Die verborgene Harmonie ist immer stärker
als die offenkundige

(Heraklit)

Dominique Hertzer

RESONANZ
VON KÖRPER UND GEIST

Zur Philosophie
des Geistes im
chinesischen Denken

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.1 Technische Hinweise

1.2 Abkürzungen

Geisterdämmerung

2.1 Der Geist im Spiegel des frühen chinesischen Denkens

2.2 Das Schriftzeichen Shen auf den Orakelknocheninschriften

2.3 Der lebendige Leib: Shen

2.4 Zusammenschau: Geist und Gottheiten

Der Geist und sein Körper im frühen Daoismus

3.1 Der Geist und das Dao

3.2 Die Ursprünge der Seelen Hun und Po

3.3 Der Geist als Teil der Natur: Zhuang Zi

3.4 Der Geist als Mittel zur Selbstkultivierung: Guanzi

Mensch und Kosmos: Eine Resonanzbeziehung

4.1 Die Polarität von Yin und Yang

4.2 Yin und Yang: Rhythmus und Zyklus

4.3 Die Lebenskraft Qi

4.4 Der Mensch als Abbild des Kosmos

4.5 Das Phänomen der Resonanz (ganying )

4.6 Die fünf Wandlungsphasen: Wuxing

Die geistig-körperliche Dynamik der Speicherorgane

5.1 Kosmische und individuelle Funktion des Geistes

5.2 Die Verbindung von kosmischer und individueller Essenz

5.3 Die seelische Manifestation der Niere

5.4 Die seelische Manifestation der Milz

5.5 Die seelische Manifestation von Lunge und Leber

5.6 Die Sonderstellung des Herzens

Die sieben Emotionen: Qiqing

6.1 „Das Gefühl“ aus einer abendländischen Perspektive

6.2 Der philosophische Kontext von Qing

6.3 Die pathologischen Auswirkungen der sieben Emotionen

6.4 Der therapeutische Einsatz von Emotionen

6.5 Dynamik und Resonanz der fünf Speicherorgane und Lebensgeister

Kultivierung der Resonanzfähigkeit

7.1 Die Pflege des Lebens ist wie Schafe hüten

7.2 Koch Ding zerlegt einen Ochsen

7.3 Der angemessene Umgang mit dem Geist

Wahrhaftige Resonanzen

8.1 Resonanz durch Gegensätzlichkeit und Ähnlichkeit

8.2 Verortung des Geistes

8.3 Hierarchie zwischen Körper und Geist

8.4 Der Körper als Ermöglichungs-Bedingung

8.5 Relative Freiheit des Geistes und des Willens

8.6 Resonanz von Himmel und Geist

Bibliographie

10 Endnoten

Einleitung

 

„So kann ich auch den menschlichen Körper als eine Art Maschine ansehen, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut zusammengepasst ist, und auch geistlos all die Bewegungen ausführt, wie sie jetzt unwillkürlich, also ohne den Geist ablaufen.”1 (Descartes)

„Den Essenz-Geist haben wir vom Himmel erhalten, die körperliche Form haben wir von der Erde bekommen.”

„Warum können die Menschen klar sehen und genau hören? Wie kommt es, dass das Körpergewicht gehalten werden kann und die 100 Gelenke gebeugt und gestreckt werden können? Wie kommt es, dass jemand weiß von schwarz unterscheiden kann, Hässlichkeit von Schönheit unterscheiden kann? Wie kommt es, dass man Ähnlichkeiten und Unterschiede erkennen und falsch von richtig unterscheiden kann? Dies ist so weil die Lebenskraft diese Aktivitäten anfüllt und der Geist sie lenkt.2 (Huainanzi)

Die Freiheit des Willens ist nicht vom Diskurs über das Verhältnis von Leib und Seele zu trennen

