image

image

 

image

image

Rachel Rep

PANZERSCHOKOLADE

Roman

image

Mehr als eine Tonne Thanx to U &
Marc Steinhausen, Dr A. Ruoff, Dorothée Engel, Ch.v. Ditfuth,
The Diddifighters, F.U.R.T., Dr.M.Gärtner, The Rep’s, Köln und die
Donnersbergerbrücke.

Inhalt

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Epilog

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, könnte Ihnen auch das gefallen …

Mittwoch

Macht nichts, was soll sein, ist ja nur vorübergehend. Zweiter Stock, hinten durch, Nummer ziehen, setzen. Natürlich glotzen alle, wer die Neue ist. Gott sei Dank hat sie ihre Helmut-Schmidt-Gedenkmütze tief ins Gesicht gezogen.

»Sehr geehrte Damen und Herren, wir sind heute leider unterbesetzt. Von daher müssen Sie sich auf längere Wartezeiten einstellen. Wir bitten um Verständnis!«

Hätt’ sie sich mal was zu lesen mitgenommen. An der Leuchttafel stehen die Nummern: 38, 39, 40. Sie ist die 68. Okay, kein Ding, Zeit für mindestens 25 Zigaretten. Ruhig bleiben. Die anderen müssen da schließlich auch durch. In zwei bis drei Stunden ist sie hier raus.

Das Geld aus der Coffee Lounge in Pankow ist mal wieder nicht gekommen, es ist der siebte (wie lang war Rock am Ring schon vorbei?), und die Miete ist noch nicht bezahlt. Sie hätte ein Foto von ihrem leeren Kühlschrank machen sollen – mit ihrem Blackberry.

Klick, 41, 42, 43. Raus, eine rauchen. Sie bittet ein eingespieltes Frauentausch-Pärchen um Feuer. Setzt sich wieder auf den gleichen Platz neben den Typen. Mit Blick sowohl zur Eingangstür als auch zum Fenster.

»Will jemand die 55? Ich brauch se nich’ mehr!« Fünf Frauen melden sich. Die mit den rosa Cowboy-Stiefeln, Härtegrad 12, und den auffällig unbehandelten Zehennägeln – was sonst würde sich durch die obere Schicht bohren – springt auf und gewinnt. Mist, ihre verdammte Höflichkeit bringt sie noch ins Grab. Herrgott, das sind nur noch 12 Nummern, sie wäre in nicht mal einer Stunde wieder in Freiheit.

Raus. Das Kettenraucher-Pärchen steht zum Glück noch immer da.

Klick, 46, Klick, 47, Klick, 48. Wieder der gleiche Platz neben dem gleichen Typ. Ob der sie für total aufdringlich hält? Vielleicht kann er ihre Aura nicht mehr ertragen, bleibt aber aus lauter Mitleid auf seinem Platz sitzen. Schließlich war er ja zuerst da. Meine Güte, man sitzt aber auch wirklich sehr eng nebeneinander hier. Die Stühle sind zusammengeschraubt. Aber im Flugzeug beschwert sich auch niemand. Und überhaupt: Der kann sie mal, was kann sie denn dafür. Der Laden ist voll! Er soll sich lieber mal die anderen anschauen! Die da drüben hat sich komplett verirrt. Die wollte höchstwahrscheinlich ins »Tiffany’s« in Gelsenkirchen-Rotthausen. Saß halt im falschen Bus. Kommt vor, Hauptsache, der Lipgloss hält.

Die Chancen stehen gut für sie. So kacke sieht sie heute morgen gar nicht aus. Und extra keinen Knofi gegessen, nix. Irgendwie gewöhnt sie sich an ihre Leute. Sitzen doch alle in einem Bottich, konzentrieren sich auf das bevorstehende Gespräch, das über Leben und Tod entscheidet. Es herrscht Totenstille. Jeder weiß: Wer hier sitzt, der muss niemandem mehr was vormachen, der ist durch hell and back, verstehste, dem machste nix vor, ja?!

In Gedanken springt sie auf, fordert ihre Freunde auf, sich an den Händen zu fassen, den Herrn zu preisen, laut die deutsche Hymne anzustimmen und in einer Polonaise aus diesem Gebäude zu fliehen.

Klick, 55. Die dreiste Kuh, verdammt, das hätte sie sein können. Sie hasst sich. Pah … weißte, sie wartet auch vier oder fünf Monate hier – auf einem Bein, wenn’s sein muss – ohne Krampfadern zu kriegen.

Eines Tages … Klick, 68. Oh my God! Elegant, ohne eine Miene zu verziehen, fast lächelnd, wie sie es gelernt hat, damals, als die blutigen Blasen in den High-Heels bei jedem Schritt auf dem Laufsteg in Tokio, Paris, New York geplatzt sind, schwebt sie wie eine Siegerin, ja, eine Auserwählte aus dem Warteraum des Grauens und der Depression. Sie spürt, dass sie auf dem Weg hinaus noch ein letztes Mal alle ihre Leidensgenossen mit ihrer positiven Energie streift – jeder Einzelne sich schnell ein, zwei Liter Kraft abzapfen kann –, und geht. Ihr Schicksal liegt jetzt in der Hand der Dame von Platz 19. Ein ziemlich großer Raum. 50 Schreibtische nebeneinander, offenes Detektivbüro, getrennt durch Plastikscheiben, genau wie in »Straßen von San Francisco«. All right everybody, this is a robbery! Platz 19 ist am anderen Ende, sie muss sich sputen – jetzt bloß nicht auch noch die entnervte Zuständige warten lassen.

Und leise, vor allem ruhig und leise. Gute Laune kann man später einbauen. Erst mal ruhig, locker, demütig. »Frau Fiedler« steht auf dem Schildchen. Sie dürfte so um die Ende 20, Anfang 30 sein. Braune Bob-Frisur, Ohrringchen, Porzellankätzchen auf dem Schreibtisch.

Die Tische haben eine merkwürdige Walfischform – zur Sicherheit der Besatzung. Nicht selten kommt es zu Auseinandersetzungen. Manchmal werden die Bearbeiter auch angegriffen. Warum bloß? Es gibt nur diese beiden Sitzmöglichkeiten: entweder am Ende des Walfischs, gefühlte 20 Meter vom Ansprechpartner entfernt, oder ungefähr in der Mitte. Irgendwie vertraut sie ihr und gewährt ihr den Walfischmittelsitz mit dem Rücken zur Wand, Blick zu ihr und aus dem Fenster. Sehr gut; wenn sie gleich Inspiration braucht und sich sammeln muss, schaut sie einfach an ihr vorbei in den strahlend grauen Novemberhimmel und auf die gegenüberliegende Plattenbauanstalt und fängt im Ernstfall an zu heulen. Method acting ist das Stichwort.

