Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Consent to Kill
erschien 2005 im Verlag Atria Books.
Copyright © 2005 by Vince Flynn
Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig
Veröffentlicht mit Erlaubnis von Atria Books,
ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-923-7
www.Festa-Verlag.de
www.Festa-Action.de
Hinweis: Dieser Roman ist Band 8 der Mitch Rapp-Saga.
Für meine Brüder und Schwestern – Daniel, Patrick, Sheila, Kelly, Kevin und Timothy
und
In liebender Erinnerung an Lucie Flynn,
deren Lächeln, Liebe und Anmut in Lauren, Connor und Jack weiterleben.
PROLOG
Einen Mann zu töten ist relativ einfach – vor allem wenn es sich um einen Durchschnittstypen handelt, der nicht damit rechnet. Einen Mann wie Mitch Rapp zu töten ist dagegen etwas völlig anderes. Man muss das schon sehr genau planen und einen äußerst fähigen Killer auf ihn ansetzen; besser: ein ganzes Team, das entweder tapfer oder verrückt genug ist, den Job anzunehmen. Jeder normal denkende Mensch lehnt einen solchen Auftrag rundheraus ab.
Außerdem sollten seine Mörder Rapp in einem Augenblick abpassen, in dem er die Wachsamkeit schleifen lässt. Sonst kämen sie nie dicht genug an ihn heran, um ihn ein für alle Mal zu beseitigen. Die vorläufige Analyse seiner Wachsamkeit sieht schlecht für sie aus: Dieser Amerikaner ist entweder hyperwachsam oder unglaublich paranoid. Alle Details ihres Plans müssten schon perfekt ineinandergreifen, und selbst dann bräuchten sie noch etwas Glück. Die prognostizierte Erfolgschance liegt bei maximal 70 Prozent. Deshalb müssen die Auftraggeber verhindern, dass die Sache auf sie zurückfällt. Sollten nämlich diejenigen scheitern, die sie darauf ansetzen, würde Rapp sich ungeachtet ihrer Machtposition auf die Suche nach ihnen machen. Und natürlich haben sie nicht die Absicht, sich für den Rest ihres Lebens von einem Mann wie Mitch Rapp jagen zu lassen.
1
Langley, Virginia
Rapp stand vor dem Schreibtisch seiner Vorgesetzten. Den angebotenen Stuhl hatte er abgelehnt. Die Sonne war untergegangen, es wurde spät und er wäre lieber zu Hause bei seiner Frau gewesen. Vorher wollte er jedoch diese Sache erledigt wissen. Die Akte war bestimmt drei Zentimeter dick. Es kotzte ihn an, anders ließ es sich nicht sagen. Er wollte es vom Tisch haben, sich einem anderen Thema zuwenden. Etwas Wichtigerem und vermutlich noch Nervigerem. Egal. Hauptsache dieses konkrete Problem war erst mal abgehakt.
Insgeheim hoffte er, dass Kennedy sich damit begnügte, die Zusammenfassung zu lesen und ihm den Papierstapel dann zurückzugeben. Doch so regelte sie die Dinge nicht. Man wurde nicht zum ersten weiblichen CIA-Direktor ernannt, indem man Abkürzungen nahm. Sie verfügte über ein fotografisches Gedächtnis und einen hyperanalytischen Verstand. Irene erinnerte ihn an einen dieser topmodernen Server im Keller eines großen Versicherungskonzerns, der sich durch Datenberge fraß und daraus Trends, Risiken und Milliarden anderer Faktoren ableitete. Kennedys Gespür für die großen Zusammenhänge war unübertroffen. Sie saugte Informationen förmlich auf, auch und vor allem solche, die niemals an die Öffentlichkeit gelangen durften. So wie die Akte, die jetzt auf ihrem Schreibtisch lag.
Er beobachtete, wie sie die Unterlagen in hohem Tempo durcharbeitete und gelegentlich ein paar Seiten zurückblätterte, um Widersprüche zu klären, von denen es garantiert viele gab. Solche Berichte zu schreiben gehörte nicht zu seinen Stärken. Seine Talente betrafen eher die andere Seite des Geschäfts. Es gab Zeiten, da las sie seine Niederschriften mit dem Stift in der Hand, brachte Korrekturen an und kritzelte Anmerkungen an den Rand. Diesmal nicht. Diese konkrete Akte könnte sich als Gift erweisen. Als tickende Zeitbombe, die Karrieren beendete wie ein Tornado, der durch einen Trailerpark fegte. Kennedy wusste: Kam er in ihr Büro, egal ob frühmorgens oder spätabends, und weigerte sich, Platz zu nehmen, behielt sie besser die Kappe auf dem Stift. Sie wusste, worum es ging, las stumm und verkniff sich jede überflüssige Bemerkung.
Kennedy wollte bei solchen Unterlagen grundsätzlich als Letzte drüberschauen. Rapp hielt das nicht unbedingt für eine gute Idee, musste aber zugeben, dass sie die großen Zusammenhänge deutlich besser als er erfasste. Sie war der Boss, und in letzter Konsequenz musste sie dafür bluten, wenn etwas schiefging. Zog jemand den Sicherungsstift heraus, hätte Rapp sich ohne zu zögern auf die Granate geworfen, doch die Geier vom Hill hatten es natürlich vor allem auf Irene abgesehen. Rapp respektierte seine Chefin, was für ihn alles andere als selbstverständlich war. Als Einzelgänger erledigte er sein Ding sonst allein und schlug sich im Einsatz monatelang ohne fremde Hilfe durch. Manche Leute hätten seinen Job als Strapaze empfunden. Für Rapp war es das Nirwana. Kein Papierkram, niemand, der einem über die Schulter schaute. Keine risikoscheuen Bürokraten, die jede Entscheidung anzweifelten. Komplette Eigenständigkeit. Sie hatten ihn erschaffen und mussten jetzt mit den Konsequenzen leben.
Männer wie Rapp taten sich schwer mit Befehlen. Es sei denn, sie kamen von jemandem, den sie vorbehaltlos respektierten. Zum Glück respektierte er Kennedy. Deshalb schaffte sie es, ihn in die gewünschte Richtung zu stoßen oder, wie in diesem Fall, diskret wegzusehen, während er sich um alles kümmerte. Mehr wollte Rapp nicht. So war es ihm am liebsten. Er brauchte keinen unterschriebenen Einsatzbefehl, kein grünes Licht. Sie sollte ihm einfach die Akte zurückgeben und Gute Nacht sagen. Ende. Oder Anfang – je nachdem, aus welchem Blickwinkel man es betrachtete.