Die Frage nach der Freiheit des Willens und der Unabhängigkeit des Bewusstseins (vom Gehirn) gewinnt gerade vor dem Hintergrund der auf allen Ebenen voranschreitenden Materialisierung und Ökonomisierung der gegenwärtigen Gesellschaft zunehmend an Brisanz. Die Frage nach der Freiheit des Willens ist letztlich nicht vom Diskurs über das Verhältnis von Leib und Seele zu trennen, der im Abendland auf eine lange philosophische Tradition zurückblicken kann. Insofern gehört die Diskussion über das Verhältnis von Leib und Seele weder der Vergangenheit an noch handelt es sich dabei um einen rein theoretischen Diskurs. Es spielt vielmehr eine nicht zu unterschätzende Rolle im täglichen Umgang mit anderen Menschen, sei es in einem beruflichen oder in einem privaten Kontext. So haben Mediziner und Psychologen, allen voran der Psychologe Jochen Fahrenberg, anhand verschiedener Studien zur Annahme über den Menschen aufgezeigt, dass beispielsweise im Hinblick auf das Verhältnis von Arzt und Patient sowie den gesamten therapeutischen Prozess die persönliche Leib-Seele Vorstellung des Arztes durchaus nicht abstrakter Natur ist.3

Relevanz des Leib-Seele Verhältnisses im medizinischen Alltag

Vielmehr basiert die alltägliche klinische Arbeit – und dies trifft ebenso auf China wie das Abendland zu – auf bestimmten unbemerkt vollzogenen Vorentscheidungen, die in der Regel vom Behandler nicht mehr reflektiert werden. Diese Vorentscheidungen (oder auch Vorurteile) – also betrachte ich die Psyche eines Menschen beispielsweise als Ergebnis materieller Vorgange und als Epiphänomen des Körpers oder betrachte ich sie als eine vom Körper weitgehend unabhängige Entität – sind eine grundlegende Weichenstellung für das weitere therapeutische Vorgehen. Fahrenberg konnte die Relevanz des Leib-Seele Problems auch für andere Berufsgruppen aufzeigen, die sich hauptsächlich mit dem Menschen beschäftigen, wie beispielsweise die Juristen.

Ferner haben inzwischen auch die Neurowissenschaften den Leib-Seele-Diskurs an sich gezogen. Das im Jahr 2004 von verschiedenen Neurowissenschaftlern herausgegebenen „Manifest der Hirschforscher“ beabsichtigte, das Gehirn mithilfe neuer Technologien, vor allem bildgebender Verfahren, innerhalb von zehn Jahren vollständig zu entschlüsseln. Primäres Ziel war es, alle geistigen, bewussten und unbewussten Prozesse ursächlich auf das Gehirn zurückzuführen, um schließlich ein neues, wissenschaftlich fundiertes Menschenbild zu gestalten:

Manifest der Hirschforscher von 2004

„Die Daten, die mit modernen bildgebenden Verfahren gewonnen wurden, weisen darauf hin, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse mit neuronalen Vorgängen in bestimmten Hirnarealen einhergehen – zum Beispiel Imagination, Empathie, das Erleben von Empfindungen und das Treffen von Entscheidungen beziehungsweise die absichtsvolle Planung von Handlungen. Auch wenn wir die genauen Details noch nicht kennen, können wir davonausgehen, dass all diese Prozesse grundsätzlich durch physikochemische Vorgänge beschreibbar sind.“4

Die Vorstellung vom Menschen als reine Materie oder – theoretisch – auch als reiner Geist wurzeln wiederum im philosophischen Leib-Seele Diskurs, der im Abendland primär von einer dualistischen Auffassung geprägt ist.

Dualistische Auffassung: Trennung des Geistigen und Körperlichen

Wesentliches Merkmal einer dualistischen Auffassung ist, dass die geistige und die materielle Ebene unabhängig voneinander zu existieren vermögen, beispielsweise in Gestalt einer unsterblichen Seele, die den Körper überlebt. Eine andere Möglichkeit ist, dass eine der beiden Ebenen – im Sinne eines Monismus – ihren ontologischen Ursprung in der anderen Ebene findet. So ist die gegenwärtig oftmals vertretene, naturwissenschaftliche Überzeugung, dass das Bewusstsein aus dem Gehirn hervorgeht Ausdruck eines materiellen Monismus, da das Bewusstsein keine unabhängige Existenz aufzuweisen vermag, sondern sich auf die „Materie“ Gehirn zurückführen lässt.

