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© 2014 by Rachel Carter

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel » The Black Mage « .

© 2018 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in

der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28 , 81673 München

Aus dem Englischen von Britta Keil

Lektorat: Christina Neiske

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

he ∙ Herstellung: eR

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-20790-8
V003

www.cbj-verlag.de

Eins

Nicht umdrehen«, flüsterte ich und hoffte, dass ich nicht allzu panisch klang. Das Einzige, was ich sicher spürte, war mein rasendes Herz. »Ich glaube, wir werden verfolgt.«

Mein Bruder wurde blass und umklammerte die Zügel fester. Dann drehte er langsam den Kopf.

»Alex!«, zischte ich.

Schuldbewusst sah er wieder nach vorn. Hoffentlich hatten die vier Reiter, die ein paar Hundert Meter hinter uns ritten, nicht bemerkt, dass wir sie beobachteten. Bisher hatte es zwar nicht den Anschein, als würden sie sich sonderlich für uns interessieren, aber die Tatsache, dass sie uns immer noch folgten, obwohl wir die letzte große Straße längst verlassen hatten, verursachte einen schalen Geschmack in meinem Mund.

Die Dämmerung brach rasch herein. Nicht mehr lange, und wir würden im Dunkeln weiterreiten müssen. Die Sonne war bereits hinter einer Felszunge versunken und ihre letzten Strahlen schwanden schneller, als mir lieb war.

Ich hatte gehofft, die Reiter würden irgendwann ihr Lager aufschlagen. Gelegenheiten hätte es genug gegeben. Welcher erschöpfte Reiter verschmähte denn freiwillig eine geschützte Senke in Flussnähe?

Ich für meinen Teil hätte längst darauf bestanden, Rast zu machen, wären da nicht unsere unheimlichen Verfolger gewesen.

»Woher willst du wissen, dass sie uns verfolgen?«, flüsterte Alex gut hörbar, während unsere Pferde weiter den Berg hinauf in die Dunkelheit stampften. »Lass uns anhalten«, sagte er dann. »Ich wette, die werden einfach weiterreiten, und du wirst sehen, dass du dir grundlos Sorgen gemacht hast.«

»Alex«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »ihre Satteltaschen sind viel zu klein für so eine Reise. Ist das etwa kein Grund?«

»Weiß nicht, sag du’s mir.«

Ich gab mir alle Mühe, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Alex konnte schließlich nichts dafür, dass er den Grund meiner Besorgnis nicht durchschaute. Ihn interessierten andere Dinge. Er machte sich nur darüber Gedanken, wie man Leute heilte, nicht darüber, woran man Leute erkannte, die Böses im Schilde führen.

»Nur Dummköpfe – oder Banditen – reisen mit leeren Händen. Vier erwachsene Männer können nicht so dumm sein, Alex. Und selbst der größte Dummkopf wäre noch schlau genug gewesen, sich an der letzten großen Straße eine Herberge zu suchen …« Ich schluckte. »Ein Bandit wiederum muss sich um seinen Proviant nicht scheren, weil er sich einfach unseren unter den Nagel reißen würde.«

Mein Zwillingsbruder geriet ins Grübeln, und ich fragte mich, ob er mir glauben würde. Ich war nicht unbedingt für Besonnenheit bekannt. Umso mehr hoffte ich, dass er meine Einschätzung der Lage in diesem Fall nicht einfach als vorschnelles Urteil abtat, so wie unsere Eltern es wahrscheinlich gemacht hätten.

Während ich auf seine Reaktion wartete, tat ich so, als würde ich die Steigbügel kontrollieren, und sah mich unauffällig noch einmal nach den Männern um. Selbst im schwindenden Tageslicht war das metallische Blitzen an der Hüfte des einen unübersehbar. Nur ein Soldat oder ein Ritter durfte eine Waffe tragen.

Ein Schauer überlief mich. Dieser Mann war gewiss weder das eine noch das andere.

»Weißt du, was ich glaube?«, hörte ich Alex plötzlich sagen.

Ich holte tief Luft. »Alex …«

»Ich glaube, du hast recht.«

Oh. Ich hielt inne.

