Alles ist zu ertragen, was nur einen Augenblick dauert.
Aber ist denn das Leben nicht bloß aus Augenblicken zusammengestellt?
JEAN PAUL
Mein kleines Werk soll eine Lücke füllen. Als ausübender Armer bin ich schon lange auf der Suche nach einem Handbuch, einer Art Gebrauchsanweisung für die Armut, nach einem Wegweiser, wie man diesen Zustand mit Würde und ohne besondere Erschütterung des Nervensystems ertragen kann, einem Ratgeber für Menschen mit geringem Einkommen in kritischen Lebenslagen. Mir schwebte so etwas wie ein abgewandeltes Anstandsbüchlein vor, das den Armen in einfacher und praktischer Manier darüber belehrt, wie er sich den oberen Gesellschaftsschichten gegenüber verhalten soll, wie er zu lächeln, sich zu erheben, sich zu setzen, zum Tanz zu bitten, Kartoffeln zu schälen, sich vorzustellen oder die Senkgrube zu putzen hat, ohne besondere Formfehler zu begehen und ohne die Kritik der feineren Welt herauszufordern.
Bei genauer Beobachtung werden wir feststellen müssen, daß die Armen nicht nur ungeschickt leben, sondern sich auch schlecht benehmen. Ihre Manieren sind manchmal unerträglich, ihre Lebensformen denkbar primitiv, ihre Vergnügungen ohne Maß und Ziel. Von diesem Gesichtspunkt aus wäre zum Beispiel Knigges »Über den Umgang mit Menschen« auch heute noch ein vorzügliches Handbuch, hätte dieser populäre Autor in seinem Werk nicht jene nebensächliche und unbedeutende, jedoch zweifelsohne der Betrachtung würdige soziale Tatsache vergessen, nämlich daß die Menschen im allgemeinen kein Geld haben. Den gleichen auffallenden Fehler weisen auch andere vorzügliche Werke der Literatur auf, die den Umgang mit Menschen behandeln. Unter anderem ist es mein Ziel, Menschen, deren Einkommen dreihundertvierzig Pengö nicht erreicht – mit anderen Worten neun Zehntel der Menschheit –, taktvoll, aber entschieden auf die elementaren Gesetze des kultivierten Lebens und deren Auswirkungen aufmerksam zu machen, denn es ist kaum noch mit anzusehen, wie unmanierlich die Welt infolge ihrer Armut geworden ist. Dies wäre ein Ziel meines Buches.
Im Rahmen meiner Ausführungen bin ich nicht in der Lage, mich mit so einfältigen und fruchtlosen Theorien wie der Frage, ob unsere Zivilisation in den letzten Zügen liegt oder ob unsere Wirtschaftsordnung am Ende ihrer Kunst ist, zu befassen, denn mein Buch ist so kurz wie das Leben, auf das wir unser Hauptaugenmerk richten wollen; die theoretischen Bedenken überlassen wir lieber jenen traurigen Menschen, die sich damit berufsmäßig beschäftigen, nämlich den Nationalökonomen und den Kulturphilosophen.
Vorausgesetzt, daß sich die Armut gleich einer Epidemie oder einem mittelalterlichen Aberglauben in unserem Zeitalter ganz gewaltig verbreitet hat und neben dem gewerbsmäßigen und behördlich lizenzierten Bettlertum immer neue und andere Gesellschaftsschichten in ihre Kreise zieht, halte ich ein Handbuch geradezu für eine Notwendigkeit, um die überraschten, hinterrücks Angegriffenen und in die Kasematten der Armut verschleppten Neuarmen, die ihre plötzlich veränderte Lage in ihrem ersten Entsetzen weder begreifen noch mit Haltung tragen können, wie etwa die Neureichen, über das wahre Wesen ihrer Situation und über die möglichen Lebensfreuden, soweit sie in den Kasematten noch in Betracht kommen, aufzuklären. Das wird kein leichtes Unternehmen sein.
