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Für meine Großmutter Maude Edna Morcomb Olson zu Ehren ihres 100. Geburtstages
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2013
ISBN 978-3-8270-7654-0
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel The Signature of All Things bei Viking, New York
© 2013 Elisabeth Gilbert
Für die deutsche Ausgabe
© 2013 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
unter Verwendung eines Bildes von Jean Benner, ›Fleurs exotiques‹, 1836
© akg-images / Erich Lessing
Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln
Was Leben ist, wissen wir nicht.
Was Leben macht, wissen wir genau.
Lord Perceval
Prolog
Zusammen mit dem neuen Jahrhundert erblickte Alma Whittaker am 5. Januar des Jahres 1800 das Licht der Welt.
Es dauerte nicht lange, da gab es bereits allerlei Meinungen zu ihr.
Als Almas Mutter den Säugling zum ersten Mal sah, war sie durchaus zufrieden mit dem Ergebnis. Beatrix Whittaker hatte in puncto Nachkommenschaft bis zu diesem Tag wenig Glück gehabt. Ihre ersten drei Versuche, ein Kind zu bekommen, waren wie traurige Bächlein versiegt, anstatt zu wachsen und anzuschwellen. Ihr jüngster Versuch – ein nahezu vollkommener Sohn – hatte es bis zur Schwelle des Lebens geschafft, sich just am Morgen seiner Geburt jedoch eines anderen besonnen: Er kam bereits tot zur Welt. Nach solchen Verlusten ist jedes Kind, das überlebt, ein gelungenes Kind.
Den kräftigen Säugling im Arm, flüsterte Beatrix in ihrer holländischen Muttersprache ein Gebet. Sie betete, ihre Tochter möge zu einer gesunden, vernünftigen, intelligenten jungen Frau heranwachsen, sich nicht in Gesellschaft allzu gepuderter Mädchen begeben, nicht über vulgäre Geschichten lachen, sich nicht mit leichtsinnigen Männern an Kartentische setzen, keine französischen Romane lesen und sich nicht schlimmer als wilde Indianer benehmen oder sonst wie dem Ruf einer guten Familie Schaden zufügen, mit anderen Worten een onnozelaar werden, ein Einfaltspinsel. Darin gipfelte ihr Segenswunsch – oder das, was bei einer strengen Frau wie Beatrix Whittaker als Segenswunsch gelten darf.
Die Hebamme, eine deutschstämmige Einheimische, war der Ansicht, dass es eine anständige Geburt in einem anständigen Haus gewesen sei, also müsse Alma Whittaker auch ein anständiges Baby sein. Die Kammer geheizt, Suppe und Bier umsonst, und dazu eine Mutter, so robust, wie es von einer Holländerin nicht anders zu erwarten war.
Zudem wusste die Hebamme, dass sie ihren Lohn bekommen würde, und zwar einen stattlichen. Jedes Baby, das Geld bringt, ist ein willkommenes Baby. Also gab auch sie Alma ihren Segen, wenn auch ohne große Inbrunst.
Hanneke de Groot hingegen, die Hauswirtschafterin des Anwesens, war weniger begeistert. Das Baby war kein Junge und nicht einmal hübsch. Es hatte ein Gesicht wie ein Pfannkuchen und war so blass wie ein ausgeblichener Dielenboden. Es würde Arbeit machen, wie alle Kinder. Und wie alle Arbeit würde auch diese vermutlich auf ihren Schultern landen. Trotzdem segnete sie das Kind, denn das Segnen eines Babys ist Pflicht, und Hanneke de Groot war ein pflichtbewusster Mensch. Hanneke zahlte die Hebamme aus und wechselte die Bettlaken. Dabei half ihr mehr schlecht als recht eine junge Magd – ein schwatzhaftes Mädchen vom Land und neuester Zuwachs der Hausgemeinschaft –, die lieber das Baby angaffte, als die Kammer aufzuräumen. Der Name dieser Magd tut hier nichts zur Sache, denn Hanneke de Groot würde sie am nächsten Tag als unbrauchbar entlassen und ohne Empfehlungsschreiben fortschicken. Doch an diesem Abend ließ die unbrauchbare Magd, die sich selbst nach einem Baby sehnte, nicht von dem Neugeborenen ab und gewährte der jungen Alma einen warmen, herzlichen Segenswunsch.
