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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74096-913-4
Sie kommen wie eine Horde Bestien auf ihn zu. Er wirft einen verzweifelten Blick auf das Pferd und spürt, wie ihm das Blut in den Adern zu gefrieren droht, obwohl die Morgensonne ihre ersten Strahlen auf ihn wirft.
Durch den Staub, den die rasenden, verrückt gewordenen Bestien aufwerfen, dringt der Schrei eines Mannes, den Luke noch hört.
»Lauf doch, lauf!«
Luke stürmt sofort los. Er läuft um sein Leben, sieht die Kante der Schlucht und nicht einen Stein in seiner Nähe. Keine Deckung zu finden.
Er blickt zurück und sieht sie aus der Staubwolke auftauchen, als kämen hundert Teufel genau auf seiner Fährte hinter ihm her.
Einen Moment blickt er in ihre Augen. Dann ändert er seine Richtung und versucht ihnen nach rechts, also am Rand des Tales entlang, zu entkommen.
Aber sie nähern sich unaufhaltsam.
Die Kante! denkt er, als sich die Bestien zwischen ihn und Thomas schieben. Thomas schießt aus seinem Revolver, zwei-, dreimal kracht es. Kugeln fauchen in das Blau des Morgenhimmels mit dem leichten Dunst, der vom Bach heraufsteigt. Dann ist auch das Schießen verstummt, und nur noch das Trommeln der Hufe ist zu hören.
Sie laufen in den verdammten Abgrund, denkt Luke stöhnend und strauchelt. Er schlägt hin, bleibt eine Sekunde benommen liegen. In dieser Sekunde aber sind sie auf 20 Yards heran!
Luke schreit. Irgendwo hinter dem Staubschleier, den die Morgensonne rot anhaucht und nicht durchdringen kann, stößt Thomas einen Fluch aus. Er sitzt halbbekleidet auf seinem Pferd und ahnt die Tragweite der Katastrophe, die für Luke Moira kommen muß.
»Moira – Luke!«
Er sieht nichts mehr von ihm.
Von der Kante drehen die Rinder ab. Jeder Reiter weiß, wie gefährlich Buschlandrinder sein können, die in der freien Wildnis mehr als ein Jahr gelebt haben.
Sie nehmen jeden Mann an und verdienen die Bezeichnung Bestien.
»Moira!«
Das Donnern der Hufe schluckt seine Schreie. Moira hört ihn nicht mehr.
Luke stemmt sich hoch, zwei, drei Sätze macht er. Dann ist das Grummeln der 80 Longhorns hinter ihm.
Moira wendet den Kopf, sieht den ersten Stier, einen zottigen, struppigen Riesen mit gesenktem Kopf, der den Zweibeiner annimmt.
Und Moiras Revolver ist leergefeuert. Jetzt ist er an der Kante und beobachtet, wie der erste Stier strauchelt. Ein Schrei, ein unbeschreibliches Röhren, als andere nachdrängen und von links schieben.
Der Stier saust, keine zehn Schritt vor Luke Moira, über die Schluchtkante. Und vier, fünf andere fallen hinterher. Unbeschreibliches Brüllen der fallenden Stiere. Die anderen kommen nach. Und der Weg für Moira ist zu Ende. Sie werden ihn tottrampeln.
Er blickt sich verzweifelt um. Dann handelt er, sieht die kargen Zweige eines Strauches und rollt sich weg – genau auf die Kante zu.
Runter! denkt Luke Moira, an den Busch hängen! Sie werden vorbeirennen, dem Busch ausweichen. Mein Gott, warum ist Chester nicht auf seinem Posten geblieben?
Er rutscht, hängt an der Wand, hört nichts mehr als das fürchterliche Brüllen und sieht den Bullen kommen. Da rast er heran, auf den Busch zu, an dessen Zweige sich Moira klammert.
Der Boden bebt, eine Riesentrommel paukt ihre donnernden Schläge über den Mann hinweg, läßt seine Trommelfelle beinahe platzen. Sand rieselt auf ihn herab. Er spürt, wie sich sein Körper ein Stück senkt. Wahnsinniger Schreck lähmt seine Muskeln und läßt seinen Atem stocken. Der Busch gibt nach! Die Zweige, die er hält, lösen sich.
Nein! Mein Gott, nein, das kann doch nicht… »Hilfe… Hilfe!«
Er versucht einen Halt mit den Stiefeln zu finden. Die Sohlen schrammen über den Hang, Steine geben nach, klickern in die Tiefe. Aus aufgerissenen Augen sieht er einen Moment jene dünne Grasnarbe, in der der Busch seine Wurzeln getrieben hat.
