TRUE COLOURS
DIE FARBE DER LIEBE
Deutschsprachige Erstausgabe August 2016
Copyright © 2021 Sophia Chase
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Covergestaltung: Catrin Sommer www.rausch-gold.com
Autorenfoto: Melanie Eichenauer, www.studio-eichenauer.at
Lektorat: Dr. Antonia Barboric
J. Schumann, Bergst. 4, A-4282 Pierbach
Für meine Kinder - weil ihr jeden Tag
vollkommen macht
Das jüngste von drei Kindern zu sein hat doch nicht nur seine Schattenseiten, wie mir in der sternenklaren Sommernacht plötzlich bewusst wird.
Gut, ich musste die abgelegten Klamotten meiner großen Schwester auftragen, wurde ständig von meinem großen Bruder schikaniert und als seine ganz persönliche Sklavin behandelt. Außerdem musste ich alle Fehler, die meine Eltern bei meinen beiden größeren Geschwistern machten, ausbaden. Bei mir, dem Nesthäkchen, wollten sie nämlich alles richtig machen. Ich sollte weder eine so übertrieben tyrannische Schachtel wie meine Schwester Joanna werden, noch sollte ich ähnlich leichtlebig und lüstern enden wie mein Bruder Martin. Aus mir sollte eine gebildete, strebsame, intelligente und ehrgeizige Frau werden … oder doch ein Mädchen? Ich schwanke zwischen den beiden Bezeichnungen genauso wie zwischen den einzelnen Schritten, mit denen ich mich quälend langsam zwischen den Häusern durchschlängele.
Warum aber habe ich vorhin, nachdem ich zum dritten Mal auf die Nase gefallen war und sich deshalb an meinem rechten Knie nun ein Rinnsal aus Blut ausbreitet, behauptet, es hätte seine Vorteile, die Jüngste der Familie zu sein? Da mir erneut kotzübel wird und ich mich mit einer Hand an der Hausmauer abstütze, bleibt mir Zeit, mich eingehender mit dieser Frage zu beschäftigen. Der mit Gras bewachsene Weg verschwimmt zunehmend vor meinen glasigen Augen. Ich bin so was von betrunken und überglücklich, fast als Einzige diesen Weg, der versteckt und von der Straße aus nicht sichtbar ist, zu kennen.
Genau wegen dieses Wissens bin ich eben froh, die Jüngste zu sein. Mein Bruder, der in dem Haus wohnt, das ich wohl in Kürze mit meinem Mageninhalt taufen werde, offenbarte mir dieses Geheimnis. Und so diente der Weg allen drei Philips-Kindern dazu, sich zu später Stunde angetrunken durch den Garten ins Haus schleichen zu können. Früher einmal lebte hier ja meine ganze Familie – Mama, Papa und die drei Kinder.
Als meine Mutter vor über zehn Jahren starb – ich war damals erst sechs und meine Erinnerungen an sie sind daher nur mehr schemenhaft vorhanden –, zog mein Vater in eine kleinere Wohnung. Später überließ er das Haus meinem Bruder, der unweit von hier arbeitet und von uns dreien die innigste Beziehung zu unserer Wohnstätte hat. Das hängt vermutlich mit seinen präsenteren Erinnerungen zusammen – immerhin ist er zehn Jahre älter als ich und hat daher eine beträchtlich lange Zeit mit unserer Mutter verbracht. Ich weiß, wie sehr er sie vermisst, und fühle mich oftmals mies, da ich die Sehnsucht in mir nicht klar zuordnen kann. Natürlich ist da ein Loch, eine Leere, die nur meine Mutter füllen könnte. Doch ich kann mich einfach zu wenig an sie erinnern, um ein bewusstes Verlangen nach ihr ausmachen zu können, zumal mein Dad ein herzensguter Mensch ist, der mir nie das Gefühl gab, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Er schaffte es mit übermenschlicher Kraft, uns Kindern unsere Mutter zu ersetzen, so gut es ging.
Ich muss unweigerlich über meine Sentimentalität lachen, während ich die Stirn gegen die kalten Backsteine presse und tief durch den Mund einatme. Ich darf weder an den Sangria denken, den ich gerade literweise getrunken habe, noch an den Typen … Max oder so hieß er.
Gott, wie war wirklich sein Name?
Hier stehe ich also, umringt von einem Sternenhimmel in einer klaren Nacht, sternhagelvoll und mit tränenverschmiertem Gesicht. Mein Tiefpunkt in meinem noch so jungen Leben, dessen Ablauf ich mir bedeutend anders vorgestellt habe.
Mein erster Rausch und mein erstes Mal. Lauter Meilensteine an einem einzigen Abend. Ob ich mich morgen noch an Details erinnere? Besser, ich würde nicht.
Die Details sind hässlich und verstärken die Übelkeit, die mir Schweißausbrüche bereitet. Ich wedele mir frische Luft zu, stoße mich von der Wand ab und torkele den letzten Rest des Weges entlang. Ein Zaun, der mir bis zum Kinn reicht, stoppt mich jäh. Ich taste nach dem Hebel, der die Tür öffnet, und halte die Luft an, um ja kein Aufsehen zu erregen. Sollte mich nämlich mein Bruder hier entdecken, köpft er mich. Er wird es Dad sagen, der mich in mein Zimmer sperren und den Rest der Sommerferien nicht mehr rauslassen wird. Dabei haben die gerade erst begonnen, und ich habe unzählige Pläne.
Es ist nach Mitternacht, und ich sollte seit über einer Stunde daheim sein. Gut, Martin nimmt es nicht ganz so genau wie Dad, aber bestimmt hat er mich schon einige Male angerufen. Mein Handy liegt allerdings in Lionas Garten – ausgerechnet an dem Ort, an dem ich meine Unschuld verlor und die größte Demütigung meines bisherigen Lebens erfuhr.
Wie konnte ich nur so dumm sein? Sonst bin ich so rationell, Dad lobt mich deswegen immer. Er betet mir immer vor, wie klug, selbstbewusst und vernünftig ich doch sei. Warum also lasse ausgerechnet ich mich dann an einem stinknormalen Samstagabend von gleichaltrigen Jungs abfüllen und treibe es mit einem von ihnen gleich hinten im Garten? Ich kenne den Typen nicht einmal! Wie alle Mädchen habe ich mir mein erstes Mal wirklich ganz anders vorgestellt. Ich dachte, ich würde den Jungen gut kennen, ihm vertrauen. Wir würden das Ganze langsam beginnen und dann steigern – zuerst küssen, etwas rummachen und dann irgendwann das Grande Finale.
Einen Scheißdreck.
Die Erinnerung an die Ereignisse des Abends lässt mich auf einmal in Tränen ausbrechen. Mein Schluchzen ist ziemlich laut, weshalb ich schnell eine Hand auf meinen Mund presse, bevor ich auf einer der Stufen, die zur Terrasse führen, zu Boden sacke. Ich grabe mein Gesicht in meine Hände, bemitleide mich selbst mehr, als mir eigentlich guttut, und in dem Moment brechen alle Dämme.
