2Die Soziologie glaubt immer noch an eine Welt starker nationaler Wohlfahrtsstaaten, die für ihre Bürger sorgen. Viele Menschen leben jedoch in Gebieten schwacher Staatlichkeit oder in Staaten, die sie bedrohen. Andere wandern zwischen Staaten oder arbeiten für transnationale Unternehmen. Anja Weiß plädiert in ihrem Buch für einen soziologischen Blick auf Globale Ungleichheiten, der diese Kontexte jenseits des Staates endlich ernst nimmt. Dazu unterscheidet sie Räume, die territorial gebunden sind, von sozial differenzierten Feldern und politisch umkämpften Zugehörigkeiten. Lebenschancen, so eine ihrer Thesen, entstehen zwischen Personen und Kontexten – entsprechend heftig wird um den Zugang zu Letzteren gekämpft.
Anja Weiß ist Professorin für Makrosoziologie und Transnationale Prozesse an der Universität Duisburg-Essen.
Soziologie Globaler Ungleichheiten
Suhrkamp
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eISBN 978-3-518-75164-0
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1. Einleitung
Das Problem
2. Soziale Ungleichheit
2.1 Erklärungen für soziale Ungleichheiten
2.2 Beschreibung mehrdimensionaler Ungerechtigkeiten
2.3 (Wie) Bilden sich strukturierte Soziale Lagen?
2.4 Sozialstrukturanalyse und Gesellschaftstheorie
3. Ungleichheit und Globalisierung
3.1 Ungleichheitsforschung im Ländervergleich
3.2 Mehrebenenanalyse
Exkurs: Hält die Mehrebenenanalyse methodisch, was sie theoretisch verspricht?
3.3 Befunde der Globalisierungsforschung
3.3.1 Migration
3.3.2 Transnationale Eliten?
3.3.3 Staatsbürger im Nationalen Wohlfahrtsstaat
3.3.4 Im Globalen Süden
3.4 Gerechtigkeit in Zeiten der Globalisierung
3.5 Perspektiven für die Ungleichheitssoziologie
Die These
4. Ungleichheit ist relativ
4.1 Sozial-räumliche Autonomie
4.2 Struktur Sozialer Lagen in der Welt
4.3 Sozialstrukturanalyse der Welt?
Die drei Kontextrelationen
5. Territorial gebundene Kontexte
5.1 Inhaltliche Überdehnung territorialer Kontexte
5.2 Kleinräumige Regionalisierungen?
Methodologischer Exkurs
5.3 Transnationale soziale Räume
5.4 (Virtuelle) Soziale Aktionsräume
5.5 Territorial gebundene oder sozial differenzierte Kontexte?
6. Sozial differenzierte Kontexte
6.1 Die Leistungen der Funktionssysteme und das Primat funktionaler Differenzierung
6.2 Organisation: Karriere, Überflüssigkeit und Semantik
6.3 Netzwerke
6.4 Regionsbildung
6.5 Interaktionssysteme und Action Settings
6.6 Die territoriale Segmentierung des Funktionssystems Politik
6.7 Der Exklusionsbereich
6.8 Soziale Ungleichheit in sozial differenzierten Kontexten
7. Politische Kämpfe um Anschlusschancen
7.1 Spielarten von Nicht-Anerkennung
7.1.1 Diskriminierung
7.1.2 Soziale Schließung
7.1.3 (Symbolische) Herrschaft
7.1.4 Die Verweigerung von Anschlusschancen
7.2 Staat und Staatsbürgerschaft
7.3 Im Weltmaßstab: Ungleichheitsrelationen zwischen Zentrum und Semiperipherien
7.3.1 Der Staat bei Wallerstein
7.3.2 Interregionale Verflechtungen und die Ausbeutung der Subsistenzarbeit
7.3.3 Transnationale Perspektiven in der neueren Weltsystemtheorie
7.4 Sozial differenzierte Felder
7.4.1 Felder und Systeme
7.4.2 Feldtheorie in Zeiten der Globalisierung
7.4.3 Gesellschaftstheoretisches Zwischenfazit
7.5 Homologe Erfahrungen oder:
Wie wird »Kultur« ungleichheitsrelevant?
7.5.1 Wissenssoziologische Milieuforschung
7.5.2 Mehrdimensionalität von Lagerungen und grenzüberschreitende Homologien
7.5.3 Milieus und Organisationen
7.6 Der Nationalstaat als Institutionalisierung von Kämpfen über Anschlusschancen
8. Die drei Kontextrelationen in der empirischen Forschung
8.1 Sozial differenzierte und politisch umkämpfte Kontextrelationen
8.2 Die Unmöglichkeit, gut ausgestattete Territorien zu erreichen
8.3 Sozial-räumliche Autonomie in der empirischen Forschung
8.3.1 Wie verbinden sich Ungleichheiten in der Ressourcenausstattung und sozial-räumliche Autonomie in spezifischen Sozialen Lagen?
8.3.2 Taxonomien sozial-räumlicher Autonomie
9. Ungleichheit in und zwischen den Welten
Danksagung
Literatur
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Namenregister
Sachregister
Denn die einen sind im Dunkeln
Und die andern sind im Licht.
Und man siehet die im Lichte.
Die im Dunkeln sieht man nicht.