Da sieht er einen Riß im Grasboden, der jäh aufklafft, sich verbreitert, zu einem Spalt wird, in den man die Faust stecken kann. Und dann hat er ein kleines Wurzelgeäst vor Augen.
Seine Stiefel schrammen über die Wand, stoßen Geröll ab, das in die Tiefe saust.
»Hilfe – Hilfe!«
Moira sackt jäh durch, sieht nichts mehr. Der Staub läßt die Augen tränen. »Hilfe, Thomas, Hilfe!«
Thomas hört ihn nicht, sieht eine Wolke aus Staub vor sich, darin schattenhaft die Buschlandstiere. Sie rasen genau am Schluchtrand entlang.
Der gellende Schrei vermischt sich mit dem Brüllen der Stiere. Dann reißt er ab.
Luke Moira umklammert die Zweige und merkt, wie sie sich mehr und mehr lösen. Sein Gewicht reißt den Busch aus der Wand heraus, Moira rutscht ab.
Während er fällt, spürt er noch einen Schlag an seinem rechten Knie.
Sein Körper dreht sich, kommt von der Wand ab und überschlägt sich zweimal. Dann kommt der Aufschlag.
Und danach der Schmerz.
Wie durch einen Schleier sieht er das Gesicht von Bennet – ein kühles, hageres Gesicht, blonde Haare, helle Augen. Und er hört Bennet fragen: »Wer hat den Zaun zerschnitten, verdammt? Und warum ist Chester weg, der Krummstiefel? Da sind doch Spuren. Jemand hat uns Rinder gestohlen und den Zaun zerschnitten. Der verdammte Junge, dieser Chester – er sollte mein Bruder sein.«
Chester, denkt Moira noch, warum hast du deinen Posten verlassen? Und dann denkt er nichts mehr.
Er scheint zu fallen, obwohl er doch bereits aufgeprallt ist.
Luke Moira stürzt in eine bodenlose Tiefe.
Und oben, dicht hinter den Rindern, sagt Thomas mit kreidebleichem Gesicht und zuckenden Lippen: »Chester, du hast ihn umgebracht, du allein!«
Chester Donelly hat einen seiner besten Leute getötet?
Ist das die bittere Wahrheit für Thomas?
Luke Moira ist tot?
*
»Oh!« jammert er. »Meine Beine! Die Schmerzen…«
»Ruhig, Luke, ganz still!«
In Moiras Ohren ist ein Sausen, Pochen und Schlagen in seinen Beinen. Aber die Stimme ist da, der Mann redet. Moira hört Schüsse krachen, sie reiten, denkt er, der Yankee, der mich vom Pferd schoß, mein Bein getroffen hat. Nun wird alles gut, der Captain ist da, ich werde nach hinten gebracht werden, der Krieg ist für mich für eine Weile aus…
Denkt er. Und hört den Captain sagen: »Gib die Flasche noch mal her, Thomas, er muß trinken!«
Thomas, grübelt Moira, der in halber Bewußtlosigkeit die Zähne aufeinander gepreßt hat, weil ein Kavallerist der sechsten Texasbrigade nicht zu stöhnen und zu jammern hat, Thomas ist hier? Der war doch nie bei uns. Wo bin ich denn? Bin ich nicht von dem verdammten Blaurock vom Gaul geschossen worden?
Dann rinnt das Wasser über sein Gesicht. Er macht den Mund auf und schluckt das kalte, frische Wasser. Seltsam, daß er blinzeln kann, den Captain sieht – ohne seine Uniform, ohne den Kavalleristenhut. Der Captain hat die braune Weste an.
»Hallo, Luke, alles okay, Alter?«
»Ja, Captain. Nur mein Bein zwickt ein wenig.«
Er blickt an Ben Donelly vorbei auf Thomas. Nun hört er auch wieder die Schüsse, das Brüllen der Rinder.
»Du hast immer Glück im Pech, wie?« fragt Ben Donelly. »Luke, wenn du fünf Fuß tiefer gestürzt wärest, hättest du Steine als Landeplatz gefunden. Weißt du, worauf du gefallen bist?«
»Nein – Captain.«
»Auf einen Haufen Longhorns, die sich für dich hier unten hingelegt zu haben scheinen, Alter. Und das so gut, daß du nicht mal ein Horn gestreift hast.«
»Mein Bein, Ben…«
»Das linke ist gebrochen, der rechte Fuß verdreht und das Knie aufgeschlagen. Außer einigen blauen Flecken und Prellungen scheinst du sonst nichts weiter abbekommen zu haben. Das Bein ist schon geschient.«
Die Stiere! Moira erinnert sich plötzlich an die fünf oder sechs, die in die Tiefe fielen.
