Wer andern eine Blume sät, blüht selber auf – ein heiterer Roman über Neuanfänge im Alter, wahre Freundschaft und die Freuden des Gärtnerns Ariane van Endert ist ein Drache. Ein reicher Drache – bis ihr Stiefsohn große Teile ihres Vermögens durchbringt. Notgedrungen nimmt sie einige Untermieter in ihrer Villa auf: eine junge Studienabbrecherin ohne Perspektive, eine chaotische Rentnerin mit Stoffhund und einen Pianisten, der seit Jahren kein Klavier mehr angefasst hat. Ariane hofft sehr, ihre neuen Mitbewohner bald wieder loszuwerden, und macht ihnen das Leben schwer. Dann aber sind auch die letzten Reserven ausgegeben, und sie droht ihr Haus zu verlieren. Wo soll sie nun bleiben? Zum Glück hat ihr Schwager eine Idee: Wie wäre es, wenn sie zusammen auf einen abgelegenen Bauernhof in den Schwarzwald zögen und unter die Selbstversorger gingen?
Ellen Jacobi, 1960 am Niederrhein geboren, entdeckte als Tochter einer Bibliothekarin und Märchenbuchsammlerin früh ihre Liebe zu Büchern und zum Geschichtenerzählen. Nach einem Literatur- und Anglistikstudium arbeitete sie als Reiseleiterin und Lehrerin in England. In Deutschland war sie als Redakteurin für Tageszeitungen und Magazine tätig. Heute lebt Ellen Jacobi mit ihrer Tochter in Köln. In ihren Regionalkrimis sorgen die Privatermittler Lothar E. Schuknecht und Veronika Dornbusch-Bommelbeck im Bergischen Land für Ordnung. In ihren beliebten Rentner-Romanen suchen und finden jung gebliebene Senioren das Glück.
Ohne
RENTNER
geht hier nichts
Roman
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Copyright © 2021 by Ellen Jacobi
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Dr. Stefanie Heinen
Titelillustration: © Ommo Wille
Umschlaggestaltung: Thomas Krämer
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0385-7
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Harry G. in liebevollster Erinnerung
Der Jugend scheint es immer höchst merkwürdig,
dass die Älteren auch einmal jung waren.
von unbekannt
Jeder trägt die Keime zu allen menschlichen Eigenschaften in sich, von denen mitunter die einen und mitunter die anderen stärker in Erscheinung treten und den betreffenden Menschen, der doch ein und derselbe geblieben ist, kaum wiedererkennen lassen.
Lew N. Graf Tolstoi »Auferstehung«
Dr. Klaus Kantereit lenkt seinen Mercedes auf vier Ulmen am Ende einer menschenleeren Villenstraße zu. Unwillkürlich drosselt er die Geschwindigkeit. Der Anblick der penibel gepflegten Baumkronen weckt in ihm Unbehagen und den Wunsch umzukehren.
Das majestätische Ulmenquartett zählt zu den vielen über hundert Jahre alten Bäumen, die die noblen Alleen des Viertels säumen. Nur wenige stehen allerdings derart stramm, sind in so präziser Staffelung gepflanzt. Motto: Hier tanzt niemand aus der Reihe.
Nun, er schon. Von Kindesbeinen an.
Kantereits Miene wird grimmig. Zum Henker! Selbst Bäumen hat man vor meinem Elternhaus nie freie Selbstentfaltung gestattet, erregt er sich stumm, während er den Ulmen näher kommt. Mittlerweile im Schritttempo. Seine vermaledeite Schwägerin Ariane hält an der Tradition eisern fest. Natur scheint ihr verhasst.
Unter dem Regime der schwarzen Witwe werden die Ulmen noch energischer zurechtgestutzt. Die gezähmten Kronen dürfen sich erst in beträchtlicher Höhe entfalten. Kein vorwitziger Ast hat die Chance auf Wildwuchs, aneinanderliegende oder sich kreuzende Zweige werden radikal herausgeschnitten, Gabelungen und Wurzel- oder Seitentriebe unterbunden, denkt er sich in Rage. Ginge es allein nach Ariane, würde sie die Bäume womöglich in kubistische Kunstobjekte verwandeln und die Kronen in Würfelform schneiden lassen.
Wie auch immer: In natura sieht so keine Ulme aus. Wer den astfreien Stamm eines der getrimmten Baumriesen erklimmen wollte, fände keinen Halt, bräuchte Steigeisen und Sicherungsseile, kurz: die Ausrüstung eines Baumkletterers – oder die eines Profi-Einbrechers.
Vor über sechzig Jahren hat er als Junge nächtens oft versucht, diese Ulmen zu erklimmen, um nach verbotenen Ausflügen in die Villa Kantereit – eine Kaserne der kalten Herzen – zurückzukehren. Angetrieben von der rasenden Angst vor drastischen Strafen. Stets ist er gescheitert.
Selbst Indianer-Harry, Spitzname Chingachgook, sein bester Freund und verwegener Blutsbruder aus dem benachbarten Professorenviertel und wie er Fan von Coopers Lederstrumpf-Romanen, hat sie nie bezwungen. Junge, der konnte klettern wie ein Eichhörnchen! Oder, besser gesagt, er konnte klettern wie ein Puma, sein selbst gewähltes, sprungkräftiges Totemtier.