Bertolt Brecht
Barack Obama schrieb früh in seinem Leben eine Autobiographie. Er schildert, wie er sich als junger Mensch in einer Welt orientiert, in der jemand wie er nicht vorgesehen ist: Er ist ein Schwarzer aus einer Familie weißer amerikanischer Kleinbürger. Als Kind lebt er in Indonesien, aber nicht in einer amerikanischen Enklave, sondern in einer Wohngegend für die einheimischen Mittelschichten, zu denen seine Familie zählt. Dort wird er mit extremer Armut konfrontiert. Offensichtlich hat er diese Erlebnisse mit seinem indonesischen Stiefvater besprochen, und offensichtlich war seine Mutter eine großherzige Frau. Denn als er dem Beispiel seiner Mutter folgt und den Bettlern Almosen gibt, erinnert ihn sein Vater an das Missverhältnis zwischen der Zahl der Bettler und seinem Taschengeld: »Du solltest dein Geld lieber sparen und zusehen, dass du nicht selbst irgendwann auf der Straße hockst.« Außerdem macht er dem jungen Barack deutlich, dass es zwar schön ist, wenn Frauen ein weiches Herz haben. »Aber du wirst mal ein Mann sein, und ein Mann muss mehr Verstand haben.«[1]
In dieser Episode bildet sich ab, wie die Reichen der Welt mit globaler Ungleichheit umgehen: Die »Weichherzigen« unter uns geben Almosen – ein Weg, der irrational erscheint und das Problem nicht wirklich lösen kann. Zugleich schotten wir uns ab und tragen dabei Sorge, dass wir selbst niemals arm werden. Diese Strategie ist in einem System von Nationalstaaten institutionalisiert, deren Status mit darüber entscheidet, ob sie über die Mittel verfügen, um die Armen innerhalb ihrer Grenzen vor Verelendung zu schützen oder nicht.
Während andere Episoden der Autobiographie mit Auflösungen enden, die die Position Obamas zumindest erahnen lassen, bleibt 10diese Episode eigenartig unabgeschlossen. Die Antwort des indonesischen Vaters funktioniert, und sie findet heute mehr Anhänger denn je, aber sie befriedigt nicht. Etwas später in der Erzählung entschließt sich die Mutter, ihren Sohn um jeden Preis in den USA und nicht in Indonesien zu platzieren. Sie lernt täglich vor der indonesischen Grundschule mehrere Stunden mit ihm und schickt ihn baldmöglichst aufs Internat nach Hawaii. Diese Entscheidung hat sich als weltgeschichtlich bedeutsam erwiesen, aber auch die (Re-)Migration weniger bietet keine Antwort auf das Problem globaler Ungleichheiten. Im Angesicht existenzieller Armut erscheinen Almosen, Abschottung und Migration unzureichend. Und uns fällt nichts Besseres ein.
Dennoch ist die Episode an einem Punkt anregend für die Sozialwissenschaft. Es ist bemerkenswert, dass sie überhaupt existiert. Jemand, der später amerikanischer Präsident wurde, war unmittelbar mit absolutem Elend konfrontiert, und er schrieb darüber. Im Mittelalter hatten wenige Adelige und Bürger ein gutes Leben, während der größere Teil der Bevölkerung direkt neben ihnen am Existenzminimum lebte und zugleich von Adel und Kirche besteuert wurde (Borgolte 1996, S. 254 f.). Dass Menschen ungleich geboren sind, war in mittelalterlichen Feudalgesellschaften weithin akzeptiert, anders als heute,[2] weil alle glaubten, ihr Stand sei ihnen von Gott zugedacht, und weil die vorhandenen Ressourcen ohnehin zu knapp waren, um Wohlstand für alle in den Bereich des Möglichen zu rücken.
Heute ist es unwahrscheinlich geworden, dass die Mächtigen der Welt absoluter Armut begegnen, denn die geographische Distanz zwischen den Reichsten und den Elenden der Welt ist fast überall groß, und sie ist im System der Nationalstaaten politisch effektiv institutionalisiert. Dennoch werden weltweite Ungleichheiten in Zeiten der Globalisierung instabil. Dank globaler Medien und politischer Vernetzung können die Reichen und die Entscheidungsträger wissen, dass die Ressourcen der Welt genügen würden, um allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen (Pogge 2010, S. 62). Die Idee globaler Menschenrechte setzt sich langsam durch (Beck, Drori und Meyer 2012). Nationale Abschot11tung bleibt zwar stark, und aktuell gewinnt sie sogar an Gewicht, aber sie kann Ungleichheit nicht mehr in dem Maß legitimieren wie die Religion im Mittelalter. Ein Indiz dafür ist die Widersprüchlichkeit nördlicher Grenzpolitik. Niemand will, dass Kinder im Mittelmeer ertrinken. Zugleich werden diejenigen, die die Kinder aus dem Wasser ziehen, als kriminelle Schlepper behandelt. Im Norden entsteht langsam ein Gefühl für die Gleichheit aller Menschen, ohne dass Institutionen geschaffen würden, die diese Gleichheit garantieren könnten. Für die Milliarden, die außerhalb der OECD-Welt leben, führt das Wissen um den Reichtum, den es in der Welt gibt, schon seit längerem dazu, dass ihr Leben arm erscheint, selbst wenn es ihnen »vor Ort« relativ gutgehen sollte. Und es gibt keinen Grund, keine Legitimität für die Spaltungen der Welt.[3]
Die Soziologie ist womöglich noch ratloser als die Politik. Denn mit wenigen Ausnahmen hat sich die soziologische Ungleichheitsforschung genauso abgeschottet wie Obamas indonesischer Vater. Sie untersucht die Bevölkerung der OECD-Länder, für die sich mit immer besseren Theorien und Methoden immer wieder zeigen lässt, dass Ungleichheiten von Einkommen, Beruf und Bildung innerhalb dieser Länder fortbestehen. Diese Engführung auf »Klasse« wird von theoretischen Arbeiten kritisiert, die Ungleichheiten als Ausdruck symbolischer Kämpfe über Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität und – unter anderem – Klasse denken (Klinger und Knapp 2008; Winker und Degele 2009; Yuval-Davis 2011; Knapp 2013; Amelina 2016; Anthias 2016). In etlichen dieser theoretischen Arbeiten gerät allerdings aus dem Blick, dass Ungleichheiten nicht nur identitätspolitisch umkämpft sind, sondern auch durch Institutionen wie Arbeitsmarkt und Bildungssystem hervorgebracht werden (Beck 2009).