Rapp hatte seine Leute bereits vor Ort stationiert. Er könnte morgen früh bei ihnen sein. In zwölf Stunden – eher weniger, wenn keine überraschenden Entwicklungen auftraten – wäre alles erledigt. Im konkreten Fall rechnete er nicht mit Komplikationen. Der Typ war ein Schwachkopf erster Güte und schnallte vermutlich erst hinterher, was ihn erwischt hatte. Für Ärger sorgte eher der Trubel im Nachgang. Ihm persönlich wäre das Ganze total egal, doch wenn Kennedy Vorbehalte äußerte, dann vermutlich deswegen.
Die CIA-Direktorin schlug die Mappe zu und setzte ihre Lesebrille ab. Sie legte sie auf den Tisch und rieb sich die Augen. Rapp beobachtete sie. Er kannte sie gut. Besser als jeden anderen Menschen. Das Augenreiben war kein gutes Zeichen. Es deutete auf Kopfschmerzen hin. Und die bekam sie meistens, wenn er einen Haufen Dünnpfiff auf ihrem Schreibtisch ablud.
»Lass mich raten.« Sie musterte ihn mit müden Augen. »Du willst ihn beseitigen.«
Rapp nickte.
»Wieso lautet deine Lösung grundsätzlich, jemanden umzubringen?«
Rapp zuckte die Achseln. »Auf diese Weise ist die Lösung endgültig.«
Irene wirkte enttäuscht. Sie schüttelte den Kopf und schob die Hand auf die geschlossene Akte.
»Was soll ich denn sonst sagen, Irene? Ich halte nichts von Bewährungschancen. Außerdem hatte der Typ seine längst. Die Franzosen haben ihn fast zwei Jahre eingesperrt. Seit sechs Monaten ist er draußen und zieht wieder seine alten Tricks ab.«
»Hast du dir mal überlegt, was das für Folgen hat?«
»Nicht so meine Stärke.«
Sie funkelte ihn an.
»Ich habe bereits mit den Jungs in Frankreich gesprochen. Die sind genauso angepisst wie wir. Ihre bescheuerten Politiker und dieser Clown von Richter haben den Idioten ziehen lassen.«
Das konnte Kennedy schwerlich abstreiten. Sie hatte ausführlich mit ihrem französischen Amtskollegen über die betreffende Person und einige andere gesprochen. Er war alles andere als glücklich über die Entscheidung seines Landes, den radikalen islamistischen Geistlichen auf freien Fuß zu setzen.
Den Terrorabwehrspezialisten in Paris gefiel es ebenso wenig wie ihnen.
»Der Typ ist eine etablierte Größe«, meinte Kennedy. »Die Presse berichtet ständig über ihn. Sie haben auch über seine Freilassung geschrieben. Sollte seine Leiche auftauchen, schlägt das hohe Wellen.«
»Soll es ruhig Wellen schlagen. Das legt sich nach ein, zwei Tagen wieder … spätestens nach einer Woche. Dann stürzen sie sich auf den nächsten Aufreger. Außerdem wäre das eine Lektion für all diese Idioten, die sich einbilden, in der westlichen Welt beliebig schalten und walten zu können.«
Sie sah ihn an. Ihr Blick verriet nichts. »Und was erzähle ich dem Präsidenten? Der wird wissen wollen, ob wir unsere Finger im Spiel hatten.«
Rapp winkte ab. »Dem sagst du, du weißt von nichts.«
Kennedy runzelte die Stirn. »Ich lüge ihn ungern an.«
»Dann soll er mich fragen. Er wird kapieren, was du damit andeutest, und nicht weiter nachhaken. Er kennt das Spiel.«
Kennedy lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Sie starrte die gegenüberliegende Wand an und meinte eher zu sich selbst als zu Rapp: »Er ist ein Geistlicher.«
»Er ist ein radikaler Gauner, der den Koran für seine sadistischen Zwecke missbraucht. Er sammelt Geld für Terrorvereinigungen, rekrutiert leicht manipulierbare Jugendliche als Selbstmordattentäter, und das alles direkt vor unserer Haustür.«
»Da wäre noch ein Problem. Was glaubst du, wie die Kanadier darauf reagieren?«
»Offiziell werden sie behaupten, stinksauer zu sein. In Wahrheit wollen sie uns dafür ’ne Medaille umhängen. Wir haben schon mit der Mounted Police und ihrem Security Intelligence Service gesprochen. Sie möchten diesen Spinner am liebsten ausweisen, aber ihr Generalstaatsanwalt ist fest entschlossen, den Gauner beweisen zu lassen, dass er Mr. Saubermann ist. Es gibt sogar eine abgefangene Kommunikation, in der sich zwei SIS-Leute darüber unterhalten, wie man ihn am besten verschwinden lässt.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»O doch. Coleman und sein Team haben es diese Woche mitgeschnitten.«
Kennedy musterte ihn. »Ich bezweifle nicht, dass unsere Kollegen den Tod dieses Mannes insgeheim bejubeln, aber das ändert nichts an den politischen Nachwehen.«
Mit Politik wollte Rapp nichts zu tun haben. Falls sich die Unterhaltung in diese Richtung entwickelte, zog er den Kürzeren.