»So, den Personalausweis bitte, was kann ich für Sie tun?«

S. senkt den Blick. Na dann:

»Ja, ähm, also, ich war ja letztes Jahr schon mal bei Ihnen, also nicht bei ›Ihnen‹, ich meine, ich habe schon einmal Unterstützung von diesem Arbeitsamt bekommen. Ich wollte die Chance nutzen und habe in diesen vier Monaten eine Fitnesstrainer-Ausbildung gemacht. Jeden Morgen um halb sechs bin ich … ach, ich habe jede Woche mindestens drei Prüfungen … und in der B-Lizenz, also der wichtigsten, da hatte ich ’ne 1, aber das hat alles nicht so … – Jedenfalls bin ich jetzt eigentlich Musiklehrerin an einer echt tollen Musikschule, aber ich hab definitiv noch zu wenig Schüler, und das Café in Pankow … also wegen der Bauarbeiten wird meine Chefin wohl bald den Laden … und als Hostess auf der internationalen Fruchtmesse musste ich in der arabischen Halle arbeiten, und zwar am ägyptischen Stand, ausgerechnet an dem Tag, als Mubarak … aber … – und ich schwöre, dass ich auch bei dem Typen, der Messebau macht und ’ne Schreinerwerkstatt hat … der dachte wahrscheinlich, bloß weil ich nicht aussehe wie Schwarzenegger hätte ich keine, aber ich hab ja … und ehrlich gesagt, meine Miete … und der Kühlschrank …«

Frau Fiedler schaut von ihrem Computer hoch, wo sie ihre Daten eingesehen hat, und strahlt sie an: »Mensch, Sie sind doch die Sharona Gádji!« Sie beugt sich zu ihr rüber, ihre Augen leuchten: Wie klasse das sei, dass sie jetzt hier bei ihr sitze, dass sie sie kennt: »Ich hab euch mal in der Columbia-Halle gesehen. Ist schon länger her. Mann, war das ein klasse Konzert!« Das müsse sie unbedingt ihrer Kollegin erzählen. »Weißt du, für die Wuhlheide haben wir blöderweise keine Karten mehr gekriegt, sonst wären wir da natürlich auch hingegangen. Heute vor fünf Monaten war ich bei Rock am Ring! Das war großartig, aber ihr habt da diesmal nicht mitgespielt, stimmt’s? Du glaubst gar nicht, wie sehr mich das freut, dass ich dich jetzt richtig kennenlerne!« Das mit dem Antrag, das werde schon wieder, sei ja nur vorübergehend.

Ihre Ohrringe baumeln.

Wäre Kurt Cobain wirklich ’ne coole Sau gewesen, hätte er sie damals angerufen und sie mit in den Tod gerissen. Sie hätten gemeinsam Hand in Hand auf dem Hotelboden gelegen, er hätte erst sie, dann sich selbst erschossen, bloody idiot!

»Ja genau, Frau Fiedler. Das nächste Mal setze ich Sie natürlich auf die Gästeliste. Das geht klar. Und wirklich vielen Dank noch mal, Frau Fiedler.«

Seeehr, sehr gute Karten – dass der Antrag durchgeht.

Wie sie so auf ihrem – dieses Jahr noch nicht geklauten – Bike durch die mit Kastanien bepflanzten Seitenstraßen in Charlottenburg heizt und unerwartet vor einer roten Ampel tatsächlich eine Vollbremsung hinlegt, in reinster Vorbildfunktion (der »Wehe-du-fährst-jetzt-bei-Rot-da-rüber- und-mein-Sohn-macht’s-dir-morgen-nach-und-landet-unterm-Laster-dann-bring-ich-dich-um-und-außerdem-sind-wir-momentan-nicht-einmal-versichert-Blick« der Mutter neben ihr klemmte sich zwischen ihre Speichen), muss sie an Helmi denken. Musikmesse in Frankfurt. Sprinter vollbepackt auf dem Weg hin, die Nacht durchgefahren, von egal woher. On the way back, Frankfurt-München, die Karre noch vollgestopfter mit nagelneuem Equipment von vor Ort und wieder bester Dinge den Rückzug antretend, war die Welt ca. dreißig Kilometer lang absolut in Ordnung. Helmi war die letzten zwei Wochen am Stück gefahren und ließ sich auch die Rückfahrt nicht nehmen.

Nun ist man ja als Schlagwerkinstrumentalistin bemüht – sie zumindest –, auch wenn man noch so unangemessenen Bedingungen ausgesetzt ist, um Gottes willen nicht pingelig oder sogar empfindlich zu reagieren. Verkneif dir diesen oder jenen Spruch, nein, hau ihm bitte nicht aufs Maul, beherrsch dich, usw. Andererseits aber hätte es sie alle nicht wirklich weitergebracht, wenn sie mit einer Bindehautentzündung in irgendeine Linse oder angeekelte Fangesichter, die zudem für die gute Laune bezahlten, hätte blicken müssen.

»Leute, sorry, ich finde, es zieht!«

»Echt? Na, ein bisschen schon, stimmt …«

»Olli, nee, Helmi, hast du’s Fenster auf?«

»Quatsch, Maikie hat …«

»So a Schmarrn, wo ziahgt’s? Bei eich ziahgt’s im Hirn, ihr Zipflklatscha!«

»Du, sag amoi, des kann doch net sei … wo ziahgt’s denn da …?«

Hin und her, her und hin. Helmi schaut in den Rückspiegel.

»Naa …!«

Alle Blicke nach hinten, an ihr vorbei, zum Equipment, durchs Equipment hindurch, in das Blau des hessischen Himmels hinein, auf den Asphalt der Autobahn, in die Gesichter des Audi Quattro, der zwei Meter hinter ihrer Stoßstange nur darauf wartet, das eine oder auch andere herauspurzelnde Instrument elegant mit der Motorhaube auffangen zu können, sich bei der nächsten Ausfahrt vom Acker zu machen, die Kumpels anzurufen und alles schön für teuer Geld bei ebay versteigern zu dürfen. Natürlich nicht mit ihnen! Obwohl, wenn die Ampeg-Box nicht ganz unten verstaut gewesen wäre …

Gut, sie rechts ran, Klappe zu, weiter geht’s. Irgendwann wird’s immer dunkel, und sie sitzt wieder mal auf dem Beifahrersitz, damit ihre Jungs endlich ihren zwei Tage alten Rausch in Ruhe ausschlafen können, bevor sie ihren Frauen zu Hause zufällig über den Weg laufen. Sie wieder Bayern 3, Rod Stewart, lauter, alle zwei Minuten links von ihr nach dem Rechten schauen. Es hat die Augen immer noch auf. Aber ist es auch wirklich wach? Sonst: Gummibärchen reinstopfen oder: »Helmi, wie viel sind zweihunderteinundsiebzig durch zwölf?«

Drei Uhr MEZ. Natürlich, auch ihr kann das um diese Uhrzeit passieren. Man schaut auf den schwarzen, von wem auch immer perfekt geplanten Verlauf der geteerten, mit weißen Streifen gekennzeichneten, von hohen Scheinwerfern beleuchteten Autobahnstrecke ins nebelige Nichts hinein, während im Augenwinkel die Katzenaugen der Leitplanken vorbeidonnern und denkt … Mensch, tja … vielleicht noch ein Bärle …? Plötzlich wird man von etwas, nein von jemandem, ja, von Helmi, durch einen entsetzlichen Aufschrei aus dieser Traumwelt gerissen.

»Naa! Des gibt’s net! Hüijfe! Des gibt’s doch net! Was macht die denn … Des konnt i wirklich net seh’n! Um Gott’s will’n! I dra durch!«

Und fährt weiter.

»Sag mal, spinnst du jetzt, Helmi? Was ist denn? Was war denn? Brauchst du ’ne Pause? What the …?«

»Na, brauch i net, i glaub, i hab grad a kloans Madl mit rote Hoar im roten Regenmantel mit rote Gummistiefl und nam roten Regenschirm überfahr’n!«

Auf jeden Fall, hast du. Und auch vier Kamele im Hasenkostüm!