Beim Studium der Kirchenväter und der Bücher der Heiligen konnte ich weder Trost noch Befriedigung finden, denn sie loben und preisen die Armut, während mich die Armut anekelt – wenigstens meine eigene Armut –, und zudem finde ich diesen Zustand unsagbar langweilig. Ich hasse übrigens die Langeweile in jeder Form, erinnert sie mich doch an den Tod, den ich verachte; und ganz besonders hasse ich die Langeweile dann, wenn sie sich mir im traurigen Gewand der Armut nähert und mir ihren faulen Atem ins Gesicht haucht.
Ich leugne nicht, daß die Religion ein gewaltiger Trost und in gewisser Weise ein Heilmittel gegen die Armut bedeutet, besonders wenn wir unser Augenmerk ständig auf den himmlischen Lohn richten und uns um all das, was mit uns hienieden geschieht, nicht kümmern. Ich selber bin ein tief religiöser Mensch, und darum überrascht es mich, daß ich mich dennoch seit meiner Geburt hier auf Erden langweile, denn ich bin seit dem Augenblick meiner Geburt arm. Diesen Zustand, von dessen Unabänderlichkeit ich überzeugt bin, habe ich zeitweise als unerträglich empfunden und bin gleich dem verzweifelten Miklos Zrinyi mit hundert Goldstücken in der Tasche aus der belagerten Festung der Armut ausgebrochen – die Folge war natürlich immer die gleiche: ich stürzte.
Bei solchen Ausbrüchen versuchte ich, wenn auch nur auf Augenblicke, am Leben der Reichen teilzunehmen; ich äffte ihre Gewohnheiten nach, reiste in ihren Gefilden, speiste in ihren Restaurants, schlief in ihren Betten und rauchte ihre Zigaretten – es war eine klägliche und plumpe Kraftanstrengung, ähnlich dem Benehmen eines Krebskranken, der in eine Bar geht, um zu tanzen, oder der den Eiffelturm besteigt, in der Einbildung, daß es ihm dann bessergehen würde.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich lernte, daß die Armut nicht in meiner Umgebung liegt, sondern in mir selbst, und daß es vor ihr kein Entrinnen gibt. Es dauerte noch länger, bis ich lernte, daß die Atmosphäre der Armut irgendwie den Ausdünstungen einer Schwefelquelle ähnelt, die die Farben der Flora ihrer Umgebung zersetzt und das Chlorophyll der Pflanzen verblassen läßt. Mit den Augen eines Armen gesehen, verwandelt sich die üppigste Landschaft in eine graue und langweilige Gegend – dafür gibt es genügend Beispiele.
Als mir dies eines Tages zum Bewußtsein kam, verzweifelte ich nicht, empörte mich nicht und trat auch keiner politischen Partei bei, was einem würdelosen und albernen Schritt gleichgekommen wäre. Als Mensch, dem die systematische und philosophische Betrachtung nicht ganz fremd ist, begann ich nachzudenken, denn das kostete ja nichts, und es machte mir zudem noch Freude. Das Resultat dieser Grübelei ist dieses Buch.
Es hat, ich weiß es nur zu gut, viele Mängel. Manche werden seine Tendenz vielleicht auch als frivol empfinden. Was kann ich dagegen tun? Als Ausgangspunkt meiner Überlegungen wählte ich den Gedanken, daß es in einer Zivilisation, in der vor lauter Lebensnotwendigkeiten niemand mehr Zeit hat zu leben, zweckmäßig wäre, im Rahmen unentgeltlicher staatlicher Unterrichtskurse die Technik der Armut zu lehren, bevor die Menschheit in ebendieser Armut vollkommen verblödet – ein zwar trauriger, aber unausweichlicher Prozeß. Um so trauriger, da man, von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, alles lernen kann, so auch die Armut; man vermag mit Fleiß, Talent, Mühe und selbstloser Hingabe die Qualen der Armut zu lindern, und wenn sie auch immer ein schwer erträglicher Zustand bleiben wird, kann man doch mit gewissen Methoden ihre törichte Langeweile abmildern.
Es fällt mir natürlich nicht ein, solche Dummheiten zu behaupten wie: »Die Welt gleicht einer gedeckten Tafel.« In der Voraussetzung aber, daß der Arme mit den gleichen Sinnen ausgestattet ist wie der Reiche, sie nur nicht richtig zu gebrauchen versteht, habe ich versucht, eine zwar komplizierte, doch für die Armen praktische Methode auszuarbeiten, etwa wie »Mein System«, kleine Lebensübungen, die der Kranke täglich nach dem Aufstehen und vor dem Zubettgehen eine halbe Stunde lang verrichtet, dadurch allmählich die Beweglichkeit des gelähmten Gliedes zurückerlangt und, wenn auch langsam, wieder anfängt zu gehen.