Mir scheint, als sei der Plan, den ich mir mühsam für mein Leben zusammengestellt habe, bereits gescheitert. Ich wollte nicht zu einem Mädchen werden, das die Beine für einen Wildfremden auf irgendeiner Party breitmacht. Ich wollte unnahbar und verlockend sein. Ich wollte, dass irgendjemand um mich kämpft, mich als Ziel und Beute sieht und nicht achtlos über mich drübersteigt und mich danach alleine auf einer kalten Wiese liegen lässt. Ich fühle mich schäbig, ausgenutzt und schmutzig. Ich bin verdammt einsam, und der Geruch, der in meinen Haaren hängt, widert mich an. Es ist sein Geruch, den ich mir schleunigst von mir abwaschen sollte, um mit diesem Kapitel gleich wieder abzuschließen.
Meine Hände sind sandig, grün vom Rasen und fühlen sich feucht an, meine Klamotten sind zerknittert. Vielleicht sollte ich einfach hier liegen bleiben und auf meinen sicher bald eintretenden Tod warten. Noch niemals war ich von mir so enttäuscht. Es ist, als habe ich mich selbst hintergangen. Manchmal bin ich zu streng zu mir selbst, das weiß ich. Diesmal aber könnte ich mich wirklich fest ohrfeigen. Oder irgendjemand sollte das tun.
Doch gerade, als ich überlege, mich hier draußen in dem Aufzug erwischen zu lassen, um die Strafe, die dem Ganzen folgt, mit Würde zu ertragen, öffnet sich hinter mir die Terrassentür, und jemand betritt den Garten. Musik dringt vom Wohnzimmer heraus, Stimmen sind zu hören. Mein Bruder scheint eine Party zu feiern! Das ist wiederum nicht ganz so überraschend wie das Pfeifen hinter mir, das lauter wird, als die Person näherkommt.
Ich versuche mich nicht zu bewegen, um in der Dunkelheit unsichtbar zu bleiben. Bestimmt ist das einer der Gäste, der rauchen geht oder einfach nur frische Luft schnappt. Ich befinde mich gut zehn Meter vom Haus entfernt und wähne mich in Sicherheit. Jedoch werden die Schritte deutlicher. Bitte, oh Herr, lass es nicht meinen Bruder sein. Bitte.
Als würde es mir irgendwie helfen, presse ich meine Augen zusammen, wie bei einem Unfall. Unglimpflich wird diese Begegnung auch nicht ausgehen, wenn es Martin ist. Ich verletze gut zehn Regeln meines Vaters, und Martin wird bestimmt nicht so dumm sein, mir zu helfen, wenn ihm selbst eine Standpauke unseres Dads droht. Er schlägt sich immer auf die Seite, die ihm am stärksten erscheint, und die vertrete traurigerweise eben meist nicht ich.
Plötzlich stoppen die Schritte hinter mir, das Pfeifen jedoch bleibt zu hören. Ich kann die Entfernung nicht abschätzen, drehe vorsichtig den Kopf und entdecke jemanden schräg hinter mir. Es ist eindeutig ein Mann, der mit dem Rücken seitlich zu mir bei den Büschen steht. Wenn ich mich ruhig verhalte, sieht er mich nicht. Das hoffe ich zumindest. Doch mir ist so fürchterlich schlecht. Jeder Atemzug verstärkt die Übelkeit, und noch bevor ich irgendetwas dagegen tun kann, kotze ich plötzlich geräuschvoll auf die unterste Stufe.
Mein Abendessen geht in Begleitung des Sangrias flöten, und meine Würgegeräusche hätten wohl selbst einen Toten zum Leben erweckt. Jetzt bleibt mir nur noch die Hoffnung, dass der Kerl, der nun netterweise hinter mir seine Blase entleert, taub ist.
„Kitty, alles klar bei dir?“, dringt ausgerechnet die Stimme von Dan, dem besten Freund meines Bruders, zu mir durch.
Seine Stimme klingt weder übermäßig fürsorglich noch beruhigend. Sie ist tief, dunkel und spöttisch. Würde mir mein Bruder in dem Fall wegen meines Zustands die Hölle heißmachen, wird mich dieser Kerl wegen meiner Kotzeinlage bis an mein Lebensende verarschen.
Darum schweige ich und tue so, als wäre ich nicht hier.
„Ich würde dir raten, das nächste Mal, wenn sich der Inhalt deines Magens verabschiedet, in den Rasen oder die Büsche zu reihern. Zumindest dann, wenn du gar nicht hier sein dürftest.“ Dans Stimme klingt weiterhin, als würde ein breites Grinsen sein Gesicht zieren, während er aufseufzt.
„Es wird kein nächstes Mal geben“, murmele ich und lege meine Stirn gegen meine ausgebreitete Handfläche. „In jeder Hinsicht.“
Er besitzt auch noch die maßlose Frechheit zu lachen, während er seine Hose schließt und langsam auf mich zuschlendert. Seine Schritte wirken nicht ganz so selbstsicher wie üblich. Vermutlich hat auch er genug getankt, um mir passende Gesellschaft zu leisten. Als er mich umrundet, ich den Blick senke und meine angewinkelten Beine aneinanderpresse, um ihm den Blick auf mein Erbrochenes zu ersparen, spüre ich seine dunklen, herausfordernden Augen auf mir haften.
Er taxiert mich eine geschlagene Minute, in der ich krampfhaft versuche, mein Würgen zu unterdrücken. Ich dachte, ich hätte bereits alles hinter mich gebracht, dabei scheint da noch was in mir drin zu sein, das raus will.
„Solltest du nicht vor einer Stunde schon zu Hause gewesen sein?“, fragt er und steckt beide Hände in die Taschen seiner Hose.
Ich muss wie ein Häufchen Elend wirken, wische mir meine Tränen halbherzig von den Wangen und lache abfällig. „Es wird dir eine Freude sein, mich zu verpetzen. Vielleicht habe ich es auch verdient, den Rest des Sommers in meinem Zimmer zu verbringen. Zumindest für meinen Schutz … Selbstschutz sollte gesorgt sein … Gott, mir ist so schlecht“, jammere ich und fächere mir frische Luft mit meiner Hand zu.
„Alkohol macht dich ganz schön gesprächig, Kitty. So viel habe ich dich noch nie am Stück reden gehört. Aber hey, keine Angst, ich habe nicht vor, dich anzuschwärzen. Außerdem würde mir Martin niemals glauben, dass seine kleine, brave Schwester sternhagelvoll in seinen Garten gekotzt hat.“
Womit er recht hat. Ich genieße viel lieber die Ruhe meines Zimmers, ein gutes Buch und eine Tasse Tee dazu. Gut, ich mag viele Klischees einer Langweilerin erfüllen, aber ich bilde mir ein, keine Zeit mit unwichtigen Dingen verschwenden zu wollen, wenn ich meine künftigen Ziele erreichen möchte. Denn im Gegensatz zu meinen gleichaltrigen Freundinnen habe ich mit meinen 16 Jahren eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie mein Leben einmal aussehen und ablaufen soll. Und diese Eckpunkte grenzen sich allemal maßgeblich von denen jener Person ab, die mich gerade von oben herab schief mustert.