Memorandum der reflexiven Neurowissenschaft

Das Manifest der Hirnforscher hat sein Ziel bislang nicht nur verfehlt, sondern sogar innerhalb der Neurowissenschaften große Kritik hervorgerufen, die in dem Memorandum „reflexive Neurowissenschaft“ einen neuen theoretischen Ansatz zur Lösung des Leib-Seele Problems fordert, unter Federführung der Philosophie.5 Eine wesentliche Rolle spielt hierbei freilich die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens, denn sollte das Bewusstsein nur durch die Strukturen und Vernetzungen des Gehirns bedingt sein, so wäre die Freiheit des menschlichen Willens in höchstem Maße eingeschränkt. Insofern ist die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele weder eine rein philosophische noch gar theoretische Frage, denn die Auswirkungen eines solch materiellen Menschenbildes sind in medizinischer, politischer und ethischer Hinsicht kaum abzusehen. Als Beispiel seien hier nur die neurologischen Gutachten vor Gericht genannt, die die verschiedensten Straftäter ihrer Verantwortung für ihre Taten entheben sollen, mit der Begründung, dass die Struktur ihres Gehirns ihnen gar keine andere Wahl als die der Straftat gelassen habe.6

Seinszusammenhang und Kausalzusammenhang von Leib und Seele

In der abendländischen Philosophie gehört das Verhältnis von Leib und Seele zu den wichtigsten Themen überhaupt und die meisten Philosophen haben sich dazu mehr oder weniger ausführlich geäußert. Dabei wurde das Verhältnis von Leib und Seele sowohl im Hinblick auf ihren Seinszusammenhang wie auf ihren Kausalzusammenhang untersucht. Peter Bieri hat das traditionelle Leib-Seele Problem anhand von drei Sätzen formuliert, die alle für sich genommen wahr erscheinen, aber in Kombination miteinander in direktem Widerspruch zueinanderstehen:7

Das Leib-Seele Problem in drei Sätzen

1. Mentale Phänomene sind nicht physische Phänomene.

2. Mentale Phänomene sind im Bereich physischer Phänomene kausal wirksam.

3. Der Bereich physischer Phänomene ist kausal geschlossen.

Diese drei Sätze reflektieren wesentliche Positionen des ontologischen Dualismus, wie er für das Abendland charakteristisch ist, und die gerade im Hinblick auf die Ursache-Wirkungsbeziehung zwischen dem Bereich des Physischen und Mentalen eine wichtige Rolle spielen. In dem intensiven philosophischen Diskurs des Abendlandes, der um eine Lösung dieser Widersprüche kreist, treten vor allem die folgenden drei Fragen hervor, die auch den Ausgangspunkt für die Frage nach dem Verhältnis von Körper und Geist im chinesischen Denken sein sollen:8

Drei Fragen zum Verhältnis von Leib und Seele

1. Inwieweit vermag das Seelische unabhängig und getrennt vom Leiblichen zu existieren?

2. Welche Rangordnung existiert zwischen Leiblichem und Seelischem und inwieweit vermögen sie sich gegenseitig zu beeinflussen?

3. Welcher Art ist die Verbindung zwischen Leiblichem und Seelischem und wo wird sie verortet?9

Polare versus dualistische Auffassung von Leib und Seele

Das diesem Kapitel vorangestellte Zitat aus dem Huainanzi steht nun exemplarisch für eine in der Chinesischen Geistesgeschichte und Medizin gleichermaßen vertretene Überzeugung, dass weder Geist noch Seele jemals isoliert vom Körper zu existieren vermögen. Im chinesischen Denken wird das Verhältnis von Seelischem und Leiblichem generell als Polarität von Geist (shen ) und Körper (xing ) verhandelt, das sich dadurch auszeichnet, dass die beiden Pole einander bedingen und ergänzen. Diese polare Auffassung von Körper und Geist steht ganz im Gegensatz zu der eben dargestellten dualistischen Auffassung von Leib und Seele, wie sie lange und oft im Abendland vertreten wurde.10