Dick Yancey – ein großgewachsener, imposanter Mann aus Yorkshire, der mit eiserner Hand die internationalen Geschäftsinteressen des Hausherrn vertrat (und zufällig in jenem Januar auf dem Anwesen der Whittakers weilte, wo er auf Tauwetter im Hafen von Philadelphia wartete, um sich nach Niederländisch-Ostindien zu begeben) – hatte zu dem Neugeborenen nicht viel zu sagen. Fairerweise wollen wir nicht verschweigen, dass Plaudereien generell nicht seine Stärke waren. Als Mr Yancey erfuhr, dass Mrs Whittaker ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht hatte, runzelte er nur die Stirn und sagte, wortkarg wie immer: »Hartes Geschäft, das Leben.« War das eine Segnung? Schwer zu sagen. Entscheiden wir im Zweifel zu seinen Gunsten und betrachten es als solche. Bestimmt sollte es kein Fluch sein.
Was nun Almas Vater betraf – Henry Whittaker, den Hausherrn –, so freute sich dieser über sein Kind. Ja, er war sogar hocherfreut. Es störte ihn weder, dass das Baby kein Junge, noch dass es nicht hübsch war. Er gab Alma zwar nicht seinen Segen, aber nur deshalb, weil er nichts von Segenswünschen hielt. (»Worum Gott sich kümmert, das geht mich nichts an«, sagte er häufig.) Nichtsdestotrotz bewunderte Henry sein Kind ohne Wenn und Aber. Was auch nicht weiter erstaunlich war: Schließlich hatte er es gezeugt, und Henry Whittaker neigte zu bedingungsloser Bewunderung für alle seine Erzeugnisse. Zur Feier des Tages pflückte er in seinem größten Gewächshaus eine Ananas und gab sie, zu gleichen Teilen aufgeschnitten, seinen Bediensteten. Draußen schneite es, ein pennsylvanischer Winter par excellence, doch dieser Mann besaß mehrere selbstentworfene, mit Kohle beheizte Treibhäuser – die ihm nicht nur den Neid jedes Gärtners und Botanikers auf dem amerikanischen Kontinent einbrachten, sondern auch einen unerhörten Reichtum –, und wenn er im Januar eine Ananas haben wollte, bei Gott, dann bekam er im Januar eine Ananas. Und auch Kirschen im März.
Anschließend zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und schlug das Wirtschaftsbuch auf, in dem er wie jeden Abend alle offiziellen wie auch vertraulichen Vorgänge auf dem Anwesen festhielt. »Eine ehrbare noia mittreisende ist Zu uns geschtossen«, fing er an und notierte sodann die Einzelheiten, den zeitlichen Ablauf und die Kosten von Alma Whittakers Geburt. Sein Umgang mit der Feder war beschämend. Die Sätze glichen überfüllten Dörfern, in denen Groß- und Kleinbuchstaben in drangvoller Enge nebeneinanderlebten, ein Drunter und Drüber, als wollte jeder von ihnen der Buchseite entfliehen. Seine Rechtschreibung war mehr als willkürlich und seine Zeichensetzung Grund genug für traurige Stoßseufzer.
Aber Henry schrieb seinen Bericht dennoch nieder. Es war ihm wichtig, den Überblick zu behalten. Er wusste zwar, dass diese Seiten für jeden gebildeten Menschen ein haarsträubender Anblick gewesen wären, doch er wusste auch, dass niemand sie jemals zu Gesicht bekommen würde – mit Ausnahme seiner Frau. Wenn Beatrix wieder bei Kräften war, würde sie sein Gekrakel wie immer in ihre elegant geführten Wirtschaftsbücher übertragen, wo es als offizieller Haushaltsbericht firmieren würde. Sie war seine Partnerin – und machte ihre Sache wirklich gut. Sie übernahm diese Aufgabe für ihn … neben hundert anderen.
Sie würde sich, so Gott es wollte, binnen kurzem wieder daransetzen.
Der Schreibkram türmte sich bereits.
