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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-470-3
Die Sprechstunde bei Dr. Robert Daniel hatte gerade begonnen, als Stefanie Metzler völlig aufgelöst die Praxis betrat.
»Fräulein Meindl, ich muß dringend zum Doktor«, stieß sie hervor.
Die junge Empfangsdame Gabi Meindl unterdrückte nur mit Mühe einen Seufzer. Sie haßte es, wenn Patienten unangemeldet kamen! Und noch viel mehr wurmte es sie, daß sie sich Stefanie gegenüber nicht einmal eine diesbezügliche Bemerkung erlauben durfte, denn immerhin war die die jüngere Schwester vom Chefarzt der Steinhausener Waldsee-Klinik. Und das war noch nicht alles. Dr. Daniel kannte die junge Frau praktisch seit ihrer Geburt. Gabi würde also zumindest mit einer kritischen Bemerkung ihres Chefs rechnen müssen, wenn sie sich Stefanie gegen-über nicht vollkommen korrekt verhielt.
»Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick im Wartezimmer Platz, Fräulein Metzler«, bat Gabi mit einem höflichen, aber dennoch sehr unverbindlichen Lächeln. »Sobald der Herr Doktor frei ist, wird Fräulein Sarina Sie holen.«
»Danke«, brachte Stefanie mühsam hervor, dann verschwand sie im Wartezimmer.
Gabi schickte ihr einen abgrundtiefen Seufzer hinterher.
»War die eigentlich jemals mit Termin beim Chef?« knurrte sie mißmutig, dann schüttelte sie den Kopf. »Also, manche dieser Damen können sich einfach alles herausnehmen. Ich würde nicht ständig unangemeldet beim Arzt auftauchen.«
Die Sprechstundenhilfe Sarina von Gehrau lächelte. »Sie würden wohl vieles nicht machen, was unsere Patientinnen so Tag für Tag einfällt, nicht wahr?«
Gabi errötete tief. Sie hatte nicht bemerkt, daß Sarina in den Vorraum gekommen war, denn sonst hätte sie sich zu diesem Vergleich nicht hinreißen lassen. Andererseits wußte Sarina ja ganz genau, wie gern sich Gabi mit den Patientinnen des Chefs verglich und wie gut sie selbst dabei meistens abschnitt.
Jetzt holte sich Sarina die Karteikarte von Stefanie Metzler und meldete sie bei Dr. Daniel an. Der Arzt runzelte besorgt die Stirn.
»Sie war aufgeregt, sagten Sie?«
Sarina nickte. »Ja, Herr Doktor, sehr sogar. Ich habe ja nur vom Nebenraum aus mitbekommen, wie sie mit Gabi gesprochen hat, aber an ihrer Stimme konnte man unschwer heraushören, wie nervös sie war.«
»Schicken Sie sie herein«, entschied Dr. Daniel und stand gleichzeitig auf, um Stefanie ein paar Schritte entgegenzugehen.
Im nächsten Augenblick trat die hübsche junge Frau ein, und ein Blick in ihr Gesicht zeigte Dr. Daniel, daß Sarina nicht übertrieben hatte. Stefanie war buchstäblich am Boden zerstört.
»Na, Steffi, was ist denn los?« fragte Dr. Daniel in väterlichem Ton, während er beruhigend ihre Hände ergriff und festhielt. »Hast du Probleme mit Gerrit? Oder ist es einfach nur Angst vor der Hochzeit?«
Heftig schüttelte Stefanie den Kopf. »Keines von beiden, Herr Dr. Daniel. Ich glaube, ich bin schwanger!« platzte sie heraus, dann entzog sie ihm eine Hand und fuhr sich damit über die Stirn. »Das kann doch gar nicht sein, oder? Daniela ist erst ein halbes Jahr alt. Da kann ich doch nicht schon wieder…« Sie stockte.
»Setz dich erst mal, Steffi«, bat Dr. Daniel, dann nahm auch er Platz.