Die Pole sind über das qi miteinander verbunden

Insofern gleicht das Verhältnis von Körper und Geist dem von yin und yang , in welchem die beiden Pole – vermöge der verbindenden Lebenskraft qi – einander bedingen und niemals getrennt voneinander zu existieren vermögen. Dieses Verhältnis der Polarität gehört zu den wesentlichen Grundvoraussetzungen in der Chinesischen Medizin und Philosophie, was auch in der westlichen Forschung zu diesem Thema seinen Niederschlag gefunden hat. Doch geht man über den Allgemeinplatz, dass die Lebenskraft (qi )die beiden Pole miteinander verbindet hinaus und stellt die Frage, wie die gegenseitige Wechselwirkung zwischen Körper und Geist im Einzelnen aussieht und wie sie zustande kommt, so finden sich hierzu bislang nur wenige Untersuchungen.

Resonanz (ganying ) statt Ursache - Wirkungsbeziehung

Wir werden sehen, dass das Phänomen der Resonanz (ganying )dabei eine ganz zentrale Rolle spielt. Interessanterweise wurde in den letzten Jahren die Frage nach der „Resonanz“ im Rahmen der abendländischen soziologischen Forschung von Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz der Weltbeziehungen detailliert erörtert und die vorliegende Untersuchung verdankt seinen Ausführungen ihre Inspiration. Das Resonanzverständnis ist im chinesischen Denken jedoch ein ganz anderes und vermag insofern eine neue, im Abendland bislang ungedachte Perspektive auf das Wirken und das Phänomen der Resonanz zu eröffnen. Es ist ferner sehr erstaunlich, dass die Frage nach der Resonanz auch in der Forschungsliteratur zur Chinesischen Medizin bislang sehr vernachlässigt worden ist.11 Allzu häufig hat das westliche Denken mit seiner (naturwissenschaftlich geprägten) Frage nach Ursache und Wirkung, welches wir seit dem Eindringen des Westens vor über 150 Jahren auch häufig in der chinesischen Literatur finden, den Aspekt der Resonanz nahezu vollkommen verdrängt. Denn die Ursache für die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist zu finden ist etwas anderes als die Resonanzbeziehungen zwischen den beiden zu untersuchen.

Fünffache Auffächerung des Geistes

Bei näherer Betrachtung zeigt sich ferner, dass die Ebene des Geistig-Seelischen im chinesischen Denken nicht im Sinne einer Einheit – also des „einen Geistes“ oder der „einen Seele“ –, sondern in Gestalt einer fünffachen Auffächerung des Geistes (wushen , „die fünf Lebensgeister“) den verschiedenen korrespondierenden Aspekten des Leibes gegenübersteht. Die kosmische Dimension des Geistes konkretisiert sich im menschlichen Individuum in Gestalt der Hauch- und Körperseele (hun und po ), dem Denken (yi ), dem Willen (zhi )und der leitenden Funktion des Geistes (shen ) selbst.

Die wushen „fünf Lebensgeister“ und die „fünf Speicherorgane“ (wuzang )

Genau hier setzt nun die Frage nach der Resonanzbeziehung zwischen den „fünf Lebensgeistern“ (wushen ) mit ihren körperlichen Korrelaten an, in Gestalt der fünf Speicherorgane (wuzang )Herz, Leber, Lunge, Milz und Nieren. Dabei gilt es zu untersuchen, ob eine körperliche Erkrankung oder die Schwäche eines Organes, wie beispielsweise der Leber, unmittelbar oder unbedingt eine Schwäche der Hun-Seele zur Folge haben wird. Oder ist eine geschwächte Willenskraft immer Ausdruck einer mangelnden Essenz (jing )in den Nieren? Bilden die Speicherorgane die kausale Ursache für die geistigen Kräfte eines Menschen oder sind sie vielmehr eine Ermöglichungs-Bedingung für diese? Damit ist gemeint, dass die Speicherorgane die Voraussetzung für die geistigen Kräfte bilden, aber nicht ursächlich für ihre Entstehung verantwortlich sind. Sind die geistigseelischen Aspekte hierarchisch höher einzustufen als die mit ihnen korrelierenden Speicherorgane und vermögen sie letztere zu kontrollieren? Und wie steht es schließlich mit der Freiheit des menschlichen Willens im Rahmen dieser Resonanzbeziehungen?