Wie auch immer man sich in solchen Debatten positioniert: Die Grenzen des Nationalstaats werden von ihnen nur ganz am Rande thematisiert.[4] Während die Politikwissenschaft schon früh beobachtete, dass in ganz Europa rechtspopulistische Bewegungen entstehen (Kriesi et al. 2008), so dass der alte Konflikt zwischen Ar12beit und Kapital um einen Konflikt zwischen Globalisierungsprofiteuren und Nationalisten ergänzt wurde, ist die Soziologie davon abgekommen, politische Einstellungen vor dem Hintergrund von Klasseninteressen zu deuten. Aber ist das Bedürfnis, sich in einem Nationalstaat abzuschotten, nicht auch Ausdruck einer Art von »Klassen«-Interesse? Solange die Staatsbürgerschaft stärker als Einkommen und Beruf über Lebenschancen entscheidet (Milanovic 2016) und solange sie über eine Art Lotterie der Geburt vergeben wird (Shachar 2009), werden sich Menschen dafür einsetzen, dass »ihr« Staat der »beste« ist. Sind also Ungleichheiten, die nicht durch die Ökonomie, sondern durch das Staatensystem hervorgebracht werden, die nicht auf Leistung, sondern auf dem Zufall der Geburt beruhen, vielleicht doch wichtig für die Sozialstrukturanalyse?
Die Soziologie sozialer Ungleichheit hat die Anliegen der Privilegierten, die in den reichen Staaten des Zentrums leben, zur Perspektive der Soziologie insgesamt verallgemeinert. In Zeiten der Globalisierung[5] ist aber nicht länger nachzuvollziehen, warum man nach Klassenunterschieden und symbolischen Kämpfen unter den privilegierten Bewohnern reicher Länder suchen sollte und zugleich die zentralen strukturellen Antagonismen dieser Zeit aus der Ungleichheitsforschung ausgegliedert oder als regionale und kulturelle Heterogenität euphemisiert werden.
Dass die Soziologie an dieser Stelle versagt, hat historische Gründe. Das Fach hat sich während der Blütezeit der europäischen Nationalstaaten als Disziplin ausdifferenziert. Es lag von daher nahe, den Begriff der Gesellschaft empirisch mit der Institution des Nationalstaats gleichzusetzen. Da die institutionelle Logik des Nationalstaats eindeutig über die Zugehörigkeit von Personen zur nationalen Bevölkerung entscheiden muss, geht auch die soziologische Ungleichheitsforschung davon aus, dass Menschen im 13Regelfall einem Nationalstaat zuzurechnen sind, der ihnen in sich homogene Lebensbedingungen bietet.
Es ist diese Perspektive auf Sozialität, die heute als methodologischer Nationalismus kritisiert wird (Beck 1997; Wimmer und Glick Schiller 2002; Chernilo 2011) und die auch neuere Versuche, Ungleichheiten global zu denken, prägt (Korzeniewicz und Moran 2009; Walby 2009; Therborn 2013; Rehbein und Souza 2014). Diese Perspektive unterstellt, dass alle Nationalstaaten ihre Grenzen weitgehend kontrollieren. Menschen, die in mehreren Staaten leben, Staaten, die in supranationale Einheiten wie die Europäische Union eingebettet sind oder die grenzüberschreitende Bewegungen von Menschen, Gütern und Ideen nicht kontrollieren können, werden vor diesem Hintergrund zur vernachlässigbaren Ausnahme erklärt. Die Kritik am methodologischen Nationalismus behauptet, dass die »Ausnahmen« interessante Gesichtspunkte enthalten, die auch die unterstellte »Normalität« informieren könnten.