»Die Rinder, Ben, hörst du?«
»Bennet ist mit den anderen beiden hinter ihnen her und jagt sie wieder in die Umzäunung.«
Moira sieht die Falte zwischen Ben Donellys Brauen. Sie verrät Sturm. Mein Gott, denkt Luke, wenn er jetzt kocht, dann ist es wegen seines kleinen Bruders. Ben ist mächtig wütend. Bennet muß es auch gesehen haben, der kennt ihn noch besser als ich. Dies ist das dritte Mal, daß Chester Donelly seinen Posten verlassen hat. Du großer Geist, jetzt ist es passiert!
»Ben, er ist noch jung, ein wenig leichtsinnig, aber…«
»Halt’s Maul, Luke! Wenn du dir den Hals gebrochen hättest, dann wäre er daran schuld gewesen. Verläßt seine Herdenwache, reitet weg und kümmert sich nicht um die Stiere, diese Bestien. Aus dem Nebencorral haben sich drei Halunken, zu denen unten am Bach noch zwei gestoßen sind, fünfzehn Rinder geholt, fünfzehn unserer besten. Und er hat sie sie stehlen lassen, der Lümmel.«
»Fünfzehn?« wiederholt Luke erschrocken. »Ich dachte, fünf oder sechs, Ben. Sie haben beide Zäune zerschnitten.«
»Damit die ausbrechenden Bestien alle Spuren zertrampeln sollten«, sagt Ben Donelly zornig. »Die Viehdiebe hatten das gut eingefädelt. Dabei war nur eine Unbekannte: Die Buschlandstiere muß irgend etwas wild gemacht haben. Ich weiß nicht, was es war. Vielleicht eine Bremse, die eines dieser Teufel in ein rasendes Ungeheuer verwandelt hat. Und das hat alle anderen angesteckt. Verläßt seinen Posten, der Idiot.«
»Aber wie konnte er wissen, daß Viehdiebe im Anmarsch waren, Ben?«
»Nimm den Bengel noch in Schutz, Luke. Liegst du da mit einem gebrochenen Bein oder er?«
»Mann, wenn du wütend wirst, Ben, dann kennst du dich selbst nicht mehr. Werde erst ruhig. Er ist eben zu jung und zu unerfahren.«
»Ein Taugenichts ist er!« knurrt Ben Donelly verbissen. »Und ich bin auch noch schuld daran, ich habe ihm zu sehr freien Lauf gelassen, weil ich ihm das gönnen wollte, was ich nie gehabt habe: Spaß und Freiheit. Wenn der Lümmel es mir so dankt, dann soll ihn der Teufel holen, ich kann auch anders.«
»Er ist dein kleiner Bruder, Ben.«
»Mit einundzwanzig Jahren ist man nicht mehr klein. Er schießt schneller als viele andere, er trinkt mehr, hat mehr Affären mit Girls als ein Mann von dreißig Jahren und benimmt sich wie ein Taugenichts, der keine Verantwortung zeigt. Wenn ich das Old James erzähle…«
»Mein Gott, du wirst deinem Vater doch nichts sagen?« unterbricht Luke ihn. »Ben, er hat doch keine Ahnung, daß Chester…«
»Manchmal denke ich, er hat mehr Ahnung von Chesters Treiben als ich oder jeder von euch«, gibt Ben Donelly finster zurück. »Vielleicht ist das nichts als eine seiner verrückten Ideen, herausfinden zu wollen, ob ich jemanden erziehen kann, der von Natur aus wild und ungebärdig ist. Das war er schon vor sechs Jahren, als wir aus dem verdammten Krieg kamen, Luke. Und Old James hat zugesehen. Ich glaube oft, er wartet darauf, daß ich Chester den Ernst des Lebens beibringe. Nun gut, ich werde es tun müssen. Luke, du wirst auf die Ranch gebracht.«
»Dann sieht mich Old James und wird fragen, wie es passiert ist, Ben.«
»Dann sagst du ihm die Wahrheit – genau!«
»Großer Geist, das tue ich nicht. Ihn trifft ja der Schlag.«
»Quatsch! Tu, was ich dir sage, damit er sich nicht wundert, wenn ich Chester an den Ohren auf die Ranch schleife. Das ist ein Befehl, führe ihn aus! Thomas, zwei Pferde, eine Decke! Legt ihn hinein, und bringt ihn nach Hause!«
»Und du?« fragt Thomas, der den grimmigen Zorn Ben Donellys nur zu gut erkennt. »Boß, was wirst du tun?«
»Was soll ich schon tun? Da sind Spuren, und fünfzehn Rinder sind verschwunden. Auf jeden dieser Halunken kommen drei gute Fleischrinder. Leicht zu treiben. Sie können schon über die Grenze sein. Ich will das sehen. Und dann werde ich nach Del Rio reiten. Wenn ich ihn nicht betrunken vorfinde, will ich nicht mehr Ben Donelly heißen.«
Er zieht sich mit einem Ruck in den Sattel. Sein großer brauner Wallach springt aus dem Stand an. Eine Minute danach ist er bereits unten am Bach und treibt sein Pferd am linken Ufer entlang auf den Devils River zu.
