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Moonlight Romance
– 41 –

Die geheime Tür

Hinter ihr verbirgt sich das Grauen

Helen Perkins

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-617-2

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Ganz allmählich beruhigte Emily sich. Als die Tränen versiegten, fragte die junge Mutter betont sachlich: »Was ist passiert, Liebes? Erzähl mir ganz genau, was das Mädchen aus dem Schrank tut und sagt. Ich möchte alles wissen, hörst du?« »Es ist gemein! Wenn ich eingeschlafen bin, kommt es und weckt mich. Immer muss ich mit dem Mädchen spielen, aber ich will das nicht. Ich habe Angst. Bitte, Ma, mach, dass das Mädchen weggeht. Ich will es nie wiedersehen!« »Hat es dir seinen Namen verraten?« Emily schüttelte den Kopf. »Ich darf keine Fragen stellen, ich muss alles tun, was es verlangt. Und wenn nicht, dann...tut es mir weh!« Das Mädchen zeigte seiner Mutter blaue Flecken am Arm, die Kathy noch nicht bemerkt hatte. Sie betrachtete diese mit gemischten Gefühlen, während in ihrem Kopf die Gedanken wild durcheinander wirbelten. Was hatte das alles zu bedeuten?

»Ma, wann kommt Dad endlich? Wenn wir nicht bald losfahren, wird es zu spät.« Emily zog einen Flunsch. Mit ihren vier Jahren war sie bereits eine willensstarke kleine Persönlichkeit, die sehr genau wusste, was sie wollte. Und an diesem sonnigen Herbstsamstag wollte die kleine Emily mit ihren Eltern im East River Park ein Picknick veranstalten.

Kathy Tanner spähte aus dem Fenster der kleinen, gemütlichen Küche, die nach vorne heraus lag. Die junge Frau mit den kurzen, blonden Locken und den tiefblauen Augen war eine waschechte New Yorkerin. In der Lower East Side geboren und aufgewachsen, lebte sie seit ihrer Heirat mit dem Trucker Bob Tanner in einer geräumigen Wohnung in der Houston-Street an der East Side, nur wenige Blocks von ihren Eltern entfernt.

Bob war fleißig und verdiente gut, Kathy hatte neben ihrer Ausbildung als Krankengymnastin auch ein Diplom für Naturheilkunde in der Tasche. Noch arbeitet sie in einer nahen Klinik als Physiotherapeutin, doch sie träumte von einer eigenen Praxis, in der sie die Patienten auf den Grundlagen der Homöopathie behandeln konnte. Das würde aber wohl noch eine Weile Zukunftsmusik bleiben, denn auch die Gewerbemieten waren im Big Apple unerschwinglich. Bob hatte ihr zum letzten Geburtstag ein Sparguthaben geschenkt, auf das sie nun fleißig weiter einzahlte. So rückte ihr Traum in winzigen Schritten ganz allmählich näher.

»Ma!« Emily stand neben ihrer Mutter, zupfte sie energisch am Blusenzipfel und blickte mit ihren großen, himmelblauen Augen ärgerlich zu ihr auf. Diese Ausdruck wirkte in dem runden Kindergesichtchen, das von goldblonden Locken umrahmt wurde, einfach allerliebst. Kathy nahm ihre kleine Tochter auf den Arm, sodass sie die Straße unter ihnen zusammen im Auge behalten konnten. Aus dem fünften Stock war das kein Problem. Der Verkehr floss gleichmäßig, doch Bob Tanners waldgrüner Pickup kam einfach nicht in Sicht.

Allmählich fing Kathy an, sich Sorgen zu machen. Wo blieb ihr Mann nur so lange? Bob war ein zuverlässiger Mensch, Kathy wusste, dass er sein Wort immer hielt und stets Verlass auf ihn war. Und er hatte Emily am Vorabend beim Zubettgehen versprochen, etwas früher heimzukommen, damit sie noch genug Zeit hatten für ihr geplantes Picknick. Der gepackte Korb stand auf dem Küchentisch, daneben lag ein kariertes Plaid. Kathy war schon seit einer Weile fertig. Aber Bob kam nicht.

»Wo ist Dad?«, fragte Emily immer wieder. »Hat er vergessen, dass wir ein Picknick machen wollen?«

»Nein, das würde er nie vergessen. Er hat sich doch auch darauf gefreut«, versicherte die junge Frau. »Warte nur, gleich kommt er um die Ecke und …«

Die Türklingel unterbrach Kathy. Emily wollte sofort vom Arm herunter und dem Vater die Tür aufmachen, aber ihre Mutter bremste sie. Bob klingelte nie, er hatte schließlich einen Wohnungsschlüssel. Und in New York war es nicht unbedingt ratsam, jedem Fremden die Tür zu öffnen.

