Kalt und nüchtern, das waren die ersten Begriffe, die Natasha durch den Kopf schossen, als die Staatsanwältin den Besprechungsraum im Amtsgericht Moabit betrat. Saskia Görcke stellte die Aktenordner auf den Tisch, setzte sich und öffnete die mitgebrachte Kladde. Ein in einer unlesbar aussehenden Handschrift vollgeschriebener Notizblock und jede Menge weiterer dicht beschriebener Blätter verteilten sich auf dem runden Buchenholztisch. Natasha war gespannt, warum die Staatsanwältin mit ihr allein sprechen wollte. Ihrer Ansicht nach hatte sie alles gesagt und war nur allzu bereit, ihre Aussage vor Gericht zu wiederholen.
Die grau bezogenen Stühle mit Metallbeinen sahen alles andere als bequem aus. Natasha, die bisher gestanden hatte, setzte sich gegenüber von Frau Görcke, die mit der Fingerspitze ihre Brille auf dem Nasenbein hochschob, in den Blättern wühlte, eines ansah, es wieder ablegte und den Vorgang wiederholte.
Natasha betrachtete die Frau vor sich, die ihrer Ansicht nach für diesen Fall viel zu jung war. Sie konnte absolut nicht nachvollziehen, weshalb die Berliner Staatsanwaltschaft ausgerechnet Görcke den Fall Egbert übertragen hatte. Die ergänzenden Ermittlungsarbeiten zogen sich bereits fast fünf Monate hin. Wäre es nach ihr gegangen, hätte der Prozess gegen Alexander Egbert nicht nur längst begonnen, sondern wäre mittlerweile beendet. Der Täter wäre zu lebenslanger Haft verurteilt – nicht nur wegen kaltblütigen Mordes, sondern auch wegen Menschenhandels, Vergewaltigung, Missbrauchs von Minderjährigen, Korruption … Die Liste ließe sich unendlich lang fortsetzen. Wenn jemals ein Mensch es verdient hatte, hinter Gittern zu sitzen, dann Alexander Egbert.
Endlich schien sich Frau Görcke sortiert zu haben. Ihre veilchenblauen Augen in dem schmalen Spitzmausgesicht, umrahmt von der Nerd-Brille mit schwarzer, eckiger Fassung, richteten sich auf sie.
»Kriminalhauptkommissarin Kehlmann, es gibt da einige Fragen, die ich mit Ihrer Hilfe gern beantwortet bekäme.«
»Schießen Sie los.«
»Ist es korrekt, dass es von Ihnen Videoaufnahmen im Internet gibt, die sie bei einer sexuellen Interaktion mit mehreren Männern zeigen?«
Natasha erstarrte. In ihrem Magen bildete sich ein eiskalter Klumpen. Die Haare an ihren Unterarmen stellten sich auf. Ihr Mund wurde trocken. »Ich verstehe nicht, was das mit dem vorliegenden Fall zu tun hat.«
»Also lautet Ihre Antwort Ja?«
»Ja.«
»Ist es ebenfalls korrekt, dass Sie damals eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten?«
»Wenn Sie sich die Videos aufmerksam angeschaut haben, sollten Sie bemerkt haben, dass ich während des Geschlechtsakts nicht bei Bewusstsein war.«
»Sie meinen bei dem ersten? Oder bei allen?«
»Ich war gefesselt, mir waren die Augen verbunden worden, ich wurde geschlagen und gebrandmarkt. Sehen Sie das als einen freiwilligen Akt von Sex an?«
»Sehen Sie, Frau Kehlmann, es geht mir nicht darum, Ihre persönlichen Vorlieben beim Sex zu beurteilen oder infrage zu stellen. Meine Aufgabe ist es, bei der Ermittlung zu einem Verbrechen alle Aspekte zu betrachten. Ich suche nach Beweisen, und zwar unabhängig davon, ob sie die Schuld oder die Unschuld eines Tatverdächtigen bekunden. Ich bin dem Grundsatz der Objektivität verpflichtet.«
Natasha ließ sich in den Stuhl zurückfallen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich fasse es nicht. Halten Sie ihn für unschuldig?« Sie beugte sich wieder vor, spürte ohnmächtige Wut in sich aufkeimen. »Alexander Egbert hat Bianca Franke vor meinen Augen die Kehle durchgeschnitten, der Mutter meiner besten Freundin Marietta. Vorher hat er mir erzählt, dass er Marietta vor einen Zug geworfen habe, sodass es damals aussah, als hätte sie Selbstmord begangen. Letzteres ist ein Geständnis, Ersteres ein Mord vor einer Zeugin.«
»Frau Kehlmann, können wir uns wieder auf die vorliegenden Fragen und Fakten konzentrieren?«
Natasha biss die Zähne zusammen und atmete ein paar Mal tief durch, bis sich der rote Schleier in ihrem Gehirn lichtete. »Was war Ihre letzte Frage?«
»Ob Sie eine anonyme Anzeige wegen Vergewaltigung erstatteten.«
»Ja.«
»Warum anonym?«
Natasha stieß Luft durch den Mund aus. Sie starrte auf ihre Finger, die sie unbewusst ineinander verknotet hatte.