Gelernt hat Harry das Klettern und Kraxeln im Schwarzwald, in den Sommerferien, die er stets bei seinem kernigen Großonkel verbrachte. Wie heiß hat Kantereit seinen Freund um den beneidet! Muss ein knorriger Sonderling gewesen sein, der seinem Neffen ungeheuer interessante Dinge wie Wildschweinzähne, Hasenpfoten und sogar ein selbstgenähtes Hirschlederhemd mit Hornknöpfen zu schenken pflegte. Zu solcher Verwandtschaft konnte man Harry nur beglückwünschen, erst recht als neunjähriger Indianerfan.
Zurück zum eigentlichen Thema, seiner heutigen Mission in der Villa seiner Eltern, die zuletzt sein verstorbener Bruder Josef bewohnt hat und nun dessen Witwe Ariane. Kantereit reckt angriffslustig das Kinn. Heute wird er keine aussichtslosen Umwege über die Bäume nehmen, um hineinzugelangen. Heute wird er durch das geflügelte Haupttor ins Haus gehen. Müssen.
Sein Kampfgeist knickt leicht ein.
Oh, wie sehr Ariane es genießen wird, ihn als Bittsteller zu empfangen! Kantereit stoppt den Wagen unter der Ulme am Rand des Bürgersteigs, der hier Trottoir heißen sollte, so stinkend vornehm ist die Gegend.
Was seine junge Beifahrerin wohl von dieser Straße und von ganz Marienburg, Kölns exklusivster und mutmaßlich teuerster Wohnadresse, hält? Verstohlen streift Kantereits Blick Fenja Frankowiaks Profil, registriert durch ihren Haarvorhang aus perlenklimpernden Flechtzöpfen, dass sie Stirn, Nase und die beringten Augenbrauen voll Missmut runzelt. Kein Wunder. Zwischen Marienburg und ihrem Kölner Heimatviertel auf der anderen Rheinseite, einem sogenannten sozialen Brennpunkt, liegen Welten.
Die er nichtsdestotrotz heute zusammenbringen will. Ein Vorhaben, das nicht scheitern darf. Und Fenja ist nur der Anfang des Unternehmens. Es gibt da noch zwei, drei andere Ex-Patienten, denen er mit Hilfe von Ariane wieder in den Sattel helfen will. Fenja steht aus persönlichen, sehr persönlichen Gründen ganz oben auf seiner Liste. Noch einmal streifen Kantereits Augen die junge Frau. Na prima, sie wirkt regelrecht angewidert.
Lediglich von dem ihr unbekannten Villendistrikt? Von ihm? Oder von seiner Idee, ihr einen Job zu vermitteln, den er bislang lediglich vage umreißen durfte? Er kann nur raten. Fenjas abweisender Gesichtsausdruck ist seit ihrer Abfahrt in Köln-Kalk auf der anderen, der »falschen« Rheinseite – oder der »Schäl Sick« wie es in Köln abwertend heißt – unmissverständlich.
Sprich mich ja nicht an, du mieser Verräter!, sagt ihre Miene. Sie trägt diese Miene ihm gegenüber bereits seit einem halben Jahr zur Schau. Wird das Mädchen ihm denn nie verzeihen?
Stumm seufzend dreht Kantereit den Schlüssel im Zündschloss, sein betagter Mercedes dieselt gemächlich aus. Er zupft die Manschetten seines Maßhemdes zurecht, streicht die Aufschläge seines Jacketts glatt, ordnet sein eisgraues Haar, das er halblang und exakt geschnitten trägt. Optisch muss zumindest bei ihm alles stimmen.
Das tut es auch, tut es immer, denn er legt Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild, hat dem Parker- oder Hippiestil der 68er-Generation – seiner Generation – nie etwas abgewinnen können. Eine Herkunft wie die seine bleibt halt nicht in den Kleidern hängen – oder, nun ja, eben doch. Immerhin dürfen die halblangen Haare als Zeichen seines wahren, seines rebellischen Charakters durchgehen.
Durch das offene Fahrerfenster wehen Mailuft und Vogelgesang ins Wageninnere und dazu herrliche, fast vollkommene Stille. Keine feindselige Stille wie im Wageninneren.
Und jetzt? Muss er abwarten.
Genau, er wird Fenja ein wenig Zeit geben, sich an die Umgebung zu gewöhnen, in der sie für eine Weile leben, wohnen und arbeiten soll. Kantereit riskiert einen Blick auf die Armbanduhr. Zwanzig Minuten haben sie noch bis zu ihrem Vorstellungstermin bei Ariane. Jemine, er kann Fenjas Widerwillen gegen diese Aktion ja nachvollziehen. Schließlich ist auch ihm Marienburg aus tiefstem Herzen zuwider.
Natürlich nicht der malträtierten Ulmen wegen, ruft er sich zur Vernunft. Das wäre hochgradig albern. Auch die hochherrschaftliche Gründerzeitbebauung zu beiden Seiten der Allee ist – soweit hinter hohen Mauern und Zäunen überhaupt sichtbar – architektonisch betrachtet eine Augenweide. Unzählige Häuser stehen unter Denkmalschutz. Zu Recht.
Viel mehr Menschen sollten so leben können. Umgeben von friedlichem Grün, in luftiger Weite und in ansprechenden Häusern. Ginge es nach ihm – alle.
Eigentlich müsste dieses einzigartige Bauensemble Fenjas Interesse wecken, schließlich hat sie mehrere Semester Architektur absolviert, nebenher Vorlesungen in Kunstgeschichte gehört, zählte zu den Jahrgangsbesten. Alles lief gut, bis sie das Studium vor Kurzem sang- und klanglos abgebrochen hat, alles hingeworfen, was sie sich mühsam errungen, was sie begeistert hatte.