»Ich mache auf«, bestimmte Kathy. Sie warf zuerst einen Blick durch den Spion und sah zwei uniformierte Polizisten. Einen großen, sehr schlanken Weißen mit rotem Haar und Sommersprossen und eine etwas untersetzte Farbige. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Hatte Bob vielleicht einen Unfall? Er war ein umsichtiger Fahrer und sagte oft im Scherz, dass ihm in seinem Fahrerhaus nichts passieren könne, denn es sei »sicher wie in Abrahams Schoß«. Doch auch ein Trucker konnte verunglücken. Kathy schluckte. Ihr Hals war trocken und sie spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Das Unbehagen in ihrem Innern steigerte sich von Sekunde zu Sekunde. Am liebsten hätte sie die Tür nicht geöffnet, denn sie war plötzlich sicher, dass die Polizisten schlechte Nachrichten brachten.

»Mach doch auf, Ma«, drängte Emily sie da aber lautstark.

Die junge Frau öffnete die Tür nur zögerlich. Der Polizist begrüßte sie freundlich und fragte: »Mrs Tanner, können wir kurz mit Ihnen reden? Es hat einen Unfall gegeben…«

Sie hatte es ja gewusst! Das Unbehagen wurde zu purer Angst. Was war geschehen? War Bob verletzt, vielleicht sogar schwer? Automatisch trat sie einen Schritt beiseite und ließ die Beamten in die Wohnung. Sie brachten den Geruch der frischen Herbstluft mit sich. Die Beamtin duftete dezent nach Rosen. All das nahm Kathy nur unterschwellig wahr, während die Angst ihr die Kehle zuzuschnüren drohte und sich allmählich zu Panik verdichtete.

»Was wollen die Cops?«, fragte Emily ihre Mutter naseweis.

»Nichts Wichtiges. Geh nur in die Küche und warte, bis ich dich rufe. Dad wird bestimmt gleich kommen.«

»Okay. Ich stelle mir einen Stuhl vors Fenster, dann kann ich hinaus schauen«, beschloss die Kleine geschäftig.

Kathy folgte den Beamten ins Wohnzimmer. Sie blieben mitten im Raum stehen, der Polizist schlug vor: »Setzen Sie sich doch, Mrs Tanner.«

»Was ist passiert? Sagen Sie mir die Wahrheit«, forderte sie entschieden. Sie konnte dem Druck, den die aufkommende Panik in ihr auslöste, keine Sekunde länger Stand halten und war nahe daran, die Fassung zu verlieren.

»Setzen Sie sich«, bat die Beamtin sie freundlich. Sie ließ sich neben Kathy auf dem Sofa nieder, während ihr Kollege erklärte: »Ihr Mann ist mit seinem Truck in eine Unfallstelle geraten. Sie lag hinter einer unübersichtlichen Kurve auf der Ausfallstraße von Oakland kommend. Der Unfall hat sich direkt hinter einer Brücke ereignet. Dort sind die Böschungen sehr steil. Ihr Mann wollte ausweichen, hat die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist die Böschung herunter gerast.«

Kathy starrte den Polizisten ungläubig an. »Wurde er bei dem Unfall schwer verletzt?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

Der Mann senkte den Blick und murmelte: »Es tut mir leid …«

»Nein!« Kathy schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Ein grausamer Schmerz erfüllte ihr Innerstes und drohte, ihr das Herz zu zerreißen. Sie konnte nicht mehr aufhören zu weinen und zu schreien …

An diesem Punkt erwachte Kathy Tanner aus ihrem Albtraum. Sie brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es nur ein Traum gewesen war. Dass all das, der Unfall, die schwere Zeit danach, die schreckliche Trauer und Verzweiflung, die Bobs Tod in ihr ausgelöst hatte, fast ein Jahr zurücklag.

Schwer atmend lag sie im Bett, starrte an die Zimmerdecke und versuchte, ein wenig ruhiger zu werden. Es gelang ihr nur mühsam. Tränen liefen über ihre Wangen und sie fühlte sich schrecklich einsam und verlassen. Immer wieder quälte sie die Frage, warum dies hatte passieren müssen. Bob hatte keine Schuld an dem Unfall getroffen. Seine Firma hatte Kathy eine anständige Abfindung zukommen lassen. Nun hatte sie genug Geld, um endlich ihre eigene Praxis zu eröffnen. Aber sie verschwendete nicht mal einen Gedanken daran. Ohne Bob war ihr Leben leer.

Nach einer Weile erhob die junge Frau sich und trat hinter das Fenster des Schlafzimmers, das sie nun schon fast ein Jahr lang allein benutzte. Aber nicht mehr lange …

Direkt nach Bobs Tod hatte Kathy einen Zusammenbruch erlitten.

Sie war einige Wochen in einem Sanatorium gewesen. Ihre Eltern hatten Emily zu sich genommen. Am Anfang war Kathy so in ihrem Schmerz gefangen gewesen, dass sie kein Wort sprach und auf nichts reagierte.

