Recht in Deutschland · Ein Erlebnisbericht
Verlag Neue Literatur
2015
Vorwort der Autorin
Vorwort von Adelheid von Stösser 1. Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbandes e. V.
Persönliche Erklärung
Personenregister
Die Heimeinweisung am 27. September 2004
Die persönliche Geschichte meiner Mutter und die familiäre Situation
Die möglichen Ursachen der Angststörung meiner Mutter
Der harmlose Anfang
Der Schicksalsmonat Juli – eine folgenschwere Fehlentscheidung
Die Katastrophe beginnt
Die ersten Versuche, die Abwärtsspirale aufzuhalten
Die Aktivitäten des Ehemannes und seines Sohnes
Die Besuche im Jahr 2004
Die Besuche im Jahr 2005
Die Besuche im Jahr 2006
Die Besuche im Jahr 2007
17. September 2007 – Der Tag ihres Todes
Die Besprechungen mit dem Bestattungsunternehmen und dem Pfarrer
24. September 2007 – Ein letztes Mal sehen
9. Oktober 2007 – Die Beerdigung
Die Regelung des Nachlasses
Die Sozialarbeiterin des Krankenhauses
Die Krankenkasse
Die Betreuungsbehörde
Die Einrichtungsleiterin Der Träger der Einrichtung Die Heimaufsicht
Die Immobilien- und Hausverwaltungsfirma Die »neue« Wohnung
Der Verfahrenspfleger
Das Amtsgericht
Das Landgericht
Das Oberlandesgericht
Verzweifelte Hilfesuche
Die Friedhofsverwaltung
Rückblick
Begriffserläuterung
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Covervorlage: Marlene Bittner zur Zeit der 1950er-Jahre, Foto aus dem Privatarchiv der Autorin
Covergestaltung: Steve Schubert
Gesamtherstellung: Satzart Plauen
ISBN 978-3-945408-16-2
Im Jahre 1994 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches unter anderem die Voraussetzungen dafür schaffen sollte, dass alte und kranke Menschen so lange wie möglich in ihrer Wohnung bleiben können und hier von ihren Angehörigen und/oder anderen Personen versorgt werden. Das Sozialgesetzbuch (SGB) XI – Soziale Pflegeversicherung – legt grundsätzlich fest:
§ 3 Vorrang der häuslichen Pflege
Die Pflegeversicherung soll mit ihren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Leistungen der teilstationären Pflege und der Kurzzeitpflege gehen den Leistungen der vollstationären Pflege vor.
Dies ist meines Erachtens sowohl aus rein menschlichen als auch aus Kostengründen vernünftig und sehr zu begrüßen.
Leider sieht die Praxis anders aus. Am Beispiel meiner Mutter möchte ich darlegen, wie in diesem Land seitens der Gerichte tatsächlich vorgegangen wird. Meine Mutter wurde gegen ihren und meinen Willen von ihrem Ehemann und dessen mit ihr nicht verwandtem Sohn mit richterlicher Unterstützung in ein Heim gezwungen, obwohl die häusliche Versorgung möglich gewesen wäre und von mir und meiner Tochter, ihrer Enkelin, angeboten wurde. Wie es dazu kam und welche Folgen sich daraus ergaben, soll Thema dieses Buches sein.
Allgemein können wir in unserem Land davon ausgehen, in den Gerichten rechtschaffene Menschen zu finden, die sich mehr noch als anderswo um ein ausgewogenes Urteil bemühen. Umso mehr erschüttert es, wenn wir von gegenteiligen Erfahrungen hören, wie sie uns in erschreckendem Maße gerade im Bereich des Betreuungsrechtes gemeldet werden. Als sich die Autorin dieses Erlebnisberichtes Ende 2004 an den Pflege-Selbsthilfeverband gewandt hat, war sie noch recht optimistisch, dass es ihr gelingen würde, ihre Mutter wieder aus dem Heim zu holen um selbst für sie zu sorgen. Zumal die Mutter zu dem Zeitpunkt noch klar diesen Wunsch äußern konnte und außerdem die Tochter beste Voraussetzungen mitbrachte. Neben ihrer Bereitschaft konnte sie eine langjährige Berufserfahrung als Pflegefachkraft vorweisen. Außerdem wollte sich die Enkelin, die sogar in der Nähe wohnte und als Ärztin im Krankenhaus arbeitete, mit um die Großmutter kümmern. Jeder Mensch mit einem normalen Rechtsempfinden und Familiensinn, hätte diese Haltung begrüßt und unterstützt. Hingegen folgte das Betreuungsgericht der Auffassung des Betreuers, dass die Mutter/Großmutter für den Rest ihres Lebens im Heim zu verbleiben hat. Alle Hebel, die die Tochter in Bewegung zu setzen versuchte, scheiterten an dieser Haltung.