Daniel Page, seines Zeichens bester Freund meines Bruders. Zehn Jahre älter als ich. Er mag ein aufstrebender und ehrgeiziger junger Mann sein, glänzt allerdings nicht gerade durch sein Benehmen. Er gilt als perfekte Ergänzung meines Bruders, mit dem er bereits zur Schule gegangen ist, und weswegen er mich praktisch seit meiner Geburt kennt. Bis heute schaffte ich es, ihn gut zu ignorieren. Gut, da waren verrückte Momente, als ich zwölf oder so war, in denen ich glaubte, mich unsterblich in ihn verliebt zu haben. Ich lag nachts ewig wach und träumte von einer gemeinsamen Zukunft mit Dan.
Er war darin der erfolgreiche Unternehmer, ich seine perfekt gestylte Frau. Wir hatten eine kitschige Barbie-Villa, superkluge Kinder und eine irre Version von Sex – wie man ihn sich mit zwölf eben vorstellt. Damals glaubte ich auch noch, dass ich schwanger werden könnte, wenn wir … bloß rummachten. Alleine daran zu denken lässt mich heute erröten und den Kopf über meine eigenen kindlichen Fantasien schütteln.
Doch wer zur Hölle hätte mir mein damaliges Schwärmen für den zweiundzwanzigjährigen Dan verübeln können? Niemand, genau. Nicht mal meine Schwester Joanna, die mit ihren Freundinnen Dans Koffer nach seiner Unterwäsche durchwühlte und die mir mit der Enthauptung meiner Puppen drohten, sollte ich je ein Wort darüber verlieren.
Dan war und ist also ständiger Bestandteil meines Lebens. Meist kam es in den Ferien zu unseren Begegnungen. Er und mein Bruder verbrachten jede freie Minute miteinander, und ich als die kleine Schwester, die Martin zu beaufsichtigen hatte, während unser Vater arbeiten war, war gezwungenermaßen mit von der Partie.
Nach meiner kindlichen Verliebtheit und dem Ende der Sommerferien damals sah ich Dan ein halbes Jahr lang nicht. Ich ging wieder zur Schule, und Martin und Dan setzten ihr Uni-Studium fort. Je älter ich wurde, desto mehr verblasste das Idealbild des Mannes, das sich in meinem Kopf festgesetzt hatte. Ich bemerkte mit zunehmender Reife, dass er doch nichts Göttliches an sich hatte. Er benutzte sein Äußeres dazu, Frauen flachzulegen, gab aber keiner von ihnen eine zweite oder eine reelle Chance auf eine Beziehung. Er war ein Macho. Ein Lüstling. Einfach ein Arschloch – wie ich mit vierzehn feststellte, als er die beste Freundin meiner Schwester zuerst bereitwillig in sein Bett holte, nur um sie danach kurzerhand wieder vor die Tür zu setzen.
Joanna machte ihm die Hölle heiß, und dank der tränen- und detailreichen Schilderung ihrer besten Freundin erfuhr ich so manch ausschlaggebende Information zum Thema Geschlechtsverkehr, die mich bis heute beschäftigt. Er scheint seine Sache gut gemacht zu haben – behauptete besagte Dame zumindest trotz allem. Sie schien es auch nicht weiter zu stören, dass ich Zeugin ihrer Erzählungen wurde und dabei einen mittelschweren Herzinfarkt erlitt. Google erwies mir treue Dienste in der Recherche mancher Begriffe und Bezeichnungen, die sie erwähnt hatte. Und was ich dort fand, überstieg meine Vorstellungskraft bei Weitem. Ich klappte mit hochrotem Gesicht den Laptop zu und schwor mir, nie nie wieder an Begriffe wie 69 oder Spanking zu denken. Denn das war nichts, was ich je erleben wollte. Es hatte gar nichts mit den Romanen zu tun, die ich ständig las. Spanking – ich meine, wir sprechen von emanzipierten, selbstständigen und klugen Frauen, die sich Männern gegenüber im Alltag zu behaupten haben und sich abends den Arsch versohlen lassen … mit Peitschen, Gürteln, Gerten und weiß der Teufel was.
Ich hätte nicht auf „Bilder“ klicken sollen. Das alles zu lesen ist die eine, es zu sehen, aber die andere Sache.
Zwei Jahre später kotze ich also dem Mann, der nun in der sechsundzwanzigjährigen Version meiner bedeutend schmutziger gewordenen nächtlichen Fantasien vor mir steht, vor die Füße und murmele eine Entschuldigung, während Dan sich vorbeugt und mir ein Taschentuch reicht.
„Was hast du gesoffen?“, fragt er mich und geht vor mir in die Knie.
„Sangria“, nuschele ich und tupfe mir den Mund mit dem Taschentuch sauber. „Sehr viel Sangria.“
„Du trinkst doch nicht – dachte ich zumindest. Widerstrebt das nicht deinen persönlichen Vorstellungen von Anstand?“
Ich verdrehe die Augen. Nicht weil ich kotzen muss, sondern weil es mich nervt, dass mich jeder als Engelchen sieht. Ich kann auch anders, was ich heute wohl auch deutlich bewiesen habe.
„Komm, ich bring dich rein“, meint er dann etwas sanfter und legt seine Hand auf mein Knie.
Ich blicke zu der Stelle, an der sich unsere Körper berühren. Nackte Haut an nackter Haut. In meiner Vorstellung bin ich nüchtern, hab ihm nicht gerade vor die Füße gereihert und sehe vermutlich besser aus. Meine braunen Haare sind gestylt, mein Kleid sitzt perfekt und weist keine dieser hässlichen Falten auf. Dan müsste dagegen vielleicht nichts an seinem Äußeren verändern – dunkelbraune Haare, definierter Männerkörper, kantige, gradlinige Gesichtszüge. Aber ich stelle mir vor, dass er menschlich gesehen anders wäre. Ich würde ihm mehr Empathie, Verständnis und Verantwortung bescheiden. Er würde meine Unschuld nicht ausnutzen und meiner Unerfahrenheit wie ein Gentleman begegnen. Ich würde einen Kuss zulassen. Ja, das würde ich. Der Kuss wäre in der Tat so gut. Besser als jener, den ich vorhin unfreiwillig miterlebte.
Der Gedanke daran wirft mich unsanft in die Realität zurück, in der es diesen perfekten Märchenprinz-Dan nicht gibt. Die Realität ist grausam und kalt. Ich bin selbst an dieser Situation schuld, da ich es war, die diese eine Entscheidung gefällt, die mich hierhergebracht hatte.
