G.F. Barner
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Mit dem Dampfross in den Tod

G.F. Barner

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-624-9

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Der Mann stand neben der Tür an der Trennwand des Waggons und blickte Bill Curtiss über den Lauf seines Revolvers an. Das Licht der Hängelampe tanzte hin und her, es ließ den Revolverlauf blinken und das Loch darin noch düsterer erscheinen. In diesem Loch lauerte der Tod.

Plötzlich war es dem jungen Bill Curtiss, als wäre das Rattern des Zuges Nr. 17, der Reno in Nevada erst vor einer Viertelstunde in Richtung Winnemucca und Salt Lake City verlassen hatte, schrecklich laut geworden. Wenn die Radpaare über die Nahtschwellen der Schienen rollten, drang das dumpfe Rattatta – rattata in den Expreßwaggon.

Bill Curtiss stand mit dem Bündel Briefe, das er aussortiert hatte, zwischen Regal und Kanonenofen. Das Rattatta dröhnte ihm wie Paukenschläge in den Ohren. Und aus den Paukenschlägen wurden nun Worte – drei Worte, die sich in Bills Kopf festsetzten.

Rattatta – du bist tot! Rattatta – du bist tot – du bist tot – du bist tot.

Der Mann neben der Tür blieb so stumm wie sein Revolver. Dennoch wußte Curtiss in diesem Augenblick, daß die Waffe in der nächsten Sekunde aufbrüllen würde, wenn er den einen Schritt bis zum Kanonenofen tat, um die Briefe in die Flammen zu werfen.

Wo kommt er her? dachte Curtiss. Wie ist er in den Waggon gekommen?

Gleichzeitig brach Curtiss der kalte Angstschweiß aus allen Poren. Ihm war, als würden seine Füße im eisigen Luftstrom eines Gletscherfeldes stehen. Die Kälte kroch langsam an Bills Beinen hoch, bis sie sich lähmend in seinem Magen festfraß. Dort, wo der pendelnde Lampenschimmer an dem Mann mit dem Revolver vorbei in den Packraum fiel, standen die beiden Kisten. Es waren schwere Transportkisten, die angeblich Glasballons für den Weinanbau in Utah enthielten.

Auf dem gelblichen Pinienholz wiesen riesengroße Beschriftungen auf die genaue Handhabung der Kisten hin. Ferner gab es Beschriftungen für oben und unten, und so hatte man sie auch, als sie in Sacramento verladen worden waren, nach Vorschrift hingestellt.

Bill Curtiss erinnerte sich, daß er die vier Männer, die die Kisten als Eilfracht in den Expreßwaggon geschafft hatten, nie zuvor auf der Sacramento-Station gesehen hatte. Im wechselnden Lichtspiel der an der Waggondecke schaukelnden Lampe wirkte das Innere der einen Kiste so düster wie das eines offenen Sarges in der ungewissen Beleuchtung einer Leichenhalle.

Das Seitenteil der großen Kiste stand wie eine Tür offen. Bill Curtiss, der durch die Bewegung im Hintergrund des Nebenraumes und an der zweiten Kiste abgelenkt wurde, starrte wie gelähmt auf den bequemen Sitz innerhalb der Kiste. Vor dem Sitz stand ein kleiner Kasten am Boden. Der Deckel war aufgeklappt worden. Curtiss konnte in den Kasten blicken. Dort lag eine Feldflasche neben einer Blechbüchse, wie man sie zur Aufbewahrung von Broten benutzte.

Der Anblick des anderen Mannes, der nun wie ein Geist aus der zweiten Kiste stieg und den Revolver bereits in der Faust hielt, jagte dem jungen Curtiss einen kalten Schauer über den Rücken.

Es war Clay Hunter, ein dicklicher, gemütlich wirkender Mann von etwa vierzig Jahren, dem man die Schläue eines Fuchses und die Listigkeit einer Schlange nachsagte. Und doch war Hunter harmlos im Vergleich zu jenem hageren düster blickenden Burschen neben der Tür.

Dort stand Glenn Sherwood, wohl der gerissenste und gnadenloseste Spürhund, den die Southern Pacific jemals beschäftigt gehabt hatte.

Sherwoods Leben war so stürmisch wie ein wildbewegtes Meer verlaufen.

Er war als junger Bursche im südlichen Arizona Skalpjäger gewesen, später Deputy-Marshal, dann einer der Scouts beim Modoc-Aufruhr, und schließlich hatte er beim Gemetzel von Mussel Slough eine gefährliche Rolle gespielt. Seitdem arbeitete Sherwood für die Bahn. Wo immer es Unruhen oder Ärger bei der Southern Pacific gegeben hatte, war Sherwood aufgetaucht. Und dann war es nach kurzer Zeit ruhig gewesen.