Zunehmend wird der Pflege-SHV mit skandalösen Problemfällen des Betreuungsrechts konfrontiert, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Zwischen dem, was rechtens wäre und der Handhabung in der Praxis können Welten liegen. Auf unseren Internetseiten finden sich dazu eine Auswahl von Fällen, die veranschaulichen, woran das aktuelle Betreuungssystem krankt. Denn die in diesem Buch wie in den anderen Fällen aufgezeigten Probleme sind struktureller Natur, die über die Spezifik von Einzelfällen hinausweisen.
Wir erleben immer wieder, dass sich Betreuer/Betreuungsgerichte offensichtlich recht einseitig und ausschließlich den Aussagen von Heimpersonal und Fachärzten (die mit dem Heim kooperieren) verpflichtet sehen. Oder wie in diesem Falle, an einem einmal ermächtigten Betreuer festhalten, wie an einem Urteilsspruch. Da Beschwerden und Anträge auf Betreuerwechsel vor dem selben Richter landen, sind die Erfolgsaussichten gering. Widersprüchliche Angaben blieben ungeklärt. Beschwerden und Anträge auf Betreuerwechsel wurden in allen uns vorliegenden Fällen vom Betreuungsgericht abgelehnt. Betreffenden Angehörigen wird zumeist mangelnde Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit von Verordnungen und Fixierungen etc. unterstellt oder fehlende Kooperationsbereitschaft.
Bevor Angehörige den Weg zu uns finden, haben sie in der Regel bereits Anwälte bemüht, die an der Stelle aufgeben. Der rechtlich vorgesehene Weg endet vielfach in einer Sackgasse. Die Chancen für den Betreuten oder seine nächsten Angehörigen, aus dieser Fremdbestimmung herauszukommen, sind nur theoretisch gegeben. In der Praxis enden derartige Versuche regelmäßig vor einer Mauer.
Da ich mich als Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbandes nicht damit abfinden kann, offensichtliches Unrecht gegenüber Pflegebedürftigen als unabänderlich zu akzeptieren, versuche ich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, Richter und Betreuer auf die Fehlleistungen hinzuweisen und zumindest nachdenklich zu stimmen. In wenigen Fällen ist dies tatsächlich auch gelungen. Meine Erfahrung ist aber auch, dass Gerichte und Betreuer im Allgemeinen keine Veranlassung sehen, auf Schreiben von nicht Verfahrensbeteiligten überhaupt zu antworten. Dann bleibt uns nur der Gang zur Presse.
In unserem Land kann ein Mensch binnen 48 Stunden unter Betreuung gestellt werden. Hingegen ist es ein oft aussichtsloses Unterfangen, die Selbstbestimmung über sein Leben wieder zurückzuerlangen. Ist diese Falle einmal zugeschnappt, gibt es selten ein Entrinnen. Das vorliegende Buch dokumentiert einen solchen Fall auf ebenso eindrucksvolle wie erschreckende Weise.
Adelheid von Stösser, August 2014
1. Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverbandes e. V.
Initiative für menschenwürdige Pflege
Dieses Buch stellt die traurigen, persönlichen Beobachtungen des Verlaufes der Erkrankung meiner Mutter bis hin zu ihrem Tod, die meine Tochter und ich machen mussten, einerseits, dem Handeln der Vertreter der offiziellen Institutionen andererseits, gegenüber.