Teil 1
Der Fieberbaum
Kapitel 1
In den ersten fünf Jahren ihres Lebens war Alma Whittaker – wie wir alle in unserer frühesten Jugend – tatsächlich nur eine Mitreisende in dieser Welt, weshalb ihre Geschichte zu diesem Zeitpunkt weder ehrbar noch sonderlich interessant war, wenn man von der Tatsache absieht, dass dieser unscheinbare Knirps ohne Krankheiten oder sonstige Zwischenfälle durchs Leben ging und von einem Reichtum umgeben war, der im damaligen Amerika und selbst im eleganten Philadelphia seinesgleichen suchte. Wie es ihr Vater zu solchem Wohlstand gebracht hatte, ist hingegen eine erzählenswerte Geschichte, der wir uns widmen wollen, während wir darauf warten, dass das Mädchen heranwächst und wieder interessant für uns wird. Tatsächlich war es im Jahre 1800 genauso ungewöhnlich wie zu allen Zeiten, dass ein in armen Verhältnissen geborener, des Schreibens und Lesens praktisch unkundiger Mann reichster Bürger seiner Stadt wurde. Insofern sind Henry Whittakers Wege zum Erfolg außerordentlich interessant – wenn auch nicht unbedingt ehrbar, woraus er selbst im Übrigen keinen Hehl gemacht hätte.
Henry Whittaker wurde 1760 in Richmond geboren, einem an der Themse gelegenen Dorf unterhalb von London. Er war der jüngste Sohn mittelloser Eltern, die schon ein paar Kinder zu viel hatten. Er wuchs in zwei kleinen Zimmern auf, gestampfter Lehmboden, ein einigermaßen passables Dach, auf der Kochstelle fast täglich eine Mahlzeit, eine Mutter, die nicht trank, und ein Vater, der seine Angehörigen nicht schlug – mit anderen Worten eine nahezu vornehme Herkunft, verglichen mit vielen anderen Familien seiner Zeit. Seine Mutter besaß hinter dem Haus ein staubiges Stückchen Erde, wo sie – wie eine richtige Dame – nur zur Dekoration Rittersporn und Lupinen zog. Aber Henry ließ sich von Rittersporn und Lupinen nicht täuschen. Seine ganze Kindheit hindurch trennte ihn, wenn er schlief, nur eine Wand von den Schweinen, und es gab keinen Moment in seinem Leben, in dem er die Armut nicht als demütigend empfand.
Vielleicht hätte Henry die Kränkung weniger stark empfunden, wenn er den Reichtum, an dem er sein armseliges Leben messen konnte, nicht vor Augen gehabt hätte – doch der Junge erlebte schon als Kind, was Wohlstand bedeutet. Königlicher Wohlstand. In Richmond gab es einen Palast und auch einen Lustgarten namens Kew, um dessen sachkundige Pflege sich Prinzessin Auguste kümmerte. Sie hatte sich aus Deutschland ein ganzes Gefolge von Gärtnern mitgebracht, die darauf brannten, ein echtes, aber bescheidenes englisches Wiesengebiet in eine falsche, aber majestätische Landschaft zu verwandeln. Ihr Sohn, der zukünftige George III., verbrachte als Kind jeden Sommer dort. Als George König wurde, wollte er Kew zu einem botanischen Garten umgestalten, der seinen Konkurrenten auf dem Festland in nichts nachstehen sollte. Im Bereich der Botanik waren die Engländer auf ihrer kalten, nassen, abgeschiedenen Insel im Vergleich zum restlichen Europa ins Hintertreffen geraten, ein Rückstand, den George III. unbedingt aufholen wollte.
Henrys Vater war Obstgärtner in Kew – ein bescheidener, von seinen Dienstherren respektierter Mann, soweit man einen bescheidenen Obstgärtner respektieren kann. Mr Whittaker hatte ein Händchen für Obstbäume, denen er mit großer Achtung begegnete. (»Sie geben dem Land etwas für seine Mühe zurück«, pflegte er zu sagen. »Im Gegensatz zu den anderen.«) Einmal hatte er den Lieblingsapfelbaum des Königs gerettet, indem er einen Sprössling des dahinsiechenden Baums auf einen robusteren Wurzelstock pfropfte. Noch im selben Jahr hatte der neue Spross Früchte getragen und bald scheffelweise Äpfel hervorgebracht. Für dieses Wunder hatte der König höchstpersönlich Mr Whittaker den Spitznamen »Der Apfelmagier« gegeben.
Bei allem Talent war der Apfelmagier ein einfacher Mann mit einer scheuen Ehefrau. Nichtsdestotrotz bekamen die beiden, aus welchem Grund auch immer, sechs ruppige, geradezu brutale Söhne, darunter ein Junge, den man den »Schrecken von Richmond« nannte, und zwei weitere, die in Wirtshausprügeleien ihr Leben ließen.