»Hör zu … Es ist schlimm genug, wenn diese religiösen Fanatiker drüben in Saudi-Arabien oder Pakistan ihre Masche durchziehen. Wir können auf keinen Fall zulassen, dass es hier in Nordamerika passiert. Ganz ehrlich? Ich hoff sogar drauf, dass die Presse eine Riesensache daraus macht, damit der Rest dieser religiösen Vollpfosten mitbekommt, dass wir es ernst meinen. Irene, wir stecken mitten in einem verdammten Krieg und müssen uns entsprechend verhalten.«
So ungern sie es zugab, er hatte recht. In resignierendem Ton fragte sie: »Wie willst du vorgehen?«
»Colemans Team ist seit sechs Tagen vor Ort und beschattet ihn. Der Typ hat einen minutiös eingefahrenen Tagesablauf. Es gibt kaum Security, um die wir uns Sorgen machen müssen. Wir könnten ihn entweder auf offener Straße abknallen, wobei wir dann auch diejenigen erledigen müssten, die ihn begleiten. Oder wir schalten ihn aus ein, zwei Straßen Entfernung mit einem schallgedämpften Gewehr aus. Ich ziehe Letzteres vor. Mit dem richtigen Schützen sind die Erfolgsaussichten genauso gut und es gibt danach weniger aufzuräumen.«
Ihr Zeigefinger strich über eine Zahlenkolonne auf dem Aktendeckel. »Kannst du ihn verschwinden lassen?«
»Mit genügend Zeit, Geld und Manpower kann ich alles. Aber warum willst du die Geschichte unnötig kompliziert machen?«
»Weil die Auswirkungen deutlich überschaubarer wären, wenn die Presse kein Foto von der Leiche bekommt.«
»Ich kann dir nichts versprechen. Wir prüfen das.«
Kennedy nickte langsam. »Na gut. Oberste Regel, Mitch: Lass dich nicht erwischen.«
»Das versteht sich. Selbstschutz nimmt bei mir einen hohen Stellenwert ein.«
»Ich weiß … Wie gesagt, falls dir eine Möglichkeit einfällt, ihn spurlos verschwinden zu lassen, wäre das enorm hilfreich.«
»Verstanden.« Rapp griff nach der Akte. »Sonst noch was?«
»Ja. Wenn du wieder hier bist, will ich, dass du dich mit jemandem triffst. Genau genommen mit zwei Leuten.«
»Mit wem?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du wieder hier bist, Mitch. Fürs Erste hast du mein Okay. Zieh’s durch und ruf mich an, sobald es erledigt ist.«
2
Mekka, Saudi-Arabien
»Ich will, dass ein Mann stirbt.«
Die Worte wurden zu laut ausgesprochen, vor zu vielen Menschen und in einer Umgebung, in der man solche klaren Ansagen seit Jahrzehnten nicht gehört hatte. 28 Männer, Bodyguards inklusive, standen oder saßen in der opulenten Empfangshalle von Prinz Muhammad bin Rashids Palast in Mekka. Rashid war der saudische Minister für islamische Angelegenheiten, eine sehr bedeutende Position im Königreich. Im Palast hielt er gern seine wöchentlichen Majlis, also Audienzen, in der Tradition eines Wüstenscheichs ab. Manche kamen, um Gefälligkeiten zu erbitten, weitaus mehr suchten schlicht die Nähe des Prinzen. Mit Sicherheit mischten sich regelmäßig auch einige Spione von Rashids Halbbruder, König Abdullah, unter die Anwesenden.
Durch den plumpen Ausruf entfiel jeder Vorwand für diskretes Weghören, wie er bei diesen Audienzen sonst zur Kunstform erhoben wurde. Köpfe wirbelten in Richtung des Prinzen, Erwiderungen hingen halb ausgesprochen auf den Lippen der Umstehenden.
Prinz Muhammad bin Rashid sah nicht auf, spürte jedoch die kollektiven Blicke. Er hatte nach dem dreist vorgebrachten Wunsch seines Freundes nur für einen kurzen Moment Unbehagen verspürt, und das lag nicht daran, dass es um Mord ging. Rashid hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet. Seit einiger Zeit hatte er den anderen gezielt mit Informationen gefüttert, um diesen verzweifelten Ausbruch zu provozieren. In Wahrheit störte ihn nur eins: dass sein langjähriger Vertrauter solche Gedanken vor derart vielen Mithörern äußerte, denen nicht zu trauen war. Das Königreich war zu einem gefährlichen Ort geworden, selbst für einen so mächtigen Mann wie Muhammad bin Rashid.
Rashid umklammerte die Hände des Knienden und legte sich eine passende Antwort zurecht. Der Wunsch und seine nächsten Worte würden noch vor dem nächsten Sonnenuntergang überall im Königreich und vermutlich darüber hinaus die Runde machen. Es gab eine Spaltung in der Dynastie der Saud. Brüder wurden gegeneinander aufgehetzt. Rashid wusste, dass er äußerst umsichtig agieren musste. Einzelne Mitglieder des Königshauses waren bereits tot. Es drohten viele weitere Opfer, bis es ein Ende fand. Sein Hauptwidersacher war der König selbst, ein wankelmütiger Anführer, der den Amerikanern zu oft sein Gehör schenkte.
Er verkniff sich die kulturell angeborene Großmäuligkeit und tadelte den Bittsteller: »Red nicht über solche Themen, Said. Ich weiß, dass dich der Verlust deines Sohns in eine schwierige Situation bringt, aber du darfst nicht vergessen, dass alle Macht bei Allah liegt und es allein seine Aufgabe ist, Rache zu üben.«
Wütend kam die Antwort: »Wir sind alle Werkzeuge Allahs. Ich verlange meine eigene Rache. Ich habe ein Recht darauf.«
Der Prinz löste den Blick vom gequälten Gesicht des alten Freundes, der vor ihm kniete, und wies seine Diener an, den Saal zu räumen. Er streckte die Hand aus und berührte das Knie eines Mannes zu seiner Rechten, um ihn zum Bleiben aufzufordern.
Nachdem alle gegangen waren, sah der Prinz den Freund ernst an. »Du bringst mich mit deinem Anliegen in eine schwierige Situation.«
Tränen stiegen Said Ahmed Abdullah in die Augen. »Die Ungläubigen haben meinen Sohn getötet. Er war ein guter Junge.« Er wandte sich mit schmerzerfüllter Miene an den Mann, den Rashid zum Bleiben aufgefordert hatte. Scheich Ahmed Al-Ghamdi, der geistige Führer der Großen Moschee in Mekka. »Mein Sohn war ein wahrer Gläubiger und erhörte den Ruf des Dschihad. Er hat alles geopfert, während so viele andere untätig blieben.« Said sah sich suchend um, wollte einen Teil seiner Wut an die Privilegierten weitergeben, die tapfer daherredeten, mit Geld um sich warfen, aber nie ihr eigenes Blut opferten. Der eigene Schmerz hatte ihn völlig in Beschlag genommen, weshalb er erst jetzt merkte, dass sich der Saal vollständig geleert hatte.
Scheich Ahmed nickte gütig. »Wahid war ein tapferer Krieger.«
»Sehr tapfer.« Said sah zurück zu seinem Freund. »Wir kennen uns nun schon sehr lange. Habe ich mich je unvernünftig verhalten oder dich mit trivialen Wünschen behelligt?«
Rashid schüttelte den Kopf.