»Brauchen Sie einen Moment Zeit? Möchten Sie das Gespräch verschieben?«
Sie hob den Kopf, musterte die Staatsanwältin vor sich. Alexander Egbert kam aus einer Familie, die in den höchsten gesellschaftlichen Schichten Deutschlands verkehrte. Er konnte auf ein Netzwerk an politischen und wirtschaftlichen Kontakten zurückgreifen, nicht nur in Deutschland, sondern international. Sie hatte sich nicht mehr mit dem Fall beschäftigt, weil sie davon ausgegangen war, dass all das der Vergangenheit angehörte und er für seine Taten nun endlich würde büßen müssen. Wie leicht man sich irren konnte.
»Nein. Die Anzeige erfolgte anonym, weil ich nicht wusste, wer mich vergewaltigt hatte. Sie haben die Videos gesehen. Die Männer trugen Masken, ich war bei allen bis auf den letzten bewusstlos, und anhand eines Penis lässt sich ein Mann leider nicht eindeutig identifizieren. Vielleicht sollten wir den Aspekt in Zukunft bei unserer Ermittlungsarbeit mehr berücksichtigen.« Sie wich dem Blick der Anwältin nicht aus, sondern hielt ihm stand.
Frau Görcke senkte den Blick auf ihre Notizen. »Bei der Untersuchung damals wurden unter anderem DNA-Spuren sichergestellt, die mit der DNA von Alexander Egbert übereinstimmen. Ihre Freundin Marietta Franke hingegen hat sich damals nicht untersuchen lassen und auch keine Anzeige erstattet. Wissen Sie warum?«
»Nein. Damals dachte ich, sie hätte Angst und würde sich schämen.«
»Es gibt nur von Ihnen Videos im Internet, nicht von Ihrer Freundin.«
»Mir wurde damals angedroht, dass die Videos, sofern ich meine Anzeige nicht zurückziehe, im Internet veröffentlicht würden. Es bestand für die Täter kein Grund, Videos von Marietta zu veröffentlichen.«
»Verstehe. Also wurde sie ebenfalls vergewaltigt?«
Natasha hörte Razvans Stimme in ihrem Kopf:
»Weshalb hätte ich Marietta K.-o.-Tropfen einflößen sollen, wo sie doch allzu gern für Alex und seine Freunde die Beine breitgemacht hat, weil es ihn angetörnt hat, ihr dabei zuzusehen.«
Er hatte die Wahrheit gesagt. Auch seine Warnung war ernst gewesen. Dafür hatte er mit dem Leben bezahlt. Nein, sie bedauerte seinen Tod nicht. Schließlich war Razvan derjenige gewesen, der die Geschäfte für Egbert geleitet und dafür gesorgt hatte, dass dieser immer Mädchennachschub für seine abartigen sexuellen Praktiken erhielt.
»Das weiß ich nicht. Hören Sie, Frau Görcke, ich verstehe wirklich nicht, was dieser alte Fall mit dem vorliegenden zu tun hat.«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Eine der DNA-Spuren von Ihrer Vergewaltigung damals kann eindeutig Alexander Egbert zugewiesen werden.«
Natasha starrte die Anwältin an. »Soll das heißen, Sie wollen den damaligen Fall in den Prozess miteinbeziehen?«
»Meine Aufgabe ist es, alle Fakten zu sammeln und dem Richter vorzulegen, damit er sich ein Bild davon machen kann, ob er den Prozess gegen Alexander Egbert eröffnet oder nicht. Herr Egbert verfügt über weitreichende Kontakte, und sein Strafverteidiger ist der beste und teuerste, wenn es um Sexualdelikte geht.«
»Sie werden ihn für den Fall von damals anklagen?«
Die Staatsanwältin seufzte, nahm die Brille ab, rieb sich das Nasenbein und setzte sie wieder auf. »Frau Kehlmann, das Problem, das wir haben, sind Sie.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sie sind keine neutrale Zeugin. Sie sind befangen. Zwischen Ihnen und Alexander Egbert gibt es eine Beziehung …«
»Beziehung? Drehen Sie jetzt völlig durch?« Der eiskalte Blick der Anwältin brachte sie zum Schweigen.