»Was machen wir jetzt, Ry?« Mein Bruder runzelte die Stirn und sah mich aus großen blauen Augen an. Zuerst konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, aber ich fand, dass er auf einmal sehr verletzlich aussah, viel jünger als fünfzehn. Und dann wurde mir klar, dass er Angst hatte.

Mein Zwillingsbruder, der Kopfmensch, meine vernünftige Hälfte, hatte Angst. Was hieß das für uns? Darüber wollte ich lieber nicht nachdenken. Ich starrte geradeaus und versuchte, zwischen den dichten Kiefern unseren Weg auszumachen.

Leider lag der Grund für unsere missliche Lage näher als eine Lösung.

Wir hätten auf der Hauptstraße bleiben sollen, erkannte ich nun. Wenn ich nicht darauf bestanden hätte, den kürzesten Weg zur Akademie zu nehmen, würden wir jetzt auf einer hübschen, belebten Straße reiten und müssten uns nicht durch die einsamen Berge kämpfen und fürchten, jeden Moment überfallen zu werden.

Doch jetzt war es zu spät.

»Ryiah?« Alex sah mich fragend an.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Antworten zu finden, war eigentlich meine Stärke. Was hatte ich doch gleich zu unseren Eltern gesagt, bevor wir von zu Hause aufgebrochen waren? Dass ich alles dafür geben würde, eines Tages zu den Kämpfern zu gehören, sogar mein Leben.

Ironie des Schicksals. Was ich in einem hitzigen Moment herausposaunt hatte, drohte nun Wirklichkeit zu werden. Ich würde uns nicht verteidigen können. Nicht gegen vier erwachsene Männer, bewaffnete Männer. Nicht ohne Magie.

Im Stillen fragte ich mich zum millionsten Mal, warum – bei allen Göttern! – ich immer noch nicht wusste, ob ich wirklich Magie in mir trug. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu schmollen. Ich brauchte einen Plan, und zwar schnell.

Ich starrte ins Dickicht und suchte nach einem Abzweig. Wenn wir einen Weg finden würden, umzudrehen, die Männer abzuhängen und auf die große Straße zurückzukehren … Oder sollten wir die Dunkelheit nutzen, um uns vor ihnen zu verstecken, und unsere Reise bei Sonnenaufgang fortsetzen?

Vielleicht hatte Alex ja recht und die Männer würden einfach weiterreiten. Wir könnten an Ort und Stelle unser Lager aufschlagen und alles wäre gut.

Na klar, und Schweine können fliegen!, schalt ich mich selbst. Du willst eine Kämpferin sein und knickst beim ersten Anzeichen von Gefahr ein?

Ich würde nicht einknicken.

Ich ritt so nah wie möglich an Alex heran. »Wenn ich ›los‹ sage«, flüsterte ich, »reitest du nach Westen – und ich nach Osten.«

Alex wollte protestieren, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Wir müssen uns aufteilen. Zusammen sind wir eine viel zu leichte Beute.«

Mein Bruder sah mich herausfordernd an. »Ich werde dich ganz bestimmt nicht allein lassen, Ry.«

Ich ging nicht darauf ein. »Wir treffen uns in der Taverne, du weißt schon, die, an der wir vor der Weggabelung vorbeigeritten sind … Wenn … wenn einer von uns beiden nicht bis kurz nach Sonnenaufgang dort ist, informieren wir die Wachen vor Ort und lassen nach dem anderen suchen.« Ich schluckte. »Die Schurken und Schläger in dieser Gegend bringen für gewöhnlich niemanden um, es sei denn, man bricht einen Streit vom Zaun.« Zumindest war es das, was ich gehört hatte.

»Aber was, wenn sie …«

»Werden sie nicht«, sagte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Wenn die rauskriegen, dass du ein Mädchen bist …«

Ich sah meinen Bruder eindringlich an. »Wir haben keine andere Wahl, Alex. Wenn du bei mir bleibst, bringen wir uns nur beide in Gefahr.«

»Verdammt, Ryiah, dein Plan gefällt mir ganz und gar nicht!«, fluchte er.

Ich gab ihm ein Zeichen, sich bereit zu machen, und stellte mich in die Steigbügel, die Hände fest in die Mähne meines Pferdes gekrallt. Alex tat es mir gleich, und als wir beide so weit waren, nickte ich.