Erst eine behutsame Therapie hatte ihr in Schmerz erstarrtes Herz geöffnet und ihr dabei geholfen, Trauer zuzulassen.

Dann hatten die Eltern sie zusammen mit Emily besucht und ihr Mut gemacht. Irgendwann wollte Kathy wieder leben, wenn auch nur für ihre kleine Tochter. Emily sollte nach dem Vater nicht auch noch die Mutter verlieren. Endlich hatte Kathy die Klinik verlassen können. Die Rückkehr in ihre alte Wohnung war quälend gewesen. Schließlich wurde der jungen Witwe klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie wollte und konnte ihr Leben nicht auf die gleiche Weise führen, nur ohne Bob. Es musste einen Schlussstrich geben, wenn sie einen Neubeginn wagen wollte.

Kathy hatte das mit ihren Eltern besprochen, und diese hatten ihr zugeredet. Sie ließen ihre Tochter nicht gerne gehen, aber sie spürten, dass Kathy den Ortswechsel brauchte.

Seit dem Tod des Vaters litt Emily zunehmend unter Asthmaanfällen. Der Verlust schien ihre Krankheit verschlimmert zu haben. Die Ärzte rieten zu einem Klimawechsel. Trockene Wüstenluft sollte Emily helfen, wieder beschwerdefrei zu leben. Die erste Wahl war da Arizona. Zusammen mit ihrem Vater hatte Kathy lange nach einer bezahlbaren Immobilie in Tucson gesucht und war schließlich fündig geworden.

Nun stand der Umzug unmittelbar bevor. Während Kathy auf die Lichter der Williamsburg-Bridge blickte, schlich sich doch so etwas wie Wehmut in ihr Herz. Am nächsten Morgen würde sie sich von ihren Eltern verabschieden, die sie und Emily zum Flughafen begleiten wollten. Dann flogen sie nach Tucson, um ihr neues Heim zu beziehen. Es war ein kleines, gemütliches Holzhaus in einer ruhigen Wohnstraße. Nicht sehr weit von Kindergarten und Schule entfernt, mit einem großen Garten, in dem Kathy Kräuter für ihre Praxis anbauen wollte. In Tucson würde sie sich selbstständig machen und nur noch als Heilpraktikerin arbeiten. Alles war geregelt, und die junge Frau hoffte, im neuen Daheim endlich Frieden zu finden.

Und doch … New York würde ihr fehlen. All die Erinnerungen an ihr ganzes bisheriges Leben, die Wohnung der Eltern, Bobs Grab … All das musste sie am nächsten Morgen hinter sich lassen.

Leise verließ Kathy ihr Schlafzimmer und warf einen Blick ins Kinderzimmer. Emily schlief selig. Man sah ihrem zarten, vom Schlaf rosa überhauchten Gesichtchen nicht das Schwere an, das auch sie schon hatte durchmachen müssen. Doch es war da, und es wurde Zeit, dass für sie beide ein neues Kapital begann …

*

Rose und Trevor Wheeler bemühten sich sehr, Tochter und Enkelin den Abschied nicht noch schwerer zu machen. Trotzdem flossen Tränen, und Rose bat ihre Tochter immer wieder, gleich anzurufen, wenn sie in ihrem neuen Daheim angekommen waren.

»Ihr müsst uns bald besuchen«, schlug Kathy vor und wischte sich über die Augen. »Es wird euch bestimmt gefallen, allein der große Garten …«

»Ich kriege eine Schaukel und ein Klettergerüst«, erzählte Emily munter. Sie freute sich auf die große Reise und konnte gar nicht begreifen, warum Ma und Grandma weinten.

»Nur gut, dass Kinder schnell vergessen«, sagte Rose leise zu ihrer Tochter. »Und wenn du Hilfe brauchst, melde dich, ja?«

»Es wird schon alles gut gehen«, versicherte Kathy optimistisch. Sie atmete auf, als sie im Flieger saß und der Big Apple unter ihr im Nebel verschwand. Von nun an wollte Kathy nur noch nach vorne sehen, nicht mehr zurück. Sie hoffte, dass ihr das ein wenig helfen würde, auch wenn sie die schmerzlichen Erinnerungen natürlich mit sich nach Arizona nahm.

Es wurde ein langer Interkontinentalflug durch mehrere Zeitzonen. Sie »sparten« drei Stunden ein, was den Reisetag entsprechend verlängerte und bei Kathy für einen ziemlichen Jetlag sorgte. Emily hingegen war den ganzen Flug über munter. Sie schaute sich Zeichentrickfilme an, spielte mit einem anderen kleinen Mädchen, das mit seinen Eltern die Großeltern besuchte, und war bei ihrer Ankunft in Tucson sogar ein wenig überdreht.