Aus mir vollkommen unerklärlichen Gründen ergreift plötzlich das Bedürfnis, Dan von meinem unschönen Abend zu erzählen, Besitz von mir. Er ist die völlig ungeeignete Person dafür, da er mir mit null Verständnis begegnen wird. Selbst mein Bruder hätte so etwas wie Verständnis, glaube ich. Er würde versuchen mich aufzubauen … aber Dan … was erwarte ich mir von ihm? Oder was bezwecke ich mit meiner Beichte ausgerechnet bei ihm?
Doch noch ehe ich etwas dagegen tun kann, bricht ein Schwall Wörter aus mir heraus. „Ich habe heute alles versaut, Dan. Ich habe meine Ideale geopfert – und das für einen absoluten Arsch, der mir meine Unschuld geraubt hat. Dabei kenne ich ihn nicht einmal. Nicht einmal seinen Namen. Ich habe mir so oft vorgestellt, wie dieses besondere Erlebnis in meinem Leben stattfinden soll.“ Ich schüttele den Kopf und sehe Dan mitleiderregend an. „Ich habe mich blamiert. Von vorne bis hinten. Ich kann eben nicht mit den witzigen, charmanten, sexy Mädchen mithalten.“
Er seufzt, als wisse er nicht, ob er auf mein Geschwafel eingehen oder es ignorieren und mich nicht doch lieber direkt ins Bett bringen soll. „Das wird schon wieder. Morgen sieht die Welt anders aus.“
Gut, er versucht sich mit einfachen Platituden aus der Affäre zu ziehen. Ihm scheint mein Bedürfnis nach einer Beichte mehr als peinlich zu sein. Aber ich will mich nicht so einfach abwimmeln lassen. Nicht wenn ich spüre, wie mir mein verbaler Erguss hilft, mein verkacktes erstes Mal zu analysieren und zu begreifen.
„Ich habe diesen Kerl heute das erste Mal gesehen. Dabei hatte er nicht einmal großes Interesse an mir. Ich war wohl einfach die am leichtesten zu Habende, da ich sternhagelvoll war … bin“, setze ich nach und kichere dämlich. „Mit Knutschen war ich einverstanden, aber es wurde intensiver, sag ich mal. Er schaffte es auf peinliche Art, mich in den Garten zu bringen, und dort fielen parallel zu meinen Hemmungen auch meine Kleider.“
„So läuft das ab, Kitty. Das erste Mal ist immer scheiße“, meint Dan solidarisch und runzelt die Stirn, als ich erneut den Kopf schüttele.
„Kann sein“, murmele ich, nicht zufrieden mit dieser Antwort. „Gott, Dan. Ich habe mich wie der erste Mensch aufgeführt. Würde das Fortbestehen unserer Spezies von mir abhängen, wären wir in einem halben Jahrhundert restlos ausgestorben. Er war weder zärtlich noch vorsichtig. Ich beschloss, nicht einfach nur herumzuliegen, und rappelte mich auf, um ihm eine Gegenleistung anzubieten. Ich habe das eben noch nie gemacht“, jammere ich und vergrabe bei der Erinnerung an meinen ersten, völlig misslungenen Blowjob mein Gesicht in meine Hände.
Mit dieser Schilderung scheine ich Dans Aufmerksamkeit jedoch endlich geweckt zu haben. „Kitty, du solltest das mit einer Freundin oder deiner Schwester besprechen. Ich bin echt nicht der Richtige dafür.“
Ich habe keine Freundin, mit der ich darüber sprechen könnte. Keine von ihnen würde mich verstehen. Meine Schwester schon gar nicht, da mich meine Familie auf einen Sockel gestellt hat. Ich scheine alles immer richtig zu machen. Ich bin die Lisa Simpson unserer Familie. Der kluge Kopf, der mit einer Prise Gutmütigkeit und viel gescheiter Selbstbestimmtheit versehen wurde. Niemand, wirklich gar niemand in meinem näheren Umfeld würde mir eine Entjungferung im betrunkenen Zustand in einem Garten zutrauen.
Was hat mich da nur geritten?
„Er hat mich ausgelacht“, plappere ich weiter. „Nachdem ich sein Ding in den Mund genommen hatte, hat er mich ausgelacht, Dan!“ Gott, klang das erbärmlich. Als wolle ich, dass Dan loszieht, um meine Schande mit einem Mord zu rächen.
Dabei ist Dan kein Rächertyp. Er lächelt mich nur aufmunternd an und betrachtet viel zu lange meinen Mund, als frage er sich, was zur Hölle ich beim Blasen falsch gemacht habe. Die Antwort erhält er, ohne danach gefragt zu haben. „Ich habe sein Ding viel zu weit reingesteckt, musste mich fast übergeben, startete dann aber einen zweiten, nicht minder peinlichen Versuch. Ich weiß ja nicht mal, was ich falsch gemacht hab. Jedenfalls riss er mich von seinem Teil weg, und dann gingen wir zum finalen Akt über. Was auch immer daran irgendjemand toll findet, ich lasse es künftig besser bleiben.“
„Ich dachte, heutzutage ist man mit elf aufgeklärt“, überlegt Dan laut und betrachtet mich weiterhin skeptisch.
„Ich bin auch aufgeklärt.“
„Warum … aber?“
„Aber ‚was‘? Ich weiß nicht, Dan. Ich interessiere mich eben für andere Dinge.“
„Jeder interessiert sich für Sex. Selbst der größte Nerd fickt irgendeine Uni-Kollegin nach den Vorlesungen.“
Fickt … Gott, ich werde tatsächlich rot, als er dieses Wort benutzt. Reiß dich zusammen, Susana. „Ich eben nicht. In meinem künftigen Leben wird es keinen Geschlechtsverkehr mehr geben. Kinder will ich ohnehin nicht, dann erscheint mir der Akt auch mehr als überflüssig zu sein.“
Fassungslos sieht er mich an. „Ich kann nur hoffen, dass aus dir der Alkohol spricht.“
„Tut er nicht. Ich bin schon wieder fast nüchtern. Was Kotzen nicht alles bringt.“
„Dann führen wir dieses Gespräch also beide im nüchternen Zustand? Sollte ich mir Sorgen machen?“
„Wahrscheinlich. Denn je nüchterner ich werde, desto mehr widert mich die Vorstellung von mir und dem Typen an. Es ist, als würde ich über diesem Bild schweben und mir dabei zusehen. Er hat in mich reingehackt, als sei er Teilnehmer am internationalen Zertrümmere-ein-Becken-Wettbewerb.“
„War es auch sein erstes Mal?“
„Keine Ahnung“, gebe ich zur Antwort. „Unsere Konversation beschränkte sich auf einfache Sätze wie: „Magst du noch einen Sangria?“ oder „Komm, Baby, ich bring dich an die frische Luft!“.
„Darauf bist du hereingefallen?“
„Ich bin nicht darauf reingefallen. Ich wollte ein einziges Mal spontan sein“, verteidige ich meine Entscheidung, auch wenn ich in dem Augenblick, als ich mit dem Jungen in den Garten ging, nicht an Spontanität dachte. Ich war einfach neugierig und dumm. Furchtbar dumm.