Das Ergebnis meiner Überlegungen ist diese bescheidene Anleitung, deren Titel auch »Ars vivendi pro pauperibus« lauten könnte – bestimmt ein anmutigerer Titel, da auf lateinisch alles schön klingt; aber da nur wenige ihn verstehen würden, verzichte ich lieber auf diesen Vorteil. Der Titel ist gar nicht so wichtig. Wichtig ist das Ziel meines Buches, welches ich mit den einfachsten Mitteln zu erreichen suchte.
Zu guter Letzt nutze ich noch die Gelegenheit, allen jenen zu danken, die mir bei der Verfassung dieses Traktats mit ihren Erfahrungen und Ratschlägen zur Seite gestanden haben. Dies ist bei derlei Abhandlungen üblich, und meist sprechen die Verfasser Museumsdirektoren ihren Dank aus, die nicht so sehr Sachverständige der Armut als vielmehr der ausgestopften Tiere sind.
Ich persönlich befinde mich schon in einer angenehmeren Lage, da ich an dieser Stelle einem so vornehmen und edlen Autor wie dem heiligen Franziskus von Assisi aus tiefstem Herzen Dank sagen kann, hat er mir doch in seinem Werk »Ehe mit Frau Armut« unschätzbare Anleitungen gegeben und mir vor allem zur wahren Erkenntnis der Armut verholfen. Mit Dank gedenke ich meines Freun-des Dr. S. T., der sich in diesem Augenblick als ausüben-der Armer in einer kleinen Straße neben der Universität Philadelphia als vortragender Bettler betätigt, und meines einstigen Kollegen im Seminar Z. L., der jetzt als Armer in Rotterdam lebt. Ihren Ratschlägen und Anweisungen verdanke ich sehr viel.
Ich weiß genau, daß den strengen, den abstrakten Wissenschaften huldigenden Armen die unleugbare Aktualität, die das Buch durch die Behandlung eines so alltäglichen und zeitgemäßen Themas erhält, verdächtig erscheinen muß. Darum habe ich mich bemüht, meine Überlegungen unabhängig von modernen Strömungen der Zeit und unserer Epoche auf realen Grundlagen aufzubauen. Wie weit mir dies gelungen ist, überlasse ich dem Urteil meiner Kritiker.
Ich widme mein kleines Werk den Armen in der ganzen Welt.
Sándor Márai,
Budapest, 1943.
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Am zweckmäßigsten beschäftigt man sich mit der Armut vom philosophischen Standpunkt aus, schon wegen der einfachen Tatsache, daß in den meisten zivilisierten Staaten jeder, der sich mit der Armut in einer ganz gewöhnlichen Tonart und rein praktisch auseinanderzusetzen versucht, früher oder später hinter Schloß und Riegel endet.
Als erstes wollen wir also feststellen, daß die Armut, vom rein philosophischen Standpunkt aus betrachtet, der normale menschliche Zustand ist. In der Tat, nur die Einfältigen und die berufsmäßig böswilligen Schwätzer können behaupten, daß neuartige wirtschaftliche Theorien oder gar ein hingeworfenes politisches Schlagwort von einem Tag auf den anderen die großen Massen aus dem Zustand der Armut herausheben könnten.
Nur sanfte Träumer oder zu allem entschlossene Fanatiker können dummerweise behaupten, daß die die Erde bevölkernde, im großen und ganzen gutmütige, im Tragen ihrer Leiden ungemein geduldige und in ihrer Gesamtheit talentlose menschliche Rasse sofort glücklich wird und nicht länger arm ist, sobald eine Lehre oder ein Schlagwort, zum Beispiel die Chorgesänge der Heilsarmee oder die Dogmen von Marx, sich mit dem nötigen Nachdruck über die ganze Welt verbreiten. Dies können nur Soziologen oder Menschen glauben, die man für ihre Stellungnahme eigens bezahlt. Ein vernünftiger Mensch dagegen, und vor allem jene, in denen noch der sittliche Mut lebt (was bedeutet, daß sie weder von extrem links noch von extrem rechts Geld annehmen), vermögen Theorien, die mit der Wahrheit so wenig zu tun haben wie Pontius Pilatus mit dem Kredo, nur mit Schamröte im Gesicht anzuhören.