»Und wenn ich später nur eine einzige Garage planen und bauen darf, bin ich glücklich«, hat Fenja zuvor immer behauptet. Von diesem Enthusiasmus ist wenig geblieben. Ihr Wissensdurst scheint verdunstet, ihr Bildungshunger gestillt und am allerschlimmsten: Jeder Funken Fröhlichkeit ist verflogen.
Fenja war – allem Unbill in ihrer bescheidenen Kindheit und den heiklen Jugendjahren zum Trotz – zumeist ein fröhliches, blitzgescheites, willensstarkes Mädchen. Und so voller Leidenschaft. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog sie das durch. Voller Entdeckergeist und Experimentierfreude. Zuweilen mit etwas zu viel Experimentierfreude und Willenskraft.
Alles vorbei.
Nicht zuletzt meinetwegen, schlägt Kantereit das Gewissen. Dumme Geschichte, saudumme Geschichte. Ja, er ist schuldig im Sinne ihrer Anklagen. Er hat Fenja belogen oder – nein, das stimmt nicht, er hat ihr lediglich in einem entscheidenden Punkt die unschöne Wahrheit vorenthalten. Aus gutem Grund und wegen eines Versprechens gegenüber Fenjas Mutter. Eines für ihn heiligen Versprechens, das er freiwillig nie gebrochen hätte.
Davon mal ganz abgesehen müsste Fenja anerkennen, dass die Villen ringsum von baulicher Meisterschaft und echtem Kunstsinn zeugen. Genau wie der nahe, denkmalgeschützte Park mit alten Fichtenbeständen, einer anmutigen Pantherskulptur, geschwungenen Wegen und lauschigen Bänken, die ihn selbst an erste – ebenfalls verbotene, weil unpassende und umso aufregendere – Rendezvous erinnern. Die kecken Mädchen von der Waggonfabrik waren einfach unwiderstehlich. So lebendig, so fröhlich, so wagemutig.
Für Sekunden ploppen magische Erinnerungen auf. An mondschwangere, sternentrunkene Nächte im Park, in denen er sich dem Himmel ganz nah fühlte. Okay, auch deshalb, weil nicht nur die Sterne und die Nächte trunken waren.
Und überhaupt, wen will er hier von den Schönheiten des Viertels überzeugen? Er kann Fenja doch verstehen, er fühlt sich auch nicht zuhause in Marienburg. Hat er nie, er ist lediglich hier aufgewachsen und geboren. Vor siebzig Jahren. Das ist und war nicht lebensbestimmend für ihn – basta.
Tja, na ja, beschleichen Kantereit sofort berechtigte Zweifel: Einer Herkunft wie der seinen entkommt man – siehe Kleidung – natürlich nie ganz. Genauso wenig wie dem Namen Kantereit, der einprägsam, weil selten und in Kölns bester Gesellschaft nicht ohne Bedeutung ist. Ein Kantereit bleibt in den Augen dieser Gesellschaft ein Kantereit, ein Gestolperter, ein schwarzes Schaf, ein unverbesserlicher Störenfried vielleicht, aber eben ein Kantereit. Gleichgültig, wie man sich selbst bemüht, ein anderer, sein eigener Mensch zu werden.
Und er hat sich bemüht. Unermüdlich. Als sozial engagierter Hausarzt in Kölner Problemvierteln, als Mensch, als Mann, als Liebender, als väterlicher Freund und als kämpferischer Beschützer so manches Patienten. Mit wechselhaftem Erfolg und schmerzlichen Patzern.
Stichwort Fenja.
Wieder stiehlt sich Kantereits Blick zu seiner Beifahrerin. Fenja sieht heute weniger denn je so aus, als wollte sie von ihm beschützt werden. Oder gar gerettet. Oder – auch das war einmal im Gespräch – von ihm adoptiert werden. Diese Zeiten sind vorbei. Diesmal endgültig, wie es scheint.
Er muss seine Schuld wiedergutmachen. Fenja darf nicht alles hinschmeißen, ihre Zukunft wegwerfen, ihren Traum aufgeben, für den sie und noch mehr ihre Mutter so hart gearbeitet haben. Ein Studium. Verdammt, Fenja ist Elenas Kind, und Elena hätte nie, niemals aufgegeben!
Das Mädchen – nun ja, genauer gesagt ist Fenja mit vierundzwanzig Jahren eine junge Frau – schweigt weiterhin. Was für ein Schlamassel! Um sich abzulenken, hält sich Kantereit mangels Gesprächsmöglichkeiten selbst die kleine Vorlesung zur Architektur- und Sozialgeschichte des Viertels, die er für die Hinfahrt und für Fenja geplant hatte.
Die um 1900 unweit des südlichen Rheinufers entstandene Gartenvorstadt Marienburg war ein Arkadien für die damalige Hautevolee. Vergleichbar mit Berlins Grunewald und Münchens Grünwald, bestehend aus pompösen Prachtvillen, zunächst im englischen, teils amerikanischen Landhausstil, von denen einige wenige noch komplett erhalten sind. Samt Remisen, umgenutzten Wirtschaftsgebäuden, imposanten Auffahrten. Meist verborgen hinter hohem Mauerwerk, schmiedeeisernen Zäunen, Efeugewucher und auf parkartigen Grundstücken gebaut.
