Dein Name ist Jeremiah Cotton. Du bist ein kleiner Cop beim NYPD, ein Rookie, den niemand ernst nimmt. Aber du willst mehr. Denn du hast eine Rechnung mit der Welt offen. Und wehe, dich nennt jemand »Jerry«.
Eine neue Zeit. Ein neuer Held. Eine neue Mission. Erleben Sie die Geburt einer digitalen Kultserie: COTTON RELOADED ist das Remake von JERRY COTTON, der erfolgreichsten deutschen Romanserie, und erzählt als E-Book-Reihe eine völlig neue Geschichte.
COTTON RELOADED erscheint monatlich. Die einzelnen Folgen sind in sich abgeschlossen. COTTON RELOADED gibt es als E-Book und als Audio-Download (ungekürztes Hörbuch).
Folge 47.
In New York City sorgt eine neue Bürgerwehr für Aufsehen: Schwarz gekleidete, maskierte, junge Leute wollen in Superhelden-Manier Überfälle und Diebstähle verhindern. Sie nennen sich die V-Guard.
Doch dann kommt es zu einem ersten tödlichen Zwischenfall. Special Agent Philippa Decker und Jeremiah Cotton vom G-Team nehmen die Ermittlungen auf. Schon einmal sorgte ein selbsternannter Rächer namens Guardian für Unruhe in Manhattan. Steckt er auch hinter der neuen Organisation?
Um das herauszufinden, schleust sich Cotton in das Netz der V-Guards ein – und schwebt schon bald selbst in tödlicher Gefahr …
COTTON RELOADED ist das Remake der erfolgreichen Kultserie JERRY COTTON und erscheint monatlich in abgeschlossenen Folgen als E-Book und Audio-Download.
Timothy Stahl, geboren 1964 in den USA, wuchs in Deutschland auf, wo er unter anderem als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Jugendzeitschrift tätig war. 1999 kehrte er nach Amerika zurück. Seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf. Mit seiner Horrorserie WÖLFE gehörte er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags. Außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Er lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Las Vegas, Nevada.
Junge Helden sterben frühr
BASTEI ENTERTAINMENT
Digitale Originalausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Uwe Voehl
Projektmanagement: Stephan Trinius
Covergestaltung: Thomas Krämer unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: DmitryPrudnichenko|Pavel K|Yevhen Tarnavskyi|aarrows
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2924-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Raum ist dunkel. Nur das weiße Rechteck des Monitors leuchtet. Tasten klappern.
… sie gingen auf den alten Mann zu. Zum Schein nur entspann sich ein Gespräch. Schon schubsten sie ihn. Stießen ihn hin und her. Von einem zum anderen. Lachten. Höhnten.
Der alte Mann machte den Fehler, nicht nur zu protestieren, sondern sich wehren zu wollen.
Für sie war das der Startschuss. Das grüne Licht.
Unfassbar brutal prügelten sie bereits mit dem ersten Schlag auf ihn ein. Mit Fäusten, so lange er stand. Am Boden traten sie ihn zusammen.
Ihm die Taschen zu leeren, das schienen sie am Ende fast zu vergessen …
Das Klicken der Tasten verstummt. Schweres Atmen im Dunkeln. Dann erscheinen weitere Worte auf dem Bildschirm:
Wie viele wurden Zeuge? Ich zählte sie nicht. Zu viele. Keiner tat etwas.
Und ich? Ich wollte etwas tun …
Wieder setzt Stille ein. Dann eine Stimme:
»Ich muss etwas tun.«
Das Problem heutzutage war, dachte Depak Chandrapal, die schwarze Pistolenmündung direkt vor Augen, dass sie alle gleich aussahen – die Guten wie die Bösen.
Damals, als er aus Indien nach Amerika gekommen war, vor über vierzig Jahren, war das noch anders gewesen. Da hatte man gleich erkennen können, wer in den Laden kam, um etwas zu kaufen oder ihn zu überfallen.
Heute drückten sich alle entweder herum, als hätten sie etwas zu verbergen, oder sie schauten ständig über die Schulter, als wäre ihnen jemand auf den Fersen. In jedem Gesicht der gleiche gehetzte Ausdruck, die Hände in den Taschen ihrer uniformen Schlabberklamotten, die Platz für alle möglichen Waffen boten, ohne dass sie auffielen.
