Sophienlust ab 211 – 238 – Alls dreht sich um Barbi

Sophienlust ab 211
– 238–

Alls dreht sich um Barbi

Ein kleiner Sonnenschein wird verzweifelt gesucht

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-935-1

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot

»Mami, Mami!« Barbi zappelte heftig in Schwester Regines Armen.

»Deine Mami ist gleich wieder hier.« Die Kinderschwester hob das kleine Mädchen noch höher. Sie schaukelte es in der Luft hin und her und lachte ihm herzlich ins Gesicht.

Schwester Regine verstand es wirklich, mit Kindern jeder Altersstufe umzugehen. Seit Jahren war sie im Kinderheim Sophienlust tätig und bei groß und klein beliebt.

Barbis Augen wurden noch größer. Ihr Mündchen verzog sich, dann lachte sie hellauf. Es war das Lachen eines unschuldigen Kindes, das noch nichts von der Grausamkeit des Lebens wusste.

Die junge Kinderschwester zog das erst zweijährige Kind, das vor einem halben Jahr seinen Vater verloren hatte, liebevoll an sich. Und jetzt hatte die Kleine jegliche Scheu verloren. Sie fuhr Schwester Regine mit ihren Händ­chen ins Gesicht, lachte dabei und plapperte unverständliches Zeug.

»So, ich glaube, wir zwei haben uns nun miteinander angefreundet.« Noch einmal hob Schwester Regine die Kleine hoch über ihren Kopf, um sie dann auf ihre eigenen Füße zu stellen. »Wollen wir in den Garten gehen?« Sie beugte sich hinab und strich dem Kind das schöne rotblonde Haar aus dem Gesicht.

Jetzt sah Barbi die Kinderschwester mit großen erstaunten Augen an und versuchte das Wort Garten nachzusprechen. Es gelang ihr noch nicht.

»Es ist ein schöner großer Garten, eigentlich ein Park mit vielen Bäumen und einer Spielwiese, einem Spielplatz mit Sandkästen, Schaukeln und Rutschen«, erzählte Schwester Regine. »Dort wird Barbi spielen. Es sind viele Kinder dort. Sie freuen sich schon darauf, dich kennenzulernen.«

Barbi versuchte das Wort Kinder zu wiederholen, aber auch das wollte noch nicht ganz gelingen. Die Kinderschwester lachte und sprach ihr das Wort geduldig noch einmal vor, dann sagte sie: »Komm!« Sie streckte der Kleinen ihre Hand entgegen, und Barbi griff willig danach.

Schwester Regine ging mit der Kleinen durch die große Halle des Kinderheims. Von hier führte eine breite teppichbespannte Treppe mit Geländer hinauf in den ersten Stock. Dort befanden sich die Schlafzimmer der Kinder mit je zwei Betten, Schränken und Nachtkästchen. Auch Denise von Schoenecker, die das Kinderheim bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes Dominik von Wellentin-Schoenecker, genannt Nick, verwaltete, hatte im ersten Stock ein Zimmer. Sie zog sich aber nur dann dorthin zurück, wenn sie etwas ausspannen wollte. Selten übernachtete sie in Sophienlust, da sie in zweiter Ehe mit Alexander von Schoenecker verheiratet war, dessen Gut nicht weit von dem Kinderheim entfernt lag.

Plötzlich blieb Barbi stehen. Dann zog sie Schwester Regine zum offenen Kamin, der sich in der Mitte der Halle befand. Davor lag ein Bärenfell. Barbi entzog Schwester Regine ihre Hand und beugte sich interessiert über das Fell. Als sie dann aber das aufgerissene Maul sah, bekam sie schreckliche Angst. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und versteckte sich hinter dem Rücken der Kinderschwester.

In diesem Moment stürmte die

fünfjährige Heidi, das jüngste Dauerkind von Sophienlust, durch das Portal in die Halle. Sie begann zu lachen. »Ist das Barbi?« Sie streckte ihre Hand aus. »Sie hat wohl Angst vor dem Fell?« Übermütig lief sie auf das Bärenfell zu und warf sich darauf.

Als Heidi den Blick wieder hob, fing sie einen strafenden Blick von Schwester Regine auf. Beschämt senkte sie ihr Köpfchen. Sie wusste doch, dass man nie ein Kind auslachen durfte. Schnell sprang sie wieder auf ihre Beine und lief auf den kleinen Gast zu.