Einige Villen stellen sich weniger diskret ummauert zur Schau: mit Jugendstilelementen, im von Goethes Weimar inspirierten Neoklassizismus samt Stuckwerk und dorischen Säulen oder im neugotischen Burgenstil komplett mit Türmchen, Erkern, Zinnen und heimattümelndem Fachwerk. Die Bauherren solcher Schaustücke – unter anderen sein Ururgroßvater – waren nicht selten Pioniere, Aufsteiger und Selfmademillionäre der Gründerzeit. Zu ihnen gehörten frühe Dampfkesselproduzenten, Großbrauer, Zuckerbarone, Kaffeeröster, erste Chemieunternehmer, Kolonialwarengroßhändler, geniale Maschinenbauer und Erfinder wie Eugen Lange, der mit dem väterlichen Vermögen die Schwebebahn entwickelte und mit den Herren Daimler und Benz erste Gasmotoren konstruierte. Andere kamen als soziale Seiteneinsteiger hinzu. So wie sein ferner Ahne Ferdinand Kantereit, der zum international agierenden Frachtgut-Spediteur aufgestiegen war.
Bescheidenheit hielt Ferdinand, der es vom Schiffsjungen auf einem Rheinfrachtdampfer zum König der grenzübergreifenden Flussschifffahrt gebracht hatte, für affektiert und reine Zeitverschwendung. Voll kindlichem Stolz huldigte er dem Motto »Seht her – hier wohnt ein reicher Mann«. Am Ende seines Lebens war er dank sozialer Stiftungen, die er vor allem zwecks Steigerung seines gesellschaftlichen Ansehens ins Leben rief, wie Kantereit argwöhnt, sogar ein Herr Kommerzienrat. Von Pestalozzis Diktum, man dürfe soziale Gerechtigkeit nie im »Mistloch der Gnade ertränken«, hat Ferdinand sicherlich nie gehört.
Noch offensichtlicheren Prunk als Ferdinand pflegten direkt am Rheinufer der einflussreiche Banken- und Geldadel und die kölschen Klüngelexperten der Epoche. Dort entstanden wahre Paläste, in denen selbst Kaiser Wilhelm und andere Reichsgrößen gern zu Gast waren und später dann diverse Adlaten und Speichellecker der Nazis. Oh ja, dieses Kapitel wurde auch in Marienburg nicht ausgelassen, und …
Neben ihm erwacht Fenja zum Leben. Räuspert sich. Na endlich!
»Und das nennst du ’ne Prunkvilla?«, fragt Fenja halb verächtlich, halb vorwurfsvoll und deutet auf das hübsch geschwungene schiefergedeckte Walmdach, das rechterhand über Zaunspieße lugt. Der rote Backsteinkorpus des Gebäudes verbirgt sich hinter einer hohen – ebenfalls penibel getrimmten – Buchsbaumhecke direkt hinter dem Schmiedezaun. »Deinen Beschreibungen nach habe ich mir das Haus deiner Schwägerin als ’nen Palazzo Prozzo des schlechten Geschmacks ausgemalt.«
Kantereit muss unwillkürlich schmunzeln. Treffer! »Palazzo Prozzo des schlechten Geschmacks« passt haargenau zur Villa Kantereit. Das Dach, auf das Fenja deutet, gehört jedoch nicht zu den stilistischen Verirrungen seines Ururgroßvaters Ferdinand. Im Gegenteil. Das Pförtnerhäuschen ist eine rare Kostbarkeit, die nicht sein Ururgroßvater, sondern dessen Sohn und damit Kantereits Urgroßvater Carl Ferdinand hat bauen lassen, um von den optischen Schwächen der Villa abzulenken. Er hat ein komplettes Grundstück hinzugekauft und einen Park darauf anlegen lassen, um die missratene Villa zu verstecken.
»Was du von hier aus sehen kannst«, erklärt Kantereit laut, »ist lediglich das Dach vom alten Pförtnerhaus, ein Gebäude von 1908 nach Ideen von Paul Pott.« Mit anderen Worten: Die Idee war von Pott geklaut. Gut geklaut, das immerhin. Er macht eine Pause, um den Namen wirken zu lassen. Pott zählte und zählt zu den berühmtesten, auch international bekannten Architekten Kölns und der Villenkolonie. Fenja muss von ihm gehört haben. Hm, trotzdem scheint sie nicht beeindruckt. »Darin lebten bis Mitte der Sechzigerjahre Gärtner oder Chauffeure«, ergänzt Kantereit.
»Nein, wie gnädig!«, schnaubt Fenja. »Das Personal durfte also allzeit bereit und umwabert von Öl- und Benzingestank über der Garage wohnen? Nice.« Wieder verfällt sie in Schweigen. Vorwurfsvolles Schweigen.
Zum Teufel, jetzt schlägt das Kind mich glatt mit meinen eigenen Waffen und Sozialkritik!, ärgert sich Kantereit. Was sagt man dazu? Besser nichts oder doch.
»In der Tat lebten die Chauffeure oder Gärtner nur unter dem Dach des Baus und recht beengt, aber für damalige Verhältnisse nicht schlecht«, erklärt er. »In der Hierarchie des Personals standen sie vergleichsweise weit oben, und gemessen an den Lebens- und Arbeitsverhältnissen von damaligen Fabrikarbeitern ging es ihnen gut.«
»Pah«, macht Fenja nur und greift ihr finsteres Schweigen wieder auf.