»Ich stille Daniela ja noch«, fuhr Stefanie fort, bevor Dr. Daniel weitersprechen konnte. »Und es heißt immer, stillen wäre so wie Empfängsnisverhütung.«
»Das stimmt«, antwortete Dr. Daniel. »Allerdings nur, solange du dein Baby mindestens fünfmal pro Tag anlegst. Das heißt, als du noch voll gestillt hast, kam das praktisch einer Empfängnisverhütung gleich. Aber vor gut einem Monat hast du angefangen abzustillen, und ich habe dir damals schon gesagt, daß du von diesem Zeitpunkt an verhüten mußt, wenn du nicht gleich wieder schwanger werden willst.«
»Ich habe seit der Geburt nicht ein einziges Mal meine Tage gehabt«, begehrte Stefanie auf.
»Das tut nichts zur Sache. Du bekommst deine Tage erst, wenn wieder ein Eisprung erfolgt. Wann das passiert, kann niemand vorhersagen.« Dr. Daniel erhob sich. »Jetzt wollen wir aber erst mal sehen, ob sich dein Verdacht überhaupt bewahrheitet.«
Stefanie seufzte. »Bestimmt, Herr Doktor. Es ist genauso wie bei Daniela. Ich spüre, daß ich wieder schwanger bin.«
Dr. Daniel, der das Zimmer gerade verlassen wollte, drehte sich an der Tür noch einmal um.
»Wäre das denn so schlimm?« wollte er wissen. »Ich meine… immerhin wirst du Gerrit nächste Woche heiraten und…«
»Ich weiß, was Sie sagen wollen«, fiel Stefanie ihm ins Wort. »Und Sie haben auch vollkommen recht. Ein zweites Kind wäre eigentlich kein Problem, aber… so schnell… irgendwie hatte ich noch gar keine Zeit, mich ein bißchen zu erholen. Ich stille noch – wenn auch nicht mehr voll, aber…« Sie seufzte noch einmal. »Und nun schon wieder eine Schwangerschaft…«
Dr. Daniel streckte eine Hand aus. »Komm mit, Steffi. Jetzt wollen wir erst mal sehen, ob dein Gefühl dich nicht vielleicht doch getrogen hat.«
Ergeben folgte Stefanie ihm ins Labor.
»Fräulein Sarina, nehmen Sie bitte einen Schwangerschaftstest vor«, bat er seine junge Sprechstundenhilfe. »Das Ergebnis bringen Sie dann bitte gleich zu mir ins Sprechzimmer.«
»Ist in Ordnung, Herr Doktor«, entgegnete Sarina, dann wandte sie sich mit einem freundlichen Lächeln Stefanie zu. »Sie kennen das Spielchen ja noch vom letzten Mal.«
»Ja, es ist noch nicht so lange her«, seufzte Stefanie.
Sie nahm von Sarina den Becher entgegen und ging auf die Toilette, dann kehrte sie in Dr. Daniels Sprechzimmer zurück. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis Sarina eintrat.
»Positiv«, erklärte sie und legte den Teststreifen vor Dr. Daniel auf den Tisch.
»Tja, Steffi, das bedeutet, daß dein Verdacht tatsächlich richtig war«, meinte Dr. Daniel und sah seine junge Patientin dabei prüfend an. »Wie wird es jetzt weitergehen?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich werde das Baby natürlich bekommen, das ist keine Frage.« Mit einer fahrigen Handbewegung strich sie eine Strähne ihres langen dunklen Haares zurück. »Nur… wie Gerrit reagieren wird…«
»Soll ich ihn ein bißchen vorbereiten?« fragte Dr. Daniel.
Stefanie nickte. »Da wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Sie senkte den Kopf. »Das sieht ja aus, als hätte ich vor meinem zukünftigen Mann Angst.«
»Unsinn, Steffi«, wehrte Dr. Daniel energisch ab. »Das hat mit Angst überhaupt nichts zu tun. Dieses zweite Baby war noch nicht geplant, und ich glaube, es wird auch für Gerrit ein kleiner Schock sein.«
*
Während Stefanie Metzler noch bei Dr. Daniel gewesen war, hatte sich das Wartezimmer allmählich gefüllt. Die Empfangsdame Gabi Meindl war schier am Verzweifeln. Anscheinend hatten sich sämtliche Frauen aus Steinhausen und Umgebung hier in der Praxis verabredet – und das ohne Termin.
Und schon wieder klingelte es an der Tür.
»Wenn die auch nicht angemeldet ist, dann kriege ich einen Schreikrampf«, knurrte Gabi in sich hinein, während sie den Türöffner betätigte.
