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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74097-725-2
In drei Minuten wird er ein Mörder sein! Und keinen anderen Gedanken dabei empfinden als Haß. Vielleicht hat er Furcht, es zu tun, aber niemand kann in den bärtigen Mann hineinsehen, der hinter dem Verschlag aus Brettern an der Fuhrhalterei sitzt und sein Gewehr festhält.
Er hat kleine und tiefliegende Augen, und sein Haar ist wild und ungebärdig, genauso dunkel wie seine Gedanken und die Nacht, die sich über der Stadt Ogallala am South Platte River in West-Dakota ausgebreitet hat.
Die Stadt ist jetzt fast ruhig, und Seymour Brush weiß, daß die Zeit nach Mitternacht für sein Vorhaben gerade richtig ist.
Das Licht im »Red Indian Saloon« ist erloschen. Nur im Haus des Docs und im Store Abe Sparkes’ brennt noch Licht und im »Ogallala-Star-Saloon«.
Und jetzt erst sieht sich Seymour Brush nach seinem Pferd um, einem hochgebauten schwarzen Renner. Der Hengst frißt von dem Bündel Gras, das ihm Seymour ausgerissen hat, ehe er sich der Stadt näherte.
»Dieser Hundesohn!« zischt Seymour. »Wegen lumpiger achtzig Dollar hat man mich eingesperrt. Und Sparkes, dieser Halunke, hat mich verurteilt. Ein Jahr und sieben Monate sind es jetzt her. Ein Jahr und sieben Monate in einem Käfig. Morgens heraus, eine Kette zwischen mir und Nummer siebzehn. Zwei Schellen, eine um den linken Arm und eine um den rechten Fuß. Ein Aufseher vorn und einer hinten. Zwei Peitschen und zwei Spitzhacken. Und damit Steine brechen. Jeden Tag. Fünfhundertneunundsiebzig Tage schuften! Und dazu die Peitsche!«
Er sieht zum »Ogallala-Star« und flucht.
»Er hat viele Freunde«, sagt der Mörder langsam. »Aber ich habe auch welche. Meine Freunde sind Spieler und rauhe Burschen. Und seine sind die dicken, vollgefressenen Bürger, die Reichen und Faulen dieser dreckigen Stadt. Sie halten alle zusammen. Dieser Halunke, mich wegen achtzig Dollar in das Jail zu schicken! Dabei hatte Hank schon die Hand am Revolver, als er die Karten auf den Tisch warf und sagte, daß ich ein Falschspieler sei. Nun gut, vielleicht hatte er wirklich die beiden Karten gesehen, die ich verschwinden ließ. Vielleicht hätte er mich des Falschspiels überführt – wenn ich nicht vorher ein Loch in seinen Bauch gemacht hätte. Um ganze achtzig Dollar ging das Spiel, und darum starb er. Ich hätte nicht schießen sollen, sagten sie hinterher. Sie mußten mich einsperren, und weil ich zuerst schoß, bekam ich ein Jahr und sieben verfluchte Monate! Dafür soll dieser Bursche jetzt bezahlen!«
Er bricht ab und sieht die Tür des Saloons aufgehen. Sein Karabiner wandert hoch. Ihm tritt der Schweiß aus allen Poren, und seine Finger krampfen sich um den Schaft der Springfield. Er zielt lange und gründlich. Einen Augenblick schließt er die Augen, denn sein Herz scheint einen rasend schnellen Trommelwirbel zu schlagen. Dann macht er die Augen auf und zischt: »Beinahe hätte ich Dunlop Haymer erschossen! So ein Narr! Was kommt er um diese Zeit auch da heraus! Nun gut, niemand wird wissen, daß ich es war! Darauf kommt keiner! Ich bin schon zwei Monate hier und habe immer freundlich gegrinst, wenn ich Abe sah. Ich bin zu ihm in seinen Store gegangen und habe mich freundlich mit seiner Frau unterhalten! Keiner wird denken, daß ich so närrisch bin! Und schließlich – mein Karabiner steckt ja im Sattel. Und dazu habe ich noch zwei Zeugen, die beschwören werden, daß ich die ganze Nacht zu Hause war!«
Seymour Brush ist jetzt sechsunddreißig Jahre alt, genauso alt wie Mary Sparkes, die Frau des Richters. Sie waren Jugendgespielen, Mary und Seymour. Und Seymour wollte sie immer haben, und sie wies ihn ab.