Besser, er belässt es bei dieser kurzen Verteidigung der Lebensbedingungen des Kantereit-Personals um 1900. Wenn Fenja wüsste, wie die Küchenmädchen im dunklen Souterrain des Küchentrakts schuften mussten und untergebracht waren …
Wie auch immer. Der Hauptteil des Pförtnerhauses mit seiner meterhohen Balkendecke war selbstredend für die Kutsche und einen offenen Landauer, später für den ersten Mercedes Simplex seines Urgroßvaters Carl Ferdinand reserviert. Ein Automobil im Wert von etwa acht zeitgenössischen amerikanischen Cadillacs, die auch nicht eben billig waren. Diverse luxuriöse Nachfolger lösten den Simplex über die Jahrzehnte bis heute ab. Ariane besitzt einen Porsche Cayenne und hat überdies den neuesten Mercedes CLS ihres verstorbenen Mannes geerbt.
Oh ja, an statusträchtigen Automobilen wurde im Kantereit-Clan nie gespart. Zu seiner Schande, das muss Klaus Kantereit einräumen, hat sich das familientypische Faible für Mercedes-Modelle auf ihn überragen. Immerhin, der seine ist gebraucht, nur ein Diesel und bald ein Vierteljahrhundert alt. Dass er immer noch läuft, hat er seinem findigen türkischen KFZ-Mechaniker in Kalk zu verdanken. Ein Mann, der sich aus bescheidenen Verhältnissen hochgearbeitet hat, Mercedes-Modelle ebenfalls schätzt und selbst fährt, rechtfertigt sich Kantereit vor sich selbst.
Unvermittelt meldet sich Fenja zu Wort. »Und wo wohnt dann deine grässliche Schwägerin?«, will sie wissen. »Diese Ariadne, oder wie die heißt.«
»Sie heißt Ariane, bitte vergiss das nicht, und sprich sie nur mit ihrem Nachnamen an. Frau van Endert.«
»Wieso denn ›van Endert‹?«, wundert sich Fenja. »Müsste sie nicht Kantereit heißen wie dein toter Bruder?«
»Sie zieht ihren Geburtsnamen vor«, antwortet Kantereit knapp, und dankenswerterweise hakt Fenja nicht nach. Besser ist das, denn allzu viel sollte sie über seine in der Tat grässliche Schwägerin Ariane und ihren wahren Charakter nicht wissen, sonst steigt sie im Leben nicht aus dem Auto aus. Noch weniger würde Fenja einen Job plus Unterkunft bei der eingebildeten, verlogenen Witwe seines älteren Bruders annehmen.
Auf das »van Endert« legt Ariane enormen Wert – so viel Wert, dass sie den Namen Kantereit nach dem Tod ihres Mannes sofort abgelegt hat, wie sie auch die Namen ihrer zwei vorangegangenen Ehemänner nach deren Ableben gegen ihren Geburtsnamen getauscht hat. Ariane gibt das als feministisch inspirierten Akt und sich selbst als emanzipierte Frau aus. »Ich bin kein bloßes Anhängsel, sondern ein eigenständiges Wesen«, wird sie nicht müde zu betonen.
Eine ziemlich dreiste Behauptung, wenn man bedenkt, dass Ariane van Endert sich ihr komplettes Leben und ihren Reichtum erheiratet hat. Und das in Serie, nämlich gleich dreimal hintereinander.
Klaus Kantereit macht diese berechnende Aufsteigerin nichts vor. Van Endert soll Adel andeuten, obwohl Ariane so adlig wie ein belgisches Brauereipferd oder holländischer Käse sein dürfte. Das »van« stammt von irgendwelchen niederländischen oder belgischen Vorfahren, ist ein ortsanzeigendes Fürwort, mehr nicht. Sie ist auch mit keiner der vielen Linien einer gleichnamigen flämischen Tuchhändler-, Fabrikanten- und Künstlerdynastie verwandt.
»Muss ich einen Knicks vor der Tante machen?«, fragt Fenja aufmüpfig in seine Gedanken hinein.
Kantereit schüttelt den Kopf, und Fenja wendet ihm erstmals ihr Gesicht zu. Ein sehr hübsches Gesicht, wie Kantereit findet: breitflächig mit hohen slawischen Wangenknochen und den blitzenden haselnussbraunen, leicht schrägstehenden Augen ihrer Mutter.
Ihrer toten Mutter Elena.
Ach, Elena. Ein stechender Schmerz durchzuckt Kantereit. Auch wenn es bald zehn Jahre her ist, dass die größte, vielleicht einzig wahre Liebe seines Lebens gestorben ist, es schmerzt noch immer, wird immer höllisch schmerzen.