Mit Engelszungen usw. Er saß nach zwanzig Minuten und einer zweiten Gummi-Tüte wieder fest im Sattel, und sie riss das Radio noch weiter auf. Relax, man. Alles im Griff.

Halb fünf. Hammer. Komisch, das Sägen von hinten kommt ihr immer lauter vor. Wie wär’s zur Abwechslung mal mit Bach?

Sie beugt sich gerade zum 99. Mal allein auf dieser Fahrt zum verflixten Radio, um den einzig erträglichen Sender, der einem die Seele mit Brauchbarem füttert, zu suchen, als – bei 160 km/h, Maximum eines Sprinters, der noch bis nach München aushalten soll – eine Vollbremsung ihren Schädel samt den daranhängenden fünfzig Kilo in die Windschutzscheibe schleudert. Den Volume-Knopf in der einen Hand, mit der anderen hält sie sich ihre schmerzenden Schneidezähne fest, blickt sie auf die Straße. Was zum … war passiert? Ein grünhaariges Mädel mit grünem Dudelsack … oder wie? Nichts zu sehen. Sie stehen mitten auf der Autobahn unter einer Autobahnbrücke. Blitzschnell wendet sie sich zum Heiligen Stahlhelm und versucht mit vorgehaltener Hand zu artikulieren: »Shit, verdammter! Bist du eigentlich noch ganz sauber? Was machen wir bitte hier?«

Helmi sieht sie verständnisvoll an und sagt: »Spatzl, mir san da«, befreit sich entspannt vom Gurt, knipst die Scheinwerfer aus und öffnet die Fahrertür, um auszusteigen.

Richtig. Genau das kann man sich an dieser Stelle sparen. Selbstredend, dass sie wie eine Wahnsinnige ausgerastet ist, ihn erst angeschrien, dann angebettelt, zehnmal geschüttelt, ihm eineinhalb dezente Backfpeifen gegeben hat, bis er schließlich doch einsehen musste, dass diese Autobahnbrücke, unter der sie standen, an der ihnen Sportwagen, die um diese Uhrzeit endlich mal richtig ausgefahren werden konnten, um die Ohren flogen und hupten, NICHT seine Garage war!

Aus der Mitte von Nichts ging’s weiter durch die Nacht … an der nächsten Raste kann man immer mal ’ne Pause machen. Warum auch nicht … und sich schon wieder auf die nächste freuen …

Das rote Männlein verschwand. Grün.

Jetzt aber Vollgas, erst mal nach Pankow, Abschied feiern.

»Hallo! Heute kommt endlich Ware. Bitte kontrolliere, ob alles richtig geliefert wurde. Croissants, Ciabatta, Brownies mit und ohne Nuss, Schwarzwälder Kirsch- und Marmormuffins. Könntest du doch noch einmal Mittwoch um 14 Uhr? Habe vergessen, Apfelsaft zu kaufen, wenn Nachfrage, dann hol bitte einen Tetrapack bei Penny oder bei Erkan, sag, kriegt er nächste Woche wieder. Viel Spaß, Jessi.«

Giorgo’s, der Sonderzug in Pankow. Was will man mehr? Der Laden ist so übersichtlich, dass man locker, ja sogar gezwungen ist, alleine über ihn zu herrschen. Weit weg von Schickimickis, anonym, inkognito. Ein Traum, irgendwie. Fast.

Es hatten sich alle, wirklich alle Lieblingsgäste angekündigt, selbst frühere Mitarbeiterinnen, kurz und lange vor ihrer Zeit, kamen vorbei.

S. hatte mit jedem eine eigene Welt aufgebaut. Blöd nur, wenn alle gleichzeitig da waren. Sie musste sich förmlich zerreißen, um allen gerecht zu werden und ihnen ihre gesamte Aufmerksamkeit zu schenken. Das hatten sie wirklich verdient, denn schließlich, dieser Eindruck wurde ihr oftmals vermittelt, kamen sie nicht nur wegen der ausgezeichneten Kaffeebohnen, die waren dem Veranstalter mittlerweile zu teuer und man musste auf andere Verpackungen ausweichen, sondern eben auch wegen ihr. So etwas verpflichtet. Wann wird einem schon so eine Ehre zuteil? Wildfremde Menschen, die ihre kostbare Freizeit, um mal eben kurz neue Energie zu tanken, an der Koffeintanke bei Giorgio’s, ausgerechnet immer wenn sie Dienst hatte, mit ihr verbringen wollten. Freiwillig, oft stundenlang. Was die letzten Monate – durchaus für beide Parteien – nicht nur ausgesprochen erheiternd, inspirierend, rührend und lehrreich war, sondern auch durch den Lärmpegel anstrengend bis unerträglich.

Die Fiberglasknochenfrau zum Beispiel. Als sie das erste Mal das Café betrat, musterte man sich beiderseits, wie Frauen das so machen, und empfand spontan eine gewisse Sympathie füreinander. Man spürte sofort, dass sie ein Herzchen war. Selbst als S. der Fiberglasknochenfrau, körperlich emotional, wie sich S. in solchen Situationen zu äußern pflegt, vor lauter Freude über … lassen wir es eine unwesentliche Gemeinsamkeit gewesen sein, die man in den ersten Sekunden entdeckte … saftig auf die Schultern klatschte, erstarrte diese zwar, wurde kreidebleich, hielt sich aber zurück.

»Oh, na ja … Du, das macht nichts, schon gut, du, das gibt jetzt halt ’nen Bluterguss über die komplette Schulterpartie, aber so was geht ja vorbei … Ich muss halt nur nachher einen Termin bei meinem Osteopathen kriegen, damit er mich wieder einrenkt. Schiebst du mir das Wechselgeld bitte bis ganz an den Rand der Theke, sonst brech’ ich mir wieder die Finger, weißt du? Danke dir!«

Ja, selbst dieses rohe Ei wagte es immer öfter, wenn sie nicht gerade in der Reha war oder Termine bei südamerikanischen Wunderheilern hatte, mit der für sie lebensgefährlichen Kellnerin im Presslufthammer-Ambiente Gespräche über Kunst und dies und das zu führen. Die beiden beschlossen, wenn es möglich war, zwei Tische in unmittelbarer Nähe zu okkupieren und sich über ein paar Meter Abstand anzubrüllen.

S. lernte neben Spülmaschinen aus- und einräumen, Käsekuchenbacken, Frühstücke mit Eisbergsalat dekorieren und Milchaufschäumen unendlich viel über die einzelnen Zusammenhänge der komplexen deutschen und ostdeutschen Geschichte, die sie gefühlte siebzig Jahre zuvor niemals interessiert hätten. Sie wurde ein Fan von Friedrich dem Großen und Heinrich dem Löwen.