»Ich wäre nicht hier, um diese Frage zu stellen, hätten die Feiglinge in Riad meine simple Bitte erhört und sich den Amerikanern gegenüber behauptet. Ich bat lediglich um die Leiche meines jüngsten Sohns, um ihm ein angemessenes Begräbnis zukommen zu lassen. Stattdessen teilte man mir mit, Mitch Rapp habe ihn komplett verstümmelt, als wollte er ihm absichtlich den Einzug ins Paradies verwehren. Wie hätte ich darauf anders reagieren sollen?«
Rashid seufzte. »Was genau erwartest du von mir?«
»Ich will, dass du einen Mann für mich tötest. Ganz simpel. Auge um Auge.«
Ein nachdenklicher Blick. »Das ist keine Kleinigkeit.«
»Ich würde es selbst erledigen«, zeigte sich Said entschlossen, »aber ich kenne mich mit so etwas nicht aus. Du hingegen, mein alter Freund, verfügst über viele Kontakte in der Welt der Spionage.«
Acht Jahre hatte Rashid als Innenminister Saudi-Arabiens den Polizei- und Geheimdienstapparat des Landes koordiniert. Nach dem 11. September 2001 hatte ihn sein Halbbruder, der Kronprinz, unter dem Druck der Amerikaner in Schimpf und Schande entlassen. Ja, Rashid verfügte über die notwendigen Kontakte. Ihm schwebte bereits eine konkrete Person für diesen Job vor. »Wer ist der Mann, der sterben soll?«
»Er heißt Rapp … Mitch Rapp.«
Der Prinz vermied es, seine Freude zu deutlich zur Schau zu tragen. Seit Monaten arbeitete er auf diesen Augenblick hin. Es hatte damit begonnen, dass sein Freund ihn bat, mehr über seinen Sohn in Erfahrung zu bringen, der das Königreich verlassen hatte, um in Afghanistan zu kämpfen. Rashid ließ daraufhin seine Kontakte beim Geheimdienst spielen und erfuhr deutlich mehr, als er dem anderen bisher mitgeteilt hatte. Stückweise fütterte er Said mit Informationen, von denen er wusste, dass sie in ihm früher oder später den Drang nach Vergeltung weckten.
»Said, ist dir klar, was du da von mir verlangst?« Er antwortete mit einstudiertem fatalistischen Unterton. »Hast du eine Vorstellung, wer dieser Mitch Rapp ist?«
»Ein Mörder, ein Ungläubiger und der Mann, der für den Tod und die Verstümmelung meines Sohns verantwortlich ist. Mehr brauche ich nicht zu wissen.«
»Ich muss dich warnen«, sagte Rashid wohlüberlegt. »Dieser Mitch Rapp ist ein extrem gefährlicher Mann. Angeblich gehört er zu den Lieblingen des amerikanischen Präsidenten und steht auch bei unserem König hoch im Kurs.«
»Er ist ein Ungläubiger«, wiederholte der verbitterte Vater stoisch und wandte sich an den zurückgebliebenen Geistlichen. »Ich habe bei deinen Predigten genau zugehört. Stecken wir nicht mitten in einem Krieg, bei dem das Überleben des Islam auf dem Spiel steht? Hast du uns nicht aufgefordert, gegen die Ungläubigen zu den Waffen zu greifen?«
Der kleine Teil des Gesichts, der nicht vom dichten grauen Bart bedeckt wurde, verriet keine Regung. Der Scheich schloss lediglich die Augen und nickte.
Said sah wieder zum Prinzen, seinem alten Vertrauten. »Ich bin kein Politiker oder Staatsmann, auch kein Mann Gottes. Ich bin Geschäftsmann. Ich erwarte nicht, dass einer von euch öffentlich oder persönlich unterstützt, was ich vorhabe. Ich bitte dich lediglich darum, Rashid, dass du mir die nötigen Kontakte vermittelst. Nenn mir einen Namen, den Rest erledige ich selbst.«
Abgesehen von Saids öffentlichem Ausbruch hätte Rashid kaum zufriedener darüber sein können, wie sich die Angelegenheit entwickelte. Er hatte den Wunsch des Freundes fast wörtlich erahnt. Mühsam beherrscht saß er da, wollte sich seine Begeisterung nicht zu deutlich anmerken lassen. »Said, ich kenne einen Mann, der großes Geschick in solchen Dingen besitzt. Er lässt sich extrem gut bezahlen, aber wie ich dich kenne, stellt das kein Hindernis dar.«
Said nickte entschlossen. Er hatte ein milliardenschweres Vermögen angehäuft, zunächst mit der Errichtung von Telefon- und Stromleitungen im Königreich und anderen Ländern der Region, anschließend mit dem Aufbau eines Glasfasernetzes von mehreren Tausend Kilometern Länge.
»Ich werde ihn zu dir schicken. Du darfst auf keinen Fall unser heutiges Gespräch ihm oder anderen gegenüber erwähnen. Ich teile deine Wut und wünsche dir Erfolg, doch du musst mir dein Wort als ältester Freund geben, dass du mit niemandem über meine Beteiligung sprechen wirst. Das Königreich ist in diesen Tagen ein sehr gefährlicher Ort. Viele meiner Brüder würden dein Vorhaben nicht so vorbehaltlos unterstützen wie ich.« Rashids Seitenhieb auf die proamerikanisch eingestellte Regierung Saudi-Arabiens ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Said schnaubte verächtlich. »Dazu fiele mir einiges ein, aber wie du schon sagtest, ist das Königreich in diesen Tagen ein gefährlicher Ort. Ich gebe dir mein Wort. Ich rede mit niemandem darüber. Nicht mal mit dem Mann, den du zu mir schickst.«
»Gut.« Rashid lächelte, stand auf und half seinem Freund auf die Beine. Die beiden durchquerten den ausladenden Saal und ließen den Geistlichen allein zurück. »Falls deine Absicht, diesen Rapp töten zu lassen, nämlich von Erfolg gekrönt ist, mein Freund, und die Amerikaner herausfinden, dass du dahintersteckst, wird der König dich köpfen lassen. Und falls es nicht klappt und Rapp herausfindet, wer dafür verantwortlich ist, stattet er dir einen Besuch ab und fügt deiner Familie schlimmere Qualen zu, als du es dir vorstellen kannst.«
Said nickte. »Woran erkenne ich deinen Mann?«
»Er ist Deutscher. Du wirst ihn auf Anhieb erkennen. Ein unglaublich fähiger Mann. Sag ihm einfach, was du willst, er erledigt den Rest.«
3
Montreal, Kanada
Rapp traf am nächsten Morgen mit einer Falcon 2000 ein. Das Geschäftsreiseflugzeug war über eine Strohfirma in Virginia geleast worden. Als ausgebildeter Pilot übernahm er den Sitz des Co-Piloten und trug die entsprechende Uniform. Mit einem häufig genutzten, allerdings gefälschten Reisepass brachte er die flüchtige Kontrolle am kleinen Privatflughafen in Windeseile hinter sich und fuhr mit dem Taxi zum Hotel, in dem das Team wohnte. Es war Samstagmorgen. Der siebte Einsatztag des vierköpfigen Teams, dem auch Coleman angehörte. Sie alle kannten Rapp seit über 15 Jahren. Alle wussten, wie die anderen operierten, und vertrauten sich gegenseitig, was in ihrem Metier ein entscheidender Faktor war.