»Und los!«

Mein Pferd galoppierte an, dass die Erde und Steine unter uns nur so spritzten. Das Donnern der Hufe und die überraschten Rufe der Männer ließen mich beinahe schweben. Wir hatten sie ausgetrickst!

So verlockend es auch war, sich umzudrehen und in ihre verdutzten Gesichter zu sehen – ich hielt den Blick nach vorn gerichtet. Zweige schlugen mir ins Gesicht und schnitten mir in die Haut. Ein rauer Wind blies mir entgegen und zerrte an meinen ohnehin schon spröden Lippen. Doch weder die lähmende Kälte noch die peitschenden Äste hielten mich auf.

Ich hoffte, dass Alex mit seiner Route durch den Wald mehr Glück haben würde als ich. Ich konnte keine zwei Meter weit sehen und musste mich auf den Orientierungssinn meiner Stute verlassen. Jetzt, da sie die grobe Richtung kannte, war es an ihr, uns sicher durchs Dickicht zu führen.

Zu spät vernahm ich das leise Sirren einer fliegenden Klinge. Sie erwischte mich hinten am Schenkel. Ich schrie auf und verfluchte mich in der nächsten Sekunde dafür.

Die Wunde schien nicht sehr tief zu sein, brannte aber trotzdem wie Feuer, und ich war so erschrocken, dass ich das Gleichgewicht verlor. Ich kippte rückwärts in den Sattel, woraufhin die Stute in einen leichten Galopp verfiel. Trotz der Schmerzen versuchte ich hastig, mich wieder aufzurichten und mich erneut in die Steigbügel zu stemmen, um mein Pferd anzutreiben. Doch im selben Moment stolperte es über einen losen Stein und ich flog nach vorn. Meine Hände waren so schwitzig, dass mir die Mähne entglitt, und ehe ich wusste, wie mir geschah, landete ich mit einem grässlichen Schlag auf dem Boden. Wie durch ein Wunder gelang es mir in letzter Sekunde, mich zur Seite zu rollen, bevor die Hufe mich zertrampeln konnten.

Die Stute preschte in die Dunkelheit und ich rappelte mich mit zitternden Beinen auf. Meine ganze rechte Seite schmerzte, und beim Versuch, meinen Sturz abzufedern, hatte ich mir die Hände aufgeschnitten. Ich fragte mich, woher das Trommeln in meinem Schädel kam, ob es mein rauschendes Blut war oder die herannahenden Banditen.

Vielleicht hatten sie meinen Sturz ja gar nicht bemerkt. Vielleicht dachten sie, ich wäre davongeritten. Dunkel genug war es jedenfalls. Ich humpelte gerade auf ein Gebüsch zu, als ich ihre lauten Rufe und das unverwechselbare Geräusch schwerer Schritte hörte.

Die Banditen waren abgestiegen und suchten die Gegend nach mir ab.

Ich kauerte mich so tief wie möglich ins Gebüsch. Die Dornen zerkratzten mir Gesicht und Arme, und ich betete, dass das Knacken der Zweige mich nicht verraten würde. Mein Atem ging schnell und stoßweise. Was alles Schreckliches passieren würde, wenn sie mich fanden, wollte ich mir lieber nicht ausmalen. Ich hätte mein Herz gern dazu gebracht, leiser und langsamer zu schlagen, aber es war zwecklos.

Ich konnte noch immer ihre Stimmen hören. Sie kamen näher. Ein Windhauch wehte den ranzigen Geruch nach tagealtem Männerschweiß und Bier heran, und ich fragte mich, wie nah sie wohl schon waren. Der Busch, unter dem ich hockte, roch seltsam süßlich, nach Waldbeeren. Hoffentlich verbargen mich seine Blätter vor ihren Blicken.

Wie viele von ihnen waren mir gefolgt? Wie es Alex wohl ging? Ritt er nach Westen, wie wir es ausgemacht hatten? Ich horchte in die Dunkelheit.

»… hab den Jungen weghumpeln sehen«, hörte ich einen sagen.

»Er kann nicht weit sein«, sagte ein anderer.

Waren es zwei Männer? Oder drei? Falls es einen dritten gab, verfolgte er mich schweigend. Doch vom Klang der Schritte her tippte ich eher auf zwei.

Plötzlich hörte ich neben mir Kiefernnadeln knacken. Mir stockte der Atem.