Heiko war eine Gattung, der S., hätte sie das Wort »Dienstleistung« oder »Servicewüste« – nicht in Pankow! – nicht so wörtlich genommen, den Hals gerne umgedreht hätte. Nun gut, jedes Haus hat sein schwarzes Schaf. Aber dieses Schaf musste sich leider mitteilen. Dinge, die keiner wissen wollte, noch nicht einmal S. Oder interessiert es Sie, wie viel die Prostituierten in dem Club die Straße runter, gleich neben dem Tabakladen, normalerweise kosten? Ach, für die Hälfte, also eine halbe Stunde mit allem drum und dran zwanzig Takken, soso … und nett sind die, reden kann man mit denen auch, besonders die aus der Ukraine sind extrem sauber und verständnisvoll, ach was …

»Hähä, oder haste Mann? Du? Bist nicht zu alt für mich, zeig mal Titten. Isch spiel immer Lotto, weiße, und letzens hab’ gwonne, elf Euro, habsch Spielkonsole kaufen wolle … hammse mir nösch geben wolle … hast du Konsole, kannse mir schenke?«

Sein Hörgerät war nicht immer auf normale Lautstärke eingestellt, wer weiß, ob seine Betreuer das immer so genau im Auge hatten, jedenfalls konnte er auch Lippenlesen, manchmal verstand er. Auch das Wort »Arschloch«, oder »verpiss dich, RAAAUUUUS!!«.

Ehrlich gesagt gab es mehrere mit diesen Genen, aber Pankow, dem Laufsteg der Schönen und Reichen, tat das keinen Abbruch, in keinster Weise. Im Gegenteil, wie oft trafen sich die Alt-68er, politisch Verfolgte, Querdenker und Visionäre, die sich von keiner Regierung mehr zum Narren machen lassen wollten. »Die Merkel und der de Maizière, alles Schweine, stecken doch unter einer Decke. Das Pamphlet, das ich an den Spiegel jeschickt hab, ist immer noch nicht veröffentlicht worden …«

»Okay, Leute ich seh’s ein, es muss klar Schiff gemacht werden! Ab heute: jeden Donnerstag um viertel nach vier. Besprechung. Vorträge, Vorschläge. Lösungen! Alles klar, bis nächste Woche.«

Nachdem das Giorgio’s zum Dissidentencafé umfunktioniert worden war, konnte es mit dem Sturz der sieben Schweizer Freimaurer, die die Weltherrschaft bis dato in Händen hielten, losgehen.

Der einzig wahre Realist ist der Visionär. Wer würde Herrn Fellini widersprechen wollen?

Wäre nur nicht der Senat gewesen. Der entschied doch allen Ernstes, die ganze Straße noch einmal aufreißen zu lassen. Vor einem halben Jahr, anders als letzten Sommer, da ging’s um die Straßenbahnschienen oberirdisch, hat man beim Renovieren der U-Bahn eigentlich alles richtig gemacht. Problem: es tropfte. Als S. bei Giorgio’s anfing, schwelgte die Gegend noch fast in romantischer Idylle. Nach und nach wurde alles abgesperrt, aufgerissen, Rohre rein- und rausgehievt, baggern, bohren, Pressluftgehämmer. Das Überleben der gesamten Straße stand wieder einmal auf dem Spiel. Von der Romantik mal ganz abgesehen. Wenn man sich als Gast oder/und Raucher doch raus, gemütlich an einen der drei Tische zu setzen wagte, hatte das schon ein verdammt ayurvedisches Ambiente, so mit einem Stuhlbein im Abgrund und mit dem anderen auf dem noch dampfenden Teer klebend, von den zutraulichen, weit gereisten Bauarbeitern mal ganz abgesehen. Andererseits war man mitten im Geschehen. Man war zum Beispiel Zeuge bei jeder noch so unbedeutenden Verkabelung. – Was S. fast schon wieder über eine Umschulung nachdenken ließ. Sie hätte manchmal gerne Beton gemischt für irgendwelche Füße. Apropos, morgens, bevor die Gäste kamen und sie wieder mal Geo lesend ihren ersten Milchkaffee schlürfte, spielten ihre blanken Zehen – es war Sommer im Osten – direkt vom Stuhl aus mit den kleinen Stahlzähnchen der Baggerschaufel. Da war die Riviera doch ein Dreck dagegen!

Nichts gegen eine gesunde Portion Selbstverblendung, bevor man total durchknallt. Das Problem war weniger, dass Jessi das Geld die letzten Monate schon zum falschen Zeitpunkt ausgezahlt hatte, nämlich Wochen später, also nachdem die Bank schon sämtliche Mahnungen herausgeschickt hatte, sondern vielmehr die Tatsache, dass durch die immer forscher werdende Idylle kein normaler, real existierender Mensch weder einkaufen noch in der Baggerschaufel oder irgendwelchen Rohren Chai-Latte, falls Jessi noch ’ne Packung besorgt hatte, trinken wollte. Was hieß das jetzt speziell für S.? Sie saß wieder mal auf einem sinkenden Schiff, sie konnte höchstens noch den Totengräber geben, und das auf jeden Fall für Umme, versteht sich.

»Blume 2000« hatte das Ganze in die Hand genommen und selbstkopierte Unterschriftenlisten an alle umliegenden Läden verteilt. Das Dönerrestaurant, zwischen dem Obst- & Gemüseladen und Giorgio’s, blieb merkwürdigerweise relativ entspannt. Kein Wunder, wer sonntagmorgens schon um 7 Herrengedecke verteilt, muss sich um seine Feinde nicht mehr sorgen. S. machte der Sonntag gar nichts mehr aus. Die Lebenszeit war eh vertrödelt. Auswege finanzieller Art – Utopie. Dafür Totensonntag. Ohne den gewohnten Baulärm in unmittelbarer Nähe, quasi am Gast, bzw. auf dem Schoß, hätte sie sich fast einsam gefühlt. Gäste kamen sowieso nicht mehr. Außer ihre Lieblingsstammgäste, die ein Herz für Verirrte und falsch Abgebogene hatten. Und eben die Herrenrunde nebenan, die sich erst nur lauthals zuprostete, später ein bisschen eindringlicher, bis sich dann zur vorangeschrittenen Stunde, nachmittags um vier, eine Multi-Globalisierungs-Kulti-Runde gebildet hatte und noch nicht ausgesprochene Wahrheiten über die Nazis und andere fiese Verschwörungstheorien mit stärker pigmentierten Freunden auseinanderklamüserte.

Andererseits, war nicht ganz Berlin nach der Mauer eine einzige Baustelle? Aber warum in Gottes Namen ausgerechnet hier? Und das seit Jahren! Existenzen gingen dadurch vor die Hunde. Darauf sofort noch mehr Raki mit Bier! Grell geschminkte Frauen saßen auch dabei. S. machte sich keine Gedanken mehr darüber, ob diese für 20 Takken oder zu einem ganz anderen Tarif für zusätzliche Unterhaltung sorgten. Reden konnte man ja schon mit ihnen. Die »Terrasse« schien zumindest belebtes Tummeln vorzutäuschen. Und das war nur für alle gut.