Für die soziologische Ungleichheitsforschung ist eine Überwindung des methodologischen Nationalismus mehr als ein – hoffentlich fruchtbares – Gedankenexperiment. Sie geht einerseits davon aus, dass Ungleichheit ein zentrales Strukturprinzip von Gesellschaft ist, will aber andererseits möglichst wertfrei und »empirisch« sein und vermeidet von daher die philosophische Frage, welche Menschen in welcher Weise Anspruch auf Gleichstellung haben. Dieser Grundwiderspruch der Ungleichheitssoziologie wird bisher durch das pragmatische Argument umschifft, dass für die Bürger von Nationalstaaten ein gewisses Maß an Gleichheit nicht nur gewünscht, sondern erforderlich sei (Marshall 1950). Dadurch können normative Fragen ausgeblendet und Gleichheit innerhalb des Nationalstaats zur nicht hintergehbaren Notwendigkeit erklärt werden. Eine solche Selbstbeschränkung ist aber nicht wirklich wertneutral, sondern sie lässt weltweite Ungleichheiten als Nebensache erscheinen (Beck 2002, 2004, 2009). In Zeiten der Globalisierung bricht diese Selbstverständlichkeit auf, und der Soziologie fehlt es an Begriffen und Daten, die der Welt, in der wir leben, angemessen wären.
Dieses Buch tut einen ersten Schritt und entwickelt ein Modell für die Beschreibung und empirische Analyse globaler Ungleichheiten. Das Modell berücksichtigt den Nationalstaat, aber ohne die Fiktion zu übernehmen, die Welt sei empirisch in klar gegliederte 14Kästchen unterteilt. Ausgangspunkt sind die im zweiten Kapitel dargestellten neueren Ungleichheitstheorien (Bourdieu 1982; Sen 1985; Hradil 1987), die neben Geld und Bildung weitere Dimensionen sozialer Ungleichheit berücksichtigen.
Das dritte Kapitel stellt empirische Befunde aus der international vergleichenden Ungleichheitsforschung dar und zeigt, wie diese durch die empirische Globalisierungsforschung und die philosophische Diskussion zu transnationaler Gerechtigkeit herausgefordert werden. Die Veränderungen, die Interesse an globalen Ungleichheiten wecken, werden bewusst vage als »Zeiten der Globalisierung« benannt, denn das im vierten Kapitel dargestellte Argument dieses Buches steht auf eigenen Beinen, auch wenn es von empirischen Entwicklungen angeregt ist: Der Wert der Ressourcen, die über die Lebenschancen von Menschen entscheiden, ist nie eindeutig, sondern er entsteht im Wechselspiel zwischen Ressourcen und den Kontexten, in denen sie produziert und eingesetzt werden. Ob eine Eigenschaft (property) zu einer ungleichheitsrelevanten Ressource wird, entscheidet sich im Kontext.
Der Nationalstaat bleibt als Spezialfall wichtig, in dem mehrere Kontexte zur Deckung kommen. Grundsätzlich muss die Theorie sozialer Ungleichheit aber Kontexte im Plural denken. Zum Beispiel arbeitet eine weißrussische Pflegekraft im Vergleich zu deutschen Pflegekräften für einen sogenannten Hungerlohn im informellen Sektor Deutschlands. Solange der Euro in Weißrussland mehr wert ist als in Deutschland und sie einen Teil ihres Einkommens dort ausgibt, ermöglicht ihr der »Hungerlohn« aber Lebenschancen, die besser sein können als die der deutschen Kolleginnen, die ihr Einkommen allein in Deutschland ausgeben. Im besten Fall kann die weißrussische Pflegekraft trotz teilweiser Illegalität ein Haus im Herkunftsland bauen und eine gehobene Bildung für ihre Kinder finanzieren. Der Wert von Ressourcen wird also zweideutig, wenn man sie auf mehr als einen Kontext bezieht. Damit sind die, die sich strategisch zwischen mehreren Kontexten bewegen können, im Vorteil.
Wenn man den Wert von Ressourcen auf die Kontexte bezieht, in denen sie erworben und eingesetzt werden, stellt sich als Nächstes die Frage, was ein Kontext ist.[6] Für manche sesshaften Bevöl15kerungsgruppen mag es angehen, »ihren« nationalen Wohlfahrtsstaat als einzigen und ausschlaggebenden Kontext vorauszusetzen. Schon wenn man so denkt, fällt aber ins Auge, dass Staaten in sich beträchtliche regionale Unterschiede aufweisen. Das zeigt sich z. B., wenn man andere »Container« für die empirische Forschung nutzt. Heidenreich hat für Mittel- und Osteuropa NUTS2-Regionen, die in etwa dem deutschen Regierungsbezirk ähneln, und die noch kleinteiligeren NUTS3-Regionen verglichen (vgl. Heidenreich 2003, S. 18, 20). Er konnte zeigen, dass etliche Hauptstadtregionen Mittel- und Osteuropas von der Reintegration in die kapitalistische Weltwirtschaft profitierten, während ihr Umland peripher geblieben ist (Mau und Verwiebe 2009, S. 266 f.). Die beträchtlichen Unterschiede innerhalb von Staaten werden von der Soziologie als weniger wichtig denn nationalstaatliche Grenzen angesehen. Dieses Argument überzeugt aber nur für starke und relativ finanzkräftige Staaten, die regional ungleiche Lebensverhältnisse zumindest ein Stück weit angleichen können.