„Du kommst darüber hinweg. Und wenn du meinen Rat hören willst: Sieh dir ein paar Videos auf YouPorn zum Thema Blasen an, und beim nächsten Typen läuft es besser. Übung macht eben den Meister – so ist das bei vielen Dingen, Kitty.“
Ich starre ihn lange Zeit einfach nur an und überlege, ob in seinem Ratschlag auch irgendeine nützliche Info für mich steckt. Vielleicht hat er aber tatsächlich recht, und ich sollte offener und aufgeschlossener werden. Denn während für viele andere das Thema Sex ein bereits großes Kapitel in ihrem Leben darstellt, habe ich mich nie wirklich damit befasst. Es zählten andere Dinge – Schule, meine Zukunft, die ich eben gerne bis ins kleinste Detail plane. Ein Mann oder gar zwischenmenschliche Zärtlichkeiten hatten nie Platz. Darum beschränken sich meine sexuellen Erfahrungen eben auf jene aus zweiter Hand: auf die Erzählungen von Joannas bester Freundin und die wenigen Dinge, die ich gezwungenermaßen im Fernsehen oder Internet sah. Kurzum: sehr wenig Material, mit dem ich hätte arbeiten können.
Eine hieb- und stichfeste Recherche täte mir vermutlich gut und hätte mich, wäre ich alleine draufgekommen, nicht nur vor diesem miesen ersten Mal, sondern auch vor dem unangenehmen Gespräch mit Dan bewahrt.
Na ja, jetzt ist es ohnehin zu spät.
Apropos zu spät – ich laufe ja immer noch Gefahr, von Martin entdeckt zu werden, weshalb ich plötzlich meine Tasche an meine Brust presse und den Kopf in Richtung Haus hinter mir drehe. „Danke für den Tipp“, sage ich hastig und springe auf. „Ich werde an dich denken, beim nächsten Mal. Also … nicht an dich jetzt … sondern … du weißt schon … an deinen … Wink. Aber Dan, können wir das Ganze hier … einfach vergessen?“
„Darüber wäre ich ebenso mehr als dankbar.“
„Gut. Denn ich fand die Ebene, auf der wir uns vorher befanden, viel besser. Ich will nicht sagen, dass du etwas Brüderliches mir gegenüber ausstrahlst, aber es gefällt mir absolut besser als dieses … Koitusgespräch.“
Seine Augenbrauen schnellen nach oben, und ich stolpere, als ich in meinen hohen Schuhen über das restliche Stück Rasen zu gehen versuche. Dan nähert sich mir, während ich meinen Schuh aus der Erde ziehe und ihn mir unter die Achsel klemme. „Du solltest aufhören, Sex mit diesen abturnenden Begriffen zu bezeichnen.“
„Wie meinst du das?“, frage ich und verbiege mich fast, um meinen Fuß aus dem zweiten Schuh zu befreien.
„Koitus“, wiederholt er kopfschüttelnd und geht an mir vorbei zurück zum Haus.
„Dan“, rufe ich ihm nach, als er bereits seine Hand nach der Tür, die ins Wohnzimmer führt, ausgestreckt hat. Er dreht sich um. Er wirkt etwas genervt von meiner Gegenwart, überspielt es aber mit einer Portion Geduld. „Du sagst doch Martin wirklich nichts von dem hier?!“
„Von deinem Zuspätkommen oder den Schilderungen des Grauens?“
„Beidem“, flüstere ich und komme mir plötzlich vollends verloren vor.
Ich habe Angst vor der Stille meines Bettes. Jetzt, vor Dan, fühlte ich mich noch recht stark. Es ist hier im Garten, als könne ich dieses einschneidende Erlebnis mit einem einfachen Schulterzucken abschütteln. Doch ich weiß, dass mich spätestens dann, wenn ich alleine im Bett liege, all die Grässlichkeit und Einsamkeit gnadenlos heimsuchen werden. Aber dabei kann mir niemand helfen. Ich muss alleine durch und wünschte, ich hätte jemanden an meiner Seite, der mich versteht, mich in den Arm nimmt und mir das miese Gefühl nimmt, das ich durch diesen Typen bekommen habe.
„Kein Problem, Kitty. Ich werde dein Geheimnis mit ins Grab nehmen“, durchbricht Dan meine Gedanken und geht dann, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, zurück ins Haus.
Ich atme tief durch, wische mir eine Träne von meiner Wange und versuche, dem schwarzen Loch, das gerade dabei ist, mich zu packen, zu entkommen. Irgendetwas sagt mir, dass der wirklich traurige Teil meines Lebens, das ich als spannend, erlebnisreich und perfekt geplant habe, erst losgehen wird.
Ich frage mich, wo ich heute in fünf Jahren stehen werde. Wer werde ich sein?
Werde ich, wie Dan meinte, darüber bald hinwegkommen und die Geschichte als witzige Anekdote Freunden erzählen? Oder werde ich mich nun offiziell in die Einsamkeit verziehen, um weiteren peinlichen Konfrontationen wie dieser nach so unangenehmen Erlebnissen aus dem Weg zu gehen?
Fünf Jahre später
Susana
Nach dem Essen in einem Mittelklasserestaurant fahre ich mit dem Mittelklassemann, den zu treffen mich meine Schwester gezwungen hat, mit einem einfachen Taxi – da wir beide kein Auto besitzen – nach Hause. Der Fisch liegt noch immer schwer in meinem Magen, und bei jedem Gullideckel klopft er gefährlich dringlich an meine Speiseröhre.
Nach meinem mehrjährigen Aufenthalt in Paris, wo ich nach meiner schulischen Ausbildung einen Job bei einer äußerst renommierten Modezeitschrift ergattern konnte, bin ich nun seit knapp einem Monat wieder zurück in London.
Da dies alles so ganz und gar nicht geplant war, würde ich ohne die Hilfe meines Bruders kurzzeitig auf der Straße stehen. Meine Rückkehr verlief äußerst demütigend, und ähnlich war es, als ich an Martins Tür klopfte und ihn bat, mir zu helfen. Ich hatte alle Zelte in Paris, der Stadt, in die ich mich verliebt hatte, abgebrochen, um zurück nach London zu ziehen, wo mich, außer der Einsamkeit, meiner Familie und eines Stapels Fachzeitschriften nichts erwartete – kein Job, keine Aussicht auf einen guten solchen und keine ruhmreichen Geschichten, die ich hätte allen erzählen können.