Sicher, nett waren sie. Selbst die rot-pigmentierten Herrengedecke. Immer höflich, immer aufmerksam. Da machte es auch nichts, wenn man morgens, in der friedlichen Morgenstimmung durch einen Huster, der aus dem tiefsten Inneren der Prostata heraus oder weiß der Henker, wo der dunkle Tod im Menschen steckt, dermaßen zusammenzuckte, sich sozusagen auch der Himmel auf der Stelle lieber wieder verdunkelt hätte, als sich diesem Dröhnen eines angesägten Orang Utan, eines Godzilla quasi, weiter aussetzen zu müssen. Hmm, lecker Milchschaum, echt gelungen diesmal. Auch dieses Thema bitte nicht unterschätzen! Das Giorgio’s war in dem Sinne kein abgegrenztes Ladenlokal, das sich stumpfsinnig nur auf die Verkostung von hundert verschiedenen Kaffeezubereitungsmöglichkeiten spezialisiert hatte. Nein, es war durch das Vorhandensein einer Durchgangstür und den Geschäftssinn der Inhaber des Gebäudekomplexes sozusagen an einen Telekommunikationsbetrieb gekoppelt, wodurch beide Geschäftsideen miteinander verbunden wurden. Die Betreiber, auch wenn sie das Giorgio’s an Jessi verpachtet hatten, waren sich nie zu schade, den ein oder anderen Tipp weiterzugeben. Auch S., immer offen für Neues, frei von Kompetenzparanoia und bereit, Neues dazuzulernen, auch wenn es zuerst keinen ersichtlichen Zusammenhang mit ihrem Leben zu geben schien, profitierte davon. Sie hörte aufmerksam zu, wenn es um die Molekularsituation der Milch ging. »Aufschäumen« war bei Gott nicht dasselbe wie »Ausschäumen«! Ein Seminar zur Perfektionierung ihres Aushilfsjobs jagte das nächste. S. nahm die Ratschläge gerne an, schließlich waren die Betreiber des Giorgio’s Pros auf ihrem Gebiet und sogar schon mal in Italien gewesen! So Tür an Tür freundete man sich schnell an. Ein Mitarbeiter der Geschäfts-WG, Samy, hatte es ihr besonders angetan. Er kümmerte sich nicht nur um ihre bisherigen Handy-Verträge und zusätzlichen Flatrates, sondern machte sich auch ein wenig Sorgen um ihre Zukunft. Genauso wie ihre Stammgäste.

Keiner wusste genau, was sie sonst so in ihrem Leben getrieben hatte, das war natürlich auch nicht der Punkt. S. ließ das logischerweise auch immer etwas im Unklaren, aber dass sie hier offensichtlich nicht genug, wenn überhaupt, Geld verdiente, war allen klar. Zumal sie, den Grund konnte keiner wissen, denn es war ein heiliges Ritual geworden, seit acht Monaten dasselbe schwarze, ausgefranste Oberteil trug. Ganz so unbegründet schien deren Verdacht nicht, angesichts der leeren Regale und Getränkekühlschränke. Der Verfall des Giorgio’s war spätestens jetzt, wo es keine Kaffeebohnen, weder für Espresso noch Kaffee, mehr im Café gab, glasklar. Die Prognose hinsichtlich der Zukunft ihres Arbeitsplatzes war alles andere als rosig.

»Ach wat, sei keen Frosch, meene Kleene, geh doch mal rüber zum Hatum. Hab jehört, der sucht schon ’ne Weile nach ’ner Aushilfe, lauf doch mal schnell rüber, und frach ma. Komm, dit bringt doch hier allet nüscht, wa? Ick pass solang uff hier.«

Es war ja wirklich gut gemeint, aber in einem Kiosk zu stehen – nicht dass S. sich für irgendetwas zu schade gewesen wäre –, würde höchstwahrscheinlich nicht die mehrere tausend Euro fürs Finanzamt einbringen. Dennoch, besser als eines Morgens vor einem komplett ausgeräumten Café zu stehen und ohne die Adresse und ohne Überweisung aufs Konto … das hatte sie schon einmal erlebt … mit einem Reisebüro, in dem sie an einem Tag zwei Flüge nach Fort Lauderdale gebucht und bezahlt hat, aber am nächsten Tag voll Vorfreude beim Abholen der Tickets vor einem ausgeräumten Ladenlokal stand. Die Polizei hatte die Nachforschungen nach drei Monaten eingestellt. Jedenfalls war das mit dem Kiosk im Gegensatz dazu etwas geradezu Solides. Warum auch nicht? Ein Euro ist ’n Euro. Marc, ein sehr guter Freund, der sie einmal auf der Baustelle besucht hatte, um ihr gehörig den Kopf zu waschen, hätte diese Idee unterirdisch gefunden. Also, zu keinem ein Wort.

S. kannte den netten Kioskbesitzer. Wie oft ist sie quer über die Baustelle über die unübersichtliche Kreuzung geflitzt, um sich dort Kippen zu kaufen, während einer ihrer echt zuverlässigen Stammgäste wie ein abgerichteter Bullterrier im Notfall jeden Übergriff mit seinem Leben verteidigt hätte? – Oft.

Sie beschloss, im Voraus zu kündigen. Das erhöhte den Druck und war meist von Vorteil. Gerade in der Gastro.

Schock, Enttäuschung auf Jessis Seite. Revolutionäre Erleichterung auf Seiten von S. Frei. Endlich wieder frei, bis Schichtende.

Abschiedsparty im Giorgio’s also.

Und weil sie gerade so beisammensaßen, beschloss S. sogar, sich nach all der Zeit zu outen. Sie wollte Samy und Leah, einer Aushilfe, die viel früher kapiert hatte, was eine Totgeburt war und die Reißleine schon vor Monaten gezogen hatte, nichts mehr vormachen. Ja, Schlagzeug, ja, bei »A.X.T.« Sie fühlte sich schlagartig wieder wie ein Mensch, wie etwas, was mit ihr zu tun hatte. Ein gleichwertiges Wesen, das nur mal kurz in ein anderes Milieu gestolpert war, aus unwesentlichen finanziellen Gründen. Schwamm drüber. Man muss die Reaktion der beiden nicht näher kommentieren. Erst ungläubige Gesichtsstarre, dann Freude auf allen Seiten. Gästeliste: Ehrensache! Noch ’ne Ladung letzter Kaffeebohnenreste für alle! Aufs Haus!

Aber Moment mal, wie konnte es bitte sein, dass ein Mitglied der berühmten Combo A.X.T.? Ausgerechnet HIER? Fragen über Fragen ließ sie mehr oder weniger gerne über sich ergehen. Absurd, und doch wahr. Während die einen mit geöffneten Mündern auf ihre Antworten gierten, entstanden an anderer Stelle bereits Grüppchen, die ihrerseits nach plausiblen Erklärungen suchten. Andere wiederum googelten, Samys Flatrate sei Dank, aufgeregt in ihren Handys herum. Kein Zweifel: Sie war es leibhaftig!

SMS wurden verschickt, Fotos geschossen, von »der von A.X.T.« im verrotteten Shirt, mit verschmiertem Eyeliner und zertrümmertem Dutt auf der Rübe. Inzwischen teilte Lotta, eine Freundin von der Freundin von … Zettel aus, auf dem jeder seine eigene Idee bezüglich der Zukunft »der von A.X.T.« aufschreiben konnte. Bei einer Sache waren sich alle einig: »Das musst du unbedingt aufschreiben! Für deine Fans!« Mhm, also für euch …, dachte sie. Die Stimmung erreichte den Siedepunkt. Ein Karnevalszug der Emotionen.

Hin- und hergerissen zwischen Scham und der ansteckenden Euphorie, Befreiung und Autogrammstunde versuchte sie einen Augenblick innezuhalten. Der Kiosk war tatsächlich noch eine Möglichkeit, übergangslos …

Plötzlich konnte Flatrate-Samy sich nicht mehr auf seinem Stuhl halten. Er sprang auf, verschwand im Fachhandel für Telekommunikation und andere elektronische Spielereien und kam Sekunden später mit einem kleinen Gerät in der Hand zurück, rief »Ich hab’s!« und knallte ein Diktiergerät von Olympus auf den Tisch.