»Gehen Sie bei Verhören von Tatverdächtigen genauso vor?«
Natasha hob die Hand. »Geben Sie mir einen Moment.«
»Mir wurde gesagt, dass Sie gut in Ihrem Job sind. Dass sie Menschen zum Reden bringen, auch wenn sie gar nicht reden wollen. Dieser Razvan Ciobanu wollte ein Geständnis ablegen.«
»Und wurde in der U-Haft ermordet.«
»Warum um alles in der Welt glauben Sie dann, es würde leicht werden, Alexander Egbert vor Gericht zu bringen?«
»Weil wir ihn auf frischer Tat geschnappt haben? Mit einer Leiche und dem Messer. Verflucht noch mal, er hatte den gesamten Boden mit einer Plastikplane ausgelegt. Der Mann ist krank.«
»Und die einzige Zeugin dieses Mordes sind Sie, Frau Kehlmann. Sie und Alexander Egbert waren ganz allein in dem Raum. Es gibt keine Spuren an der Waffe, weder von ihm, noch von Ihnen.«
»Ich war an das Bett gefesselt.«
»Ja, aber ab wann?«
»Er hat mir K.-o.-Tropfen verabreicht und mich aus Frau Frankes Wohnung entführt.«
»Hat er das?«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»In Ihrem Blut wurde keine bewusstseinstrübende Substanz nachgewiesen.«
»Weil sie nach einer gewissen Zeit im Blut nicht mehr nachweisbar ist. Aber die Wohnung, der restliche Tee in der Tasse … Der Tatort wurde untersucht.«
»Ja, und auf der Tasse fanden sich die DNA-Spuren von Ihnen und Frau Franke. Es gab keine Spuren von einem Kampf in der Wohnung. Wie würden Sie in einer solchen Situation als Strafverteidigerin vorgehen?«
Die Tür von Oberst Wahlstroms Büro war geschlossen, was anzeigte, dass er nicht gestört werden wollte. Kurz überlegte Natasha, ob sie es als Zeichen deuten sollte, es sich noch mal zu überlegen. Nein. Entschlossen hob sie die Hand und klopfte.
»Herein. – Kehlmann, ich hoffe für Sie, es ist etwas verdammt Dringendes.« Oberst Wahlstrom war nicht allein in seinem Büro.
Generalmajor Hartmann erhob sich, schloss die Tür hinter ihr, legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie in Richtung Stuhl. »Setzen Sie sich«, forderte er sie auf, nicht in demselben Befehlston wie Wahlstrom, sondern freundlich, aber bestimmt. Mann, musste sie beschissen aussehen. Sie setzte sich, weil sie spürte, dass ihre Knie tatsächlich nachgaben. Hartmann setzte sich auf die Schreibtischkante.
»Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass Sie schwanger sind.«
»Ben«, kam es tadelnd von Hartmann.
»Ich muss kündigen.«
»Atmen Sie erst mal tief durch und erzählen Sie uns, was passiert ist.«
Natasha schüttelte den Kopf und presste die Lippen zusammen. »Nein. Meinetwegen stehen Sie vor dem Ausschuss. Weil ich eine Geisel mit der Waffe bedroht habe. Ich bin in eine Wohnung eingebrochen. Nein, ich brauche gar nicht zu kündigen. Sie müssen mich feuern.«
»In eine Wohnung eingebrochen?« Hartmann hob fragend die Augenbrauen und sah zu Wahlstrom hinüber.
Der räusperte sich. »Kehlmann, hören Sie auf, dramatisch zu sein. Themis besteht aus über einhundert Männern und Frauen, Sie sind lediglich eine davon. Wir stehen nicht Ihretwegen unter Beschuss, und das wissen Sie. Also, was hat Sie derart aus dem Konzept gebracht?«
»Mich würde der Punkt mit dem Wohnungseinbruch genauer interessieren.«
»Hartmann!«
»Ben?«
»Nichts Dramatisches. Es hatte mit dem Fall Egbert zu tun. Kehlmann ist in Ciobanus Wohnung eingedrungen, das wars. Sache erledigt.«
»Ohne einen Durchsuchungsbeschluss?«
»Sie glaubte, eine junge Frau sei in Gefahr. Immerhin war eines der Mädchen, die bei ihm wohnten, kurz zuvor in ihrem Beisein gestorben.«
»Er wird uns einen Strick daraus drehen«, murmelte Natasha.