»Guten Tag, Fräulein Meindl«, grüßte Anke Bergmann mit einem freundlichen Lächeln. »Ich habe für halb zehn einen Termin.«
»Sie kommen auch bestimmt pünktlich dran«, versprach Gabi, »obwohl im Wartezimmer eine wahre Invasion zu herrschen scheint.«
»Montags ist bei Dr. Daniel ja meistens die Hölle los«, meinte Anke. »Aber ich hab’s nicht eilig.«
»Das hört man in meinem Beruf nur selten«, entgegnete Gabi. »Die meisten Patientinnen möchten schon fertig sein, bevor sie die Praxis überhaupt betreten.«
Anke mußte lachen. »Lassen Sie sich den restlichen Vormittag über nicht mehr so stressen, Fräulein Meindl.«
»Ich werd’s versuchen«, meinte Gabi, dann sah sie Anke neugierig nach, die jetzt das Wartezimmer betrat.
»Die hat sich um hundertachtzig Grad gedreht«, erklärte sie ihrer Kollegin Sarina von Gehrau. »Wenn ich daran denke, wie ängstlich und verschüchtert sie war, als sie das erste Mal die Praxis betreten hat. Und dann die ewigen Probleme zu Hause.« Gabi winkte ab. »Ich weiß nicht mehr, wie oft sie bei Dr. Daniel Rat und Hilfe gesucht hat.«
»Ich glaube, sie hat es nicht leicht mit ihrem Schwiegervater«, erwiderte Sarina nachdenklich. »Nach allem, was ich bisher so gehört habe, muß dieser Martin Bergmann ein ekelhafter Mensch sein.«
»Das können Sie laut sagen«, bekräftigte Gabi. »Ich kenne ihn ja auch nur flüchtig, aber allein die Geschichten über die CHEMCO sprechen schon Bände.«
»Das Chemiewerk ist ja vielen ein Dorn im Auge«, entgegnete Sarina. »Ich finde übrigens auch, daß es überhaupt nicht hierher nach Steinhausen paßt. So ein hübscher Ort und dann dieses häßliche Werk mittendrin.«
Gabi zuckte die Schultern. »Gegen die CHEMCO wird man wahrscheinlich nichts ausrichten können, dazu ist sie einfach zu wichtig. Wenn die Fabrik geschlossen würde, dann wären an die hundert Leute arbeitslos. Außerdem ist es zu keinem Störfall mehr gekommen, seit der junge Bergmann die Leitung übernommen hat. Er geht mit Chemikalien nämlich weit verantwortungsbewußter um als sein Vater. Und seit die jungen Bergmanns aus der Villa des Alten ausgezogen sind, scheint auch ihre Ehe besser zu funktionieren. Na ja, kein Wunder. Martin Bergmann hat seine Finger überall drin, und ich denke nicht, daß er vor der Ehe seines Sohnes halt gemacht hat.«
»Es muß schrecklich sein, einen solchen Menschen zum Vater zu haben. Der junge Herr Bergmann kann zu ihm doch überhaupt nicht aufblicken, und dabei sollte ein Vater Vorbild sein für den Sohn.«
»Glücklicherweise hat sich der junge Bergmann seinen Vater nicht zum Vorbild genommen«, erwiderte Gabi trocken. »Ansonsten wären wir Steinhausener eines Tages alle von der CHEMCO umgebracht worden.«
*
Anke Bergmann mußte wirklich nicht lange warten, bis sie ins Sprechzimmer gerufen wurde. Dr. Daniel erhob sich bei ihrem Eintreten hinter seinem Schreibtisch und kam ihr mit einem herzlichen Lächeln entgegen.
»Nun, Frau Bergmann, wie fühlen Sie sich?« wollte er wissen.
»Gut, danke.« Sie streichelte über ihren Bauch, dem man die Schwangerschaft jetzt schon deutlich ansah. »Unser Kleines hier ist bei weitem nicht so lebhaft, wie Claudia es war. Sie hat mich manchmal so fest getreten, daß es richtig weh getan hat.«
Dr. Daniel schmunzelte. »Da sieht man mal wieder, daß sich der Charakter eines Menschen schon vor seiner Geburt zeigt.«
»Dann könnte es also sein, daß unser zweites Baby nicht ganz so quirlig sein wird wie Claudia?«
Dr. Daniel hörte die Hoffnung aus Ankes Stimme unschwer heraus und mußte erneut schmunzeln.