»Da rein! Ganz einfach, ich erklär’s dir kurz …«

Der Akku sollte mindestens eine Woche halten, meinte Flatrate-Sam, und die Handhabe war selbst für sie easy.

Der Tag neigte sich langsam dem Ende, also dem späten Nachmittag, zu und so manchem wurde übel. Zu viele Kippen, zu lascher Kaffee, zu viel Stimmung. Um das Ende nicht einfach so zerbröseln zu lassen, besorgte S. sich aus der Küche des Giorgio’s eine handelsübliche Haushaltsschere, und Samy, der Lieblingsmitarbeiter der letzten Monate, hatte die Ehre, als Zeichen einer abgeschlossenen Ära, ihr nun offiziell und im Beisein aller diesen entsetzlichen Lappen, den sie nun gefühlte fünfzehn Jahre am Leib trug, in Fetzen zu schneiden. Kein Feuerwerk, keine musikalische Untermalung einer zweihundertköpfigen Blaskapelle – und dennoch: ein pathetisch bis historischer Akt der Befreiung, an Theatralik nicht zu überbieten. Zumindest nicht in Pankow!

Abschied ja, aber nicht für immer. Schließlich würde sie, so der Himmel wollte, demnächst gegenüber arbeiten. So war doch alles halb so schlimm. Nachdem sie die Ladentür das allerletzte Mal zugeschlossen hatte, atmete sie tief durch, ließ sich das letzte Mal die Sonne – gut, gnädigerweise bohrte sich ein einzelner, unerschrockener Strahl durch die meterdicke anthrazitfarbene Wolkenwand auf ihr grünes, extra für diese Gelegenheit herausgekramtes Tanktop scheinen, konzentrierte sich und marschierte schnurstracks über die Abgründe der Baustelle zum Kiosk. Aber Halt! Vielleicht doch erst mal eine Runde um den Block, und bei der Gelegenheit das Gerät ausprobieren und sich Mut anquatschen:

Also dann, rec.:

»Guten Tag, Herr … Frau …«

Löschen.

»Hallo, mein Name ist … jetzt egal, aber wenn Sie dieses Band abhören, können Sie davon ausgehen, dass ich ertränkt, erschossen, erdolcht … Scherz.«

Löschen.

»Hallo … ich bin eine Moorleiche.«

Stopp.

image

Fakt ist, dass ich geboren wurde, an einer Tankstelle, eigentlich einer Autobahnraststätte im Schwäbischen. Genauer gesagt zwischen Tailfingen, heute Albstadt 2 und Truchtelfingen, ganz in der Nähe von Burladingen, Onstmettingen und Hechingen. Musste aber gleich ins Krankenhaus, unters Sauerstoffzelt nach Tübingen. Meine Eltern waren aus Ex-Jugoslawien ausgebüchst und auf dem Weg zum Bodensee, zu einem Gig. Während ihrer Scheidung war ich dann im Kindergarten auf der Insel Krk an der Adria. Ballettunterricht, Klavierunterricht, Gesangsunterricht, rote Schwimmflügel, Serbokroatisch, Ungarisch, das übliche Programm. Onkel und Tante haben wirklich alles gegeben.

Ein paar Jahre später zurück in Deutschland mit neuer Familienzusammenstellung und endlich wieder auf Tour. Als Berufsmusiker, Gitarre, Klavier, Gesang, hatte mein Vater, der vor meiner Geburt mit seiner Band »Meteori« so eine Art Rockstar im alten Jugoslawien war, sich wohl oder übel damit abgefunden, dass ihm in Bad Dürrheim, Warburg, Bremerhaven, Friedrichshafen keine kreischenden Teenies mehr zujubelten. Mir machte es nichts aus, 25 Mal die Schule zu wechseln, entsprechend auch die KlavierlehrerInnen, Chorleiter- und Gesangslehrerinnen. Hauptsache, ich war immer dabei und konnte das Klavier mitnehmen.

In Fischbach konnte man uns leider keine Wohnung, keine Pension, geschweige denn ein Hotel für das sechsmonatige Engagement meines Vaters zur Verfügung stellen. Somit hatten wir die einmalige Gelegenheit, direkt am Bodensee auf dem Campingplatz in einem Zweizimmerzelt zu wohnen. Mit Klavier. Nicht zu glauben, wie schnell man da echte Freunde findet. Allerdings musste ich üben. Meine neue Mutti war wundervoll und sehr flexibel. Ihre gesamte Familie entstammt einer ungarisch-jugoslawischen Musikerdynastie. Sie hatte zehn Jahre knallhartes Konservatorium hinter sich und war das Herumtouren gewohnt.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Vater nach den Gigs samt Band um vier Uhr morgens auffällig gut gelaunt auf dem Campingplatz oder im Hotelzimmer aufschlug (wir wohnten zwei Monate lang im Hilton in Ludwigsburg) und wir mit allen zusammen zum nächstbesten Tümpel angeln fuhren. Mit Taschenlampe ging es los, um Regenwürmer aus ihrem Versteck zu blenden. Karpfen lieben Regenwürmer. Natürlich kam es vor, dass man auf dem Weg dorthin mal den ein oder anderen Igel an- oder überfahren hat, ich weiß es nicht mehr, ich wollte auch nicht so genau hinschauen … Jedenfalls hatte sich das mit dem Angeln in solchen Momenten ganz schnell erledigt. Igel schmecken auch sehr gut, wenn man sie in Alufolie und mit einer Prise Salz auf der heißen Motorhaube oder direkt auf dem Motor grillt. Im Geschmack liegen sie irgendwo zwischen Huhn und Schwein.

Als ich in die Pubertät kam, meinten meine Erziehungsberechtigten, dass nun Schluss sei mit dem Vagabundenleben. Das sei zu meinem Besten, in mein Leben müsse Struktur kommen. Für meine Entwicklung als anständiges Mitglied dieser Gesellschaft sei das wichtig. So wurden wir sesshaft. In Mönchengladbach, Hockstein. Zur alten Bahn 34. Letzte Siedlung an der A 61. Zwischen der letzten Häuserreihe – 80er-Jahre-Bungalows – und der Autobahn erstreckten sich irrsinnig schöne Kartoffel- und Rübenfelder. Mittendurch, bis exakt zur Mitte der Felder, verlief ein schmaler Weg, ehemalige Eisenbahngeleise, der zu unserem süßen Hexenhäuschen führte. Später erfuhren wir, dass es sich tatsächlich um ein Eisenbahnerhäuschen handelte, das während des Zweiten Weltkrieges Verwandte von Goebbels übernommen hatten.

Wir fühlten uns ganz wohl dort. Es gab einen kleinen Hof mit Garage, im hinteren Teil lag ein schmaler schlauchförmiger Garten mit Partyraum, wo es Hund, Gänsen, Enten und unseren Hühnern sauwohl ging. An sonnigen Tagen führten Spaziergänger ihre Hunde aus, an unserer Promenade entlang. Ich war im Pubertätskrieg, aber ansonsten war alles ganz okay. Nicht so bei meinen Eltern. Wir waren nun sesshaft und zivilisiert, und so musste mein Vater sich in der Auswahl seiner Engagements noch mehr zurückschrauben. Das brachte Unstimmigkeiten ins Eheleben. Eines schönen Sommertages kam mein Vater strahlend nach Hause und erzählte von seiner neuen Band, die unzählige Buchungen für Auftritte schon ein Jahr im Voraus vorweisen konnte. Alles schien fantastisch. Es gab allerdings einen klitzekleinen Haken: die Auftrittsgarderobe. Mein Vater verschwand im Schlafzimmer, kam kurze Zeit später raus und präsentierte stolz sein Kostüm. Meine Mutter hatte gerade gekocht, »Töltött Káposzta«, mein Leibgericht, der Tisch war gedeckt. In kurzen speckigen Lederhosen mit weißer Bluse, Weste und Hut samt Feder stand er da. Er hatte sich in eine bayerische Blaskapelle verirrt.