Nach welchem Schlüssel die Menschen unter sich die Produkte und die Bodenschätze der Welt aufteilen, durch welche friedlichen oder gewaltsamen Mittel sie den Verteilungskoeffizienten einer ihre eigenen Interessen begünstigenden Korrektur unterwerfen wollen, mit diesem zweifelsohne sehr aktuellen Problem hat jedoch die Armut – als natürlicher Zustand des Menschen – überhaupt nichts zu tun. Die Menschen haben sich an die Armut gewöhnt und betrachten sie als Selbstverständlichkeit. Prominente Persönlichkeiten erklären ihnen von Zeit zu Zeit, warum sie eigentlich arm sind, und die Menschen hören sich dies meist sogar gläubig an, das ist aber auch alles.
Vom philosophischen Standpunkt aus betrachtet ist es aber vollkommen gleichgültig, ob die Menschen in hoffender Erwartung eines neuen Wirtschaftssystems die Leiden der Armut ertragen, damit eine Bank oder ein industrielles Unternehmen eine höhere Dividende ausschüttet, aus religiöser Überlegung oder aber im Dienst eines romantischen und nebulösen Schlagwortes: zum Beispiel die Freiheit, die Kolonisierungspolitik oder gar ein Streichholztrust. Wie immer wir auch diese Schlagwörter variieren, die Wahrheit läßt sich schwer verheimlichen, daß nämlich die Menschen arm sind, daß nur eine ganze kleine Fraktion der Milliarden von Erdenbewohnern reich ist. Und wenn auch der Staat zeitweise von den Reichen die Rolle des Kapitalisten übernimmt, bleibt doch die Armut der großen Massen in China, in Lappland oder auch in Nischnij Nowgorod gleich.
Die Begründung, warum und zu welchem Zwecke die Menschen hier oder dort arm sind – so bestechend diese Argumentation auch klingen mag –, kann nichts an der Dauerhaftigkeit der geheimnisvollen Institution der Armut ändern. Es gibt selbst in Jahrmarktsbuden kein dankbareres Publikum als das einer Volksversammlung, auf der Redner erklären, warum die Menschen bis jetzt an Armut litten, und sodann bei Vorgaukelung eines fernen Zieles die Anwesenden auffordern, durch begeistertes Akzeptieren neuer Opfer und Entbehrungen dieses Ziel zu verwirklichen. Nun tobt die Zuhörerschaft vor Begeisterung, denn es wird ihr ein Vorwand geboten, auch weiterhin unverändert, vielleicht noch in gesteigertem Maße, arm zu bleiben. Dieser Zustand ist ihr anscheinend so zur zweiten Natur geworden, daß sie sogar von Zeit zu Zeit Revolutionen entfacht und Massenmorde veranstaltet, um die Institution der Armut noch unbedingter und allgemeiner zu verankern.
Ob die großen Menschenmassen in hundert Jahren so arm sein werden wie vor hundert Jahren, darüber kann man in Kursen für berufsmäßige Propagandaredner oder in literarischen Salons debattieren, einen vernünftigen Menschen jedoch, der es wagt, der Wahrheit unerschrokken ins Gesicht zu blicken, interessiert diese Frage so wenig wie die Diskussion von Geologen über das Thema, ob der Spiegel des Pazifischen Ozeans in tausend Jahren um zehn Zentimeter höher oder niedriger liegen wird. Der menschliche Ozean wird, wie immer das bestehende Wirtschaftssystem auch heißen mag, ganz bestimmt auf dem gleichen Niveau der Armut verharren. Vom moralischen Standpunkt aus beurteilt, gibt es nichts Natürlicheres als diese Feststellung.