Trotzdem riet Depak Chandrapal auch nach vierzig Jahren als Verkäufer im Gemischtwarenhandel immer noch gern, was hinter den Fassaden der Leute steckte, die seinen Laden betraten. Wer führte Übles im Schilde, und wer sah nur so aus? Oder wer wollte so aussehen, wusste aber tatsächlich kaum, wo bei einer Knarre hinten und vorn war?
Den Kerl, der ihm jetzt eine Knarre ins Gesicht hielt, hatte der Mann aus Indien falsch eingeschätzt.
Ein Milchbubi. Trug zwar ein weites Hoodie, unter dessen Kapuze sein Gesicht fast nicht auszumachen gewesen war, aber in das Ding hätte der Bursche glatt zweimal reingepasst. Die Tattoos, die unter den Ärmeln und am Hals hervorlugten, sahen aus wie selbst gestochen – oder, wenn der Junge Glück hatte, selbst aufgemalt, dann musste er nicht bis ans Ende seines jämmerlichen Lebens damit herumlaufen und sich von den wirklich harten Typen auslachen und verprügeln lassen.
»Los, Kasse auf, Kohle raus!«
Speichel sprühte aus dem Schatten unter der Kapuze hervor. Die glasigen grünen Augen, in die kupferrote Haarfransen hingen, leuchteten auf wie angestrahlt.
Der Knabe war high, wovon auch immer. Was es auch war, er brauchte mehr davon. Deshalb war er hier, darum wollte er, was in der Registrierkasse war.
Einen Moment lang war Depak ernsthaft versucht, dem Jungen gut zuzureden, ihm auszureden, was er da vorhatte, ihm zu versprechen, er könne einfach gehen und Schwamm drüber. Weil er doch nicht »so einer« sei, er wolle das alles doch gar nicht … Das Problem war nur: Er war »so einer«, und er wollte das.
Depak wusste nicht mehr, wie oft er überfallen worden war in all den Jahren. Irgendwann hatte er den Überblick verloren und aufgehört zu zählen. Mehrmals jährlich auf jeden Fall. Wobei es Jahre gegeben hatte, in denen die Zahl einstellig geblieben war, in anderen hatte man ihn praktisch wöchentlich ausgeraubt. Er wusste nicht, woran es lag. Am Viertel? Es war nicht die allerbeste Gegend von New York City, aber es gab schlimmere Ecken, weitaus schlimmere.
Vielleicht hatte es sich unter dem räuberischen Gesindel herumgesprochen, dass Depak Chandrapal keine Zicken machte.
Anfangs war das anders gewesen. Da hatte er den Helden gespielt, gelegentlich, wenn er sich eine Chance ausgerechnet hatte. Wenn der Kerl, der das Geld aus seiner Kasse wollte, aussah, als hätte er Respekt vor einem Baseballschläger, der mit Stacheldraht umwickelt war und in den Händen eines kräftigen jungen Mannes lag, aus dessen dunklen Augen ihm Entschlossenheit entgegenbrandete wie eine Welle, die ihn von den Füßen zu reißen drohte.
Den Baseballschläger hatte Depak nach wie vor, er lag unter dem Tresen, immer noch griffbereit. Nur wirklich in die Hände genommen hatte er ihn seit annähernd zwanzig Jahren nicht mehr. Zum einen, weil er kein kräftiger junger Mann mehr war, sondern ein dicker alter Mann, und zum anderen hatte er es einmal zu oft getan. Denn einmal, da hatte er sich verkalkuliert, als er meinte, sich eine Chance ausgerechnet zu haben.
Der Schuss des Kerls damals hatte ihn so unglücklich ins Bein getroffen, dass er heute noch humpelte. Seine damalige Krankenversicherung war lausig gewesen, und ein zufällig in den Laden kommender Cop hatte den Typen erschossen, also war es nichts gewesen mit einer Klage auf Schmerzensgeld. Wobei aus dem Scheißkerl wahrscheinlich eh kein Cent herauszuholen gewesen wäre. Aber womöglich war er versichert gewesen und es hätte sich auf diesem Wege eine Entschädigung herausschinden lassen. Warum sollte Depak Chandrapal nicht auch einmal Glück haben?