Blickt man in die Semiperipherie, so wird die Frage, was der eine entscheidende Kontext zur Bewertung von Ressourcen sein soll, akuter. Ist es wirklich sinnvoll, Durchschnittswerte für die Bevölkerung Südafrikas zu errechnen, wenn die Lebensbedingungen von Schwarzen und Weißen so stark auseinanderklaffen, dass das Bild von »erster« und »dritter Welt« sehr viel treffender ist als das eines in sich homogenen Nationalstaats? Immerhin ist Südafrika aber ein starker, klar umgrenzter Staat, der wohlfahrtsstaatliche Transfers organisiert – was man vom Sudan und Afghanistan eher nicht behaupten kann. Wie soll man staatsfreie Räume, wie soll man marginalisierte ländliche Regionen wie den Osten der Türkei zu einem nationalstaatlichen Kontext erklären, wenn sie von »ihrem« starken Nationalstaat nur noch als Kontrollproblem wahrgenommen werden? Für die soziale Lage einer Kurdin in der Osttürkei ist das transnationale Netzwerk, das ihre Familie mit Westeuropa verbindet, ebenso wichtig wie die Ressourcen, die der türkische Staat zur Verfügung stellt. Ähnliches gilt für benachteiligte »ethnische« Gruppen wie die Schwarzen in den USA. Deren Lebenserwartung lag vor der Einführung der Krankenversicherungspflicht deutlich hinter der von Menschen mit sehr viel geringerem Einkommen im indischen Bundesstaat Kerala (Sen 1999a, S. 96 ff.).
Die Welt ist ein Flickenteppich von Kontexten, die national16staatlich organisiert sein können, aber nicht müssen. Und auch wo starke Nationalstaaten existieren, ist nicht garantiert, dass alle Bewohner die gleichen Chancen haben, ihre Ressourcen einzusetzen. Das Problem ungleicher Zugangschancen betrifft nicht nur den schwarzen Südafrikaner während der Apartheid oder die afghanische Frau unter den Taliban, für die der Bildungstitel des Arztes oder der Ärztin kaum etwas wert war – davon abgesehen, dass sie ihn nur im Ausland erwerben konnten. Auch in Bereichen, die scheinbar meritokratisch geregelt sind, stiftet das Nationalstaatsprinzip rechtliche Ungleichheiten, die häufig unterhalb der Wahrnehmungsschwelle bleiben. In Deutschland konnte die Software der Bundesagentur für Arbeit auch 50 Jahre nach Beginn der Gastarbeiterzuwanderung ausländische Berufsabschlüsse nicht verarbeiten – auch dann nicht, wenn es sich um Abschlüsse von Deutschen handelte, die im Ausland studiert hatten.[7] Dadurch wurden eine chilenische Ingenieurin, ein kenianischer Pharmakologe oder eine israelische Buchhändlerin von der Bundesagentur als Menschen ohne berufliche Bildung behandelt (Englmann und Müller 2007; Brussig 2010, S. 117 ff.). Das spiegelt sich im IAB-Datensatz wider, der die Daten der Bundesagentur für die sozialwissenschaftliche Forschung aufbereitet und eine der wichtigsten Grundlagen zur Erforschung des deutschen Arbeitsmarktes darstellt. Man kann mit Hilfe solcher Daten trefflich darüber diskutieren, was die Erkenntnis wert ist, dass über 40 Prozent der Ausländer und über 20 Prozent der Deutschen, die nach einer Migration in Deutschland leben, keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss haben (vgl. Statistisches Bundesamt 2015, Abbildung 12).[8] Auch solche Beispiele zeigen, dass der Wert von Ressourcen mit den Kontexten, in denen sie zum Einsatz kommen sollen, steht und fällt.
Wie kann man Kontexte jenseits des Nationalstaats denken, wie das Verhältnis, das Personen und ihre Ressourcen zu Kontexten 17haben, und wie wird beides ungleichheitsrelevant? Das sind die Fragen, die dieses Buch beantwortet. Das vierte Kapitel zeigt, dass eine Theorie sozialer Ungleichheit, die einen Flickenteppich von Kontexten berücksichtigt, zwar differenzierter wird. Die Berücksichtigung vielfältiger Kontextrelationen mündet aber nicht in eine Auflösung des Ungleichheitsbegriffs – was angesichts empirisch bestehender extremer Ungleichheiten ohnehin recht »welt«-fremd wäre. Wenn man Lebenschancen von der Person her denkt und beschreibt, lässt sich die Vielfalt der Kontextbezüge unter wenigen Gesichtspunkten zusammenfassen: Jenseits der Quantität und Qualität der eigenen Ressourcenausstattung sind Soziale Lagen[9] auch danach zu beurteilen, ob der Zugang zu vorteilhaften Kontexten gewährleistet ist und ob und wo die als Ressourcen wahrnehmbaren Teilaspekte von Personen Anerkennung finden. Sozial-räumliche Autonomie strukturiert Ungleichheit in der Welt, und wir können Soziale Lagen nur verstehen, wenn wir dem Rechnung tragen.