Um mit der unglaublichen Entwicklung der Situation besser umgehen zu können, habe ich die jeweiligen Äußerungen der verschiedenen Personen meist sofort oder kurze Zeit später niedergeschrieben. Daher kann ich diese heute wortwörtlich wiedergeben und die Zusammenhänge genau beschreiben. Natürlich habe ich versucht, den Inhalt meiner vielen Aktenordner in möglichst knappe, übersichtliche Form zu bringen. Einige schlimme Details konnten daher keine Erwähnung finden. Auch habe ich nur die meines Erachtens wichtigsten Unterlagen herausgesucht und hier anonymisiert veröffentlicht.
Noch immer bin ich fassungslos darüber, was in diesem Land zum Thema »Betreuung« möglich ist! Meine persönlichen Erfahrungen sollen daher bekannt werden. Da es mir jedoch wichtig erscheint, alle Spuren, die zur Identität der handelnden Personen führen könnten, zu verwischen, habe ich alle Namen, auch meinen eigenen, geändert und die Aktenzeichen der Dokumente gelöscht. Im Interesse der Anonymisierung wurden außerdem die Daten der Handlung, die persönlichen Daten sowie die Namen der Pflegeeinrichtungen und die Namen der Städte geändert oder ganz weggelassen. Zufällige Übereinstimmungen mit Namen oder Daten anderer Personen oder Einrichtungen sind nicht beabsichtigt. Nachstehend führe ich zur besseren Übersicht die wichtigsten der gewählten Namen auf.
Saskia Arens – Autorin
Marlene Bittner – Mutter von Saskia Arens
Clara Ebert – Großmutter von Saskia Arens
Dr. Jenny Arens – Tochter von Saskia Arens
Maximilian Arens – Sohn von Jenny Arens
Ottfried Bittner – Ehemann von Marlene Bittner
Dietmar Bittner – Sohn von Ottfried Bittner
Mathilde Bittner – Ehefrau von Dietmar Bittner
Almut Ludwig – Tochter von Ottfried Bittner
Udo Ludwig – Ehemann von Almut Ludwig
Dr. Karl Sauer – Oberarzt am Klinikum
Dr. Peter Meyer – behandelnder Arzt am Klinikum
Marlies Heller – Sozialarbeiterin am Klinikum
Ilona Schober – zuständige Mitarbeiterin des Sozialamtes/Betreuungsstelle
Uwe Löwenthal – Rechtsanwalt und Verfahrenspfleger
Gerald Möller – zuständiger Richter am Amtsgericht/Vormundschaftsgericht
Irene Schmidt und Alfred Kurz – Rechtsanwälte von Saskia Arens
Silvia Richter – Rechtsanwältin von Ottfried Bittner
Petra Heinrich – Heimleiterin des Altenpflegeheims (APH)
Carola Schleswig – Stationsleiterin (Wohnbereichsleiterin)/spätere Pflegedienstleiterin
Monika Schimmel – Mitarbeiterin einer Film- und Fernsehproduktionsfirma
Die Lebensgeschichte meiner Mutter im Überblick
Die privaten Erlebnisse im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung
Wir schreiben den 27. September 2004, den schlimmsten Tag meines bisherigen Lebens.
Meine Mutter sitzt am Tisch im Pflegeheim, in einem kalten, aber lichtdurchfluteten Raum. Sie ist nicht mehr sie selbst, die letzten Wochen haben sehr negative Spuren hinterlassen. Neben ihr steht ein Blumenstrauß. Der Strauß, den ihr Ehemann zur Begrüßung im Pflegeheim für sie mitgebracht hat.
Sie sieht sich um. Sie sieht sich immer wieder um und fasst es nicht. Dennoch scheint sie langsam zu begreifen, wo sie ist. Man hat es ihr ja immer wieder gesagt. Sie ist in einem Heim, in einem Pflegeheim.
Der Krankentransport hat sie vom Krankenhaus direkt hierher gebracht. Ihre schöne circa 82 Quadratmeter große Wohnung soll sie nicht wiedersehen. Jetzt bleiben ihr circa 12 Quadratmeter in einem Zimmer, das sie mit einer anderen Bewohnerin teilen muss.