Neue Perspektive auf die Freiheit des Willens?

Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Diskussion zum Verhältnis von Gehirn und Geist sowie der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit, mag der Blick auf das chinesische Denken vielleicht auch an dieser Stelle eine neue Perspektive zu eröffnen, die die Diskussion von den festgefahrenen Standpunkten befreit.

Vorgehensweise

Textliche Grundlage aus der Philosophie und Medizin

Als textliche Grundlage für dieses Unterfangen werden uns vor allem klassische chinesische Texte aus dem Bereich der Philosophie – primär des Daoismus, aber auch des Konfuzianismus – dienen, ebenso wie medizinische Texte, allen voran natürlich das Huangdi Neijing (Innerer Klassiker des gelben Kaisers). Viele Textstellen wurden hierzu von mir erstmals aus dem Klassischen Chinesisch ins Deutsche übersetzt, mit dem Ziel den Text selbst zum Sprechen zu bringen, ohne die Texte dabei in ein vorgefertigtes Interpretationsschema zu zwängen. Dies hat zur Folge, dass dem Leser einiges ungewohnt oder neu vorkommen mag und verschiedene Ausführungen nicht unbedingt der gängigen „TCM-Theorie“ entsprechen. Denn im Folgenden wird primär auf die Klassischen Chinesischen Texte zurückgegriffen, die vielmehr ein energetisch-dynamisches Verständnis der Chinesischen Medizin reflektieren und weniger ein Denken in Syndromen oder eine Ursache-Wirkungs-Beziehung erkennen lassen.

Nachdem wir im Chinesischen Kontext von den wushen , den „fünf Lebensgeistern“ wie von den „fünf Speicherorganen“ (wuzang )sprechen, werde ich, wenn es um das prinzipielle Verhältnis der beiden geht, von „Körper und Geist sprechen“. Wenn hingegen die Vielgestaltigkeit des Geistig-Seelischen und Körperlichen ausgedrückt werden soll, werde ich vom Verhältnis „des Seelischen und Leiblichen“ reden.

Wesen und Wirken des Geistes shen

Ausgangspunkt (Kapitel 2) wird die ursprünglichen Bedeutung des Begriffes shen sowie der philosophische Diskurs (Kapitel 3) über sein prinzipielles Wesen und Wirken sein, wie er uns vor allem in den daoistischen Texten begegnet, da letztere eine unmittelbare Verbindung zur Chinesischen Medizin aufweisen. Bereits hier steht die Frage nach dem grundlegenden Verhältnis von Körper und Geist im Mittelpunkt.

Korrelative Kosmologie

Um die konkrete Dynamik der fünf Lebensgeister verstehen zu können, werden wir im Anschluss einen Blick auf die „korrelative Kosmologie“ werfen (Kapitel 4), welche spätestens seit Beginn der Han-Zeit die wichtigste Theorie zur Erklärung der Welt im Sinne eines sich selbst generierenden und erhaltenden Organismus darstellte.

Wechselwirkungen zwischen Makround Mikrokosmos

Im Zentrum stehen hier die Wechselwirkungen zwischen dem Makrokosmos (Natur) und dem Mikrokosmos (Mensch), die letztlich Ausdruck der zyklischen Veränderungen von yin und yang sowie den fünf Wandlungsphasen (wuxing )sind. Denn die prinzipielle Dynamik der fünf Wandlungsphasen sowie die Korrelationen, die zwischen Mensch und Natur bestehen, setzen den Referenzrahmen für die Aufgaben und Funktionen der Speicherorgane, sowohl auf der körperlichen als auch auf der geistigseelischen Ebene. Hier spielt wiederum das eben erwähnte Phänomen der Resonanz (ganying ) eine ganz entscheidende Rolle. Denn nur über die Resonanz erklärt sich, dass und warum die Korrelationen, welche die einzelnen Wandlungsphasen zu den verschiedenen Dingen und Situationen des Weltgeschehens aufweisen, weder willkürlich gesetzt noch zufällig ausgewählt sind, sondern Ausdruck einer jeweils einzigartigen Dynamik sind.