In den dann folgenden Kapiteln wird systematischer untersucht, wie ungleichheitsrelevante Kontexte und das Verhältnis von Personen zu diesen Kontexten gedacht werden sollten. In diesen Kapiteln steht je eine Theorietradition im Vordergrund, die ungleichheitsrelevante Relationen zwischen Personen und Kontexten als territorial gebundene, als sozial differenzierte oder als politisch umkämpfte Relationen denkt. Durch den Vergleich dieser drei Theorietraditionen werden die Vorteile, aber auch die Verkürzungen der jeweiligen Perspektive erkennbar: So gilt das Interesse der ländervergleichenden Forschung, der Regionalsoziologie, aber auch der Transnationalisierungsforschung der Bedeutung territorialer Kontexte für Personen und ihre Lebenschancen. Dadurch neigen sie dazu, die soziale Bedeutung des Territoriums zu übertreiben (Kapitel 5). Im Gegensatz dazu spielt die Luhmannsche Systemtheorie die Bedeutung des Territoriums herunter und geht von in erster Linie sozial differenzierten Verhältnissen zwischen Teilaspekten von Personen und Teilsystemen aus, die als ortlose Kommunikation in der Weltgesellschaft operieren (Kapitel 6). In dieser Theorietradition wird Ungleichheit zu einem nachrangigen Strukturprinzip, das 18vor allem in Organisations- und Interaktionssystemen stabilisiert wird. Als einziges Funktionssystem ist die Politik auch in systemtheoretischer Lesart territorial segmentiert, was Interesse an der Ungleichheitsrelevanz politischer Grenzen weckt. Allerdings gehen politische Theorien sozialer Ungleichheit deutlich über das systemtheoretische Politikverständnis hinaus (Kapitel 7). Sie interessieren sich für die Kämpfe und Institutionen, durch die die Politik ein eindeutiges Verhältnis zwischen Person und Kontext schafft.
Das Buch kritisiert die Verwendung des Nationalstaats als unhinterfragten Rahmen für die Forschung zu sozialer Ungleichheit, weil im Nationalstaat territoriale, sozial differenzierte und politische Kontextrelationen in eins gesetzt werden, obwohl sie hinsichtlich ihrer Inhalte und Grenzen deutlich verschieden sind. Die Kritik zielt nicht darauf ab, das Ende des Nationalstaats zu behaupten, sondern es soll genauer geklärt werden, wofür der Kontext Nationalstaat stehen kann. Damit trägt dieses Buch zur ungleichheitssoziologischen Theoriebildung bei.
Dadurch, dass die hier vorgeschlagene Theorie ihren Ausgangspunkt bei der Person und ihren Lebenschancen nimmt, ist sie mit empirischer Forschung in der methodologisch individualistischen Tradition vereinbar. Differenzierte Kontextrelationen lassen sich aber besser mit fallvergleichender Forschung erfassen. Das achte Kapitel schlägt Taxonomien vor, mit denen sich das Zusammenspiel der drei analytisch verschiedenen Kontextrelationen in beiden empirischen Traditionen der Ungleichheitsforschung erfassen lässt. Dabei wird auch diskutiert, welche Fragestellungen mit Blick auf welche Kontextrelationen untersucht werden sollten (Weiß 2010b; Weiß und Nohl 2012a). Die Auswirkungen der Hartz-IV-Reform auf die soziale Lage von Alleinerziehenden in Deutschland sind z. B. ganz überwiegend von Faktoren abhängig, die sich einem starken nationalen Wohlfahrtsstaat zurechnen lassen, und können daher auch im nationalstaatlichen Rahmen erforscht werden. Andere Fragen, wie die berufliche Qualifikation von Zugewanderten oder die Beschäftigungschancen von IT-Fachkräften, lassen sich dagegen besser mit einer analytisch präzisen Unterscheidung der drei Kontextrelationen erfassen. Wenn man sieht, dass Eliten und die migrierte Bevölkerung ein anderes Verhältnis zum Nationalstaat haben als von konventionellen Sozialstrukturanalysen unterstellt, kann man schließlich auch die Dringlichkeit besser verstehen, mit 19der die weniger Reichen im Norden für die Grenzen »ihres« Staates kämpfen. In den reichen Ländern vertieft sich eine Spaltung zwischen denen, die von offenen Grenzen profitieren, und jenen, die den Schutz eines abgeschotteten Staates zu brauchen meinen.
Bourdieu (Bourdieu, Chamboredon und Passeron 1991; Wacquant 2004) hat argumentiert, dass gute Sozialwissenschaft zwangsläufig kritisch ist, weil sie zeigt, wie das, was ist, geworden ist, so dass sie nolens volens auch zeigt, dass es hätte anders kommen können. Solange die Soziologie im Rahmen des Nationalstaats gefangen bleibt, übersieht sie die Bedeutung globaler Ungleichheiten und trägt damit zu deren Stabilisierung bei. Dieses Buch zeigt, wodurch »die im Dunkeln« aus dem Blick verschwinden, und es lenkt den Blick auf Formen sozialer Ungleichheit, die oft als nachrangig ausgeblendet werden. Die Soziologie kann und will Barack Obama nicht raten, was politisch gegen Globale Ungleichheiten zu tun wäre, aber sie kann die Sprachlosigkeit beenden, die zwischen der karitativen Antwort seiner Mutter und der Abschottung seines Vaters entstanden ist.