Coleman wartete im Hotelzimmer auf ihn und brachte ihn hinsichtlich der taktischen Gegebenheiten auf den neuesten Stand. Das restliche Trio behielt die Zielperson im Auge. Der ehemalige SEAL war knapp drei Zentimeter kleiner als Rapp. Normalerweise trug er die blonden Haare kurz geschoren, doch aktuell ließ er sie wachsen. Sie reichten ihm bereits über die Ohren und im Nacken fast bis zum Hemdkragen. Zum ersten Mal sah man, dass sie sich leicht kräuselten. Coleman war schlank und athletisch, trotz seiner umgänglichen Art jedoch alles andere als harmlos. Er wusste um seine Fähigkeiten und musste sich nichts mehr beweisen. Er hatte eine Menge durchgemacht, einige heftige Missionen heil überstanden und redete nicht viel. Typisch für einen SEAL. Untereinander tauschten sie Kriegserlebnisse aus, manchmal auch mit anderen Einsatzkräften, aber es drang nichts nach außen. Sie waren ein eingeschworener Club, in dem Prahlen mit den eigenen Leistungen als verpönt galt.
Rapp warf seinen Pilotenkoffer auf eins der Betten und betrachtete die Karte, die ausgebreitet auf dem anderen lag.
»Hier ist das Hotel, dort die Moschee« – Coleman wies nacheinander auf die beiden markierten Gebäude – »und da ist seine Wohnung.«
Rapp prägte sich die Straßenzüge des Zentrums von Montreal und der angrenzenden Stadtteile ein. »Wie lange braucht man zu Fuß von der Moschee bis zur Wohnung?«
»Bei ihm sind’s im Schnitt fünf Minuten und 23 Sekunden. Hat er’s eilig, schafft er’s in 4:18. Wenn er trödelt, kann’s auch schon mal zehn Minuten dauern. In diesem Fall hat er unterwegs einen Bekannten getroffen und mit ihm geplaudert.«
»Anzeichen, dass ihn die Polizei oder der Geheimdienst überwacht?«
»Keine.«
Rapp runzelte die Stirn. »Seltsam.«
»Dachte ich auch erst, bis ich auf die Idee kam, dass sie einen Spion in die Gemeinde eingeschleust haben.«
»Einen Glaubensbruder.«
»Genau.« Coleman deutete auf eine Außenaufnahme der Moschee. »Wir haben einiges aufgeschnappt. Nicht alle sind begeistert von seiner radikalen Interpretation des Korans.«
Rapps rechte Augenbraue zuckte überrascht in die Höhe. »Ihr habt die Moschee verwanzt?«
»Nein. Aber wir hören die Besucher im Ausgangsbereich mit Parabolmikros ab. Gestern konnten wir ein paar ältere Gläubige nach Khalils Freitagnachmittagspredigt belauschen. Sie halten ihn für ein Geschwür, das der Gemeinschaft zu schaffen macht. Einen schlechten Einfluss auf die Jugend, der ihr mit seinem Gerede vom Dschihad und Märtyrertum Flausen in den Kopf setzt.«
Das überraschte Rapp nicht. Die überwältigende Mehrheit der Muslime hielt nichts von den radikalen Vorstößen dieser Terroristen unter dem Deckmantel Allahs. Manchmal wünschte er sich, sie würden ihre Ablehnung deutlicher zum Ausdruck bringen.
»Sonst noch was?«
»Yep. Der Kerl ist ein verlogener Bastard. Wir sind gestern während des Nachmittagsgebets in sein Apartment eingebrochen. Das komplette Gebäude steht zu der Zeit leer, also bestand kein Risiko. Wir haben uns seinen Rechner vorgenommen.« Coleman zog einen Memorystick aus der Tasche. »Hab den Inhalt seiner Festplatte für dich kopiert.«
Rapp grinste und nahm das Speichermedium entgegen. »Danke.«
»Lauter Pornos.«
»Nicht dein Ernst.«
»O doch. Ziemlich perverses Zeug. Überwiegend Bondage.«
Rapp betrachtete den Stick. »Bei diesen Spinnern kann man nie wissen, was?«
»Stimmt. Überrascht mich trotzdem nicht.«
»Hast recht. Bei ihm passt es ins Bild. Weitere Infos?«
»Am besten kann man ihn natürlich zwischen Moschee und Wohnung abpassen. Die Strecke läuft er fünfmal am Tag hin und zurück. Vor Sonnenaufgang, um kurz nach zwölf, am späten Nachmittag, kurz vor Sonnenuntergang und – mein Favorit – sein 22-Uhr-Besuch.«
»Warum nicht gleich frühmorgens?«
»Naheliegend«, sagte Coleman, »aber beim Morgengebet halten sich doppelt so viele Leute in der Moschee auf wie abends. Wenn er da nach Hause läuft, ist es fast elf und die Straßen sind wie leer gefegt.«
»Ist er allein unterwegs?« Das stand zwar im Bericht, den er zu Beginn der Woche bekommen hatte, aber so ganz wollte er das nicht glauben.
»Immer.«
Der Typ schien ein Volltrottel zu sein, aber wenn man sich seine Vorgeschichte ansah, passte es ins Bild. Khalil Muhammad, gebürtiger Ägypter, war unter der strikten Knechtschaft eines Ablegers der Muslimbrüderschaft aufgewachsen, von frühester Kindheit an mit der strikten, radikalen Auslegung des Islams indoktriniert, wie sie die Wahhabiten in Saudi-Arabien lehrten. Mit 15 steinigten er und eine Gruppe Gleichgesinnter einen Reporter, weil er einen kritischen Artikel über ihre Madrasa veröffentlicht hatte. Die Gebetsschule, die sie besuchten, schickte jeden ihrer Absolventen in den Krieg gegen die Sowjets nach Afghanistan. Gerüchteweise gegen den erklärten Willen von so manchen.
Während andere für die Steinigung vor Gericht gestellt wurden, setzte Khalil sich nach Saudi-Arabien ab, wo er von den Wahhabiten weitere religiöse Unterweisungen erhielt. Mit Anfang 20 schloss er sein Koranstudium ab und wurde Imam. Mit 26 wanderte er mit der erklärten Absicht nach Kanada aus, dort eine neue Moschee zu errichten und die wahhabitischen Lehren in Nordamerika zu verbreiten. Sie wurde stark frequentiert. Als Belohnung erhielt er die finanziellen Mittel für den Bau einer zweiten Moschee in Frankreich.
Khalils Reisen durch die Welt blieben weitgehend unbemerkt. Das änderte sich nach 9/11. Danach änderte sich alles. Khalil wurde von den französischen Behörden festgenommen. Man wies ihm ein versuchtes Bombenattentat auf einen Pariser Bahnhof nach dem Vorbild der Madrider Zuganschläge 2004 nach. Er hatte dafür sechs junge Männer, keiner älter als 17, als Selbstmordattentäter rekrutiert. Khalil stellte ihnen eine großzügige Belohnung im Paradies in Aussicht. Dort sollten sie von ihren Sünden gereinigt und als Helden verehrt werden. Er versprach, für ihre Familien werde gesorgt, ihnen sei größter Respekt gewiss. Seine Rekruten sollten die ganze Drecksarbeit erledigen, während sich Khalil im Hintergrund hielt. Es hätte funktioniert, wäre die CIA Khalil nicht in der Zwischenzeit auf die Schliche gekommen. Die Hacker in Langley rissen im Rekordtempo Firewalls ein, um die Geldflüsse von saudischem Kapital nachzuverfolgen. Dabei stolperten sie auch über Khalil und warnten die französische DST vor ihm, den Inlandsgeheimdienst.