Lautstarke Diskussionen unter Eheleuten können durchaus länger dauern, also setzte ich mich schon mal hin und begann zu essen. Anders als am Tag zuvor sank der Lärmpegel jedoch nicht nach zehn Minuten ab, nein, es schien immer leidenschaftlicher zu werden. Mutter drohte mit Scheidung, eine solche Demütigung sei ihr in ihrer ganzen Musikerdynastie noch nie untergekommen. Es sei ihr, uns, der gesamten Menschheit nicht zuzumuten, mit einem Mann verheiratet zu sein, der in einer »HUMPA-HUMPA-TÄTÄRÄÄ«-Kapelle spielen würde. Sie stellte ihn vor die Wahl: TÄTÄRÄÄ – oder wir! Theatralisch riss sich mein Dad den Federhut vom Kopf, stampfte ins Wohnzimmer und zerrte das Klavier aus dem Wohnzimmer durch die Küche, am Tisch vorbei, um die Ecke durch den Flur in den Hof, vor die Garage. Dort nahm er die an der Außentür der Garage hängende Axt und hackte das Klavier in Stücke.

Ab da war unser Ruf als Erholungs- und Ausflugspromenade dahin. Die Trümmer meiner Kindheit standen bei Regen und Schnee noch fast ein Jahr lang im Hof. Dad stieg aus der Band aus. Es gab nie wieder Sepplhosen im Haus, und das Gerede im Ort interessierte uns nicht.

Sesshaft zu werden war auch für mich nicht so einfach. Die Sommerferien, Ostern und Weihnachten verbrachten wir nach wie vor auf dem Balkan mit gefühlten 70.000 wundervollen und vor allem wunderschönen und talentierten Verwandten. Wir musizierten, genossen die Sonnenuntergänge und Moskitoattacken an den Ufern der Donau, cruisten mit dem Fiat 500 durch Schlaglöcher, angelten, buken Fladenbrote und grillten selbstgeschlachtete Schweine am Strand. Der Rest des Jahres war weniger Kusturica-like: Abhängen auf betonierten Kinderspielplätzen, im Parkhaus nach Fledermäusen jagen und bei deutschen Freundinnen, die mich ab und an zu sich nach Hause einluden, aus blauweiß verziertem Meissener Porzellan Filterkaffee trinken.

Eine Zeitlang war ich tatsächlich ganz gut in der Schule. Mir blieb keine Wahl bei all dem Gehänsel, bloß weil ich nicht mit Graubrot und Nutella, sondern mit Tupperdosen voller Lammgulasch im Schulhof stand.

Trotz meiner Leistungen zitierte die Leiterin der Mädchenrealschule in Mönchengladbach meine Mutter eines Tages zu sich, um ihr mitzuteilen, dass ich die Schule verlassen müsse. Ich verhielte mich merkwürdig und respektlos. Ein Kind, das den ganzen Unterricht unter dem Tisch statt auf dem Stuhl verbringe, sei besser in der Sonderschule aufgehoben. Anstatt die Schulleiterin zu erstechen, nahm mich meine Mutter tatsächlich von der Mädchenschule. Eigentlich kam ihr das ganz recht, denn insgeheim hatte sie Angst, ich könnte dort homosexuell werden. Ihre Sorge war nicht, dass ich dann einer Randgruppe angehören würde – wir waren ja schon eine –, sondern weil ich ihr dann später keine sechsundzwanzig Nachkommen schenken würde.

Auch auf dem gemischten Gymnasium erschien es mir sinnvoll, nicht die Schlechteste der Klasse zu werden und büffelte wie wild. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Bald wurde ich jeden Morgen vor der ersten Stunde von den Mitschülern belagert, die mir eben noch das Leben zu Hölle gemacht hatten. Sie rissen mir die Hausaufgaben aus der Hand, bedienten sich an meinem Schulranzen und schmissen mir, nachdem sie alles schnell abgeschrieben hatten, den Haufen wieder auf meinen oder auch andere Tische. Ich glaube, sie haben sich sogar bedankt!

Irgendwann machte mir die Rolle der eingebildeten und hässlichen Streberin einen Spaß mehr. Hässlich, na ja: langes glattes Haar, mit absurden Schmetterlingsspängchen platt an die Stirn gewalzt, Hornbrille Marke AOK, weil ich als Kind schielte, Zahnspange, Schuheinlagen wegen Wirbelsäulenschiefstand und das Ganze verpackt in meinem Lieblings-, weil von Mutti selbst genähten Schottenrock mit überdimensionaler Sicherheitsnadel aus der Modeserie Spenden Sie an hoffnungslos verbaute Töchter e. V. Mein Gott, ich war schließlich erst 14!

Schwimmunterricht war für mich uferlose Wasserratte das Tollste. Das Föhnen danach an diesen unerträglich lauten Föhnkästen weniger. Auch meinen Mitschülerinnen, denen, die »hängen geblieben« waren, also schon ’ne Dauerwelle und Schminke, Knutschen, Rauchen und sogar Alkohol hinter sich hatten, war das aufgefallen. Sie beobachteten, wie ich mir jedes Mal an diesem Kasten, leicht in Trance, mit beiden Händen vom Mittelscheitel, rechts und links am Kopf entlang, über die Huckel an den Ohren am Hals bis zu den Schultern, über die Haare presste. Zwanzig Minuten lang. Dann montierte ich die Schmetterlingsklemmen, die ich übrigens in mehr als zwölf Farben besaß, rechts und links direkt neben meine Augenbrauen, setzte die Hornbrille auf und ging zumeist direkt zum Klavierunterricht. Nicht so dieses Mal.

Cora und Lydia hielten es, selbstbewusste Fashion-Ikonen, die sie waren, für ihre verdammte Pflicht, mich vor der totalen Verschrottung zu bewahren. Energisch stöckelten sie auf mich zu und redeten – so diplomatisch, wie sechzehnjährige Mädels zu einem Nerd nur sein können – mit Engelszungen auf mich ein. Ich bräuchte eine total verrückte Umwandlung. Spangen und Brille wurden aus meinem Gesicht gerissen, kopfüber wurden mir die Haare nochmals geföhnt, während sie Tonnen billigsten Haarsprays über mich sprühten, mich toupierten, schüttelten, noch mehr Haarspray, wieder schütteln, fertig? Nein, noch nicht in den Spiegel schauen, erst noch das Allerwichtigste: der Kajalstift. Cora nahm sich das rechte, Lydia das linke Auge vor. Erst nachdem sie mir die Augen mit dem brennenden Zeug beschmiert und ihre kritischen Blicke ihr Werk für gelungen erachtet hatten, durfte ich in den Spiegel schauen.