Ihr Ehemann Ottfried und dessen Sohn Dietmar, der »seinen Vater schützen muss«, sind noch im Raum. Beide sind glücklich darüber, dass sie es trotz Widerstand von meiner Tochter Jenny und mir geschafft haben, meine Mutter im Pflegeheim unterzubringen.
Dietmar sitzt in einem Winkel zum hellen Tageslicht, der ihm die Sicht erschwert. Ich sage, er solle meine Mutter ruhig ansehen. Er zwinkert in die Sonne und lacht. Er hat kein schlechtes Gewissen, obwohl er sie gerade aus ihrer Wohnung geworfen hat. Er glaubt sich im Recht. Er müsse seinen Vater vor seiner kranken Frau schützen. Meine Mutter, die Ehefrau seines Vaters, dürfe daher nach einem Krankenhausaufenthalt nicht wieder in ihre gemeinsame Wohnung zurückkehren.
Als beide gegangen sind, sagt meine Mutter mit einem Ausdruck fassungsloser Verzweiflung im Gesicht: »Das ging mir zu schnell, wer hat mir denn das eingebrockt?«
Ich ringe um meine Selbstbeherrschung und entgegne: »Ich wollte das nicht, ich wollte, dass du nach Hause kommst und ich mich um dich kümmere. Dein Ehemann, sein Sohn und seine Frau wollten, dass du ins Heim kommst!«
Daraufhin sagt sie klar und deutlich: »Ich könnte sie in den A… treten.« Ausdrücke dieser Art gehören sonst nicht zum Vokabular meiner Mutter und beweisen mir einmal mehr ihre Verzweiflung. Sie hatte offenbar trotz der Erklärungen ihres Ehemannes bis zuletzt gehofft, dass sie wieder in ihre Wohnung darf. Ich kann die Tränen kaum mehr zurückhalten und sage: »Verzweifle nicht, wir kämpfen um dich! Wir, Jenny und ich, holen dich hier wieder raus!«
In diesem Moment habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass uns dies auch gelingen wird. Zu diesem Zeitpunkt kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass man in diesem Land einem Menschen verwehren kann, sich um seine eigene Mutter zu kümmern. Die nachfolgenden Schilderungen und Dokumente jedoch zeigen, dass dies leider sehr wohl möglich ist, selbst dann, wenn die Person, die Hilfe leisten möchte, die leibliche Tochter der Pflegebedürftigen und außerdem eine ausgebildete Pflegefachkraft mit langjähriger Berufserfahrung ist, welche ihrerseits wiederum von ihrer Tochter, also der Enkelin der Betroffenen, einer Ärztin, unterstützt wird!
Zum besseren Verständnis der Problematik möchte ich zunächst ein paar Worte zur persönlichen Geschichte meiner Mutter und zur familiären Situation sagen.
Meine Mutter wird 1925 in Niederschlesien geboren. Dort lebt sie bis kurz vor Kriegsende mit ihren Eltern. 1945 muss sie gemeinsam mit ihrer Mutter fliehen. Beide finden Unterschlupf bei Verwandten meiner Großmutter in Rostock (siehe Absatz »Die möglichen Ursachen der Angststörung meiner Mutter«). Sie bekommt dort Arbeit, heiratet auch nach meiner Geburt nicht, sondern lebt immer mit ihrer Mutter und mir zusammen in Rostock. Bis zum Erreichen des Rentenalters ist sie voll berufstätig, Jahrzehnte davon arbeitet sie im Verwaltungsbereich. Bis zu ihrem Tode lebt sie in der Hansestadt.
Etwa in den 1970er-Jahren lernt sie ihren späteren Ehemann Ottfried kennen. 1976, Jahre nachdem dessen erste Ehefrau verstorben ist, heiraten sie. Später ziehen sie zusammen und verbringen viele schöne Jahre miteinander. Ottfried hat aus erster Ehe eine Tochter, Almut, und einen Sohn, Dietmar. Meine Mutter hat nur eine Tochter, nämlich mich. Alle sind wir längst erwachsen und haben zum Teil bereits selbst Kinder.