Der Mann war seit dem Gemetzel von Mussel Slough berüchtigt. Farmer haßten ihn wie die Pest, einige hatten ihm blutige Rache geschworen, und man sollte schon etliche Male aus dem Hinterhalt auf Sherwood geschossen haben. Niemand wußte genau, welche Rolle er eigentlich bei dem Massaker gespielt hatte. Einige Leute behaupteten, daß er damals Crow, einem Southern Pacific Agenten, den Befehl gegeben hatte, auf die Farmer zu schießen.

Zu dem Massaker war es gekommen, als die Bahngesellschaft von den auf ihrem Gelände siedelnden Farmern überhöhte Landpreise verlangt und etliche mit Gewalt vertrieben hatte. Die Farmer hatten sich bei Mussel Slough versammelt, Bahnbeauftragte, ein US-Marshal und mehrere Deputies waren dazugekommen, und nach kurzem Wortwechsel mit den erregten Farmern hatte Crow geschossen. Ein Blutbad war die Folge gewesen. Zwei tote Deputies und fünf erschossene Farmer waren auf der Strecke geblieben, ein Dutzend Verwundete hatten sich in ihrem Blut gekrümmt. Siebzehn Farmer waren festgenommen und später verurteilt worden.

Seitdem haftete Sherwood ein schlimmer Ruf an, und es gab nicht wenige Leute, die ihn den »blutigen Sherwood« nannten.

Du großer Gott, dachte Bill Curtiss entsetzt, Bloody Sherwood, der Schlächter vom Mussel Slough, und Clay Hunter, der verschlagene, hinterlistige Kriecher – das Spiel ist aus.

Und in dieser Sekunde wurde Curtiss übel.

Der dickliche Hunter lächelte schleimig.

Seine Karriere bei der Southern Pacific hatte als Bremser begonnen. Innerhalb kürzester Zeit war Hunter berüchtigt geworden. Er hatte sich einen Namen als Jäger gemacht, der die Lobos, jene meist armen Burschen, denen das Geld fehlte, um mit der Bahn zu fahren und sich irgendwo Arbeit zu suchen, wie ein Bluthund in den Waggons aufgespürt hatte. Die Art, wie er gegen die »Tramps« vorgegangen war, hatte ihn schnell aufsteigen lassen. Sein freundliches Gehabe hatte die armen Kerle getäuscht. Die meisten waren, wenn er sie erwischt hatte, im Glauben gewesen, daß Hunter Mitleid mit ihnen gehabt hätte.

Wenig später hatte er sie dann mit einem Totschläger hinterrücks zusammengeschlagen, immer noch ölig grinsend, und dann hatte er sie aus dem Zug geworfen. Wie viele Leute sich dabei alle Knochen gebrochen hatten, wußte niemand zu sagen.

Dieser Mann, dessen Schnüffelnase schon so manchen rätselhaften Fall gelöst hatte, kam nun mit seinem seltsamen Schaukelgang aus dem Pack­raum. Hunters Oberschenkel waren so dick, daß er die Füße nicht mehr nebeneinandersetzen konnte. Er ging immer etwas breitbeinig. Die Weste spannte sich stramm über seinem Kugelbauch. Die Goldkette baumelte glitzernd zwischen dem zweituntersten Knopf der Weste und der Uhrtasche. Uhr und Kette hatte Clay Hunter verliehen bekommen, als er den rätselhaften Schwund von Tausenden von Litern Wein, die von Kalifornien aus nach dem Mittelwesten verladen worden waren, aufgeklärt und die Absauger gestellt hatte.

Clay Hunter lächelte derart hämisch, daß Curtiss eine Gänsehaut bekam.

Kaum stand der dicke Mann, der nur knapp über fünf Fuß groß war, an der Tür, als Sherwood mit der Lautlosigkeit einer Schlange in den eigentlichen Expreßraum glitt. Der »blutige« Sherwood ließ Bill Curtiss nicht aus den Augen, und Bill wurde es immer mulmiger zumute. Er hatte Sherwood stets nur aus der Ferne gesehen, doch diesmal war er ihm so nahe, daß Bill ihm in die Augen blicken konnte. Und es waren die schrecklichsten Augen, die Bill Curtiss bis zu dieser Stunde zu Gesicht bekommen hatte. Er verglich sie unwillkürlich mit denen eines toten, vom Meer an den Strand geschwemmten Fisches: blaßblau und von jenem grauweißen Schleier überzogen, der in Bill den Ekel vor jeder Kochfischmahlzeit aufkommen ließ.