Ein alter Herr von ausgezeichneter Beobachtungsgabe machte mich einst in einem Café in Buda darauf aufmerksam, daß die Tiere auch arm sind. Wie jede Wahrheit machte mir auch diese einfache Feststellung klar, daß man nach dem Geheimnis der Armut nicht im Wörterbuch abgeleierter Theorien, sondern in der Wirklichkeit suchen muß. Verblüfft stellen wir dann aber fest, wie sehr sich die wirkliche Natur der Dinge vom Wunschbild unserer Einbildung unterscheidet. Wenn wir uns überlegen, daß es, abgesehen von den Ameisen, den Bienen und den Termiten, in der ganzen Welt kein anderes Lebewesen gibt, welches die Hortung von Gütern als Lebensaufgabe betrachtet und sich an den Besitz der durch Fleiß, Arbeit, List oder Gewalt erworbenen Güter klammert, dann wird uns eindeutig klar, daß die Armut der natürliche Zustand der Geschöpfe ist und daß selbst die obenerwähnten Insekten nur unter dem Zwang einer langweiligen Gesellschaftsordnung ihre monotone Tätigkeit ausüben.
Es ist schwer vorstellbar, daß zum Beispiel die Kraft und Energie eines Löwen, die Skrupellosigkeit einer Hyäne oder die Blutgier eines Wolfes nicht Schritt halten könnten mit den Eigenschaften eines mittelmäßig begabten fünfzigjährigen zuckerkranken Lederfabrikanten, wenn sie ein Vermögen zusammenraffen wollten. Sie wollen aber nicht, und darauf kommt es an. Nicht einmal die Hyäne, dieses niedrigste aller Tiere, bekanntlich vom Aas lebend, denkt im Traum daran, daß man aus dem Fett der toten Tiere Seife sieden und durch den Handel mit dieser Seife reich werden könnte.
Diese vollkommene Gleichgültigkeit der Hoch- und Niedergestellten in der Tierwelt dem Besitz gegenüber wird jeden denkenden Menschen davon überzeugen, daß die Armut – gleich der Luft, die sie atmen – die natürliche Atmosphäre aller Lebewesen ist. Wer hat je von einem Königstiger gehört, der auf die Nachricht hin, daß seine Aktien an der Frankfurter Börse einen Kurssturz erlitten haben, Selbstmord beging, oder von einer Hyäne, die sich aus Verzweiflung aufgehängt hat, als sie eines Tages bemerkte, daß ein Mißgünstiger den von ihr mit sorgsamer Voraussicht vergrabenen Antilopenkadaver in der Nacht herausgescharrt und verschleppt hat? Der Elefant im Tiergarten nimmt zwar die ihm dargebotenen Kupfermünzen an, trompetet sie aber mit einer verächtlichen Gebärde gleich wieder vor die Füße seines Wärters.
Die Tiere, die gleich Menschen die Fähigkeit in sich tragen, ein Vermögen zu erwerben, verachten aufgestapelte Güter. Diese nicht zu leugnende und auffallende Erscheinung mahnt bei der Analyse der menschlichen Armut und des Reichtums zu einer gewissen Vorsicht.
Wenn wir auch die Armut als den natürlichen, wahren und ewigen Zustand der Lebewesen betrachten, so wäre es geradezu albern zu behaupten, die Armut sei etwas Gutes oder ein angenehmer und beglückender Zustand. Selbst das Leben ist nichts besonders Gutes und das Glück schon gar nicht der Endzweck des Seins, eine Ansicht, zu der sich auch Rilke bekannte. »Es ist wirklich nicht wichtig, glücklich zu sein.« Um so weniger kann das Glück der Endzweck der Existenz sein, als diese überhaupt keinen Endzweck hat. Die Armut ist ein ebenso zweckloser, selbstbedingter Zustand wie das Leben, dessen Produkt sie ist.
Nur ganz simple oder von Fanatismus verblendete Menschen können verkünden, die Armut sei die unmittelbare Folge des im allgemeinen gierigen, gewalttätigen und rücksichtslosen Verhaltens der Reichen gegenüber den Armen. Eine der schädlichen Folgen von verantwortungsloser Verbreitung politischer fixer Ideen ist, daß Irrlehren entstehen können, nach denen die allgemeine und ewige Armut die Konsequenz von Raubzügen irgendeiner wilden Interessengemeinschaft oder einer blutdürstigen Interessengruppe sei.