Das Verhältnis zwischen meiner Mutter, ihrem Ehemann und meiner Familie ist gut. Teilweise fahren wir sogar zusammen in den Urlaub. Regelmäßig besuchen wir uns. Allerdings gibt es, vor allem zwischen Ottfried und mir, einige politische Differenzen.
Zu Almut und deren Familie hat meine Mutter ein recht gutes Verhältnis. Die Beziehung zu Dietmar ist jedoch nie besonders gut. Über ihn beklagt sie sich oft, gerade in den letzten Jahren. Ottfried hat zu beiden Kindern ein gutes Verhältnis. Sein Sohn steht jedoch anscheinend immer an erster Stelle. Besonders dessen Frau Mathilde schätzt meine Mutter seit Jahrzehnten als sehr tatkräftige, tüchtige Frau. Die Enkelkinder ihres Ehemannes betrachtet meine Mutter auch als die ihren. Ihre eigene Enkeltochter steht ihr aber immer besonders nahe. Zwischen den Kindern ihres Ehemannes, deren Familien und meiner Familie herrscht ein eher gleichgültiges Verhältnis. Meist sehen wir uns zu den Geburtstagen von ihr oder von ihm. Eine besondere Beziehung zueinander bauen wir aber nie auf. Seine Tochter erscheint mir jedoch immer wesentlich warmherziger als deren Bruder.
1985 verlassen mein Partner, meine Tochter und ich die DDR und ziehen nach Göttingen. Da man meine Mutter und ihren Ehemann nicht hinaus und uns nicht mehr hinein lässt, können wir uns nun eine Weile nicht sehen. Zu einem Treffen im Ausland, wie unsererseits mit anderen Verwandten und Freunden durchgeführt, fehlt ihnen wohl der Mut.
Nachdem beide jedoch das Rentenalter erreicht haben, besuchen sie uns und wir fahren von da an hin und wieder zusammen in den Urlaub.
Teilweise reisen wir nach dem Mauerfall auch zu ihrem Sommerdomizil an einem schönen See und zu ihrer Wohnung in Rostock sowieso. Politische Differenzen, vor allem bezogen auf den Ost-West-Konflikt, gibt es nun nicht mehr. Das Verhältnis zwischen Ottfried und mir wird in den Jahren nach der Wende stetig besser.
1993 geht meine Tochter nach Rostock zurück.
In der Hoffnung, mir ein zweites finanzielles Standbein aufzubauen, melde ich 2002 dort eine Firma an und suche mir ein Büro. Meine Absicht ist dabei auch, noch öfter vor Ort zu sein, um mich um meine älter werdenden »Eltern« besser kümmern zu können. Seit Jahrzehnten leidet meine Mutter unter Angstzuständen. Diese verstärken sich offenbar mit zunehmendem Alter. Sie wäre auf jeden Fall sehr glücklich, wenn auch ich noch häufiger bei ihnen wäre.
Meines Erachtens hat meine Mutter seit Jahrzehnten eine Angststörung, die immer mehr Besitz von ihr ergreift und schließlich als generalisierte Angststörung ihre Persönlichkeit vollständig beherrscht. Wahrscheinlich wird diese von ihr aber nie angegeben und damit von keinem Arzt je richtig erkannt und demzufolge auch nicht adäquat behandelt.
Mit ihrer Angst, vor allem davor, dass mir »etwas passieren könnte«, bin ich groß geworden. Als Kind ist es mitunter recht anstrengend für mich gewesen, wenn sie mich auf alle möglichen Gefahren immer wieder hingewiesen und mich aus Angst am liebsten kaum noch aus dem Haus gelassen hat. Später übertrug sie diese Angst auch auf meine Tochter Jenny und dann sogar auf deren Sohn Maximilian. Wir wussten zwar, dass sie es gut meint und dass sie über alle Maßen an uns hängt, aber es war oft schon recht schwierig, damit umzugehen.