»Wer?« Die Frage kam von beiden.
»Alexander Egbert. Ich war heute Morgen bei der Staatsanwältin Saskia Görcke, die für die Anklage zuständig ist. Sie sagt, er habe den besten Strafverteidiger, der alles zerpflücken und infrage stellen würde.«
»Und wie will er das machen? Immerhin hat er vor Ihren Augen der Mutter seiner Exfreundin die Kehle durchgeschnitten.«
»Ben«, mahnte Hartmann, als müsse er sie vor seinen Worten schützen.
»Sorry.«
»Eben nur vor meinen Augen«, versuchte sie die Bilder, die Wahlstroms Worte heraufbeschworen hatten, zu verdrängen.
Einen Moment herrschte Stille im Raum. Hartmann begriff die Bedeutung ihrer Aussage schneller.
»Verstehe. Frau Görcke geht davon aus, dass der Strafverteidiger Ihre Glaubwürdigkeit infrage stellen wird. Es gibt keine Spuren an der Mordwaffe. Sie beide verbindet eine Vergangenheit. Er war der Freund Ihrer besten Freundin. Sie könnten eifersüchtig gewesen sein oder Rache im Sinn gehabt haben.«
»Kehlmann, Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, dass Egberts Strafverteidiger die Geschichte von damals herauskramt, um seinen Mandanten herauszuboxen?«
»Erst mal geht es ihm wohl darum, Egbert aus der U-Haft zu bekommen. Er wird argumentieren, dass die Beweislast nicht ausreicht, dass er eine Familie hat, fest in der Gesellschaft verankert ist und es daher nicht angemessen ist, ihn weiterhin in der Justizvollzuganstalt zu belassen«, erwiderte sie und frage sich, woher ihre Ruhe kam. Sie hätte wütend sein müssen wie zuvor bei der Staatsanwältin.
»Ach verfluchte Scheiße!«, rief Wahlstrom und sprang von seinem Bürostuhl auf. »Nicht genug damit, dass wir uns mit dieser dämlichen politischen Kacke und einem digitalen Angriff auf unser Land auseinandersetzen müssen – nein, jetzt kommen noch Psychopathen auf freien Fuß, die auf frischer Tat ertappt wurden.«
»Bisher sitzt er in U-Haft«, erwiderte Hartmann ruhig. »Frau Görcke ist zugegebenermaßen eine sehr junge, jedoch kompetente Staatsanwältin, die für ihre extreme Genauigkeit bekannt ist. Sie wird alles dreimal überprüfen und – da bin ich mir sicher – am Ende eine Beweislage für den Prozess vorlegen, die Alexander Egbert lebenslänglich hinter Gitter bringt.«
»Ja, und was passiert, wenn Sie das mit dem Wohnungseinbruch herausfindet? Sie oder der Strafverteidiger? Wie glaubwürdig ist meine Aussage dann? Und vergessen Sie nicht, dass Egbert am Ende nicht nur eine Bisswunde hatte, sondern auch eine gebrochene Nase und einen ausgeschlagenen Zahn.«
»Dafür hat Kriminalhauptkommissar Abel einen Eintrag in seine Personalakte erhalten. Der Hund hat nur getan, wozu er ausgebildet wurde: einen Angreifer zu entwaffnen, sobald einer von Ihnen sich in unmittelbarer Gefahr befindet. Exakt das war der Fall. Der ganze Sachverhalt wurde überprüft und von den eintreffenden Ermittlungsbeamten des LKA am Tatort festgehalten, nachdem man Sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Ihre Verletzungen wurden dokumentiert, und das alles sind Beweise, die gegen Alexander Egbert sprechen.«
Er hatte recht. Sie wusste, was im Bunker unter dem Nachtklub vorgefallen war, und sie hatte es sich nicht ausgedacht, weder den Mord, noch sein Geständnis, seine Schläge oder ihre Angst, als ihr klar wurde, dass er sie mit dem Messer töten würde. Dennoch …
»Nein. Ich muss die Konsequenzen ziehen.«
»Welchen Job genau wollen Sie denn kündigen, Kriminalhauptkommissarin Kehlmann? Den in der Sondereinheit oder den beim BKA?«