Der Minierarbeit dieser falschen Propheten verdanken wir es, daß der Arme manchmal auf den Gedanken kommt, seine Armut so aufzufassen, als wäre sie die Folge der Verschwörung einer unterirdisch arbeitenden Mafia, einer geheimen Gesellschaft wilder und raublustiger befrackter Aktionäre, die sich ausschließlich zu dem Zweck in Trusts oder Holdings zusammengeschlossen haben, um die Armen auszuplündern.
Wir wollen das natürliche Recht und die durchaus gesunde Anlage der Reichen, die sie unwiderstehlich treibt, ihr Vermögen mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu vermehren und sich mit den Armen nur so weit zu beschäftigen, wie es ihren Interessen entspricht, keinen Augenblick bestreiten. Glücklicherweise sind die Reichen gesund und kräftig, sonst könnten sie nicht begütert bleiben, im Gegensatz zu den Mittellosen, die selbst in ihren unübersehbaren Massen hilf- und kraftlos sind.
Da es so viele Arme gibt und so wenige Reiche, wäre es jenen infolge ihrer überwältigenden numerischen Mehrheit bei den verschiedensten Gelegenheiten ein leichtes gewesen, den Reichen alle Vorteile und Güter abzunehmen, an die sie sich mit einer so gesunden Beharrlichkeit klammern. Bedenken wir aber, daß von den zwei Milliarden Erdenbewohnern im besten Fall hundert Millionen reich und der Rest arm sind, dann erscheint es zweifelhaft, ob die schönste Theorie, selbst gepaart mit Gewaltanwendung, geeignet wäre, diesem Zustand der Unbeholfenheit ein Ende zu bereiten.
Bei der genauen Untersuchung dieser Verhältniszahlen kommt man unwillkürlich in die Versuchung, mit der Irrlehre zu brechen, die Reichen brächten nur durch Intrigen und Vereinbarungen die Armen um ihre Rechte an den Schätzen der Welt. Wir haben vielmehr das Wesen des Reichtums und der Armut mit der gleichen Unvoreingenommenheit zu untersuchen – wie ein australischer Eingeborener die Grundelemente des französischen Gesellschaftslebens studieren würde –, um die übernatürlichen Kräfte und politikfreien Zusammenhänge zu erkennen, deren Folgen der Reichtum und die Armut sind.
Daß der Besitz von Geld die Reichen von den Armen trennt, ist ebenfalls ein Fehlschluß. Diese These haben hauptsächlich die angelsächsischen Sozialphilosophen gelehrt, und sie lehren sie heute noch. Die französischen und lateinischen Denker im allgemeinen äußern sich dagegen nur mit einiger Zurückhaltung über den Einfluß und die Bedeutung des Geldes bei der Entstehung der Gesellschaftsordnung. Der Grund des Fehlschlusses, der Geldbesitz trenne die Armen von den Reichen, liegt in der Oberflächlichkeit, mit der die Menschen das Geld zu allen Zeiten als einfachen Wertmesser betrachteten und dabei meist vergaßen zu untersuchen, welche Werte es eigentlich sind, die man mit Geld bemessen kann.
Bei genauer Betrachtung kann man tatsächlich feststellen, daß man sich mit Geld, angefangen bei einer Salbe über ein nicht anhaltendes Wollustgefühl bis zur Mehrheit eines Aktienpakets, alles in der Welt kaufen kann, und man muß auch zugeben, daß durch Geld erworbener Besitz und die Möglichkeit der Befriedigung nicht zu unterschätzen sind.
Dagegen kann sich zum Beispiel ein dummer Mensch trotz all seines Geldes die Fähigkeit der klugen Überlegung nicht erkaufen, obwohl das Nachdenken – geben wir es zu – doch mehr Unterhaltung bietet als ein Champagnergelage mit Frauen in einem Nachtlokal. Mit Geld kann man auch die Angst vor dem Tod nicht betäuben, und selbst an und für sich einfache Fähigkeiten wie das Gesangstalent oder der Sinn für Humor lassen sich nicht damit beschaffen. Man würde es nicht glauben, aber tatsächlich ist es so. Wir unterschätzen keinesfalls die produktiven Möglichkeiten, die werteschaffenden Fähigkeiten des Geldes, wenn wir seiner Wirkungskraft auch Grenzen setzen.