Vielleicht haßt er darum die Sparkes-Leute so. Er haßt Mary und möchte sie noch immer haben, denn sie ist schön geblieben, und trotz ihres Jungen sieht ihr niemand die sechsunddreißig Jahre an. Und sie liebt ihren schlauen und klugen Mann Abe Sparkes, der um zwölf Jahre älter ist als sie.
Und sie liebt ihren Sohn Rick, der so zu werden verspricht wie sie. Groß und schwarzhaarig, ein ganz und gar verträumter Bursche, der viel liest und die meiste Zeit im Haus ist.
»Man müßte sie alle umbringen!« sagt er heiser. Er denkt an seine Zeit im Jail, und wilder und ungebärdiger Grimm tobt in ihm.
Seymour Brush ist ein Mann, der einmal auf die schiefe Bahn gekommen ist. Und diese Bahn hat der Teufel mit Schmierseife eingerieben, damit er schneller unten ankommen soll. Er wird gleich ganz unten sein – er wird auf den Rücken eines anderen Mannesschießen.
Er sieht die Schwingtür aufgehen und den untersetzten Doc Windgrave erscheinen. Er sieht den zweiten Schatten kommen und hält den Atem an, denn dieser Mann ist sein Mann: ein Familienvater, ein Richter, der streng nach dem Gesetz urteilt und ihn in das Jail brachte – dieser Mann ist sein Ziel, und der Lauf des Springfield-Karabiners richtet sich auf den ahnungslosen Abe Sparkes, der sein Spiel gemacht hat in dieser lauen Nacht des 16. August 1867.
Keine sechzig Schritt von Seymour, gegen den hellen Fleck der Laterne über dem Vorbau des »Ogallala-Star«, heben sich die beiden Gestalten der Männer ab.
»Das war ein schöner Tag, Doc!« meint Abe Sparkes. »Ich war ganz zufrieden mit dem Gewinn. Nun, nächste Woche gewinnst du mir alles wieder ab, was? Dann schlaf nur schön, Doc!«
Und damit greift er kurz an seinen schwarzen Hut und wendet sich nach rechts. Und der Doc geht nach links.
Seymour Brush sieht Abe Sparkes durch den Staub der Straße wandern, und sein Karabiner wandert zwischen den beiden Brettern des Verschlages mit der Mündung mit. Er zielt genau. Erst dann krümmt er den Finger und sieht ruhig und kalt auf den Blitz, der aus der Mündung des Karabiners faucht.
Abe Sparkes fühlt nur den dumpfen Anprall. Dann liegt er auf einer sanften Wolke, die ihn hoch und höher trägt. Er merkt nicht mehr, daß er stürzt. Er liegt im Staub der Straße, achtzig Schritt von seinem Haus entfernt und sechzehn vom Vorbau des »Ogallala-Star«. Er liegt still und stumm da, während sich der Doc entsetzt umdreht und gerade noch den blanken Lauf verschwinden sieht. Doc Windgrave rennt los. Er schreit dabei schrill und keuchend, daß es von den Hauswänden widerhallt.
»Schnell, Leute!« schreit der Doc. »Jemand hat auf ihn geschossen! Schnell, fangt den Burschen! Fangt ihn, er steckt hinter dem Frachtkontor!«
Aber er ruft ganz umsonst, denn ehe der erste Mann aus einem der Saloons kommt, verschwindet Seymour Brush hinter dem Bretteranbau und sitzt im Sattel seines schwarzen Pferdes und reitet langsam an. Die Lumpen, die er seinem Hengst um die Hufe gewickelt hat, verschlucken das leise Hufgeräusch. Er verschwindet hinter den Hügeln und hört die Rufe hinter sich verklingen.
»Du sperrst niemanden mehr ein!« sagt er zischend und hält auf den South Platte River zu. Dort reitet er in den Fluß und steigt ab. Er wickelt auf der Sandbank am nördlichen Ufer die Lumpen ab und wirft sie in das heftig strömende Wasser. Dann überquert er den Fluß und reitet zügig auf dem anderen Ufer weiter, bis er wiederum die Richtung wechselt und zum zweitenmal durch den Fluß trabt. Zweimal sieht er sich um, und dann lacht er. Er ist zufrieden mit der Arbeit, die er hinter sich hat. Irgendwo voraus wirft er den gestohlenen Karabiner in den River. Er reitet jetzt schneller und erreicht seine Ranch, die nur zehn Kühe hat, einen Stall und einen Korral. Dort stehen zwei Pferde neben seinen, und ein Mann tritt aus der Tür. Er sieht Seymour kommen und wendet sich nach hinten um.