Ich habe diese Ängste immer auf ihre Kriegserlebnisse zurückgeführt und habe daher in gewisser Weise auch Verständnis dafür. Sie ist gemeinsam mit ihrer Mutter mit dem letzten Zug aus ihrer Heimatstadt in Niederschlesien entkommen. Das geschah im Februar 1945 und sie war 19 Jahre alt. Es war bitterkalt und es waren keine Passagierwagen sondern offene Viehwagen, mit denen die letzten Zivilisten aus der zur Festung erklärten Stadt gebracht wurden. Sie hatten bis zuletzt gewartet, da der »Vatl« kurz vorher, im Januar, mit knapp sechzig Jahren noch zum »Volkssturm« eingezogen worden war. Alle hatten gehofft, sich noch einmal sehen zu können. Leider vergebens.
Sicherlich hat sich mein Großvater eingereiht in das Millionenheer der Toten des Zweiten Weltkrieges. Meine Mutter und meine Großmutter haben ihn später suchen lassen, aber nie wieder etwas von ihm gehört und ihn, wie es üblich war, Jahre später für tot erklären lassen. Ein Schicksal von Millionen und doch persönlich schlimm.
Die geliebte Heimatstadt meiner Mutter, eine wunderschöne, gepflegte Kleinstadt (nach ihren Aussagen und alten Bildern), ist dann kurz nach ihrer Flucht vollständig in Schutt und Asche gefallen. Man hat sie in ihrer alten Form nie wieder aufgebaut und noch in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts türmt sich meterhoher Schutt an der Stelle der alten Stadt. Meine Mutter wollte nie wieder dorthin, sondern ihre Stadt in Erinnerung behalten, wie sie einmal war.
Nach einer anstrengenden Flucht kamen beide schließlich bei Verwandten in Rostock unter. Hier erlebten sie die Bombenangriffe, die ihnen vorher in ihrer Heimat erspart geblieben waren.
In Rostock erfuhr meine Mutter schließlich ein weiteres traumatisches Erlebnis, das möglicherweise ebenfalls bleibende Schäden an ihrer Psyche hinterlassen hat.
Eines Abends schaute ihr Onkel aus dem Fenster und beobachtete eine Szene auf der Straße. Meine Mutter, von ihm gerufen, beugte sich über ihn und schaute auch hinaus. Es war gerade Sperrstunde und ein Soldat war dabei, eine sich noch unterwegs befindende Frau durch Warnschüsse in die Luft zu erschrecken. Leider hielt er die Waffe schräg. Meine Mutter, die den Arm um des Onkels Hals gelegt hatte, traf ein Schuss in diesen Arm. Sie schrie und hielt den blutenden Arm aus dem Fenster. So wurden die Soldaten auf der Straße aufmerksam und kamen ins Haus nach oben. Als man meine Mutter aus dem Zimmer brachte, um sie zu versorgen, hörte sie noch, wie ihre Tante schrie: »Ach Gott, der Onkel ja auch!«
Die Salve, die meine Mutter durch den Arm getroffen hatte, war dem Onkel durch den Kopf gegangen. Er war, ohne noch einen Ton zu sagen, tot vornüber gesunken. Hätte sie ihren Kopf nur wenige Zentimeter näher am Kopf des Onkels gehabt, hätte auch sie wahrscheinlich nicht überlebt. Meine Mutter hatte zum Glück keine knöcherne Verletzung und die körperlichen Wunden am Arm heilten schließlich. Die seelischen vielleicht nie wirklich.
Die Menschen der Kriegsgenerationen sind vermutlich alle in der einen oder anderen Weise traumatisiert. Der Verlust von Angehörigen sowie der Verlust und die Zerstörung der Heimat sind allen wohl ständig gegenwärtig. Eine Beseitigung der Schäden in den Köpfen der Menschen, wenn dies überhaupt möglich ist, müsste flächendeckend erfolgen und ist daher natürlich von keinem Staat zu leisten. Die Aufbauarbeit muss gegen die Verzweiflung helfen und sie tut es möglicherweise auch.