Doch es war die einzig logische und richtige Entscheidung, die zu treffen mich eine ganze Menge Überwindung kostete. Ich sah meine Zukunftspläne wie so häufig klar und deutlich vor mir und war wieder einmal von einem – wie soll es anders sein? – Mann dazu getrieben worden, sie über Bord zu werfen. Ich hätte den Mann gleich mit über die Planken laufen lassen sollen, anstatt ihn mit Nichtbeachtung und meinem Verschwinden zu belohnen. Denn für Levi, meinen Chefredakteur, der mich unter allen Umständen in die Kiste hatte bekommen wollen und daher zunehmend aufdringlicher geworden war, war es die bequemste Art und Weise, sich aus der Affäre zu ziehen.
Ich war diejenige, die kündigen, abreisen und sich von den Menschen, die zu meinen Freunden geworden waren, verabschieden musste. Ich war wieder einmal diejenige, die vor dem männlichen Geschlecht floh.
Ähnlich wie bei meinem ersten Mal und den wenigen darauffolgenden Begegnungen mit Männern, die dieses Level der Intimität jedoch nicht erreichten. Besagtes erstes Mal blieb gleichzeitig auch mein einziges Mal. Darum bin ich jetzt, mit einundzwanzig, so etwas wie die verkorkste, männerfürchtende Schachtel, deren Vagina den einzigen regelmäßigen Männerbesuch durch meinen Gynäkologen erfährt. Ansonsten ist da unten nichts los. Nicht dass ich mich beschweren möchte. Ich hatte in den letzten fünf Jahren viele Gelegenheiten, meinen Zu- und Erfahrungsstand in dieser Hinsicht zu verändern. Dates, die ich aber alle in der heißen Phase abbrach. Vorsichtige Bekanntschaften, die ich nach dem ersten Essen beendete. Fummeln, ja. Küssen ist auch okay. Aber mehr als meine Nippel bekamen die Männer nie zu Gesicht.
Also beendete ich lieber meine Karriere, für die ich mir ehrlich den Arsch aufgerissen habe, anstatt Levi von Angesicht zu Angesicht meine Abneigung zu verdeutlichen. Ich reiste zurück nach London, komme seither bei meinem Bruder unter und führe das Leben eines arbeitslosen Super-Nerds. Ich schlafe bis Mittag, verschlinge eine Portion Coco-Pops und trabe in Jogginghosen, die ihren Namen wirklich nicht verdient haben, da sie eher Lungerhosen heißen sollten, zurück in mein Zimmer, wo ich fernsehe, lese und irgendwie den Tag zu überbrücken versuche. Ich hatte nicht mit dem Blues gerechnet, der mich in meiner alten Heimat erwartete. Ich fiel aufrecht in das tiefe, schwarze Loch vor meinen Füßen, aus dem ich mit meinen ausgetragenen Jogginghosen bisher nicht wirklich wieder rauskomme.
Darum hat hinter mir meine Familie Stellung bezogen. Alle drei – Dad, Joanna und Martin – sind mit gefährlichen Waffen ausgestattet. Dad bietet mir täglich einen Job bei sich in der Firma an, einem erfolgreichen Energiekonzern, mit dessen Fachgebiet ich aber rein gar nichts am Hut habe. Joanna stellte mir zunächst eine „liebe Freundin“ nach der nächsten vor. Ich traf mich sogar mit einigen, musste aber feststellen, dass ich mit vierfachen Müttern, die dauernd im Restaurant ihre Möpse auspackten, um das schreiende Bündel in ihren Armen zu stillen, gar nichts gemeinsam hatte. Darum setzt Joanna nun auf Männer – vielleicht denkt sie ja, ich komme mit dieser Gattung Mensch besser zurecht. Dabei würde ich lieber einen Tag auf einer Tuberkulose-Station arbeiten, als noch einen dieser Typen zu treffen, die sie vermutlich auf der Straße anspricht, bevor sie ihnen Geld anbietet, um mich, ihre verdrossene, kleine Schwester, zu treffen.
Martins Hilfe beschränkt sich wenigstens auf mein vorzeitiges Bleiberecht und seine dummen Sprüche. Ein einziges Mal nahm er mich mit zu einem Golfturnier – bei dem ich dann im Café saß und die Nase in mein Buch steckte. Wir waren beide nicht wirklich glücklich über die Anwesenheit des anderen, und so blieb es bei diesem einen Mal.
Tja, die Häufung der ersten Male und deren Einzelstellung scheinen ein Synonym für mein Leben zu sein.
Wie war das noch? Meine Pläne? Träumte ich nicht von einer steilen Karriere, Erfolg und Geld? Nichts davon habe ich bisher eigenständig erreicht. Ich könnte mich, wenn die letzte Leine reißt, in Dads Firma auf einen hohen Posten setzen lassen, Geld schaufeln, das ich nicht verdient habe, und allen eine Karriere vorgaukeln, die mir nicht zusteht. Eine hübsche Illusion, die weder mir noch irgendjemand anderem etwas bringen würde. Doch Dad hat mir ein Ultimatum gesetzt. Er will mich aus meiner Lethargie reißen und meint, er würde mich gefesselt mit zu sich in die Arbeit nehmen, wenn ich in einem Monat keinen Job hätte. Deshalb verfasse ich nun Bewerbungen für Magazine, bei denen ich gar nicht arbeiten möchte, und freue mich über jede Absage oder ausbleibende Antwort.
Doch im Kern hatte er recht – ich muss wieder lernen, auf eigenen Beinen zu stehen, und meine Enttäuschung und den Misserfolg irgendwie verarbeiten.
Darum ließ ich mich abermals auf ein Date mit einem Typen ein, den meine Schwester irgendwo aufgestöbert hatte, da er ja sooo gut zu mir passen würde.
Schon beim ersten Handshake begann ich mich zu fragen, ob meine Schwester blind war. Vor Martins Haus wartete ein Kerl auf mich, der gut einen Kopf kleiner war, eine Halbglatze als Frisur vorzuweisen hatte und dauernd über irgendwelche Computerprogramme sprach. Ich langweilte mich während des Dates so sehr, dass ich – wäre das Restaurant nicht im dritten Stock gewesen – tatsächlich aus dem Toilettenfenster geflohen wäre. Die Versuchung des Fensters war immerhin größer als die von Fernando, wie der langweilige Mann hinter dem feurigen Namen heißt. Ein Name also, der mit der Schlafmütze, die mich zwei geschlagene Stunden langweilte, nichts zu tun hat.
Nun also sitzen wir im Taxi, und Fernando hat gerade eine Einladung zu sich nach Hause ausgesprochen. Ich zucke spürbar zusammen, da ich diesen Moment bereits befürchtet habe. Denn seinerseits kamen sehr viele Komplimente für mich. Er schien regelrecht fasziniert von mir zu sein, was ich nicht begreife, da ich nicht einmal drei Sätze rausbrachte, da er die ganze Zeit die Klappe offen hatte.
Vielleicht will Freaky einfach Sex, wie mir klar wird, als ich, um Zeit für meine Antwort zu schinden, aus dem Fenster blicke.
Susana, das Taxi fährt zu schnell, und du bist nicht Bruce Willis, der einen Sprung daraus mit einer formvollendeten Drehung überleben würde. Bleib also sitzen, und denk dir irgendeine halbherzige Entschuldigung aus. Du siehst den Typen ohnehin nie wieder.