Als die Behörden seine Wohnung stürmten, fielen ihnen keine belastenden Beweise in die Hände. Die Spürhunde, die an der Razzia teilnahmen, entwickelten allerdings ungewöhnliches Interesse für ein anderes Apartment auf derselben Etage. Nach dem Aufbrechen der Tür stießen sie dort auf Sprengstoffgürtel und genug explosives Material, um das Gebäude einzuebnen. Khalil wanderte zusammen mit den sechs Jugendlichen ins Gefängnis. Keiner von ihnen packte aus. Während ihrer knapp einjährigen Haftstrafe überlegten die Geheimdienste fieberhaft, wie sie die Polizei auf die Spur ansetzen konnten, ohne zu viel Insiderwissen preiszugeben.
Als der Fall schließlich vor Gericht landete, befanden sich die französisch-amerikanischen Beziehungen auf einem Allzeittief. Der Richter brachte sein Missfallen über das Fehlen jeglicher belastbarer Beweise deutlich zum Ausdruck. Im Fall von Khalil sah er keine Belege für ein Verbrechen. Ein gläubiger Mann, dem man allenfalls vorwerfen konnte, sich mit ein paar verfaulten Äpfeln eingelassen zu haben. Der Richter ordnete die sofortige Freilassung an. Die sechs jungen Männer wurden wegen Besitz von Gefahrstoffen angeklagt und erhielten eine lächerlich geringe Strafe. Khalil wurde zurück nach Kanada geschickt. Innerhalb einer Woche predigte er wieder in seiner Moschee, verleitete Heranwachsende zum Dschihad und verunglimpfte ebenjene Behörden, die ihm den Kopf aus der Schlinge gezogen hatten. Der französische Richter hatte ihm ein trügerisches Gefühl von Unverwundbarkeit vermittelt.
Eigentlich beschäftigten Rapp aktuell weitaus größere Probleme, aber dieser Typ traf einen empfindlichen Nerv bei ihm. Vor drei Wochen war in Afghanistan ein Auto in die Absperrung vor einer US-Einrichtung gerast. Das Wachpersonal näherte sich dem Fahrzeug und stieß auf einen Stein auf dem Gaspedal und einen ans Steuer geketteten Jungen, nur halb bei Bewusstsein. Auf der Rückbank fand sich eine Menge Sprengstoff, der glücklicherweise dank eines fehlerhaften Zünders nicht hochgegangen war. Sie befreiten den Jungen, der kurz danach jedem, der es hören wollte, seine Geschichte erzählte. Die Eltern waren aus dem Jemen nach Kanada geflohen, als er noch ein Kind war. Scheich Khalil Muhammad hatte ihm in Aussicht gestellt, in Saudi-Arabien eine Gebetsschule zu besuchen. Bei der Ankunft in Mekka wurde er stattdessen gefesselt, geknebelt und bewusstlos geprügelt. Das Nächste, woran er sich erinnerte, waren die amerikanischen Soldaten, die ihn aus dem Auto zogen.
Diese Informationen wurden an den kanadischen Security Intelligence Service weitergeleitet, der daraufhin versuchte, Khalil zur Entführung des Jungen zu befragen. Khalil blockte sofort ab und schaltete seinen Anwalt und den muslimischen Rat von Montreal ein. Kanadas Generalstaatsanwalt, ein Duckmäuser vor dem Herrn, schreckte vor dem Druckmittel religiöser Intoleranz zurück und erwirkte beim SIS eine sofortige Einstellung der Ermittlungen. Sie sollten sich von Khalil und seiner Moschee fernhalten. Auf der ganzen Welt verschwänden ständig Menschen. Nichts am Schicksal des Jungen deute auf eine Beteiligung Khalils hin.
Rapp hielt wenig von dieser Theorie und setzte Marcus Dumond, seinen besten Hacker, auf den Fall an. Innerhalb von 36 Stunden stieß der Computerexperte auf alle möglichen Unregelmäßigkeiten auf den Konten von Khalil. Er schwamm förmlich in wahhabitischem Geld und hatte bereits zwei weitere Jungen zur religiösen Ausbildung nach Saudi-Arabien geschickt. Bislang waren sie auf keinen Beweis gestoßen, dass die Kinder dort tatsächlich eine Schule besuchten. Stattdessen bestätigten die Eltern, seit Monaten nichts mehr von ihren Sprösslingen gehört zu haben. Allerdings hatte man sie im Vorfeld gewarnt, dass Lebenszeichen aufgrund der strikten Vorschriften der Schulen bis zu einem Jahr auf sich warten lassen könnten. Rapp fand, dass die Geschichte zum Himmel stank, und der größte Stinker von allen war Khalil Muhammad.
Es gab schlimmere Übeltäter da draußen, keine Frage, aber dieser trieb es eindeutig zu bunt. Er agierte zu selbstsicher. Nicht auszumalen, was er als Nächstes anstellte, wenn ihm niemand auf die Finger schaute. Nein, Rapp hielt es für das Beste, ihn frühzeitig in seine Schranken zu weisen. Ein Exempel an ihm zu statuieren. Kennedy wollte, dass er einfach von der Bildfläche verschwand. Mitch hatte eine viel bessere Idee. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr gefiel sie ihm.
Er lief ans Fenster, betrachtete den grauen Himmel und sagte zu Scott: »Pass auf, ich erklär dir jetzt, wie wir’s machen.«
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Es war ein knackig kalter Abend, das perfekte Wetter für einen Spaziergang, und deshalb machte Rapp auch einen. Er wollte den Kreislauf in Schwung bringen. Den Kragen der schwarzen Lederjacke hatte er hochgestellt und trug eine abgewetzte Kappe mit dem Logo der kanadischen Eishockeyliga. Beide Kleidungsstücke hatte er in einem Secondhand-Laden organisiert, genau wie die Jeans und Wanderstiefel. Beim Bezahlen, natürlich in bar, stellte er dankbar fest, dass im ganzen Laden keine einzige Überwachungskamera hing. Die Jacke war perfekt, zumindest für das, was er vorhatte. Die übergroßen quadratischen Taschen an der Vorderseite eigneten sich ideal fürs Verstauen von Waffen. Kein Druckverschluss, man hatte sie direkt griffbereit. An der linken Schulter war die Naht aufgegangen, aber das störte ihn nicht. Er wollte schließlich nicht im Ritz abhängen. Sowohl die Moschee als auch Khalils Wohnung befanden sich in einer heruntergekommenen Ecke der Stadt. Zu schade, dass er die Jacke nicht behalten konnte. Er ging davon aus, dass sie Blutflecken abbekam. Der Einsatz versprach chaotisch zu werden. Hinterher landete alles, was er am Körper trug, in einem Kleidersack und wurde in den St. Lawrence River geschmissen.