Das Museum im Neandertal zeigt am Ende der Ausstellung ein nacktes Baby, das im Zentrum seiner Familie liegt. Das Baby ist von Schattenrissen umgeben, auf deren Vorderseite die Familie der Neandertaler und auf deren Rückseite vergleichbare Verwandte heute abgebildet sind. Der Vergleich soll zeigen, dass es in der Frühgeschichte der Menschheit Familien gab, die den heutigen ähneln. Ob das richtig ist, sei dahingestellt. Man kann jedoch vermuten, dass Kinder damals wie heute mehr Aufmerksamkeit erfuhren als in manch anderen Zeitaltern der Geschichte. Wer mit 20 bis 25 Verwandten alleine in einer menschenleeren Wildnis lebt, wird jedes einzelne Kind wichtig finden. Wahrscheinlich ist außerdem, dass Rollenverteilungen flexibel waren, weil in einer Kleinstgruppe alle auf wechselseitige Hilfe angewiesen sind. Man kann sich schlecht vorstellen, dass eine junge Frau, die gut sehen konnte, am Feuer sitzen blieb, um einem kurzsichtigen Mann das Jagen zu überlassen. Solche Projektionen in die Frühzeit faszinieren das Publikum. Und da historische und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass es im Familienleben nichts gibt, was es nicht gibt, sind diese Vermutungen ebenso plausibel wie ihr Gegenteil.
Für die Ungleichheitssoziologie funktioniert ein solcher historischer Vergleich nicht. Sie interessiert sich für die objektiven Handlungsbedingungen, die Menschen vorfinden (vgl. Hradil 1987; Schwinn 2004), die ihnen Chancen bieten, ihre Lebensziele zu verwirklichen (Sen 1985), und die sie zugleich einschränken (Bourdieu 1987; Giddens 1995a). Die Handlungsbedingungen heutiger Menschen sind nicht nur deutlich anders als die der Neandertaler. Sie werden auch durch differenziertere soziale Formationen hervorgebracht. Zum Beispiel ist das Baby, das heute geboren wird, nicht nur Kind einer (Patchwork-)Familie, sondern auch Staatsbürger. Es wird nicht nur in einen Clan, sondern in eine Vielzahl sozial differenzierter Teilsysteme der Gesellschaft hinein sozialisiert – was sich z. B. zeigt, wenn die Großeltern schon nach wenigen Tagen das erste Sparbuch eröffnen oder wenn die Großmutter das Baby in einem ehemaligen »Homeland« am Rande Südafrikas betreut, während die Mutter bei einer weißen Familie in Kapstadt als Dienst24mädchen arbeitet. Eine Gemeinsamkeit ist vielleicht, dass sich das heutige Kind ebenso wie das damalige nicht aussuchen kann, in welche Verhältnisse es hineingeboren wurde. Aber auch hier endet der Vergleich schnell, denn die Lebensbedingungen der Neandertaler waren primär von natürlichen Umständen wie dem Wetter, der Fruchtbarkeit ihrer Umwelt und der Gesundheit der Familienmitglieder geprägt, während heutige Ungleichheiten weniger auf eine objektive Knappheit verfügbarer Ressourcen als vielmehr auf deren sozial institutionalisierte ungleiche Verteilung zurückgehen.
Wir können nicht ausschließen, dass das Kind der Neandertaler auf seinen Onkel neidisch war, weil dieser gut jagen konnte und das beste Essen bekam. Wahrscheinlicher ist, dass es froh war, einen solchen Onkel zu haben, denn mit einem guten Jäger in der Familie hatten alle mehr zu essen. Anthropologische Arbeiten über Jäger und Sammler zeigen, dass Verteilung in diesen Gesellschaften egalitären Prinzipien folgte (Binmore 2006, S. 6 f., FN 2), während sich komplexe Strukturen sozialer Ungleichheit mit einer größeren Zahl von Menschen und dem Ackerbau entwickelten. Im europäischen Mittelalter wurden Kinder als Bauern, Mägde, Diebe oder auch Fürsten geboren, und dann blieb es trotz einzelner Aufstiege (Herlihy 1973) meist dabei. Da Ungleichheit gottgegeben erschien, waren eine übergreifende Solidarität und abstrakte Überlegungen, dass alle Menschen gleichgestellt sein sollten, abwegig.[1]
Erst im Übergang zur Moderne hat sich dann wieder ein Anspruch auf Solidarität entwickelt, der nicht zwischen Ständen unterscheidet, sondern alle Menschen, die in einer Welt leben, umfasst. Mit dem wichtigen Unterschied, dass die eine Welt nicht aus 25 Menschen, sondern aus einer großen und heterogenen Masse besteht, die als »Nation« von Gleichen imaginiert wird. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und den nationalen und liberalen Revolutionen entstanden abstrakte und breit geteilte Gleichheitsideale, denen zufolge alle Bürger eines Gemeinwesens[2] gleiche Rechte ha25ben und über genügend Geld und Bildung verfügen sollten, damit sie politisch mitwirken können (Marshall 1950). Das war die Geburtsstunde der Soziologie sozialer Ungleichheit, denn man muss an die Gleichheit von Menschen glauben, um mittels empirischer Forschung zwischen ihnen zu vergleichen.