Einer der Männer stand direkt neben dem Busch. Ich hörte, wie er auf eine der Wurzeln trat, die überall aus dem Boden ragten, und sendete ein stummes Gebet gen Himmel, dass er weitergehen würde.

»Ich glaube, er ist in die andere Richtung, Jared«, sagte der Mann. »Hier ist nichts als Gestrüpp.«

»Nein, er ist hier lang.«

Die Stimmen waren nun direkt über mir. Mein Herz hämmerte so laut, dass ich fürchtete, es würde mich jeden Moment verraten. Ich wagte nicht zu atmen und wartete darauf, dass sie verschwanden.

»Was riecht denn hier so gut?«, fragte der Erste.

»Das sind Brombeeren, du Schwachkopf«, erwiderte der Kerl namens Jared. Er steckte eine Hand zwischen die Ranken und zog sie fluchend zurück. »Verdammte Dornen!«

Der andere schob sich an ihm vorbei und griff tiefer in den Busch hinein, wobei er ein paar Beeren zu fassen bekam und leider auch meine Haare. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich ein paar Strähnen aus meinem geflochtenen Zopf gelöst und in den Ranken verfangen hatten. Als der Mann an meinen Haaren riss, entwich mir ein Schrei.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund, aber es war zu spät. Blitzschnell hatten sie mich aus meinem Versteck gezerrt und zu Boden geworfen.

»Da schau her«, dröhnte Jared. »Sieht so aus, als wäre deine Verfressenheit mal zu was nütze, Erwan.« Er schlug dem anderen Mann, einem Hünen mit riesiger Wampe und schlammigen Stiefeln, auf den Rücken.

Ich wollte ihre Gesichter sehen, konnte in der Dunkelheit aber nicht viel erkennen. Während ich panisch versuchte, mich aufzurappeln, machten sie derbe Sprüche und lachten, bis ich endlich aufrecht saß.

»So, Bürschchen«, sagte Erwan, »und nun verrätst du uns, wohin dein kleiner Freund verschwunden ist.«

Ich stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Blut- und dreckverschmiert wie ich war, hielten sie mich in den Reitsachen meines Bruders immer noch für einen Jungen. Das Hemd, das ich trug, war weit, und obwohl es an den Armen eingerissen war, verhüllte es jede verräterische Rundung.

Ich sagte nichts, aus Angst, meine Stimme könnte enttarnen, was meine Kleidung so gut verbarg.

»Du wurdest was gefragt«, knurrte Jared. »Also antworte.«

Stille. Und dann ein lauter, hallender Knall. Jared hatte mir eine Ohrfeige verpasst. Mein Gesicht glühte und Blut schoss aus den Wunden, die die Dornen gerissen hatten.

»Hör mal, Bürschchen«, sagte Jared, »ich gebe dir noch genau eine Chance, den Mund aufzumachen, bevor ich dich in Stücke schneide.« Er zückte sein Schwert. Ich erkannte das Wappen der königlichen Armee. Aber dieser Mann war kein Soldat. Niemand, der geschworen hatte, Jerar und sein Volk zu verteidigen, würde gegen den Ehrenkodex verstoßen.

Ich fragte mich, wie die Waffe in die Hände eines Gesetzlosen gefallen war. Hatte seine Bande einem einsamen Soldaten auf einer verlassenen Straße aufgelauert und ihn ausgeraubt, so wie sie es auch mit mir und meinem Bruder vorhatten? Hatte Jared ihn danach vielleicht sogar getötet, um seiner gerechten Strafe zu entgehen?

Am Griff des Schwerts war ein Fleck, rostrot. Von Blut? Wut stieg in mir auf, aber ich schluckte sie hinunter, und so schroff und mit so tiefer Stimme wie nur möglich sagte ich: »Wir sind unterwegs zur Akademie.«

Jareds Augen funkelten bedrohlich.

»Hat er grade gesagt …«

»Zur Akademie?« Jared stupste mir mit dem Stiefel gegen die Wange. »Du bist Schüler an der Akademie, Bürschchen?« Er betrachtete mich genauer.

Der Hüne, Erwan, lachte laut. »Ein Magier! Hast wohl grade keinen Zaubertrick auf Lager, was?«

Mein Gesicht glühte und ich drehte mich weg.