»Es tut mir leid«, sagte sie herzlich, und man sah ihr dabei an, dass dies wirklich der Fall war. »Sie ist ja noch so klein. Ich glaube, ich habe mich zuerst auch vor seinen Zähnen gefürchtet.« Sie streckte ihre Hand aus. »Willst du meine Freundin sein? Ich werde dir alles zeigen, auch dass dieser Bär nicht beißt. Sein Fell ist sehr weich. Es ist lustig, darauf zu liegen. Willst du es nicht probieren?«

Barbi sah Heidi, die mit ihren seitlich abstehenden Rattenschwänzchen und den Stirnponys allerliebst aussah, mit großen Augen an, aber sie sagte nichts.

»Ist sie mir böse? Spricht sie nicht mit mir? Ich habe es wirklich nicht so gemeint. Schwester Regine, du musst es ihr sagen!« Heidi war bestürzt. Sie war ein lebhaftes, aber besonders anschmiegsames Kind, das von allen sehr geliebt wurde.

Schwester Regine musste lächeln. Sie beugte sich zu Heidi hinab und erläuterte: »Sie kann doch noch nicht sprechen, jedenfalls noch keine Sätze«, erklärte sie.

»Sie sieht aber gar nicht wie ein Baby aus«, staunte Heidi.

»Sie ist auch kein Baby mehr. Sie ist schon fünfundzwanzig Monate alt.«

»Fünfundzwanzig Monate«, wiederholte Heidi. Damit konnte sie nichts anfangen. »Ist ja auch egal«, erklärte sie dann selbstsicher. »Ich werde ihr das Sprechen schon beibringen. Zuerst werde ich ihr aber zeigen, wie weich das Fell ist. Sprechen kann ich doch mit ihr?« Fragend sah Heidi Schwester Regine an. »Versteht sie mich?«

»Natürlich. Sie ist doch nicht schwerhörig.« Die sehr hübsche junge Frau beugte sich zu Barbi hinab. »Das ist Heidi. Sie ist sehr lieb.«

»Eidi lieb«, wiederholte die Kleine und nickte heftig.

»Na also!« Heidi schickte einen Stoßseufzer zur Decke. »Auch der Bär ist lieb«, erklärte sie dann wichtigtuerisch. »Sieh nur, was ich mit ihm mache.« Sie warf sich wieder auf das Bärenfell und vergrub ihr Gesicht in den langen weißen Haaren.

Schwester Regine ließ Barbi los. Was würde die Kleine nun tun?

Barbi zögerte einen Moment, dann folgte sie Heidis Beispiel. Sie hockte sich neben dem Fell auf den Boden und streckte vorsichtig ihre Hand aus.

»Er ist schon lange tot«, erklärte Heidi wichtig. »Du kannst ihm auch ins Maul greifen.« Sie machte es vor, aber dies war Barbi doch nicht ganz geheuer. Lieber kehrte sie zu Schwester Regine zurück.

»Sie ist sehr mutig«, lobte Heidi die Kleine. »Darf sie mit mir in den Park gehen?«

»Wir waren gerade auf dem Weg dorthin«, sagte Schwester Regine.

»Worauf warten wir dann noch?«, rief Heidi und lief hüpfend auf das Portal zu, durch das man auf eine Freitreppe kam.

»Mit, mit«, forderte Barbi und lief hinter Heidi her. Im Portal blieb sie stehen. Als Schwester Regine heran war, fragte sie: »Mami?«

»Deine Mami kommt auch in den Park.«

»Ist ihre Mami auch hier?«, fragte Heidi.

»Ja, Tante Isi zeigt Frau Fröhlich gerade das Haus.« Schwester Regine nahm Barbi an die Hand und begann mit ihr die Freitreppe hinabzusteigen.

»Aber wenn Barbi eine Mami hat, warum muss sie dann hierbleiben?«, fragte Heidi, deren Plappermäulchen nur selten stillstand.

»Weil ihre Mami arbeiten will, und da wäre sie tagsüber nicht zu Hause.«

»Barbi hat also keinen Papi mehr«, stellte Heidi fest, »aber sie muss deswegen nicht traurig sein. Sie wird merken, dass es bei uns schön ist. Sie bleibt doch bei uns?«

»Ich glaube schon, aber zuerst nimmt ihre Mutter sie noch mit nach Italien.« Man sah der Kinderschwester an, dass sie damit nicht ganz einverstanden war. Frau Karoline Fröhlich, die Mutter der kleinen Barbi war eine sehr sympathische junge Frau, aber sie war über den Tod ihres Mannes noch nicht hinweggekommen. Daher hatte ihr Schwager auf einen Tapetenwechsel bestanden. Er hatte kurzerhand für sie an der italienischen Riviera ein kleines Ferienhäuschen gemietet und auch vorgeschlagen, Barbi während des dortigen Aufenthaltes der Mutter in das Kinderheim Sophienlust zu geben. Er wusste, dass die Kleine dort bestens aufgehoben sein würde, da er mit dem Ehepaar von Schoenecker befreundet war.