Spezifische Dynamik der Speicherorgane und fünf Lebensgeister

Nachdem uns primär die Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Körper und Geist interessieren, werden wir uns intensiv mit der Frage auseinandersetzen, wie die spezifische Dynamik der jeweiligen Speicherorgane und der ihnen zugeordneten Lebensgeister im Einzelnen aussieht (Kapitel 5).

Funktionelle Bestimmung der wushen

Dabei wird zu zeigen sein, dass eben diese, für die einzelnen Speicherorgane unterschiedliche und charakteristische Dynamik gleichermaßen auf einer körperlichen wie einer geistigen Ebene wirkt. Denn die „fünf Lebensgeister“ (wushen )können nicht aus einer ontologischen Bestimmung („was sind sie?“), sondern primär aus ihrer funktionellen Bestimmung („was tun sie“) verstanden werden: also welches ist ihre charakteristische Aufgabe?

Des Weiteren werden wir auf der einen Seite die Wechselwirkungen der seelisch-geistigen Aspekte untereinander betrachten und auf der anderen Seite das (hierarchische) Verhältnis zwischen den fünf Lebensgeistern und den jeweiligen Speicherorganen bestimmen.

Rolle der sieben Emotionen

Dabei soll unser Augenmerk darauf gerichtet sein, wodurch oder woran die fünf Lebensgeister primär erkranken können – allem voran den sieben Emotionen (qiqing )– und wie sie im Krankheitsfall gezielt zu beeinflussen sind (Kapitel 6).

Prävention von Erkrankungen: „Pflege des Lebens“ (yangsheng)

Hier spielt vor allem die Prävention von Erkrankungen eine wichtige Rolle, die ein Thema der „Pflege des Lebens“ (yangsheng ist. Wir werden sehen, wie die fünf Lebensgeister am besten zu kultivieren sind und auf welchem Wege ihre Resonanzfähigkeit gestärkt werden kann (Kapitel 7). In der Zusammenschau gilt es schließlich die Resonanzbeziehung von Körper und Geist im Hinblick auf eingangs gestellten, drei großen Fragen des Leib-Seele Problems zu untersuchen und die Freiheit des menschlichen Willens aus der Perspektive des Chinesischen Denkens zur reflektieren.

1.1 Technische Hinweise

Die Umschreibung chinesischer Termini erfolgt in der Pinyin-Umschrift. Chinesische und alle anderen fremdsprachigen Begriffe sowie Titel und Hervorhebungen im Text werden kursiv geschrieben. Chinesische Eigennamen werden nicht kursiv, aber in der Pinyin-Umschrift wiedergegeben. Einzelne chinesische Begriffe, die nicht eindeutig zu übersetzen sind, wie z.B. yin und yang oder qi werden bei ihrem ersten Auftreten erklärt, aber es wird keine Übersetzung dafür angegeben, im Folgenden wird immer auf den chinesischen Begriff in der Pinyin-Umschrift Bezug genommen.

Die bibliographischen Hinweise in den Endnoten erfolgen prinzipiell mit der Nennung von Autor bzw. Titel und Jahreszahl. Klassische chinesische Titel, Sammelwerke, Lexika und Zeitschriften werden mit dem Titel und der Jahreszahl zitiert, alle weiteren bibliographischen Daten sind im Literaturverzeichnis enthalten.

Alle Klassischen Chinesischen Zitate werden, wenn nicht anders erwähnt, nach der Textdatenbank von ctext.org. zitiert. Alle anderen westlichen und chinesischen Quellen werden nach den einzelnen Ausgaben (Angabe von Autor, bzw. Titel und Jahreszahl) zitiert.

1.2 Abkürzungen

GTJY

Gujin tushu jicheng yibu

HDZ

Hanyu dazidian

HDYD

Huangdi Neijing yanjiu dacheng

HWP

Historisches Wörterbuch der Philosophie

ZWDCD

Zhongwen dacdian

ZZXYY

Zhongzheng xingyinyi conghe dacidian