»Budd, komm heraus, er ist da«, sagt der Mann heiser. »Nimm dir gleich Decken und reibe den Hengst trocken. Mach schnell, denn vielleicht hat er jemanden hinter sich!«
»Ich schätze nicht«, sagt Seymour langsam und steigt ab. »Budd, führe ihn in den Korral! Warte, ich nehme erst noch den Sattel ab! Steve, du kannst ihn aufhängen und ausreiben.«
Die beiden Männer starren ihn an, und Steve Brenton fragt heiser: »Nun…?«
»Schon gut«, sagt Brush kurz. »Ich bin mit ihm fertig! Es war eine leichte Sache.«
»Vielleicht hätte ich es doch machen sollen«, sagt Budd Culbert. »Schließlich war meine Sache mit Sparkes älter als deine, Seymour!«
»Du hast nur einen Monat gesessen, Budd!« antwortet er langsam. »Was ist ein Monat gegen meine Zeit, he? No, es ist schon richtig so! Auch du solltest das denken, Steve! Wir sind ihn jetzt für alle Zeiten los, diesen Narren! Der Teufel hat ihn sich geholt, und damit ist genug geschehen!«
*
Die Frau hört den Ruf in ihrem Schlafzimmer, der schrill durch die Häusergassen tobt.
»Sheriff, he, Bing, komm schnell! Sie haben Abe erschossen! Dort drüben war es! Lauft, Männer, lauft!«
Sie hört das Trampeln der Stiefel auf dem Gehsteig und das Dröhnen der Tritte auf den Bohlen.
»Nein, nein!« sagt Mary Sparkes, und der winzige Hoffnungsschimmer tönt in ihrer gepreßten Stimme mit. »Es kann nicht sein! Es gibt sechs oder sieben Männer in dieser Stadt, die denselben Vornamen führen. Nein, mein Abe ist es sicher nicht, denn auf ihn schießt doch niemand! Warum sollte es ausgerechnet mein Abe sein?«
Ihre Hoffnung läßt sie aufstehen und in die Schuhe steigen. Sie wirft sich den Mantel über und nimmt die Lampe in die rechte Hand – und erstarrt!
»Madam Sparkes!« ruft jemand draußen schrill. »Madam, kommen Sie schnell… ein Unglück… ein Unglück!«
Und dann schweigt die Stimme, und unten klopft es an die Haustür. Sie dreht sich langsam um und geht zur Tür.
Sie geht langsam über den Flur auf die Treppe zu und hält sich am Geländer fest. Ihre Hände sind schneeweiß, und das schwarze Haar, das sie aufgelöst hatte, fällt ihr in langen Wellen über die Schultern. Sie geht langsam die Treppe hinunter. Ihre Hand greift zum Türdrücker. Sie steht in der Tür, und vor ihr halten acht oder neun Männer, die das blasse Gesicht der Frau sehen.
Jetzt nehmen diese Männer die Hüte ab. Sie starren im nächsten Augenblick auf die Hauswand, den Boden oder gegen die Straße. Einige scharren unruhig mit den Stiefeln.
Ganz vorn steht Doc Windgrave.
»Mary, ich… es tut mir leid!« sagt er, der sonst so redegewandt ist, unbeholfen. »Es ist keine gute Nachricht, mein Kind, gar keine gute Nachricht!«
»Wer tat es?« fragt sie nur, und ihre Stimme ist ihr so fremd wie das Gefühl, plötzlich allein zu sein. »Wer tat es, Doc?«
Sie geht wie im Traum die Stufen hinunter und sieht auf den einen Flügel der Schwingtür des »Ogallala-Star«, den man ausgehoben hat und auf dem ihr Mann liegt.
Er liegt auf dem Rücken, denn die Kugel traf ihn dort und steckt irgendwo vorn unter dem linken Rippenbogen. Und sie sieht sein Gesicht, das seltsam voller Staunen ist und keinen Schmerz zeigt. Sie sieht die geschlossenen Augen, und wenn das Blut nicht wäre, könnte sie glauben, daß ihr Mann Abe schläft. So friedlich sieht er aus. Sie weiß nicht, daß sie in die Knie sinkt und ihr Mantel voller Staub wird.