Frau Fröhlich wollte aber davon nichts wissen. Wenn sie schon Ferien machen sollte, dann wollte sie es nur mit ihrer Tochter tun. Aber sie war trotzdem nach Sophienlust gekommen, denn sie wollte ihrem Schwager nicht länger zur Last fallen. Sie wollte auf eigenen Füßen stehen, und das hieß, dass sie sich eine Beschäftigung suchen wollte. Deshalb spielte sie mit dem Gedanken, Barbi tagsüber der Obhut Denise von Schoeneckers anzuvertrauen.

»Du, woran denkst du?« Heidi zupfte Schwester Regine an der Schürze. »Wollen wir nicht zu den anderen gehen?« Sie wusste, da noch Ferien waren, spielten die Schützlinge von Sophienlust in dem großen Park mit seinem alten Baumbestand. »Sie sind alle schon sehr neugierig auf Barbi«, verriet sie. Und dann hielt sie es nicht länger aus. Sie packte die Kleine an der Hand und lief mit ihr über die Wiese davon.

Lächelnd folgte die Kinderschwester den beiden. Dabei dachte sie, dass Barbi hier sicher besser aufgehoben sein würde als im heißen Süden. Dort würde sie völlig aus ihrem Lebensrhythmus gerissen werden. Schwester Regine hielt nicht viel davon, kleine Kinder mit in fremde Länder zu schleppen. Diese interessierten sich nicht für Landschaften und fremde Städte. Also würde sie deshalb noch einmal mit Frau Fröhlich sprechen.

Schwester Regine schritt schneller aus. Sie wollte bei Barbi sein, wenn sie von den Kindern umringt wurde, damit diese nicht zu stürmisch vorgingen und die Kleine Angst bekam.

Aber die Sorge der Kinderschwester war unbegründet. Pünktchen hatte sich schon liebevoll der Kleinen angenommen. Sie hatte Barbi auf eine der Schaukeln gesetzt und schubste das vor Freude jauchzende Kind leicht hin und her.

Als Schwester Regine näher trat, wandte sich das sommersprossige Mädchen, das seinen Namen den vielen kleinen Pünktchen zu verdanken hatte, die vor allem seine Stupsnase zierten, um. »Das ist ja ein entzückendes Kind«, sagte Pünktchen begeistert. »Wir müssen Frau Fröhlich unbedingt überreden, dass sie die Kleine schon jetzt hierlässt.«

Pünktchen, sie hieß mit richtigem Namen Angelina Dommin, war stets über alles bestens unterrichtet. Sie war ein lebhaftes, gescheites Mädchen von dreizehn Jahren, das sich liebevoll um die kleineren und neuen Kinder kümmerte. Da sie eng mit Nick befreundet war, genoss sie eine Art Vorzugsstellung. Während Denise von Schoenecker von allen Kindern Tante Isi genannt wurde, durfte Pünktchen Alexander von Schoenecker als einzige Onkel nennen.

»Es ist noch nicht einmal sicher, dass Barbi später zu uns kommt. Frau Fröhlich wird gerade von Tante Isi durch das Haus geführt. Was ist, wenn es ihr bei uns nicht gefällt?«

»Das gibt es nicht. Bei uns hat es noch jedem gefallen.« Pünktchen sah zu dem ehemaligen Herrenhaus hin­über. Es war ein großes einstöckiges Gebäude mit neuangebautem Nebentrakt, weißer Fassade und großen Fenstern mit grünen Fensterläden.

*

Zur gleichen Zeit öffnete Denise von Schoenecker gerade die letzte Tür. Alle anderen Räume hatte sie ihrem Gast schon gezeigt. »Dieses Zimmer wird von uns Wintergarten genannt«, sagte sie und ließ Frau Fröhlich den Vortritt.

Bewundernd sah die junge Frau sich um. Der Raum bestand fast nur aus Fenstern. Es standen helle Korbmöbel darin, und die Pflanzen rankten sich vom Fußboden bis zur Decke.

»Wenn es regnet, ist dies hier neben dem Eisenbahnzimmer der beliebteste Aufenthaltsort der Kinder«, erklärte Denise.

»Das kann ich mir vorstellen.« Frau Fröhlich war überwältigt. Fasziniert sah sie zu Habakuk, dem gelehrigen Papagei empor, der sein Domizil im Wintergarten hatte. Sie entdeckte auch noch einen Wellensittich und einen Kanarienvogel. »Sie haben wirklich ein Paradies für die Kinder geschaffen«, sagte sie anerkennend.