Rapp behielt die Hände in den übergroßen Taschen und lief mit gesenktem Kopf durch die Straßen. In der linken Tasche steckte ein taktisches Rip-Cord-Messer mit Stonewash-Klinge, in der rechten eine Glock 26 mit kompaktem Schalldämpfer. Er hatte beides im doppelten Boden seines Pilotenkoffers ins Land geschmuggelt. Da die CIA über eine Tochterfirma einen Großteil des privaten Flughafens in Virginia angemietet hatte, musste er nicht befürchten, dass sein Gepäck bei der Ankunft durchleuchtet wurde. Die Pistole war lediglich eine Absicherung. Eigentlich wollte er den Kerl mit dem Messer erledigen, um eine deutliche Nachricht zu übermitteln. Genau genommen: mehrere Nachrichten.
Er hatte sich alle Fotos mehrfach vorgenommen und die Straßenkarten eingeprägt, ebenso die groben Bewegungsmuster der Polizeistreifen, die in diesem Gebiet Patrouille fuhren. Verglichen mit anderen Einsätzen bewegte sich dieser im unteren Bereich der Risikoschwelle. Als Rapp Coleman schilderte, was er vorhatte, nahm dieser es gelassen zur Kenntnis. Er stellte ein paar Fragen, forschte halbherzig nach Schwachstellen und ließ es dann dabei bewenden. Der Plan war solide, die Zielperson ein harmloses Lämmchen. So nannten sie Typen wie Khalil. Typen, die nicht zurückbissen. Ihre einzige Sorge galt der Polizei, doch deren Kontrollen fielen eher lax aus. Maximal einmal pro Stunde tauchten sie auf.
Coleman hielt es ohnehin für sinnlos, mit Rapp zu streiten. Es gab etliche Leute in Washington, die durchgedreht wären, wenn sie erfahren hätten, dass er sich dermaßen auf den Präsentierteller stellte. Im Gegensatz zu ihnen hatte Scott ihn oft genug in Aktion erlebt und wusste um die Stärken des Jüngeren. Rapp brachte die perfekte Kombination aus Athletik, Anmut und Geschick mit. Und Coleman hatte mit den Allerbesten gearbeitet, was ihn selbst mit einschloss. Die verschworene Community von Special-Forces-Einsatzkräften bestand aus lauter Männern, die beim Training und im Einsatz ans absolute Limit gingen. Ja, es gab ein paar, die bessere Schützen als Rapp waren, einige, die stärker waren, sogar einen oder zwei, die es an Ausdauer mit ihm aufnehmen konnten. Doch keiner von ihnen verfügte über so viel Erfahrung wie Rapp. Und das war der einzige Faktor, den kein Training der Welt ersetzen konnte. Seine Instinkte, bei einer Mission im richtigen Moment das Richtige zu tun, waren einzigartig. Er erfasste die taktischen Gegebenheiten blitzschnell und eruierte innerhalb von Sekunden die erfolgversprechendste Möglichkeit, von A nach B zu gelangen.
Entsprechend gab es keinerlei Debatte. Rapp übernahm den Einsatz, Coleman und sein Team kümmerten sich um die Beobachtung der Zielperson und sprangen als Back-up ein, falls etwas schiefging. Keiner hatte großartig mit Rapp diskutieren wollen. In Wahrheit waren sie alle gelangweilt. Wenn man sechs Tage lang einen Mann beschattete, der sich so sorglos verhielt, wurde man es schnell leid. Coleman und sein Team hatten die Schnauze voll. Je früher Rapp die Sache über die Ziellinie brachte, desto glücklicher waren sie. Anschließend ging es zurück nach Amerika. Sie wurden in Cash bezahlt und konnten sich wieder um Familie, Freunde und Job kümmern.
Rapp musste sich nichts beweisen. Das hatte er nicht nötig. Schon gar nicht bei diesen Männern. Sie hatten miterlebt, wie er wesentlich anspruchsvollere Situationen bewältigte. Was er hier plante, war weder tapfer noch verwegen. Er lief schließlich nicht in ein Nest von Maschinenpistolen oder musste ein Gebäude einnehmen, in dem ihn haufenweise Bewaffnete unter Beschuss nahmen. Allerdings ging er die Sache an, als wäre es so. Er wollte es auf eine ganz bestimmte Art klären, ohne Coleman und seine Jungs einzuweihen. Deshalb erledigte er es selbst.
Rapp betrat die Gasse von Osten her. Er trug ein winziges Bluetooth-Headset und ließ sich darüber von Coleman mit Updates versorgen.
»Da bist du richtig. Links ab.«
Rapp antwortete nicht, sondern schritt stumm den verdreckten Pfad ab. Eine zwei Etagen hohe Schlucht aus Ziegeln und Mörtel. Auf Straßenhöhe gab es Reinigungen, Videotheken, Restaurants, einen Elektronikladen, zahlreiche Imbisse und andere Geschäfte, wie man sie in jeder größeren Stadt antrifft. In den oberen Stockwerken fanden sich Büros und die eine oder andere Wohnung. Coleman und sein Team hatten einen guten Job gemacht. Es war die perfekte Umgebung für den Zugriff.
Rapp umkurvte eine faulig riechende Pfütze und suchte die Fenster im ersten Stock ab. Nur in zwei Räumen brannte Licht. Beide befanden sich grob in der Mitte des Häuserblocks. Die Laternen am vorderen und hinteren Ende hatten sie zu Beginn der Woche zusammen mit weiteren sieben Straßenbeleuchtungen in der Umgebung außer Gefecht gesetzt. Einer von Colemans Männern war mit einer schallgedämpften 22er losgezogen und hatte sie zerschossen. Missionsvorbereitung für Anfänger. Ihre Art, das Schlachtfeld vorzubereiten. Sie hatten dabei den Polizeifunk abgehört, um sicherzustellen, dass niemand die Ausfälle meldete. In einer Großstadt wie dieser dauerte es Monate, bis solche Defekte repariert wurden. In der Zwischenzeit blieben Khalil nur wenige Tage, auf die Veränderung zu reagieren.