Die Augen schienen durch Bill Curtiss auf die Wand des Waggons zu glotzen. Der Blick Bloody Sherwoods ging wie wesenlos durch Curtiss.

Im nächsten Moment blieb der schreckliche Sherwood, dem man mehr als drei Dutzend Morde nachsagte – gesetzmäßige Morde, da auf die Skalps von Indianern eine Belohnung ausgesetzt gewesen war –, vor Bill stehen. Seine Rechte wanderte langsam hoch. Dann berührte die Mündung des Revolvers die Weste von Curtiss, und dann streckte Sherwood beinahe lässig die Linke aus.

Sherwood ergriff den Stapel Briefe. Es waren genau vierzehn, Bill hatte sie gezählt. In einem waren einmal sechzig Dollar gewesen, in einem anderen vierzig und in einem dritten noch einmal vierzig. Unbeobachtet von Charles Radcliff, dem stämmigen, untersetzten Messenger, der nicht nur für die Zugkasse, sondern auch für die Post verantwortlich war, hatte Bill einen Teil des Geldes in die rechte Hosentasche gesteckt. Das andere Geld lag in der mittleren Schublade des Sortiertisches hinter der kleinen Trennwand zum Hauptsortiertisch.

Bill Curtiss spürte den Druck der Revolvermündung in seinem Magen. Der Druck verstärkte sich. Bill wich langsam zurück, bis er an die vorstehende Schublade stieß. Er hatte sie so weit herausgezogen, daß der Anstoß genügte. Die Schublade löste sich von den Gleithölzern und landete polternd am Boden.

In derselben Sekunde machte der dicke Hunter einen Satz, den ihm Curtiss niemals zugetraut hätte. Der dicke Mann schoß aus dem Stand an der anderen Seite des Ofens vorbei, und im gleichen Moment fragte Charles Radcliff hinter der Halbwand an seinem Haupttisch nörgelnd:

»Bill, was zum Teufel, ist passiert? Was hast du wieder umge…«

Radcliffs Stimme erstickte nach einem Lallen. Der stämmige Messenger hatte um die Wand blicken wollen. Nun sah er Clay Hunter, und er klappte den Mund auf, als wäre er ein hungriger Junggeier, der in seinem Nest auf die Atzung wartete.

Bill Curtiss blickte seinen Vorgesetzten aus flackernden Augen und kreidebleich an. Er war am Ende. Das, was er immer befürchtet und oft genug in seinen Alpträumen erlebt hatte, war eingetroffen.

Hunter und Sherwood hatten ihn beim Gelddiebstahl erwischt. Er hatte die Scheine aus Briefen entwendet, die ihren Absender höchstens noch als Asche erreicht hätten.

*

»Was – was ist das?« stieß Charles Radcliff hervor. Sein Gesicht färbte sich, nachdem es im ersten Schreck bleich geworden war, dunkelrot. Radcliff sah auf die am Boden liegende Schublade und das Geld, dann bückte er sich, als hätte er vor, das Geld aufzuheben, fuhr aber sofort wieder hoch. »Alle Teufel, das ist doch… Ich dachte schon, das wäre ein Überfall. Curtiss, was ist das, was hat das zu bedeuten? Sherwood, Hunter? Was soll der Revolver, Clay?« Hunter lächelte immer noch. Glenn Sherwood hob langsam die Linke und streckte sie

Radcliff entgegen, der entgeistert auf die aufgeschlitzten Umschläge starrte und nicht gleich zu begreifen schien, was sie Hunter und Sherwood längst erzählt hatten. Wieder sperrte Radcliff den Mund weit auf, klappte ihn zu, öffnete ihn erneut und rang nach Luft.

»Aufge – aufgeschlitzt?« stammelte er dann. Nun begriff auch der als ungeheuer pedantisch verschriene Radcliff, was passiert war. »Aufgeschlitzt? Curtiss, Mensch, was – was hast du getan? Du hast Briefe geöffnet, du hast das Geld…«

Die letzten beiden Worte stieß Radcliff so entsetzt hervor, daß sich Hunters freundliches Lächeln in ein breites Grinsen verwandelte. Der Schreck

Radcliffs war zu offensichtlich. Es

schien diesem verknöcherten und pedantischen Mann nicht in den Kopf wollen, was er mit eigenen Augen sah.