»Wir sind bemüht, ihnen eine neue Heimat zu geben«, sagte Denise von Schoenecker schlicht. »Die meisten von ihnen haben keine Eltern mehr.«

Ein Schatten glitt über das Gesicht von Frau Fröhlich. Sie dachte daran, dass ihre kleine Barbi auch beinahe Waise geworden wäre. Es war eigentlich ein Zufall gewesen, dass sie damals, als der Unfall passiert war, nicht an der Seite ihres Mannes gesessen hatte.

Karoline spürte Denise von Schoen­eckers Blick und versuchte ein Lächeln. »Ich habe mich nun davon überzeugt, dass mein Schwager nicht übertrieben hat. Barbi wäre bei Ihnen wirklich bestens aufgehoben. Ich kann sie unbesorgt Ihrer Obhut überlassen. Gleich nach der Rückkehr aus den Ferien werde ich mich nach einer passenden Stelle umsehen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich Barbi dann tagsüber hierherbringen dürfte.«

»Natürlich.« Denise zögerte unmerklich, dann fragte sie: »Wie ich von Ihrem Schwager hörte, wollen Sie noch diese Woche in den Urlaub fahren.«

»Ja, ich habe vor, bereits morgen oder übermorgen abzureisen.« Karoline Fröhlich seufzte. »Mein Schwager besteht darauf. Er findet, dass ich mich erholen muss. Wahrscheinlich hat er recht. Ich bin in letzter Zeit wirklich sehr nervös und unausstehlich.«

Kein Wunder, dachte Denise. Es ist sehr schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren. Laut sagte sie: »Lassen Sie doch Barbi bereits während dieser Zeit bei uns.«

»Nein!« Karolines Gesicht verschloss sich. »Ich weiß, dass mein Schwager dies angeregt hat, aber ohne mein Kind verreise ich nicht.«

»Viktor will wirklich nur Ihr Bestes«, versuchte Denise es noch einmal, »und er hat recht. Schon die Fahrt wäre für ein so kleines Kind anstrengend.«

»Ich werde öfters Pausen machen.«

»Sie sollten einmal ganz abschalten. Sie sollten sich ausruhen und nichts tun. Vor allem sollten Sie neue Bekanntschaften schließen. Dies würde Sie auf andere Gedanken bringen.«

»Ich weiß, so hat Viktor sich das vorgestellt.« Jetzt lächelte Karoline leicht. »Ich bin ihm auch dankbar, aber ich will gar kein neues Leben beginnen. Ich werde nur für meine Tochter leben.«

»Dazu sind Sie zu jung.« Denise fand es besser, mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zu bleiben. »Aber ich will Sie nicht zu etwas überreden. Sie sollten nur wissen, dass ich im Grunde so wie Ihr Schwager denke. Sie müssen sich erholen, und während dieser Zeit wäre Barbi bei uns bestens aufgehoben.«

Karoline Fröhlich schüttelte den Kopf. Sie hatte sich lange genug gegen diese Reise gewehrt, aber ohne ihre Tochter zu fahren, das war für sie noch immer unvorstellbar.

»Darf ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen?« Denise lächelte der jungen Mutter zu, dann sprach sie rasch weiter: »Ich möchte Sie einladen, unser Gast zu sein. Ich meine, nicht hier, sondern auf Gut Schoeneich. Mein Mann würde sich sicher freuen. Sie wissen doch, dass er und Viktor befreundet sind.«

Karoline nickte. Sie wusste auch, dass Viktor die schlanke, noch jugendlich aussehende Frau sehr verehrte. Auch sie fühlte sich von ihr angezogen. In ihrer Gegenwart konnte man sich nur wohlfühlen.

Denise wiederholte ihre Einladung, und schließlich nahm Karoline Fröhlich an. »Aber nur für ein, zwei Tage. Ich möchte sehen, ob Barbi sich unter den vielen Kindern wohlfühlt. Es wird mir sehr schwer werden, mich von meinem Kind zu trennen, und wenn es auch nur tagsüber sein muss.«

*

Karoline Fröhlich richtete sich im Bett auf. Sie war hellwach, konnte nicht mehr schlafen und sah sich um. Durch den Vorhangspalt drang das erste Grau ins Zimmer. Es musste noch sehr früh sein. Das Gitterbett, das Frau von Schoenecker in ihr ­Zimmer hatte stellen lassen und in dem ihre Tochter noch friedlich schlief, war erst als dunkler Umriss zu erkennen.