Meine Mutter will ihre Ängste nie mit ihren Kriegstraumata in Verbindung bringen. Sie lehnt einen Zusammenhang strikt ab. Aber die Ängste bleiben und verschlimmern sich, je älter sie wird. Zur Angst kommt später auch noch eine Art von Depression, die sie regelrecht lähmt. Mitunter ist es recht schwierig, sie aus ihrer Wohnung zu locken und etwas mit ihr zu unternehmen.
In der letzten Zeit habe ich immer wieder über Angststörungen gelesen und fand meine Mutter in jeder dieser Beschreibungen wieder. Oft habe ich mir den Vorwurf gemacht, dass ich diese Störung schon früher hätte ernster nehmen und sie zu einer Therapie hätte bewegen müssen.
Später hat sie Versuche einer diesbezüglichen Hilfe immer abgelehnt und sie wollte auch nicht, dass ich beziehungsweise wir (meine Tochter und ich) uns »da reinhängen«. Was hätte ich tun können?
Wir schreiben den 31. Mai 2004. Heute hat Ottfried einen Termin zur Aufnahme im Krankenhaus. Es steht eine Hüftoperation an. Meine Mutter hat schon lange Angst davor. Wahrscheinlich mehr als er. Wir, das heißt meine Mutter und ich, bringen ihn ins Krankenhaus. Zur Unterstützung kommt auch mein Partner mit. Stundenlang warten wir mit vielen anderen Patienten gemeinsam auf die Aufnahme. Leider wird nichts daraus, da er in der Nähe der Operationsstelle eine Entzündung hat und nicht operiert werden kann. Also wird der Termin verschoben und wir fahren wieder nach Hause. Ein neuer Termin steht noch nicht fest.
Dies wirft meine gesamte Planung durcheinander. Ich hatte mir bis Ende Juni freigenommen, um meiner Mutter, die nicht allein zu Hause sein wollte, Gesellschaft zu leisten und mit ihr zusammen ihren Mann im Krankenhaus zu besuchen. Seit Jahrzehnten leidet sie, wie erläutert, unter Angstzuständen, die mit jedem Lebensjahr schlimmer zu werden scheinen und die bevorstehende Operation ihres Ehemannes ängstigt sie nun extrem. Sie will also in der Zeit seines Krankenhausaufenthaltes auf gar keinen Fall allein zu Hause sein. Nach diesem Krankenhausaufenthalt wollen beide gemeinsam in die Kureinrichtung fahren, die sie bereits vor vier Jahren besucht haben, als Ottfried eine ähnliche Operation hatte.
Im Juli jedoch habe ich drei seit langer Zeit vorbereitete Termine, für die ich vertraglich verpflichtet bin. So sage ich also Ottfried, dass ich im Juli beim besten Willen nicht ständig da sein kann und er seinen neuen Operationstermin bitte nicht in den Juli legen lassen soll. Dann ändere ich meine Pläne und fahre zurück nach Göttingen. Es ärgert mich aber trotzdem, denn meine sorgfältig ausgearbeitete Terminabstimmung ist geplatzt und die weitere Organisation unklar. Auch später erinnere ich ihn telefonisch nochmals daran, den neuen OP-Termin bitte nicht in den Juli zu legen.
Natürlich hat er meine flehentliche Bitte: »Ottfried, bitte nicht im Juli!«, vergessen. Er kann oder will sich auch später nicht erinnern, sondern meint, der Termin wäre vom Krankenhaus festgelegt worden. Er muss also Mitte Juli ins Krankenhaus zur Operation. Er will einen Pflegedienst organisieren, der nach meiner Mutter sieht. Sie wäre aber auch in diesem Fall meist allein, wovor sie solche Angst hat. In diese Angst steigert sie sich immer mehr hinein, sodass sie nicht mehr allein bleiben kann. Also hat meine Tochter eine Idee, die zunächst gut und vernünftig erscheint, sich aber im Nachhinein als Fehler erweist.