Die Soziologie sozialer Ungleichheit bestätigt das Argument der politischen Theorie, dass kollektiv bindende Entscheidungen nur dann getroffen und legitimiert werden können, wenn sich Bürger (und Bürgerinnen) als Gleiche gegenübertreten. Damit ist sie ein Kind unserer Zeit, und sie ist eng an die Institution des nationalen Wohlfahrtsstaats geknüpft. Außerdem richtet sie ihr Augenmerk auf sozial verursachte Ungleichheiten, in der Annahme, dass diese von staatlichen Institutionen verändert und an ein wie auch immer formuliertes Gleichheitsideal angenähert werden können (Berger und Schmidt 2004). Dabei übernimmt sie die Janusköpfigkeit der Institution Nationalstaat, denn der Nationalstaat ermöglicht zwar in seinem Inneren Solidarität unter Gleichen (Nussbaum 2008), ist aber nach außen scharf abgegrenzt. Die Soziologie analysiert Ungleichheit zwischen Bürgern und das mit Hilfe von Daten, die in und vom Nationalstaat gesammelt werden. Bisher hat sie wenig Aufwand betrieben, um veränderten Gleichheitsidealen in Zeiten der Globalisierung gerecht zu werden.
Dieses Kapitel führt in zentrale Debatten der Soziologie sozialer Ungleichheit ein. Die großen Theorien der Ungleichheitssoziologie stellen eine institutionelle Sphäre – meist die Ökonomie – ins Zentrum, und sie leiten soziale Ungleichheit insgesamt von diesem einen »Hauptwiderspruch« ab (2.1). Damit orientieren sie sich an Marx, der annahm, dass Ungleichheiten durch die Produktionsweise hervorgebracht würden und dass die Stellung einer Person im Produktionsprozess ausschlaggebend für deren Lebenschancen sei.
Die Marxsche Klassentheorie ist ein zentraler Bezugspunkt ungleichheitssoziologischen Denkens, und Marx setzt sich intensiver als spätere Autoren mit der Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Klassenbildung auseinander (vgl. Marx und Engels 1969 [1848]-a, S. 60-1). Die soziologische Diskussion nach Marx zeigt 26allerdings, dass die Identifikation einer Ursache nicht ausreichend ist, um die Mehrzahl der Ungleichheiten und der ungleichheitsgenerierenden sozialen Prozesse zu erfassen. Wenn man akzeptiert, dass es verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit gibt, die nicht alle auf einen Nenner gebracht werden können, steht man vor der zweiten und der dritten Frage, die in diesem Kapitel behandelt werden: Welche Differenzen sollten eigentlich als Ungleichheiten beschrieben werden? Oder etwas anders gewendet: Wie sollte Gerechtigkeit verstanden werden (2.2)? Heben sich die verschiedenen Ungleichheiten wechselseitig auf, oder verdichten sie sich zu sozialen Strukturen und »Klassen« (2.3)?
Die meisten Antworten auf diese Fragen sind in ihrer Geltung eingeschränkt, weil sie die Gesellschaftstheorie im Allgemeinen und das Problem sozialer Ungleichheit im Besonderen nur im Rahmen des Nationalstaates denken. Das eigentliche Anliegen dieses Buches ist es daher, Theorien zu nutzen, die für die Frage nach Ungleichheit in Zeiten der Globalisierung Anknüpfungspunkte bieten (2.4).
Von Ungleichheit konnte erst die Rede sein, als Unterschiede nicht mehr als gottgegeben oder natürlich wahrgenommen wurden, sondern als sozial verursacht. Damit entwickelte sich dann auch die Frage, welche sozialen Institutionen durch welche sozialen Prozesse Ungleichheiten hervorbringen. Als Materialist ging Marx davon aus, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung der vorherrschenden Produktionsweise auf einer historischen Entwicklungsstufe entspricht (Marx und Engels 1969 [1848]-a). Zum Beispiel bringt die ackerbauende Produktionsweise den Feudalismus mit der Unterscheidung zwischen (adeligen) Grundbesitzern und Leibeigenen hervor. Nachdem sich Städte als Orte spezialisierter Tätigkeiten in Handel und Industrie vom Land differenziert hatten, entstand eine weitere Form der Arbeitsteilung zwischen den in Zünften organisierten Handwerkern und dem städtischen Pöbel. Mit der Ausdifferenzierung zwischen Produktion und Verkehr kommt es zusätzlich zur Arbeitsteilung zwischen Handwerk und Kaufleuten (vgl. Marx und Engels 1969 [1848]-a, S. 52).
27Während Marx im historischen Rückblick mehrere Formen der Arbeitsteilung identifiziert, setzt er für die Industrialisierung einen Widerspruch zentral: Auf der einen Seite stehen die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügen und sich durch Ausbeutung Mehrwert aneignen können. Auf der anderen Seite steht die Masse der Lohnabhängigen, die auf die Veräußerung ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Mit dieser Begrifflichkeit hat Marx Ausbeutung als zentrale Ursache für sozial verursachte Ungleichheiten im Kapitalismus erkannt. Wenn Tauschbeziehungen so organisiert sind, dass eine Seite die Bedingungen diktiert und sich auf Kosten der anderen Seite bereichert, sind sie ausbeuterisch. Dass Ausbeutung ein wichtiger Mechanismus der Ungleichheitsgenese ist, ist bis heute Konsens (Therborn 2013, S. 57-58), auch wenn sich die marxistische Lesart von Ausbeutung verändert hat (Wright 2009). Klar ist aber auch, dass das klassisch marxistische Denken der Entstehung von Ungleichheit außerhalb von Märkten nicht gerecht wird (Bourdieu 1992).
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