Sie deckt sein Gesicht mit ihrem schwarzen Haar zu, und ihre Schultern beben nicht einmal.
»Abe«, sagt Mary Sparkes nur. »Mein armer, armer Abe! Ist es Gott zuviel gewesen, daß er uns das Glück nahm, als es tief und glücklich wurde? Abe! Abe…!«
Und die Männer sehen, wie sie aufsteht.
»Tragt ihn in das Haus!« sagt sie ruhig und leise. »Legt ihn auf das Sofa, und bestellt einen Sarg bei Miller. Er soll ihn mir morgen früh bringen, das ist noch zeitig genug! Doc, wie kam es?«
Er kommt langsam näher und erzählt es stockend. Sie sieht ihn mit kühlen Augen an, in denen nur tief hinten der Schmerz zu lesen ist. Und sie sieht zum Verschlag hin.
»Keine Spuren, Mary«, sagt der Doc heiser. »Dieser verdammte Mörder!«
»Ein Mensch, Doc!« murmelt sie und geht neben der Tür her, die sechs Männer in das Haus tragen. »Ein Mensch wie Sie und ich, Doc Windgrave! Wer weiß, was in seiner Seele vorgegangen sein mag? Vielleicht wollte er gar nicht Abe erschießen und hat ihn mit einem anderen Mann verwechselt, wie? Denken Sie nur nicht nach, Doc, er ist auch nur ein Mensch!«
»Ein Mensch?« sagt er zwischen den Zähnen. »Ich glaube eher, es war ein Teufel! Und ich sollte mich verdammt irren, wenn ich nicht ahne, wer das besorgt hat!«
*
Das Leben geht immer weiter, wenn auch der Tod Gevatter gewesen ist. Auch im Store der Sparkes’ läuft alles weiter. Sie steht hinter dem Tresen und bedient. In der Mittagszeit gibt es meist weniger zu tun, und dann kann sie sich um das Essen kümmern. Aber die Glocke über der Tür des Ladens bimmelt trotzdem immer wieder. Leute kommen und wollen etwas kaufen. Männer der Weide, die Kugeln oder Riemen, neue Hemden oder Tabak wollen. Frauen, die etwas vergessen haben und es schnell noch holen.
Rick sitzt viel am Fluß, wenn er die Säcke getragen hat, aus denen seine Mutter Mehl oder Zucker ausgibt. Kisten und Kästen trägt er und schält Kartoffeln für das Mittagessen. Er macht viele Dinge, die sonst sie erledigte. Aber er findet immer noch Zeit, sich an den River zu schleichen und dort am Ufer zu hocken. Er beobachtet das Spiel der Wellen und denkt nach. Es sind keine guten Gedanken in seiner Brust. Er denkt an den Mörder seines Vaters, der so gut seine Spuren zu verwischen verstand. Er hat die leisen Reden der Männer gehört, die sich mit Seymour Brush beschäftigten, der seinen Vater gehaßt haben soll wie den Tod oder die Pestilenz.
Rick Sparkes kennt Seymour genau. Er hat ihn oft gesehen und erinnert sich an die finsteren Blicke, deren Tücke den Rücken des Vaters trafen, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Und Rick wird es fast zur Gewißheit, daß es Seymour gewesen sein muß.
»Ich habe es gesehen, wie er ihn voller Haß anstarrte, als er wiederkam!« sagt er vor sich hin. »Ich habe die Blicke gesehen, die er Mam nachwarf. Er ist der Mörder, aber ich kann es nicht beweisen. Zeugen hat er… Was sind schon Zeugen? Die lügen das Blaue vom Himmel herunter!«
Und er hält den Colt 38 zwischen den Fingern und richtet ihn auf eine vorbeitreibende Schilfinsel. Und die Schilfinsel ist für ihn Seymour Brush.
Er hockt am dritten Tag, als der Abend sich neigt, auf der Uferböschung am River und blickt nach Westen. Und dann sieht er die Reiter auftauchen. Er rutscht zwischen die Büsche zurück, in denen sein Pony steht. Er hört die laute Stimme Steve Brentons, als sie dicht am Ufer halten.
»Da sitzt sonst der Bengel!« sagt Brenton heiser. »Seymour, ich weiß nicht, ob es richtig ist, daß du ihm eine Kugel geben willst? Er ist doch nur ein Junge, und…«