Elena war mit ihren fünfundvierzig Jahren um viele Jahre zu jung zum Sterben, und die zu diesem Zeitpunkt vierzehnjährige Fenja war zu jung, um ihre Mutter zu verlieren. Leider war Elena medizinisch nicht zu helfen. Quasi auf ihrem Totenbett und kurz vor ihrem letzten Atemzug haben sie noch die Ringe getauscht, waren für wenige Tage Mann und Frau, aber der Tod kannte kein Erbarmen. Sein Schmerz war unbeschreiblich. Noch größer war der von Fenja. Sie geriet damals vorübergehend heftig aus der Spur, lief einfach weg und –
»Hallo? Jemand da?«, meldet Fenja sich unvermittelt zu Wort. »Verrat mir bitte endlich, was ich in der Villa und für deine Schwägerin erledigen soll. Putzen, waschen, kochen, abstauben? Hecken schneiden? Schoßhunde Gassi führen? Unterwürfig Händchen halten?«
»Unsinn! Wo denkst du hin, Ariane hasst Hunde«, erregt sich Kantereit – diesmal ein wenig künstlich. In Wahrheit ist er überaus froh, dass Fenja endlich einen Funken von Interesse am avisierten Job zeigt. »Du wirst als eine Art persönliche Assistentin für Ariane arbeiten.«
»Aushilfstippse mit Lizenz zum Kaffeekochen, meinst du wohl?«
»Weit mehr als das. Ariane will ihre diversen Kunstobjekte katalogisieren, um Herkunft und Wert danach von einem Gutachter bestimmen zu lassen und einiges zu veräußern. Sie bietet dir also eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe. Es handelt sich um Erbstücke ihres verstorbenen zweiten Ehemanns. Wolfram Eschberg war ein renommierter Münchner Auktionator und Galerist.«
Bei dem leider auch sein Bruder Josef Kunde war. Auf der Suche nach sicheren Anlageobjekten. Gefunden hat er dabei Ariane oder besser: sie ihn. Wie auch immer. »Du musst von ihm gehört haben«, beendet er seine Ausführungen zu Eschberg.
»Nö«, sagt Fenja und beginnt wieder zu schmollen.
Hoffentlich stimmt das »Nö«, denn Eschberg war mutmaßlich ein Millionen-Betrüger, der auch mit Fälschungen und Werken zweifelhafter Provenienz gehandelt hat. Angeblich unwissentlich. Presse, Funk und Fernsehen waren über ein Jahr voll von Eschberg-Schlagzeilen. Journalisten haben sich köstlich über dessen erstaunliche Dreistigkeit und über die noch erstaunlichere Dummheit einiger Sammler und sogar Museen amüsiert. Einem gerichtlichen Verfahren ist Wolfram Eschberg nur dank eines tödlichen Schlaganfalls entgangen. Sicher zu Arianes immenser Erleichterung, die sich im Zuge der Enthüllungen von Eschberg distanziert hatte und sich als »arme, verfolgte, schutzlose Witwe« sodann Kantereits Bruder als Gatten Nummer drei sichern konnte.
Nein, darüber muss Fenja nichts wissen. Gott bewahre, gerade von kriminellen Machenschaften im Dunstkreis ihrer Arbeitgeberin sollte sie keine Ahnung haben.
Hauptsache ist, dass Fenja erst einmal eine Bleibe und ein Auskommen hat und sich nicht weiter aus Trotz und verletztem Stolz in eine soziale Absteigerrolle hineinmanövriert. Ihre Eskapade als vierzehnjährige Ausreißerin war schlimm genug, hätte sie das Leben kosten können, wenn er sie damals nicht rechtzeitig gefunden hätte. Völlig abgemagert und mit einer schweren Nierenbeckenentzündung in einem unbeheizten Bauwagen hausend. So etwas will er mit ihr nicht noch mal durchmachen.
Kantereit reißt sich mit Macht aus der Vergangenheit. »Also«, sagt er betont munter, »wollen wir?« Er tastet nach dem Türöffner auf seiner Wagenseite.
»Wir? Du hast sie ja nicht alle!«, fährt Fenja auf. »Ich gehe allein da rein, und ich entscheide allein, ob ich diesen sogenannten Job mache.« Voll Misstrauen runzelt sie die Stirn. »Ich nehme an, insgeheim bezahlst du dieses ganze Tralala mal wieder? Aufgrund deines großzügigen Herzens? Willst du noch immer meinen gütigen Ersatzpapa spielen? Oder nutzt du das Erbe meines ehrenwerten Vaters dazu?«
Womit das Thema kriminelle Machenschaften wieder auf dem Tisch wäre. Diesmal geht es nicht um internationalen Kunsthandel, sondern um den osteuropäischen KFZ-Markt. Fenjas Vater war auf diesem Geschäftsfeld zeitweise eine große Nummer – sofern er nicht gerade im Knast saß. Wovon Fenja jahrelang nichts, gar nichts gewusst hat. Ihr Vater war für sie ein Unbekannter, ein verwegen lächelnder, attraktiver junger Mann auf einem Foto, der wenige Monate nach ihrer Geburt angeblich bei einem Autounfall verstorben war und ihr nicht viel mehr als ihren Nachnamen – Frankowiak – und die Form seiner schmalen Nase hinterlassen hatte.
Seit sechs Monaten weiß Fenja es – dank ihm – besser.
»Gib zu, du hast das Drecksgeld, das mein sauberer Vater mir hinterlassen wollte, auf irgendeinem Konto für mich geparkt!«, wütet Fenja neben ihm.
Kantereit hebt abwehrend die Hände. Verdammt, er hätte ihr nie von ihm erzählen, sein Versprechen gegenüber der todkranken Elena halten sollen, diesen sogenannten Vater totzuschweigen, so wie sie es immer getan hatte. Nie hätte er Fenja sagen sollen, dass dieser keineswegs verunfallte König der Autodiebe drei Jahre nach Fenjas Geburt aus der Ferne und dem Knast einen Kiosk für Elena finanziert hat. Mit sicher fragwürdigen Einkünften und als kleine Wiedergutmachung oder um Schwarzgeld zu waschen, wer weiß das schon. Elena hat ihm den kleinen »Kredit« jedenfalls über die Jahre mit sauberem Geld und Zinsen zurückgezahlt.