Weil man Glück nicht einfach hatte. Das war die Lehre gewesen, die er aus jener Sache gezogen hatte. Es war vielmehr was dran an dem Sprichwort, demzufolge jeder seines Glückes Schmied war. Und Depak schmiedete sein Glück fortan damit, dass er nicht mehr mit dem Baseballschläger auf bewaffnete Räuber losging, um Geld zu verteidigen, das ohnehin nicht ihm gehörte, sondern einem Chef, der ihn damals mit einem 100-Dollar-Trostpflaster abgespeist und ihm gleichzeitig geraten hatte, schleunigst wieder auf die Beine zu kommen, wenn er seinen Job behalten wolle. Seitdem …
»Es ist okay«, sagte Depak, so ruhig, dass es alle anderen im Laden – es waren nicht viele – erstaunen musste. Aber er hatte in fast vierzig Jahren zu oft in Waffenmündungen geschaut, um noch wirklich Angst davor zu haben. Nein, das eigentlich Schlimme, jenen ersten Moment, dieses immer gleiche Erschrecken darüber, dass es wieder einmal so weit war, das hatte er hinter sich. Der Rest war Routine.
Der Junge hielt die Pistole, die zu groß für seine dürre Hand schien, quer auf ihn gerichtet, wie er es wohl in Filmen gesehen hatte. Oder bei anderen, die so waren, wie er werden würde, ob er das nun wirklich wollte oder nicht.
Aber sie zitterte nicht, die große, schwere Pistole in dieser fast noch jungenhaften Hand. Das schwarze Loch an ihrem Ende wies unverwandt auf Depaks Gesicht.
Auf die Brust wäre klüger gewesen, größeres Ziel, leichter zu treffen, auch mit einem übereilten Schuss, dachte Depak komischerweise, als sollte er dem Kerlchen einen Rat mit auf den Weg geben, wenn er ihn gleich mit dem Geld ziehen ließ.
Und immer schön weiterreden. Ruhig, väterlich, ansagen, was er als Nächstes tun würde und dann genau das tun …
»Ich mach jetzt die Kasse auf, okay?«, sagte Depak und schaute möglichst warmen Blickes unter die Kapuze in das Gesicht, das sich zu wechselnden Grimassen verzog.
Nervös war der Junge. Oft hatte er das noch nicht gemacht. Aber zum ersten Mal tat er es eben auch nicht. Wie alt mochte er sein? Noch keine zwanzig, noch lange nicht.
»Dazu nehme ich die Hände herunter, ja?« Depak nickte dem Burschen auf der anderen Seite des Verkaufstresens zu. »Nur um die Kasse aufzumachen, verstehst du? Weiter nichts …«
»Mach schon!«
»Ja, natürlich.«
Depak senkte langsam die Hände, die er erhoben hatte, sobald die Pistole unter dem grauen Hoodie zum Vorschein gekommen war. Keine Minute war das her. Noch nicht einmal dreißig Sekunden. Die Zeit dehnte sich in diesen Situationen, als geriete der Lauf der Welt kurz ins Stocken.
Depak blinzelte sich einen Schweißtropfen vom Augenlid. Kein Angstschweiß. Es war einfach nur elend heiß, seit Tagen stöhnte New York unter einer Hitzewelle, deren Ende die Meteorologen nicht absehen konnten.
Im Laden herrschte drückende Wärme, trotz geöffneter Tür und Fenster im Lager hinten entstand kein Durchzug. Es waberte nur noch mehr heiße Luft herein. Sie brachte die Ausdünstungen der überhitzten Stadt mit – Abgase, die von der Schwüle in die Straßenschluchten gedrückt und festgehalten wurden, der beißende Geruch des aufweichenden Asphalts, den fischigen Gestank des Hudson Rivers … Sie vermischten sich mit den Gerüchen des Ladens – Obst und Seife, Reinigungsmittel, Tabak und Kundenschweiß, der in diesen Tagen gefühlt literweise zurückblieb.
Auch das Gesicht unter der Kapuze glänzte nass, als wäre der Junge nicht unter dem rötlich blauen Himmel des frühen Abends, sondern in strömendem Regen hergelaufen, vielleicht von zu Hause mit dem Ziel, genau diesen Mini-Markt zu überfallen. »Mann, worauf wartest du, Alter?«
Die Pistole zuckte eine Fingerlänge vor, die Mündung schien größer zu werden, und nun fuhr Depak doch zusammen.
»Entschuldigung …«, hörte er sich sagen. Entschuldigung? Also, bitte, das ging ja nun doch zu weit! Aber es würde ja gleich vorbei sein, hoffentlich, wenn sich die Lage nicht gerade so zugespitzt hatte, dass sie kippen würde. Nur weil er eine, vielleicht auch zwei oder drei Sekunden lang gezögert hatte, um …
Zack!
»Wow!«, entfuhr es irgendwo im Laden jemandem.