»Dann musst du einer von den Erstklässlern sein«, sagte Jared. Seine anfängliche Neugier war verflogen. »Der Junge ist nutzlos«, sagte er verächtlich. »Wieder nur eins von den Dorfbälgern, die unbedingt auf diese verfluchte Schule wollen. Diese Dummköpfe bilden sich ein, sie hätten irgendeine Gabe, weil sie keine Lust haben, richtig zu arbeiten.«

Ich hielt immer noch den Mund und hoffte, sie würden mich – den nutzlosen Dummkopf – hier zurücklassen und stattdessen weiter nach meinem Pferd suchen.

»Hattest du Geld bei dir, Bürschchen?«

Nicht viel. Unsere Eltern hatten gerade genug Geld zusammenkratzen können, damit wir uns Pferde für unsere fünftägige Reise leihen konnten. Auf den Lohn, der meinem Bruder und mir für die Arbeit in ihrer Apotheke eigentlich zugestanden hätte, mussten wir schon lange verzichten. Dabei sparten sie sogar das Schulgeld, weil die Akademie dazu verpflichtet war, ihren Schülern im ersten Schuljahr Kost und Logis zu stellen.

Mit Schaudern dachte ich daran, in welches Elend wir unsere Eltern stürzen würden, wenn eines der Pferde nicht zurückkäme.

»Der Geldbeutel war … der war in der Satteltasche.«

»Los, Erwan, geh den verdammten Gaul suchen«, befahl Jared. Sein Kumpan setzte sich schwerfällig in Bewegung und ließ mich mit ihm allein. Jared trat mir in den Bauch. »Hoch mit dir! Du wirst mir jetzt helfen, das Lager zu errichten, bis die anderen zurück sind. Wenn du schön artig bist, lassen wir dich morgen früh wieder laufen. Solltest du auf die Idee kommen, abzuhauen oder uns irgendwie auszutricksen, kriegst du mein Schwert zu spüren.«

Ich stand vorsichtig auf, wobei ich versuchte, mir meine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Diese Genugtuung wollte ich ihm nicht gönnen.

****

Stunden später kam Erwan mit meiner Stute und einem Haufen Holz unterm Arm zurück. Jared befahl mir, die Äste für ein Lagerfeuer aufzuschichten, und ich gehorchte zitternd. Immerhin war er so gnädig gewesen, mich nicht selbst Holz suchen zu schicken. Wobei – in meinem Zustand hätte ich sowieso nicht schwer schleppen können und wohl kein Feuer zustande gebracht, das uns wirklich gewärmt hätte. Es war zwar Sommer, doch hier oben in den Bergen unter den Kiefern merkte man davon nicht viel.

Während ich langsam das Holz aufstapelte, lauschte ich der Unterhaltung der beiden.

»Was ist mit Halseth?«

»Er und Carl müssten spätestens in einer Stunde zurück sein.«

»Denkst du, sie haben den anderen erwischt?«

»Warum sollten sie nicht?« Jared spuckte aus, dann wanderte sein Blick zu mir. »Du, Bürschchen, wer ist der Junge, mit dem du unterwegs warst?«

Oh nein. »Ach, dem bin ich heute Morgen nur zufällig begegnet«, krächzte ich wieder mit möglichst tiefer Stimme.

»Du lügst.« Jared kniff die Augen zusammen. »Spuck’s schon aus. Ist er auch so ein nutzloses Balg wie du? Oder hat er … irgendwelche Kräfte?« Seine Augen funkelten. Irgendwelche Kräfte. Magische Kräfte.

»Ich … ich glaube nicht, dass er …«

Bevor ich den Satz beenden konnte, hatte Jared meine Hand gepackt und zerrte sie ins Feuer. Ich schrie, als die Flammen über meine Haut züngelten.

Jared ließ los.

Ich blinzelte die Tränen weg und bettete die Hand vorsichtig in meinen Schoß. Sie war grellrot und brannte höllisch.

»Soso …«

Ich durchbohrte die Kerle mit zornigen Blicken, doch Jared grinste bloß.

Als ich begriff, was sein Grinsen zu bedeuten hatte, blieb mir fast das Herz stehen.

Er weiß es.