Coleman hatte erzählt, wie er Khalil in der ersten Nacht nach dem Zerschießen der Laternen beschattete. Die schlechtere Ausleuchtung war ihm nicht mal aufgefallen. Rapp konnte kaum glauben, was er da hörte. Der Typ wirkte so unglaublich naiv und schien überhaupt nicht zu merken, in welcher Gefahr er schwebte. Einerseits rekrutierte er jüngere Männer, für seine radikale Interpretation des Korans in den Tod zu gehen, andererseits wähnte er sich allen Ernstes in Sicherheit, nur weil ein liberaler kanadischer Staatsbeamter davor zurückschreckte, als intolerant abgestempelt zu werden.
Rapp zog als Soldat in den Krieg und behandelte diesen Khalil wie einen feindlichen Kämpfer. Nein, der Vergleich hinkte. Sein Gegner zog nicht selbst in den Krieg, sondern schickte andere los. Deshalb brachte der Amerikaner ihm nicht den geringsten Respekt entgegen. Anders den Selbstmordattentätern. Blendete man die politische Komponente aus, hatte ihr Vorgehen mit Feigheit nicht das Geringste zu tun. Man musste schon Eier in der Hose haben, um sich eine Sprengstoffweste um die Hüfte zu schnallen, in eine Menschenmenge hineinzulaufen und sich selbst in die Luft zu jagen. Klar, man brauchte dafür auch einen kranken, völlig verdrehten Verstand, aber feige waren diese Jungs definitiv nicht.
Über diesen Mord drohte Rapp keinen Schlaf zu verlieren. Nicht dass er das sonst getan hätte. Khalil war ein Feigling. Er stand jeden Freitag in seiner Minbar, dem Moschee-Gegenstück zur Kanzel, und spuckte hasserfüllte Parolen gegen den Westen, vor allem gegen Amerika. Er vergiftete den leicht beeinflussbaren Verstand junger Männer und drängte sie, an seinem Dschihad teilzunehmen. Dann versklavten er und seine Mitstreiter die Heranwachsenden und funktionierten sie zu menschlichen Bomben um. Khalil ging dabei nicht das geringste Risiko ein, wofür Rapp ihn verachtete.
Der Amerikaner erreichte das hintere Ende der Gasse. Es war stockdunkel. Die schmale Mondsichel zeigte sich im Osten und leistete keinen nennenswerten Beitrag zur Illuminierung der Stadt. Die Mauer, an der er die Sache durchziehen wollte, entsprach exakt Colemans Beschreibung. Ein knapp drei Meter hoher Wall aus Ziegelsteinen, daneben ein Müllcontainer. Die ideale Tarnung. Selbst ein würdigerer Gegner hätte bei einem solchen Szenario die Segel streichen müssen. Natürlich hätte er bei einem würdigeren Gegner das Messer gegen die schallgedämpfte Pistole eingetauscht.
Rapps Augen gewöhnten sich allmählich an das extrem schwache Umgebungslicht. Er ging in die Hocke, um den Boden zu untersuchen, stieß auf eine Coladose und mehrere Bierflaschen. Leise las er sie mit Handschuhen auf und schob sie unter den Container. Das fehlte gerade noch, dass er versehentlich gegen eine Flasche trat und die Zielperson vorzeitig auf sich aufmerksam machte.
Rapp brachte sich vor der Ziegelmauer in Stellung. Jeden Moment ging es los. Er hatte seine Ankunft zeitlich genau abgepasst, um nicht zu lange warten zu müssen oder eine Entdeckung zu riskieren. Colemans Stimme meldete im Ohr, dass Khalil gerade den Vordereingang der Moschee abschloss. Mehrere Besucher warteten davor, um mit ihm zu sprechen. Nichts Ungewöhnliches, wie Coleman versicherte. Nach einigen kurzen Wortwechseln machte sich Khalil auf den Weg und kam in Rapps Richtung.
Der CIA-Agent lehnte sich gegen die Mauer, streckte Beine und Hände, beugte den Hals nach links und dann nach rechts, bis es knackte. Sein Kreislauf war bestens in Schwung, der Puls bewegte sich genau im richtigen Bereich. Er befand sich im perfekten Gleichgewicht zwischen zu entspannt und zu nervös, verlagerte das Gewicht auf die Fersenballen und wollte es zu Ende bringen.
Die ersten Anzeichen von Schwierigkeiten folgten sofort. Colemans ernste Stimme meldete sich mit einem Hauch von Frust zu Wort: »Wir haben ein Problem. Er ist nicht allein.«
Rapps Augen fixierten die Wand gegenüber seiner Position. Ein kompaktes Mikrofon klemmte am Jackenkragen. »Wie viele?«, flüsterte er.
»Unser Mann und zwei weitere.«
»Shit«, raunte Rapp. »Wissen wir, wer die beiden sind?«
»Negativ.«
Rapp spielte den geplanten Ablauf im Kopf durch. Mit einem Begleiter wäre er problemlos klargekommen. Ein kurzer Schlag mit dem Pistolengriff in den Nacken, um ihn außer Gefecht zu setzen, dann Khalil ein Bein stellen und sich auf ihn werfen, bevor er mitbekam, was los war. Drei bedeuteten jedoch ein Problem. Es hätte zwar weniger als eine Sekunde gedauert, alle durch einen gezielten Schuss in den Hinterkopf umzulegen, aber er wollte keine Unschuldigen töten. Das entsprach nicht seinem Stil. Die zwei Begleiter aus dem Verkehr zu ziehen und hinterher Khalil auszuschalten, versprach knifflig zu werden. Im schlimmsten Fall gelang einem von ihnen die Flucht oder er schrie die halbe Nachbarschaft zusammen. Für den Fall, dass die anderen Männer bewaffnet waren, musste er sogar damit rechnen, selbst erwischt zu werden.
»Ich schlage vor, wir brechen ab«, sagte Coleman.
»Negativ. Wir schauen mal, wie es sich entwickelt. Wie viel Zeit bleibt mir?«
»In knapp drei Minuten sind sie bei dir.«
Rapp nickte in sich hinein. Drei Minuten, da konnte man in Ruhe ein paar Szenarien im Kopf durchgehen. Keins davon versprach Erfolg. Wie ging er es am besten an? Natürlich gab es die Variante, Khalil zu erschießen und seine Begleiter zur Flucht aufzufordern. Doch damit drohten genau die Komplikationen, die Kennedy unbedingt vermeiden wollte. Und wenn er dem Idioten einfach bis zu seiner Wohnung folgte und ihn dort exte?
»Einer von den Kerlen hat sich grad verkrümelt«, gab Coleman durch.
»Gut«, antwortete Rapp. »Dann klappt es. Haltet die Augen offen. Mit zweien werd ich fertig. Bleibt auf Position, bis ich mich melde.«