»Oje, das gibt Ärger für Chester«, sagt Thomas heiser. »Luke, er ist richtig zornig auf Chester. Das geht nie gut.«
»Betrunken wird er sein«, murmelt Luke Moira, seine Schmerzen verbeißend. »Er ist um Mitternacht verschwunden, und wir Narren haben nach der verdammt harten Buschlandsuche geschlafen wie die Toten, sonst würden wir es gemerkt haben. Reitet einfach davon, und wie immer wird er schnell geritten sein, also könnte er in drei Stunden in Del Rio gewesen sein, was?«
»So ungefähr«, antwortet Thomas seufzend. »Vielleicht hat er eine Verabredung gehabt, mit irgendeinem Girl. Wer weiß es schon bei Chester, er sagt ja nie was. Hätte er nur einen Ton von sich gegeben, Luke… He, da kommt Bennet.«
Bennet, ein sehniger, schweigsamer Mann, der als Zureiter auf der Donelly-Ranch arbeitet, nähert sich ihnen, hält an und sieht dann den Bach hinunter.
»Ben?« fragt er.
»Er will nach den Spuren sehen und meint, Chester in Del Rio aufzustöbern.«
»Das wird schlimm für den Jungen, aber verdient hat er es«, sagt Bennet. »Die Diebe sind weg, jenseits der Grenze, wette ich.«
»Ja, wahrscheinlich!« sagt Thomas. »Ich möchte nicht in Chesters Haut stecken. Ben hat zuviel geschluckt, Luke hätte sich den Hals brechen können.«
»Dafür bricht dies jetzt Chester den Hals. Es wurde Zeit. So oder so, der Junge muß es lernen.«
»Du meinst doch nicht, daß Ben ihn vor allen Leuten verprügelt?«
Joe Bennets kühle Augen blicken auf Moira herab. Und wie damals im Kriege, als Bennet zu ihrer Gruppe kam und keiner wußte, was der Mann aus Virginia eigentlich bei ihnen sollte, erscheint Moira dieser Bennet rätselvoll und etwas unheimlich. Niemand kennt die Geschichte Bennets.
»Das«, sagt Bennet kalt, »würde Ben tun, Freund Luke.«
*
»He!« sagt Chester. »Charles, gib mir einen Drink! Der verdammte süße Wein, dieses Zeug, das macht einen fertig wie zehn Mann.«
Er blickt zu Charles Pierce, der hinter dem Tresen steht. Es ist elf. Die Uhr an der Wand tickt. Jedes Ticken ist wie ein Schlag auf Chester Donellys Schläfen. Selbst das Tropfen des Wasserhahns macht ihn heute nervös. Er zerrt an seinem Halstuch, um besser Luft zu kriegen, und er riecht das Parfüm von Conchita. Widerlich süßlich. Vor sechs Stunden ist es ihm verlockend erschienen, genau wie Conchita.
»Verdammter Gestank!«
Er fängt den schrägen Blick von Pierce ein.
»Du willst doch einen Doppelstöckigen haben, oder?«
»Ja, verdammt!«
Draußen pfeift jemand, geht am Saloon vorbei, dem prächtigsten von Del Rio – genauso prächtig wie Charles Pierce.
Eine tolle Fassade, denkt Chester und trinkt. Dann setzt er das Glas ab. Der Kerl pfeift noch immer. Es klingt schrill in Chesters Ohren.
»Warum pfeift der blöde Kerl so?«
Im Saloon sitzt schläfrig ein Mexikaner in der Ecke, den Hut im Gesicht. Am Tisch links vom Tresen befinden sich drei Frachtwagenfahrer, die Mittagsrast machen und ein kleines Spielchen.
»Laß ihn doch, Chester.«
»Mein Kopf dröhnt sowieso wie verrückt. Der Wein schmeckte fürchterlich, aber sie hatte nichts anderes, Charles.«
»Conchita?«