sie haben das Haus von Hügel-Jon gemietet!«
»Dürfen die das denn?«
»Natürlich dürfen die das. Hügel-Jon wohnt doch jetzt im Altersheim. Komm!«
Ich zog Lena mit mir in den Garten.
»This is Lena«, sagte ich etwas aufgeregt.
»Hi. I’m Birgitte«, erklärte das Mädchen nach einem Räuspern und streckte höflich die Hand vor.
»Hä?«, fragte Lena verwirrt.
»Sie heißt Birgitte!«, sagte ich.
Ich wünschte, Lena käme in Fahrt und würde etwas Nettes in ihrem neuen Kreta-Englisch sagen, aber offenbar dachte sie gar nicht daran. Stattdessen guckte sie nur mürrisch den Hund an. Er schnupperte freundlich an ihr, wie es alle Tiere tun, wenn sie Lena begegnen. Ich wand mich in der peinlichen Stille.
»Äh, do you want to build float with us tomorrow?«, platzte es schließlich aus mir heraus.
Ich spürte, wie Lena neben mir erstarrte.
»Float?«, fragte Birgitte unsicher.
Eines Abends im Frühsommer, während wir auf der Terrasse saßen und Kaffee tranken, hatten Papa und Onkel Tor sich plötzlich darüber unterhalten, dass sie, als sie noch klein waren, ein Floß gebaut hatten, mit dem sie bis zur Stadt hatten fahren können. Wahrscheinlich wollten sie nicht, dass Lena und ich das hörten, denn als Papa entdeckte, dass wir die Ohren spitzten, bekam er einen ganz besorgten Gesichtsausdruck. Und dann hatten sie versucht, die ganze Geschichte zu einer Lappalie zu erklären, und schnell von etwas anderem geredet. Aber da war es schon zu spät gewesen. Wenn Papa und Onkel Tor auf einem selbst gebauten Floß den Fjord durchqueren konnten, dann konnten Lena und ich das auch. Seitdem hatten wir den ganzen Sommer über heimlich Treibholz gesammelt und im alten Bootshaus versteckt.
Und jetzt stand ich hier im Garten und versuchte zu erklären, was ein Floß war, auf Englisch. Ein paarmal warf ich Lena einen hilflosen Blick zu, aber sie starrte mich nur wütend an.
»It’s a thing that … äh … you float on it on the sea … äh, it’s a …«