Wie aus dem Nichts traf den Jungen von der Seite her eine weiße Riesenfaust am Kopf. So sah es jedenfalls für Depak aus.
Erst als der 1-Gallonen-Behälter unter dem Aufprall zerplatzte und ihm eiskalte Milch ins Gesicht spritzte, erkannte Depak, dass es sich nicht um eine Riesenfaust, sondern eben um einen knapp vier Liter Vollmilch fassenden Plastikkanister handelte – beziehungsweise gehandelt hatte: Der größte Teil der Milch lief dem Knaben mit der Knarre über Gesicht und Brust, die Wucht des Hiebes ließ ihn zur Seite taumeln.
Depaks Hand wollte zum Baseballschläger unter dem Tresen greifen. Doch er ließ es sein, duckte sich lediglich, allerdings nur halb – denn was sich da vor ihm abspielte, faszinierte und bannte ihn, ließ ihn erstarren und zusehen, so wie man sich einen Film ansah. Das Geschehen hatte etwas Unwirkliches. Trotzdem, kein Zweifel – es passierte, hier und jetzt, vor seinen Augen.
Ein weißes Gesicht ohne Züge geriet in Depaks Blickfeld, gespenstisch, eine ausdruckslose Geistermaske mit zwei dunklen Augenlöchern, in denen es glänzte – oder zu glänzen schien. Unmöglich zu sagen. Es ging viel zu schnell.
Ein Fuß schoss von unten hoch, traf die Pistolenhand des Milch spuckenden und sich Milch aus dem Gesicht wischenden Burschen, dessen Kapuze verrutschte. Buschiges rotes Haar quoll darunter hervor.
Die Pistole wirbelte in hohem Bogen davon, landete zwischen zwei Regalen auf dem Fliesenboden. Jemand schrie auf, über die Ware hinweg sah Depak, wie die Person zurücksprang, vielleicht fast getroffen worden wäre, eine junge Frau, Stammkundin, kam immer nach der Arbeit her, um fürs Abendessen einzukaufen.
Pflatsch!
Der Strauchdieb schrie auf.
Die Hand des Geists drückte einen leuchtend gelben Senfcontainer zum zweiten Mal zusammen, ein weiterer Schwall spritzte aus der Tülle und traf ebenso zielsicher wie der erste die Augenpartie des Entwaffneten.
Depak konnte sich vorstellen, wie das brennen musste, und verzog das Gesicht, als hätte die Ladung ihn erwischt. Aber ihm rannen nur ein paar Tropfen Milch über Stirn und Wangen, angenehm kühl.
Der verhinderte Räuber stürzte mit einem Aufschrei, schlug so schwer zu Boden, dass Depak die Erschütterung bis hinter die Verkaufstheke spüren konnte. Der andere, der Typ mit der Maske, musste ihm mit einem Tritt die Beine weggesichelt haben.
Jetzt tauchte er ihm hinterher. In der nächsten Sekunde hörte Depak etwas ratschen.
Er lehnte sich vor, damit er hinunterschauen konnte.
Der Rothaarige war mit schwarzen Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt.
Der Geist drehte ihn herum, nahm ihn in einer freundschaftlich anmutenden Geste in den Arm, brachte sein Gesicht dicht neben das des jungen Räubers.
Blitz!
Der Rothaarige stöhnte auf. Depak schloss geblendet die Augen.
Irgendjemand hatte doch tatsächlich mit dem Handy ein Foto geschossen!
Nicht zu fassen, die Leute heutzutage … Depak schüttelte den Kopf, blinzelte …
Und als er wieder sehen konnte, war der Maskenmann verschwunden, so spurlos und schnell, wie er aufgetaucht war und eingegriffen hatte.
Der Bursche mit den roten Haaren lag in einer weißgelben Lache aus Milch und Senf, verschnürt, zum Abholen bereit.
Depak Chandrapal brauchte nur noch den »Paketdienst« anzurufen. Und zum ersten Mal im Leben wählte er die Notrufnummer weder enttäuscht noch wütend, sondern mit einem Gefühl von Genugtuung.