Ach, hätte er nur von alldem geschwiegen.
Aber was zum Teufel blieb ihm übrig? Dieser vermaledeite Knastbruder hatte ausgerechnet ihn – als Elenas Ehemann – ungefragt als Testamentsvollstrecker bestimmt. Kurz vor seinem tatsächlichen Tod. Nicht im Knast, sondern in einer spanischen Villa. Fenja hatte selbstredend Fragen, viele Fragen, als sie vor sechs Monaten vom zweiten, diesmal echten Ableben ihres Vaters und dessen Testament erfuhr.
»Wo denkst du hin!«, verteidigt sich Kantereit jetzt. »Dein Erbe habe ich deinen Wünschen gemäß dem Weißen Ring gespendet.«
»Und das soll ich dir glauben, nachdem du und Elena mich ein Leben lang nach Strich und Faden über meinen verschwundenen Vater belogen habt«, schnaubt Fenja.
Kantereit schließt kurz und verzweifelt die Augen. Wird sie ihm – und wichtiger noch: ihrer Mutter – denn niemals verzeihen? Ja, Elena war nicht die Heilige, für die Fenja sie als Kind gehalten und als die sie sie abgöttisch geliebt hat, aber sie hat sich und ihr Kind doch lediglich ernähren und beschützen wollen, darum das Geld für den Kiosk anstelle von Unterhaltszahlungen genommen und den Deal für sich behalten. Egal, jetzt ist es nicht an der Zeit, diese elende Geschichte auszudiskutieren. Soll Fenja nur wütend sein, ihr Leben muss trotzdem in vernünftige Bahnen zurückgelenkt werden.
»Glaub mir«, sagt er energisch. »Ariane braucht wirklich Hilfe. Bezahlte Hilfe. Es gibt reichlich zu tun.« Zeit für seinen fettesten Köder. »Du wirst auch eine Menge alte Akten, Baupläne und architektonische Urkunden heraussuchen, ordnen und sichten müssen. Noch wichtiger als die Kunstobjekte ist für Ariane nämlich die zügige Vorbereitung eines wissenschaftlichen Wertgutachtens für die Villa.«
Die das gierige, gewissenlose Weibsstück genau wie ihre zweifelhaften Kunstobjekte so rasch und teuer als möglich verkaufen will, um in New York ein neues, möglichst noch luxuriöseres Leben zu beginnen – samt Wochenendhaus nahe den Hamptons, dem Mekka für US-Millionäre. Ach was, für Milliardäre oder Zilliardäre wie Calvin Klein, die Kardashians, Jennifer Lopez oder Beyoncé. Kantereit hat das im Internet recherchiert. Die Namen dieser angeblichen Superpromis waren ihm überwiegend unbekannt. Wenn man Ariane trauen kann, steht sie kurz vor einem Abschluss, gleich drei US-Milliardäre sollen sich für die Villa interessieren.
Wie auch immer. Arianes soziale Selbstüberschätzung kennt ohnehin keine Grenzen nach oben. Und ausgerechnet ein Stiefsohn aus ihrer Galeristenehe – ein überaus erfolgreicher, aber in Kantereits Augen windiger Investmentbanker an der Wallstreet – soll als Arianes Vermögensverwalter ihren finalen Aufstieg und Umzug ermöglichen. Pah! Dem Kerl würde er nicht mal so weit trauen, wie er seinen Kühlschrank werfen kann.
Nun, wahrscheinlich hat Ariane dank Wolfram Eschberg gelernt, dass Verbrechen sich auszahlt, so man es im ganz großen Stil und unter Millionären betreibt und nicht auf dem osteuropäischen KFZ-Markt. Aber darum geht’s jetzt nicht.
»Ich habe Ariane von deinen Vorkenntnissen und deinem, ähm, unterbrochenen Architekturstudium erzählt.«
»Du meinst meinem abgebrochenen Studium«, korrigiert Fenja ihn gereizt. »Ich gehe nicht mehr an die Uni zurück.«
Klaus Kantereit übergeht ihren Protest, sagt nur: »Ariane war sehr beeindruckt.«
Zumal sie Fenjas Fleißarbeit umsonst bekommt, denn natürlich wird er für den Lohn aufkommen müssen. Seine Schwägerin ist eine Pfennigfuchserin. Sie hält es mit den goldenen Worten des Kölner Bankiers und Adenauer-Vertrauten Pferdmenges: »Wir haben unser Geld nicht vom Ausgeben, sondern vom Behalten.«
Würde Ariane die geplante Aktensichtung und die ermüdenden Vorbereitungsarbeiten direkt den Sachverständigen oder deren Praktikanten überlassen, wären äußerst saftige Honorare fällig.
»Auch von meinen Eltern?«, hakt Fenja mit provozierendem Unterton nach.
Kantereit versteht nicht. »Wie?«
»War diese Madame Ariane auch von meiner Herkunft als Tochter einer zwielichtigen Kioskbetreiberin und eines Knackis beeindruckt?«
»Ich habe deine Eltern mit keinem Sterbenswort erwähnt«, schwört Kantereit, hebt sogar die Finger. Das ist ausnahmsweise die volle Wahrheit. Er ist schließlich nicht komplett auf den Kopf gefallen. »Jetzt mach schon, steig aus. Nein sagen kannst du immer noch«, drängt er.