Wer zum Henker war das? Fasziniert starrte ich auf das, was mir aus dem Spiegel entgegeblickte. Ich war zu einer professionellen Prostituierten mutiert. So konnte ich meinen Eltern keinesfalls unter die Augen treten! Davon abgesehen, dass ich befürchten musste, von perversen Lüstlingen ins Gebüsch … Also abwischen, Schmetterlinge wieder drauf und alles bleibt bitte beim Alten.

Nichtsdestotrotz. Ich war angefixt und experimentierte so lange herum, bis die Transformation perfekt war. Immer öfter wurde ich auf der Straße angesprochen. Nicht nur von schwitzenden Bauarbeitern, Besoffskis und älteren Herrschaften, die eine flotte Haushaltshilfe suchten, nein auch von Fotografen, angehenden Fotografen und Modelscouts. In der Schule ließ ich nach. Nicht, dass ich kein Interesse mehr gehabt hätte, aber erstens war es uncool, zu büffeln, und zweitens verbrachte ich mittlerweile immer mehr Zeit auf Castings, go sees, Fittings, Model-Partys, im Flieger und sonst wo. Mit 18 brach ich die Schule ab, eine Agentur in Japan lud mich für ein paar Monate ein. Es wurden acht.

Die amerikanischen Models rasieren sich sogar die Unterarme. War bei mir nicht nötig, fand ich. Bei meinem ersten Job, einem Covershooting für die Quick – gibt’s die noch? – sollte ich total happy und wie selbstverständlich aus einem weißen Porsche steigen. Ich war 17. Zurechtgemacht wie ’ne erfolgreiche 30-Jährige. Fühlte mich aber wie zwölf. Die Make-up-Artistin, Miriam aus Australien, konnte es nicht fassen, dass sich mehrere Härchen an meinem Schienbein durch die hautfarbene Strumpfhose bohrten und schleifte mich ins Badezimmer des Studios. Dort stellte sie sich mit mir unter die Dusche und rasierte mir die Beine. Jetzt kam ich mir vor wie fünf. Fehlte nur noch, dass Tante Miriam mir die Zähnchen putzte und mich ohne Gutenachtgeschichte ins Bettchen schickte. Erst Jahrzehnte später überwand ich diese Schmach.

Nach einem Jahr hatte ich aus sämtlichen Fauxpas gelernt und kam dann auch in Japan wunderbar zurecht. Als Europäer, der gewohnt ist, dass unterschiedlichste Mentalitäten auf engstem Raum zusammenleben, hat man nun mal den Vorteil, ein gewisses Feingefühl zu besitzen, sich problemlos auf fremde Kulturen einstellen zu können. Nur ein einziges Mal musste ich mehrere tausend Yen Strafe dafür zahlen, dass ich, in der Schlange zu einem der nobelsten Clubs im 82. Stockwerk eines der höchsten Gebäude, in dem die Models aus meiner Agentur fast umsonst Berge von Sushi essen konnten, Kaugummi kaute. Ich sah das ein. Besonders ästhetisch sieht das nicht aus.

In den ersten sechs Monaten war ich die einzige Europäerin in meiner Agentur und wurde eindeutig bevorzugt behandelt. Wahrscheinlich weil ich nicht morgens um acht die Tür aufriss und ein »Hey, man, wass’ up yo, great man, how many f… go sees today, man that’s so f… great, yeah, see ya …!« brüllte, sondern gleich am ersten Tag ein höfliches »ohaio gosaimasta« aufschnappte und auf Sheba-Perserkatzen-Samtpfötchen ins Büro schlich, um mir meine 34 Termine für jeden Tag, auch sonntags, abzuholen. Zwar wieder in die alte Streberschiene gefallen, brachte mir das aber zumindest später ein Spezialticket für ein unglaubliches Konzert meines Idols Ryuichi Sakamoto ein.

Ansonsten war Alltag: morgens seine Hausaufgaben abholen, sofern man an diesem Tag nicht schon gebucht war, mit einem Stadtplan und Pumps in der Tasche losrennen und alle Studios in Nagoya, Osaka, Tokyo, wo »V.I.P. Intern. Inc.« ihre Dependancen hatte, abklappern. Es gab in dieser Steinzeit zwar noch keine Handys, aber ich hatte schon einen Walkman und einen Song, den ich ständig hörte. Sting: »I’m an Englishman in New York«.

Klar, die Japaner haben ihre Hieroglyphen und wir die unseren. Aber solange man sich in den Mega-Städten aufhält, muss man nicht unbedingt Japanisch studiert haben, denn alle wichtigen Fakten können auch auf Englisch bzw. in lateinischen Buchstaben entziffert werden. Es sei denn, man hat morgens um sieben – und ich war überpünktlich, denn das Motto meiner Agenturchefin war: »Honey, in time is too late!« – einen Job am Arsch der Welt, steigt in einer gottverdammten Reisfeldwüste aus, wo noch nie ein Ami zuvor gewesen ist, keine Sau in Sicht und kann ums Verrecken kein einziges Wort dieses Gekritzels aus der Ming- oder Pong-Dynastie entziffern. Bin ich hier richtig? Der einzige Mensch außer mir die vermutlich älteste Frau Japans, die schnurstracks in ihr Reisfeld marschierte. Keine Ahnung, wo ich war, auf jeden Fall an einer Endstation. Dieses Gefühl sollte sich in meinem Leben noch öfter einstellen.

Es gab keine Telefonzelle, ich hatte eh keine Nummer dabei, und selbst wenn jemand vorbeigekommen wäre, musste ich davon ausgehen, dass mich niemand verstehen würde. Die Zeit rennt, wann geht der nächste Zug und wohin? Es gab einen An-/Abfahrtplan, doch der Japaner erlaubt sich auch hier, eigene für Zahlen erfundene Schriftzeichen zu benutzen, um Menschen wie mich, die unter Schlafmangel, Zeitdruck, Hunger, Panik, Wut und Hass leiden, zu zeigen, wo das Sushischwert hängt.

Was, wenn die ganze Crew seit Stunden irgendwo anders auf mich wartet, ich aber hier einfach nie mehr im Leben wegkomme? Sie werden in der Agentur anrufen, sich auf feine japanische Art beschweren und ich werde auf die feine europäische Art schon morgen wieder im Flieger nach Hause sitzen, ohne Scheck in der Tasche! Vielleicht ertränke ich mich lieber schnell in einem Reisfeld. Wenn ich Glück habe, werden sie mich bald suchen, spätestens wenn ich mich nicht, wie seit Jahren üblich, um 18 Uhr Ortszeit in der Agentur abmelde. Sie werden mich an ein Seil binden, ich werde wie die Blonde bei Godzilla mit wehenden Haaren 300 Meter über dem Boden am Hubschrauber hängend bis nach Tokio geflogen und sanft auf den Dachgarten meiner Agentur herabgelassen. Alle werden sich freuen, mich in den Arm nehmen, keiner wäre böse. Meine Rettung würde in die Geschichte …

Stille.

In etwa wie in »Der unsichtbare Dritte«, wo Cary Grant zu einem dubiosen Termin auf ein riesiges Feld gelockt wird, außer einer einzigen zirpenden Grille kein Laut, bis sich ein kleiner Punkt am Himmel nähert, der sich als Doppeldekker entpuppt, ihn schließlich attackiert und mit Pestiziden … und er rennt um sein verdammtes Leben …