„Tut mir leid, aber es ist spät, und ich muss morgen früh raus“, lüge ich und verziehe wehmütig das Gesicht.
„Schon okay, aber schade. Joanna hat mir ja deine Nummer gegeben.“ Hat sie das? Na, warte! „Wenn du Lust hast, melde ich mich kommenden Samstag wieder. Wir könnten ins Kino gehen. Der neue ‚Bond‘ läuft an“, versucht er mich gleich mit einem zweiten Date festzunageln.
„Klingt gut“, meine ich, auch wenn ich es gar nicht so meine. Ich will nicht! Nicht noch einmal. Das überlebe ich nicht. Aber vielleicht schweigt er ja im Kino. Kino ist immerhin besser als ein Restaurant, wo Fernando sich gezwungen sieht, die ganze Zeit zu quatschen. Und ich würde nebenbei meinen persönlichen Date-Rekord brechen. Denn ein Zweites gab es mit demselben Mann noch nie. „Melde dich.“
Endlich hält das Taxi vor Martins Haus, und ich kann gar nicht schnell genug aussteigen. Fernando lässt das Fenster nach unten, beugt sich etwas raus und lächelt mich auf kitschige Art an. „Es war ein schöner Abend, Susy. Ich hoffe, dir gefiel es auch, und ich freue mich, dich nächsten Samstag wiederzusehen.“
„Es war schön“, lüge ich und umklammere meine Hand-tasche. „Danke.“
Mein Lächeln, das ich mir gerade noch abringe, scheint magisch auf ihn zu wirken, da er ein paar Worte gen Fahrer murmelt und dann zu meinem großen Entsetzen aussteigt. „Ich bringe dich noch zur Tür“, erklärt er eifrig und legt seine Hand auf den Ausschnitt an meinem Rücken.
Nicht umfallen, Susana. Geh einfach mit und wiederhole deine Verabschiedung aus sicherer Entfernung noch einmal. Der Weg zur Eingangstür zieht sich. Es fühlt sich an, als würde ich neben Fernando die gesamte Chinesische Mauer abschreiten. Mit jedem Schritt wird die Berührung seiner Hand deutlicher. Es ist zwar nur mein Rücken, aber immerhin ist die Stelle sehr intim. Er ist mir zu nahe, und sein Profil, das vom Mond beleuchtet wird – kotz, wie scheißromantisch – macht mir Angst. Es ist dieser sichere, entschlossene Ausdruck, den er zeigt, der sich verstärkt, als wir vor der Eingangstür stehen bleiben und er sich zu mir dreht.
In seinen Augen liegt ein Glanz, der mich vorwarnen sollte. Trotzdem kotze ich fast, als er sich vorbeugt, seine Hand nach meiner Wange ausstreckt und mich auf den Mund küsst.
Ich erwidere den Kuss nicht einmal. Verfalle in eine Schockstarre wie ein Eichhörnchen und halte die Luft an. Wenn das länger dauert, kippe ich zur Krönung auch noch um. Sein Kuss aber ist, verglichen mit den wenigen, die ich bis jetzt zuließ, sanft und zurückhaltend. Er scheint ein guter Küsser zu sein – behaupte ich einfach mal. Zumindest bleibt seine Zunge in seinem Bereich und dringt weder in meinen Mund vor, noch spüre ich sie an meinen Lippen. Ein gutes Zeichen, weshalb ich ihn länger gewähren lasse als normalerweise.
Als er sich von mir löst, lächelt er träge. Seine Augen wirken nun verträumt. Er legt seine Stirn gegen meine, umschließt mein Gesicht mit seinen Händen und streichelt mich. „Du bist nicht nur süß, du schmeckst auch so, Susy“, säuselt er, und ich kämpfe gegen die Panikattacke an, die in mir hochsteigt.
Ich will nicht süß sein.
Oder doch?
Zumindest will ich nicht süß für Fernando sein, der mich enger an sich drückt und noch immer lächelt, als hätte er soeben den Jackpot geknackt. Vermutlich erhofft er sich nun eine Einladung nach drinnen, da das Taxi plötzlich weg ist, wie mir ein Blick über meine linke Schulter verdeutlicht. Er geht also aufs Ganze.
Himmel, steh mir bei.
„Ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, Susy. Du bist ein wundervoller Mensch – witzig, charmant, intelligent und unglaublich hübsch. Deine Schwester hat nicht zu viel versprochen.“
Wie soll er wissen, dass ich witzig, charmant und intelligent bin, wenn er kaum ein Wort von mir gehört hat? Verstehe ich nicht. Warum haben sich so viele Männer diese Art des offensichtlichen Lügens angewöhnt? Was soll das bringen?
Ich weiß, dass manche Frauen bestimmt auf solch liebevolle Worte stehen. Ich hingegen hege eine natürliche Abscheu, nachdem der Typ, der mich entjungferte, mit genau solchem Geschwafel bei mir gelandet war. Seither bin ich allergisch gegen derartige Liebesschwüre, da sie zumeist nichts weiter als leere Floskeln sind – und in solchen Momenten nur dazu dienen sollen, die vermeintlich Angebetete dazu zu bringen, worauf sie gerade selbst so gierig waren.
Keiner kann einen Menschen nach nur wenigen Stunden durchschauen. Zum richtigen Kennenlernen gehören Vertrauen, Erfahrungen und gemeinsame Erlebnisse. Oder habe ich so eine schlechte Menschenkenntnis?
Fernando legt den Kopf auf die Art schief, die ich als Frau normalerweise niedlich finden sollte. Er betrachtet mich, als sei ich tatsächlich all das, was er gerade so schmeichelhaft formulierte. Doch ich würde nichts lieber tun, als mich endlich von ihm zu lösen und nach drinnen zu verschwinden. „Es war ein netter Abend“, behaupte ich zurückhaltend.
„Also …“, beginnt er und wirft der Eingangstür deutlich interessierte Blicke zu.
Gleich wird er mich fragen, ob er mit reinkommen kann.
Dann beginnt mein Hirn zu rattern. Ich frage mich, wie weit man beim ersten Date gehen kann, ohne als leicht zu haben oder nuttig zu gelten. Ich beginne darüber nachzudenken, was ich zu verlieren habe. Aber meist geriet ich bisher einfach in unkontrollierbare Panik, ließ den Typen stehen und nahm danach keinen seiner Anrufe mehr entgegen. Ich wählte also immer die feige Variante.
Wie wäre es zur Abwechslung also einfach mal mit etwas Spontanität? Fernando ist zwar nicht unbedingt auf der gleichen Wellenlänge wie ich, aber er ist zumindest höflich – und hey, er macht mir Komplimente. Darüber hinaus unterscheidet er sich auch optisch von den Typen, die ich bis jetzt gedatet habe. Er ist kein Adonis, hat aber ein nettes Lächeln, und ich finde das Blau seiner Augen anziehend.