Das Geld ist fähig, Haß in Liebe, Gleichgültigkeit in Freundschaft umzuwandeln. Ich selbst zum Beispiel habe die Beobachtung gemacht, daß ich für Geld, und sogar für relativ wenig Geld, zu den edelsten Gefühlen fähig bin. Die Schuld der scheinheiligen und einseitigen kontinentalen Schönliteratur besteht darin, daß viele Menschen auch heute noch an eine magische Kraft des Geldes glauben und daß auf der geistigen Börse, wo man die wechselnden Kurse der Begriffe notiert, die vollkommene Liste derjenigen Werte, die man nicht erstehen kann, noch nicht angeschlagen wurde. Die Mehrheit der Menschen lebt heute noch in der irrigen Annahme, man könne mit Geld, und noch dazu mit einem so minderwertigen und wenig wertbeständigen Symbol wie dem heutigen Geld, die ganze Welt mit ihren gesamten Naturschätzen und Kraftquellen kaufen.
Vom Geld, geben wir es offen zu, kann man nicht vorsichtig genug sprechen. Es käme einer böswilligen Ableugnung der magischen Kraft des Geldes gleich, wollte jemand bestreiten, daß man für Geld auch Menschen kaufen kann, nicht nur den lahmen Bettler an der Kettenbrücke, sondern unter entsprechenden Umständen und mit entsprechenden Mitteln sogar einen Maharadscha, den einen mit seiner Krücke, den andern mit seinem Gesamtbesitz und Harem, also mit Haut und Haaren – ach, nichts ist leichter käuflich als ein Mensch. Geben wir weiter zu, daß man für Geld bis zu einem gewissen Grad auch Gesundheit, Schönheit und das meiste von dem, was einem eine Frau zu bieten vermag, käuflich erwerben kann.
Dagegen können wir zum Beispiel mit Geld nicht erreichen, daß ein Rhinozeros den Menschen mit selbstverständlicher Freundlichkeit anblickt – schon diese eine Tatsache genügt, um dem Irrwahn der alles zu Fall bringenden und in seinen magischen Bannkreis zwingenden Kraft des Geldes mit Zweifel und Vorbehalt entgegenzutreten.
Des Übels Wurzel ist, daß für den Durchschnittsreichen die Wahrheit meist unerträglich erscheint und er sich mit den Surrogaten der Dinge zufriedengeben muß, die das Geld ihm, in Seidenpapier gewickelt, ununterbrochen liefert. Der Reichtum ist letzten Endes etwas Symbolisches und Beschränktes, und die Reichen sind im höheren Sinne des Wortes ebenfalls arme Menschen, da sie sich statt mit der Wahrheit, die sie ebenso fürchten wie ein Köter den Hundefänger, mit Surrogaten oder Symbolen der Wahrheit begnügen müssen, welche die Literatur und die auf ihr Eigenbild zugeschnittene Gesellschaft ihnen fatamorganaartig vorgaukelt.
Nur die allerfeinfühligsten Reichen, die so begabt sind, daß sie Arme sein könnten, wissen, wie beschränkt die Macht ihres Geldes ist und daß nicht nur der Besitz des Geldes sie von den Armen trennt. Schließlich wissen sie auch, daß man zwar für Geld die Tugend kaufen kann (ein sich durchwegs nicht lohnendes Geschäft), jedoch keinesfalls das heiter-beglückende Gefühl, das die Erkenntnis und die praktische Ausübung der sittlichen Wahrheiten der Seele schenkt. Denn entgegen den Puritanern, die an Stelle der »Tugend« die Welt mit ihren traurigen saft- und kraftlosen Salbadereien füttern möchten, ist es unsere Überzeugung, daß die wirkliche Tugendhaftigkeit ein leidenschaftlicher, sinnlicher und heiterer Zustand ist.
Der Reiche, der sich den Freuden des Lebens zwangsläufig immer nur mit dem Schutzmittel seines Geldes nähert, vermag alles zu kaufen, nur nie und nimmer diese Freuden der Tugend. Darum sind auch die Reichen im allgemeinen so traurig.