»Wir brauchen mehr Feuerholz, Erwan.« Jared ließ mich nicht aus den Augen. »Ich würde ja selber gehen, aber einer muss auf den Jungen aufpassen.«

Erwan sah Jared verwirrt an. »Ich hab doch schon so viel geholt.«

»Ja und? Dann holst du eben noch mehr, Schwachkopf.«

Kaum war Erwan außer Sichtweite, drehte sich Jared zu mir. In seinem Blick lag die nackte Gier. Die Schatten der Flammen tanzten über seine strähnigen blonden Locken und ließen seine Säufervisage noch viel bedrohlicher aussehen.

»Wer hätte das gedacht?«, höhnte er. »Ein Mädchen. Dabei hab ich dir doch gesagt, keine Tricksereien, wenn du willst, dass wir dich laufen lassen.«

Ich sah mich panisch nach einer Fluchtmöglichkeit um. Wenn ich jetzt losrennen würde – wie weit würde ich kommen? Kämpfen konnte ich in meinem Zustand auf gar keinen Fall. Bisher hatte ich mich auch bloß mit den Gleichaltrigen aus meinem Dorf gemessen, aber noch nie mit einem erwachsenen Mann. Einen Jungen von der Statur meines Bruders hätte ich wahrscheinlich niederringen können, aber bestimmt keinen Kerl, der mindestens einen Kopf größer und dreißig Kilo schwerer war als ich.

Jared umfasste drohend den Griff seines Schwerts. »Wenn du jetzt schön brav bist, werde ich dir vielleicht verzeihen.«

Angst. Hass. Wut. Unbändige Wut. In mir tobten tausend Gefühle gleichzeitig. Zorn brannte in meiner Kehle. Meine Hände waren schweißnass. Ich wollte zurückweichen, aber ich stolperte und landete rücklings auf dem Boden. Als meine verbrannte Hand auf die harte Erde aufschlug, schrie ich auf. Heißer Schmerz schoss meinen Arm hinauf.

Jared warf sich auf mich, umklammerte meine Handgelenke und stemmte seine Knie auf meine Beine, sodass ich mich nicht mehr rühren konnte.

Ich werde nicht schreien.

Er beugte sich zu mir herunter und ich roch seinen fauligen, sauren Atem, als er versuchte, seine Lippen auf meine zu drücken. Ich riss den Kopf hoch, Jared konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen und ich rammte seine Nase. Es knackte, dann kam ein Schwall Blut.

»Du dreckige Schlampe!« Er ließ meinen Arm los und schlug mir ins Gesicht. Mir wurde kurz schwarz vor Augen.

Meine Wange glühte, aber das war nichts im Vergleich zu den Schmerzen, die ich in der verbrannten Hand spürte, als er seine Fingernägel hineingrub. Mein Blick verschwamm hinter Tränen, und ich wünschte verzweifelt, ich hätte Magie und könnte sie einsetzen. So wie Alex.

Jared packte den Kragen meines Hemds. Ich holte mit dem Arm aus, so schwungvoll ich konnte, doch er bekam ihn zu fassen, also stemmte ich mich mit aller Kraft gegen ihn, in der Hoffnung, ihn so aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Aber es nützte nichts. Er warf mich zurück und schlug mir nur noch fester ins Gesicht. Ich wartete darauf, das Bewusstsein zu verlieren, und war entsetzt, als mich plötzlich ein goldener Lichtschein blendete.

Dann hörte ich die Schreie. Zuerst dachte ich, es wären meine eigenen, aber sie kamen aus einer anderen Richtung. Oder spielten meine Ohren verrückt?

Der Druck auf mir ließ nach. Nichts hielt mich mehr am Boden.

Ich kam auf die Beine. Noch immer benommen vor Angst blinzelte ich in das grelle Licht und versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war.

Mit weit aufgerissenen Augen stand ich da. Mein Schädel dröhnte. Die Schreie klangen hoch und schrill wie Vogelkreischen. Sie hörten nicht auf und taten mir in den Ohren weh. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, aber meine Lippen waren geschlossen. Die Schreie kamen von dem leuchtenden Etwas vor mir.

Dann erkannte ich, dass es Jared war. Sein ganzer Körper war in Flammen gehüllt. Sie fraßen sich durch seine Kleider und in sein Fleisch – ein loderndes Inferno. Er schrie wie am Spieß.