Plötzlich faßte er sich an den Hals und atmete heftig. Es klang, als müßte er ersticken. Seine Augen quollen hervor, und dann streckte er jäh die Linke aus.

»Mensch, hinter meinem Rücken!« schrie Radcliff fuchsteufelswild. »Hinter meinem Rücken – unglaublich! Das ist doch… Mensch, du Bursche, du verdammter Strolch, du stiehlst, während ich dir den Rücken zuwende, du stiehlst unter meinen Augen.«

Die Pferde gingen mit ihm durch. Er bückte sich nach dem Geld, hob es auf, knüllte es zusammen und schleuderte es Bill Curtiss ins Gesicht. Einige der Scheine flogen an dem kreideweißen Dieb vorbei, zwei flatterten auf die Platte des großen Kanonenofens, wo sie neben der Kaffeekanne landeten. Darin siedete bereits das Wasser.

Curtiss, der während des Einsortierens der Post den Ofen kräftig geheizt hatte, weil sie bis weit nach Mitternacht mit dieser Arbeit beschäftigt sein würden und sich durch Kaffee munterhalten mußten, blickte wie gelähmt auf die Scheine.

»Verflucht, das Geld!« schrie Clay Hunter los. »Die Platte glüht beinahe, das Zeugs verbrennt, das Geld…«

»Das Geld?«

Radcliff fuhr herum, sah den Rauch von sich zusammenrollenden Scheinen aufsteigen und sprang vorwärts.

»Halt, halt!«

Glenn Sherwood wollte ihn zurückhalten, doch der stämmige Mann war schon an ihm vorbei am Ofen. Gleichzeitig war Hunter losgesprungen, aus dessen Gesicht das Grinsen verschwunden war.

Hunter – er war als geldgierig und stockgeizig bekannt – bekam beim beginnenden Verkohlen der Geldscheine beinahe einen Schlaganfall.

Curtiss, der Sherwoods Revolver für einen kurzen Moment nicht mehr auf den Rippen spürte, weil der Bahnagent sich umgedreht hatte, traute zunächst seinen Augen nicht, doch dann begriff er.

Bill Curtiss war nie dumm gewesen. In seiner Familie hatte man ihn immer für besonders klug, leider aber auch für ziemlich schlitzohrig gehalten. Was er nun erlebte, verschlug ihm dennoch die Sprache.

Hunter dachte nicht mehr an seinen Revolver, er wollte das Geld retten. Und nun stellte sich heraus, daß dies sein Fehler war.

Ehe Hunter den Trick von Radcliff erkannte, erreichte der den Kanonenofen. Der stämmige Mann hatte genau das getan, was er Bill immer gesagt hatte, und er hatte seine Rolle noch besser gespielt, als Bill es ihm jemals zugetraut hätte.

Charles Radcliff griff an dem einen schwelenden Schein vorbei, packte den Griff der Kanne und schlug blitzschnell zu. Er war anderthalb Schritt hinter dem gefürchteten und eiskalten Sherwood, der sich wieder Bill Curtiss zugedreht hatte. So sah Sherwood nicht, was in seinem Rücken geschah.

Der stämmige Radcliff packte mit der Linken Hunters rechten Arm. Er erwischte ihn am Handgelenk, als Hunter den einen Schein mit dem Revolverlauf vom Ofen fegen wollte. Brutal preßte Radcliff Hunters Handballen auf die glühend heiße Ofenplatte, während er gleichzeitig die Kanne hob.

Es war eine Doppelaktion, wie sie der junge Bill Curtiss nie für möglich gehalten hätte.

Hunter ließ aufschreiend seinen Revolver los. Der dicke Mann hatte sich den Handballen verbrannt, und wenn Curtiss nicht Radcliff im Weg gewesen wäre, hätte er sehen können, wie sich das Fleisch des Handballens verformte und eine Brandblase entstand. Daß Radcliff Hunter das siedende Wasser ins Gesicht goß, konnte niemand verhindern. Zwar gelang es dem dicken Mann noch, die Augen zu schließen, doch er schrie dann lauthals los. Er mußte Höllenqualen erleiden.

Der Revolver fiel am Kanonenofen herab. Die Kaffeekanne war halb leer, und Radcliff wirbelte auf der Stelle herum. Diese Bewegung erfolgte so blitzschnell, daß Sherwood völlig überrascht wurde. Zwar drehte sich Sherwood bei dem fürchterlichen Gebrüll Hunters sofort um, doch er kam zu spät, er konnte nichts mehr verhindern.