Widerwillig entsperrt Fenja die Beifahrertür, stößt sie auf, packt sich ihren Rucksack und steigt schwungvoll aus. Die Holzperlen ihrer Braids klappern. »Meine Reisetasche mit den Klamotten bleibt erst mal im Kofferraum«, blafft sie, schlägt mit Wucht die Tür zu und stapft auf das Einfahrtstor neben dem Pförtnerhäuschen zu.
»Sag, dass du von mir kommst, dann machen sie sofort auf!«, ruft Kantereit ihr durchs offene Wagenfenster hinterher.
Fenja würdigt ihn keiner Antwort, sucht die Gegensprechanlage und drückt eine Klingel. An der, wie in Marienburg üblich, natürlich kein Name steht. Es dauert eine halbe Ewigkeit, aber dann gleiten die hölzernen Torflügel zur Einfahrt auf. Und hinter Fenja wieder zu.
Puh, das wäre geschafft! Sie ist drin.
Steht zu hoffen, dass Fenja nicht als Erstes dem aufgeblasenen Felix in die Arme rennt. Arianes Stiefenkel aus erster Ehe mit einem Küchenhersteller. Felix ist ein selten eingebildeter, eitler und selbstverliebter Geck. Eine intellektuelle Null.
Ariane hat im Laufe ihrer Eheleben eine ganze Reihe zweifelhafter Stiefkinder angesammelt, und Felix behandelt sie auch haargenau so. Stiefmütterlich. Was ihm diesen Felix – ein verhinderter Star mit Fernsehkurzkarriere und Influencer-Ambitionen, der auf Partys und Empfängen gelegentlich Arianes Walker gibt, um auf YouTube darüber zu berichten – nicht sympathischer macht. Gruselig, diese ganzen Familiengeschichten, vor allem Arianes.
Kantereit kurbelt das Fahrerfenster weiter hinunter, er braucht mehr frische Luft, während er hier draußen im Wagen wartet. In der Hoffnung, dass Fenja ihr Gepäck abholt, um in die Villa einzuziehen.
Nun, wenn er richtig kalkuliert hat, wird Ariane Fenja faszinieren. Denn so scheußlich ihr Charakter ist, so charmant und reizvoll kann sie sein. Falls Ariane einen Vorteil für sich wittert. Wieder meldet sich Kantereits Gewissen. Schließlich ist auch er bei der Sache auf eigene Vorteile bedacht.
Ach was, eine Zusage wäre momentan zu Fenjas Bestem! Freie Kost und Logis, dazu monatlich tausend Euro schwarz auf die Hand und ein Job, der ihre Neugier, ihren Elan und ihren Ehrgeiz wieder wecken könnte. Das wäre doch was.
Darüber hinaus wäre ihm Fenja als eine Art Spion im Haus der schwarzen Witwe natürlich überaus nützlich. Von dieser ihr zugedachten Rolle weiß Fenja allerdings nichts. Sie würde ihm die Augen auskratzen, wenn sie es wüsste.
Kantereits Gewissen schlägt ein weiteres Mal an, es scheint heute hyperaktiv. Zugegeben, er hat dem Kind wieder einmal ein paar Halbwahrheiten serviert und ein paar Details verschwiegen.
Na und? Herrje, es ist in dieser erbärmlich verlogenen Welt ein aussichtsloses Unterfangen, ein hehrer und komplett aufrichtiger Mensch sein zu wollen und damit Erfolg zu haben. Ohne Tricks und etwas Betrug kommt man nicht weiter.
Mist!, merkt Kantereit selbst, ein wenig klingt er jetzt nach Michael Eschberg junior, dem Wallstreetfuzzi in Arianes Diensten.
Wie auch immer. Mein Vorhaben dient einem guten Zweck, wehrt er die innere Warnung ab. Und dieser Zweck heiligt die Mittel. Oh ja, das tut er zweifelsohne. Wobei ihm sofort seine beiden anderen Sorgenkinder in den Sinn kommen.
Na ja, Kinder trifft es nicht.
Dagmar Pöpsel und Bert Feining sind im oder nähern sich dem Rentenalter. Beide sind einsam, unverschuldet in Not geraten, wie es so schön und verschleiernd heißt, und kurz davor, ihre Wohnstatt zu verlieren, im Falle Feinings womöglich sogar in Obdachlosigkeit abzugleiten. Dagmar droht in ihrem geerbten Häuschen hungern und frieren zu müssen. Bei der mageren Rente, die sie erwartet! Wenn sie in die Grundsicherung fällt, wird man ihr das Haus, ihr Elternhaus, in dem sie ihr gesamtes bisheriges Leben verbracht hat, vermutlich abnehmen.
In Kantereit wallt der Zorn des Gerechten auf. Das wird er zu verhindern wissen, und – sein Blick streift voll Zuneigung den Ulmenstamm zu seiner Linken – er wird es dank Harry Klettermax Chingachgook auch können. Wie unfassbar gut, dass er ihn kennt und hat!
Es ist an der Zeit, den verrückten Indianer anzurufen. Nur gut, dass sein alter Blutsbruder vor zehn Jahren endgültig nach Deutschland zurückgefunden hat, auf dem ererbten Schwarzwaldhof seines denkwürdigen Großonkels sesshaft geworden und nach wie vor sein guter Freund – ach was, der allerbeste – ist.
Zudem ein ausgesprochen listenreicher.
Ja, was verwegene und verschlungene Pläne angeht, schlägt der nur zwei Jahre ältere Chingachgook ihn noch immer um Längen.