Überwinde dich einfach. Ein Drink, Susana. Das wirst du überleben.
„Also“, wiederhole ich zurückhaltend lächelnd und versuche mich ganz auf meine Atmung zu konzentrieren. „Ich … wir …“ Ein Drink, flüstert eine verräterische Stimme tief in mir.
Aber ich schaffe es nicht. Ich blicke ihn an, zumindest den Teil seines Gesichtes, der von dem Lichtstrahl beleuchtet wird. Bestimmt ist Martin da und stellt mir dann unangenehme Fragen zu Fernando. Außerdem habe ich keine Ahnung, wie ich den Kerl wieder loswerde, sobald er mal im Haus ist.
Mann, Susana, du tust so, als sei er ein räudiger Hund, dem du etwas Futter und Wasser anbietest, der aber mit seinen schmutzigen Pfoten nicht ins Wohnzimmer darf.
Doch ich ändere meine Meinung mitten im Satz. „Wir sollten das wiederholen“, verplappere ich mich und sehe keinen anderen Ausweg mehr, als mich vorzubeugen und meine Lippen auf die seinen zu pressen.
Es sollte ein höflich-netter Abschiedskuss werden, der einen Strich zieht und Fernando vermittelt, dass er abschwirren soll. Doch meine Signale scheinen nicht eindeutig genug zu sein, da er einen Arm um mich legt, mich erneut näher zu sich zieht und ich nun tatsächlich die feuchte Spitze seiner Zunge an meine geschlossenen Lippen pochen spüre.
Ich hasse Zungenküsse, wie mir bei dieser Gelegenheit wieder einfällt.
Es mag durchaus auch an mir liegen, an meinen mangelnden Kussfähigkeiten, weswegen ich solch intensive Küsse als derart abstoßend empfinde. Vielleicht stimmt etwas nicht mit mir. Diese Frage stelle ich mir nicht zum ersten Mal. Ich meine, kein Mensch dieser Erde hat eine natürliche Abneigung gegen intimen Körperkontakt, zumal es evolutionär in uns verankert ist. Meine fleischlichen Gelüste sollten eigentlich den Fortbestand meiner Rasse sichern – Himmel, Susana, das klingt schon wieder mehr nach einer Zuchtstudie von Hochlandrindern als einer Beschreibung von Sex.
Doch Fernandos drängende Zunge trägt nicht gerade dazu bei, mich vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Ich löse mich vorsichtig, aber bestimmt von ihm und wische meine Lippen unauffällig mit meinem Handrücken ab, als hätte mir eine alte, verschrumpelte Oma einen Schmatzer auf die Wange gedrückt. „Ich sollte reingehen“, murmele ich und krame den Schlüssel aus meiner Handtasche. „Danke nochmals, und komm gut nach Hause.“
„Bye, Susy“, flüstert Fernando und betrachtet mich mit unverhohlener Begierde in den Augen.
Schnell weg hier, bevor er mich auffrisst.
Als die Eingangstür hinter mir ins Schloss fällt, fühle ich mich wunderbar erleichtert. Als sei ich einem Massenmörder entkommen. Auf ähnliche Art schlägt auch mein Herz, während ich nach oben in mein Zimmer schleiche, um die Aufmerksamkeit meines Bruders nicht auf mich zu ziehen – sollte er überhaupt zu Hause sein. Martin führt nämlich ein sehr schnelllebiges Leben. Er ist meist unterwegs, nicht nur dienstlich, sondern auch aus purem Vergnügen. Er kommt am Wochenende meist nicht alleine nach Hause, und das selbst erst in den frühen Morgenstunden. Ich schleiche dann immer neugierig im Flur herum, um einen Blick auf die Dame werfen zu können, die er abgeschleppt hat.
Wenigstens er scheint ein intaktes und gut funktionierendes Sexualleben zu führen. Vermutlich reicht der Umfang des seinen für uns beide, weshalb sich die Natur bei mir hormontechnisch zurückhielt. Die Gebärmutter meiner Mutter hatte nach Martin und Joanna einfach keine verfügbaren Östrogene mehr abzugeben. Darum ging ich leer aus und friste nun mein Dasein im Zustand eines Pseudo-Eunuchen.
Hat mir der Abend heute bewiesen, dass ich fürs Flirten und für Sexualität im Allgemeinen nicht geschaffen bin, muss ich mich rasch zusammenreißen, um wenigstens wieder irgendeinen Lichtblick in meinem Leben zu finden. Irgendetwas, das mich erfüllt und meine Leidenschaft weckt. Ein Hobby.
Einen neuen Beruf.
Ein Neuanfang muss her.
Daniel
Etwas an der Haltung meines besten Freundes zeigt mir, dass er überhaupt nicht begeistert ist, den Abend gemeinsam mit der Frau neben mir verbringen zu müssen. Da ich ihn bereits mein gesamtes Leben lang kenne, weiß ich auch, dass er sich in den kommenden Stunden nicht einmal die Mühe geben wird, höflich oder nett zu sein. Er mag Rita nicht, und das wird er ihr auch erneut zeigen.
Um genau zu sein, stört mich seine Abneigung nicht einmal, da ich diese Frau ohnehin nicht mehr wiedersehen werde. Na ja, aber erst nachdem ich sie flachgelegt habe.
Sie soll mich ablenken, unterhalten und meine Gedanken weg von Vivian lenken, die ich gerade viel lieber hier bei mir hätte. Doch Vivian unterzieht mich ihren dämlichen Prüfungen, die mich eigentlich abschrecken sollten, mich stattdessen aber mehr reizen, als mir lieb ist. Sie will sich ganz deutlich von der Masse an Frauen abgrenzen, die ich sonst so treffe. Wobei sich die Masse in den letzten Jahren deutlich reduziert hat, da sich mit meinem dreißigsten Geburtstag der unbändige Jagdtrieb in mir etwas beruhigt hat. Nun habe ich nicht mehr das Bedürfnis, jedem Rockzipfel hinterherzujagen, kann eine Frau auch auf einen Drink einladen, ohne sie nachher sofort vögeln zu müssen. Ich habe mich deutlich gebessert, aber Vivian möchte mehr. Das volle Programm. Und bevor ich ihr nicht beweise, dass ich in der Lage bin, Verantwortung übernehmen zu können und Selbstbeherrschung zu besitzen, wird sie den nächsten Schritt nicht gehen.
Sie wird unerreichbar für mich bleiben, und da wären wir wieder am Anfang meiner misslichen Lage. Denn obwohl Vivian die ist, die ich will, habe ich Rita heute Abend eingeladen und mir fest vorgenommen, doch endlich mal wieder mit jemanden in die Kiste zu steigen.
Vielleicht ist Vivian dann nicht mehr ganz so interessant für mich, wenn ich mir vor Augen führe, dass es auch noch andere hübsche Frauen gibt. Ich kann auch Spaß mit anderen haben. Ohne sie. Sie sollte mich nicht so reizen.