»Hallo? Polizei?« Er grinste breit und zufrieden, den Hörer am Ohr. »Ja, ich hab da was für euch …«
Die Nutzer der sozialen Medien – nicht nur im Großraum New York, sondern landesweit – schienen nur noch ein Thema zu kennen:
»Weiter so! #policeyourself«
»Überfällig! #watcheachother«
»Lynchjustiz, nein danke! #wehretdenanfängen«
»Guckt und teilt dieses Video! #somewickedshit«
»Warum erst jetzt? #vigilante«
»Solche Helden braucht die Welt nicht mehr! #nomorewildwest«
»Das nenn ich Bürgerwehr! #weguard«
»Woohoo! 100.000 Likes! #somewickedshit«
*
»Und es ist kein Ende in Sicht, nicht wahr, Kim?«
Die Kamera schwenkte von dem schwarzhaarigen Moderator am Nachrichtentisch zu seiner Kollegin. Aus Millionen Bildschirmen schaute jetzt eine blonde Frau in Millionen New Yorker Küchen und Wohnzimmer.
»So ist es, Daniel. Willkommen zurück bei Eyewitness News am Morgen, liebe Zuschauer.« Sie nickte grüßend und bestätigend zugleich. »Was vor einer Weile mit scheinbar einzelnen Fällen begann, ist inzwischen zu einer Welle geworden, die durch New York rauscht und den Unrat fortspült, den die Polizei liegen lässt. So und ähnlich drücken es jedenfalls in den Social Media Abertausende von Menschen aus. Mit Geistermasken getarnte, geheimnisvolle Retter vereiteln Überfälle aller Art und lassen die Täter, die nicht entkommen, gefesselt am Tatort zurück.«
Im Hintergrund wurden wechselnde Bilder von maskierten Hilfssheriffs eingeblendet. »Und wie wir alle und überall sehen können – diese Leute sind nicht fotoscheu.«
»Sie kümmern sich um, wie es verschiedentlich ausgedrückt wurde, den ›Kleinkram‹, um Verbrechen, die zu Bagatelldelikten verkommen sind. Überfälle«, ergriff nun wieder der Kollege der Frühnachrichten das Wort, »denen die Polizei kaum noch nachging, wie es ebenfalls in den sozialen Netzwerken angeprangert wird – und das nicht erst seit dem Einsetzen dieser Bewegung, von der niemand zu wissen scheint, was es damit genau auf sich hat, wo sie herkommt, wer sie initiiert hat und was dahintersteckt.«
»Der Zuspruch ist überwältigend«, fuhr Kim fort. »Die wenigen warnenden Stimmen gehen unter im Chor der Jubelrufe. Aber: Die Polizei warnt.«
»Wir sprechen über dieses Phänomen, seine Auswüchse und die möglichen Folgen gleich mit Captain Larkin vom New York City Police Department«, kündigte Daniel an. »Aber erst ein Blick aufs Wetter. Patrick, dürfen wir uns endlich auf eine Abkühlung freuen?«
Das Bild wechselte zum Studio-Meteorologen, der mit bedauernder Miene vor seiner digitalen Wetterkarte stand.
»Tut mir leid«, sagte er, »aber es sieht im Gegenteil so aus, als stünden New York die richtig heißen Tage erst noch ins Haus …«
*
Irgendwo in New York flog in einem stickigen Zimmer eine Fernbedienung gegen einen Fernseher, prallte ab und fiel klappernd auf den abgetretenen Linoleumboden.
»Die Maske!«, keuchte der Mann, der sie geworfen hatte. »Diese verdammte Maske …«
»Deine … deine Hand. Du hast deine Hand …«
Die Stimme, die von links an sein Ohr drang, war vor Staunen nicht mehr als ein Hauch.
Auch er selbst schielte jetzt, im Bett liegend, auf seine rechte Hand, die wieder reglos, unnütz und so gut wie tot auf der Matratze lag. Wie zuvor. Wie fast immer schon.
»Ich … ja«, kam es nicht weniger überrascht von seinen Lippen.
Beinahe wunderte er sich, dass er überhaupt einen Ton hervorbrachte. Schließlich hatte er gerade seine Hand bewegt – zum ersten Mal seit fast dreißig Jahren. Seit jenem verfluchten Tag, der sein Leben …
Er versuchte, auch den Kopf zu drehen.
Es ging nicht. Natürlich nicht. Es konnte ja nicht gehen. Es konnte ebenso wenig gehen, wie seine Hand, die eigentlich steif sein sollte. Die Finger, ja, sie funktionierten, um die Tasten der Fernbedienung zu drücken. Jahre hatte es ihn gekostet, das zu schaffen. Und immer noch war es ein Kraftakt.
Aber jetzt hatte er die Hand bewegt. Nicht nur bewegt, er hatte etwas damit geworfen. Impulsiv. Weil … weil etwas diesen Impuls ausgelöst hatte, wie auf Knopfdruck. Etwas …