»Ja, Frau Bergmann, das ist durchaus möglich.« Er stand auf. »So, dann wollen wir uns mal vergewissern, daß es dem kleinen Wurm auch wirklich gutgeht.«
Doch die Untersuchung ergab keine Auffälligkeiten.
»Alles in bester Ordnung, Frau Bergmann«, erklärte Dr. Daniel dann auch und half der schwangeren jungen Frau vom Untersuchungsstuhl.
Glücklich strahlte sie ihn an. »Wenn mir das jemand vor drei Jahren gesagt hätte, hätte ich ihm kein Wort davon geglaubt.«
Dr. Daniel lächelte. Auch er erinnerte sich noch sehr gut daran, wie niedergeschlagen Anke Bergmann damals gewesen war, als sie das erste Mal in seine Sprechstunde gekommen war. Sie hatte unter schweren Eileiterverwachsungen gelitten, und Ärzte hatten ihr prophezeit, daß sie niemals ein Kind bekommen könnte. Zu allem Überfluß hatte Anke diese Tatsache ihrem Mann verschwiegen, so daß Rainer buchstäblich aus allen Wolken gefallen war, als er es schließlich doch erfahren hatte. Eine Weile hatte es so ausgesehen, als würde die Ehe der beiden daran zerbrechen, doch dann hatte Dr. Daniel helfend eingegriffen. Und seinem besten Freund, dem Mikrochirurgen Dr. Georg Sommer, war es dann sogar gelungen, die Verwachsungen operativ zu entfernen. Wenig später war Anke schwanger geworden und hatte ein Mädchen zur Welt gebracht. Die kleine Claudia war jetzt fast eineinhalb Jahre alt und würde in etwa zwei Monaten ein Geschwisterchen bekommen.
»Wie ich hörte, wollen Sie und Rainer noch in Urlaub fahren, bevor Ihre Schwangerschaft anfängt, beschwerlich zu werden«, erkundigte sich Dr. Daniel, während er Ankes Blutdruck kontrollierte.
Die junge Frau lächelte. »Steinhausen ist manchmal wirklich nichts anderes als ein Dorf. Jede Kleinigkeit spricht sich in Windeseile herum.«
Dr. Daniel schmunzelte. »Zum einen kenne ich Ihren Mann schon seit gut dreißig Jahren. Es hätte also durchaus sein können, daß er selbst es mir erzählt hätte. Und zum anderen ist Rainer mit Wolfgang Metzler befreundet, der wiederum Chefarzt der Waldsee-Klinik ist. Da auch ich gelegentlich dort verkehre…«
Anke lachte. »Gelegentlich ist gut. Immerhin haben Sie dort nicht nur Belegbetten stehen, sondern sind auch Klinikdirektor. Und Wolfgang konnte seinen Schnabel noch nie halten.«
»Das klingt, als würden Sie ihn schon ewig kennen, dabei ist es noch gar nicht so lange her, daß er erst wieder nach Steinhausen zurückgekommen ist.«
Da wurde Anke ernst. »Es ist schon seltsam. Ich kenne Wolfgang ja wirklich erst seit kurzer Zeit, aber er steht mir fast so nahe wie ein Bruder.« Sie lächelte. »Vielleicht, weil ich in seinem Auto beinahe entbunden hätte.«
»Claudias Geburt war recht aufregend«, stimmte Dr. Daniel zu. »Beinahe hätten wir die Sommer-Klinik nicht mehr rechtzeitig erreicht, aber diesmal kann in dieser Hinsicht nichts passieren. Ich nehme ja an, daß Ihr zweites Baby in unserer Waldsee-Klinik zur Welt kommt, und da brauchen Sie ja eigentlich nur zweimal umzufallen, wie man so schön sagt.«
Anke nickte. »Da haben Sie recht. Von unserem Haus bis zur Klinik ist es wirklich nur ein Katzensprung. Aber um auf unseren Urlaub zurückzukommen: Sie halten das doch nicht für bedenklich in meinem Zustand, oder?«