Sie organisiert für meine Mutter kurzfristig einen Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses, in dem sie arbeitet. Es sollen hier zunächst ihre psychischen Probleme abgeklärt werden. Es kann doch gar nichts schief gehen, da meine Tochter immer in der Nähe und auch ständig erreichbar sein wird, so glauben wir. Ich finde den Vorschlag gut und stimme zu.
Oft haben wir später bereut, dass wir die Pflegedienstidee von Ottfried nicht aufgegriffen haben. Außerdem hätten wir die Nachbarn um Hilfe bitten können. Das Haus, in dem sie wohnt, verfügt über eine gut entwickelte Mietergemeinschaft. Meine Mutter wäre dann in ihrer Wohnung geblieben. Abends hätte ich zu ihr kommen können. Dies hätte zeitlich kein Problem dargestellt. Wenn auch in bester Absicht, so war es doch, im Rückblick gesehen, der größte denkbare Fehler, sie ins Krankenhaus zu bringen – eine katastrophale Fehlentscheidung mit entsetzlichen Folgen. Zu diesem Zeitpunkt im Juli ist uns dies nur leider nicht klar.
Meine Tochter bringt also beide ins Krankenhaus. Ottfried zur Operation, meine Mutter in die psychiatrische Abteilung zur Abklärung ihrer Probleme. Natürlich hat sie auch Angst hiervor und jammert kurz zuvor am Telefon entsetzlich.
Als ich meine Mutter dann drei Tage später im Krankenhaus besuche, hat sich ihre Angst etwas gelegt und es scheint sich alles positiv zu entwickeln. In den ersten Untersuchungen bestätigt man ihr, wach, bewusstseinsklar, zeitlich ausreichend, ansonsten vollständig orientiert zu sein. Ferner gibt es keinen Anhaltspunkt für inhaltliche Denkstörungen. Computertomografisch zeigt sich allerdings eine, wenn auch nur sehr moderate, vaskuläre Enzephalopathie und Atrophie (siehe Begriffserläuterung). Alles in allem, das wurde auch im Gespräch mit dem Arzt bestätigt, besteht aber doch kein großer Anlass zur Besorgnis. Wir sind zunächst etwas erleichtert. Dann aber geht alles schief.
Kurz darauf wird meine Mutter auf der Station bewusstlos. Die sofort durchgeführten Untersuchungen, die für sie sehr anstrengend sind, zeigen, dass sie eine stark verengte Halsschlagader hat. In solchen Fällen ist erhebliche Schlaganfallgefahr gegeben. Sie wird daher kurzfristig auf eine andere Station zur Operation verlegt.
Diese Station ist überbelegt und die wenigen Pflegekräfte erscheinen hoffnungslos überfordert. Außerdem ist es in diesem Juli extrem heiß, auch auf der Station, auf der sie sich befindet. Die Situation erscheint unerträglich. Dazu kommt, dass der Diabetes meiner Mutter Probleme bereitet. Die Werte schwanken. Den Traubenzucker, den sie für Fälle der Unterzuckerung immer bei sich hatte, hat man ihr bereits vorher abgenommen. Auf mögliche Probleme einer gefährlichen Unterzuckerung angesprochen, erklären mir die Schwestern beleidigt, dass meine Mutter nicht die einzige Diabetikerin auf der Station sei und man durchaus mit der Erkrankung umgehen könne. Aber unsere Angst bleibt, da die Station hoffnungslos überbelegt ist und die Schwestern überfordert erscheinen.
Die Operation verkraftet meine Mutter körperlich gut. Dennoch erlebe ich sie auf dieser Station zum ersten Mal verwirrt. Sie soll aber auch bereits vorher, als sie sich noch auf der psychiatrischen Station befand, Verwirrtheitszustände gezeigt haben. Dies habe ich jedoch nicht erlebt und kann es mir bei ihr nur im Zusammenhang mit einer Unterzuckerung vorstellen. Vor ihrem Krankenhausaufenthalt war sie nicht verwirrt, es sei denn, sie war extrem unterzuckert, was leider bereits vorgekommen ist. Obwohl sie seit Jahren bei einem Diabetologen in Behandlung ist, ist ihr Zucker offenbar noch immer nicht optimal eingestellt.