Ohne noch einen Gedanken an Jared zu verschwenden, humpelte ich an ihm vorbei und band meine Stute los. Ihre Augen waren riesig vor Angst, und ich betete, dass sie mir nicht durchgehen würde. Sie war immer noch gesattelt, und so wie es aussah, hatten Erwan und Jared meine Sachen in den Satteltaschen nicht angerührt.

Ich bedankte mich – bei wem auch immer – für diese glückliche Fügung, hielt mich am Sattel fest und schwang mich auf mein Pferd. Jeder Zentimeter meines Körpers brannte vor Schmerz, aber ich biss die Zähne zusammen.

Ich klopfte meiner Stute den Hals, weil ich hoffte, damit zumindest sie etwas beruhigen zu können, und trieb sie mit den Knien an.

»Was zum Teufel …! Komm sofort wieder her, Junge!«

Erwan war zurück, aber er war noch weit genug weg, also nutzte ich die Chance, beugte mich herunter und machte auch die anderen beiden Pferde los.

Und jetzt versucht mich mal zu kriegen.

Ich stellte mich in die Steigbügel, beugte mich vor und stieß einen gellenden Ruf aus. Meine Stute galoppierte los und die anderen beiden Pferde preschten ins Dickicht davon.

****

Nachdem ich etwa eine halbe Stunde geritten war, sah ich in der Ferne einen anderen Reiter auf mich zukommen. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber eigentlich gab es nur drei Leute, die mitten in der Nacht in den Bergen unterwegs sein konnten. Und ich musste schnellstens herausfinden, wer es war.

Ich riss an den Zügeln, wendete mein Pferd und ritt in die andere Richtung.

»Ryiah?«, rief der andere Reiter.

Diesmal wendete ich mein Pferd sanfter und rief zurück: »Alex!« Und dann: »Wo sind die anderen?«

»Ich hab sie vor ein paar Meilen am Fluss abgehängt. Sie denken, ich folge dem Strom in südliche Richtung. Wo sind deine beiden?«

»Sie haben keine Pferde mehr.«

Ich glaubte, ein Grinsen in Alex’ Gesicht zu erkennen. »Na, auf die Geschichte bin ich gespannt!«

Ich schluckte, als sich meine Schmerzen und das Brennen in meiner Hand zurückmeldeten. Mein Bruder würde in Ohnmacht fallen, wenn er mich im Hellen sah. »Alex«, sagte ich leise, »wir müssen die Nacht durchreiten. Dieser Pass ist nicht sicher.«

»Ich weiß.« Er dachte einen Augenblick nach. »Aber lass uns zu Fuß weitergehen. Unsere Pferde brauchen eine Pause. Wenn wir was Verdächtiges hören, können wir immer noch abhauen. Außerdem kann man kaum noch die Hand vor Augen sehen …« Er lachte leise. »Ich weiß nicht, wie es dir ergangen ist, aber ich bin schon zweimal fast vom Pferd gefallen, und ich hab keine Lust, mein Schicksal herauszufordern.«

Ich war klug genug, nicht auf seine Bemerkung einzugehen. »Dann los«, sagte ich bloß.

Mein Bruder ließ mich vorangehen – ich hatte den besseren Orientierungssinn –, und ohne Umwege gelangten wir zurück zur Hauptstraße.

Nachdem wir eine weitere Stunde lang stumm hintereinander hergegangen waren, lichteten sich die Bäume, und der Mond und ein paar vereinzelte Sterne leuchteten uns den Rest des Weges.

Zum Glück waren wir beide so erschöpft, dass Alex mich nicht genauer ansah. Stattdessen setzten wir unseren Weg schweigend fort und verwendeten unsere letzten Kräfte darauf, wachsam zu sein.

Aber wir hätten uns keine Sorgen zu machen brauchen. Keiner der Banditen kreuzte unseren Weg. Ein paar Stunden später, die Sonne ging gerade auf, machten wir eine höchst erfreuliche Entdeckung: Jenseits der Straße ragte zwischen den Hügeln ein großes, einladend aussehendes Gasthaus auf.

Alex stieß einen Jubelschrei aus, sprang auf sein Pferd und jagte los, und ich folgte ihm, das vorläufige Ziel unserer langen Reise fest im Blick.