Henry, der jüngste, war in gewisser Weise der ruppigste von allen, aber vielleicht musste er das ja sein, um sich gegen seine Brüder zu behaupten. Er war ein störrischer, hartnäckiger, magerer kleiner Kerl und ein Ausbund an ungezügeltem Erfindungsreichtum. Bei ihm konnte man sich darauf verlassen, dass er die Schläge der Brüder stoisch ertrug und immer wieder die eigene Unerschrockenheit unter Beweis stellte, wenn andere ihn dazu provozierten. Doch auch ohne seine Brüder verfügte Henry über eine gefährliche Experimentierfreude und einen gewagten Hang zum Zündeln, er war ein auf Dächern herumtollender Spottvogel, der die Hausfrauen verhöhnte, eine Gefahr für alle kleineren Kinder, kurzum ein Junge, bei dem es niemanden überrascht hätte, wenn er von einem Kirchturm gestürzt oder in der Themse ertrunken wäre – wenngleich es zu derlei Dingen, dem Zufall sei’s gedankt, niemals kam.
Im Gegensatz zu seinen Brüdern hatte Henry allerdings eine rettende Eigenschaft. Eigentlich sogar zwei, um genau zu sein: Er war intelligent, und er interessierte sich für Bäume. Es wäre übertrieben, zu behaupten, dass er Bäume genauso verehrte wie sein Vater, aber er interessierte sich für sie, weil sie in seiner ärmlichen Welt zu den wenigen Dingen gehörten, die er ohne weiteres studieren konnte und somit studieren wollte. Die Schreibkunst, das Bogenschießen, Reiten, Tanzen, Latein – das alles war Henry verwehrt. Doch er hatte die Bäume und seinen Vater, den Apfelmagier, der es geduldig auf sich nahm, ihn zu unterrichten.
So lernte Henry alles über die Werkzeuge des Pfropfens, über Lehm, Wachs und Messer und darüber, wie man mit kluger Hand Pflanzen beschnitt. Er lernte, wie man Bäume im Frühling umpflanzte, wenn der Boden feucht und dicht war, oder im Herbst, wenn der Boden locker und trocken war. Er lernte, wie man Aprikosen mit Pfählen stützte, um sie vor Wind zu schützen, wie man in der Orangerie Zitrusgewächse züchtete, wie man mit Rauch dem Mehltau auf den Stachelbeeren zu Leibe rückte, wie man den Feigen ihre kranken Teile abschnitt und wann man es sein lassen konnte. Er lernte, wie man ohne Gefühlsduselei oder schlechtes Gewissen einem alten Baum die ramponierte Rinde abzog, damit sich für die kommenden Jahreszeiten wieder Leben in ihm regte.
Henry lernte viel von seinem Vater, obgleich er sich auch für ihn schämte, denn er spürte seine Schwäche. Wenn Mr Whittaker wirklich der große Apfelmagier war, überlegte Henry, warum hatte sich die Bewunderung des Königs dann in keinerlei Wohlstand niedergeschlagen? Dümmere Männer waren reich – und zwar in großer Zahl. Warum lebten die Whittakers immer noch bei den Schweinen, wo doch die weiten grünen Rasenflächen des Palastes und die hübschen Häuser der Maid of Honor Row, in denen die Bediensteten der Königin auf französischem Leinen schliefen, so nah waren? Einmal war Henry auf eine mächtige Gartenmauer geklettert und hatte heimlich eine Lady in ihrem elfenbeinfarbenen Kleid beim Dressurreiten beobachtet, auf einem makellos weißen Pferd, während ein Diener zu ihrer Erheiterung Geigenmusik spielte. Hier in Richmond gab es Leute, die so lebten. Und die Whittakers hatten nicht einmal einen Fußboden.
Aber Henrys Vater kämpfte um nichts. Seit dreißig Jahren empfing er klaglos denselben kümmerlichen Lohn und hatte sich auch niemals darüber beschwert, selbst bei übelstem Wetter so lange im Freien arbeiten zu müssen, dass es ihm die Gesundheit ruiniert hatte. Henrys Vater hatte den vorsichtigsten Weg durchs Leben gewählt, insbesondere im Umgang mit Höhergestellten – und wer stand in seinen Augen eigentlich nicht höher als er? Er legte großen Wert darauf, niemanden zu kränken und sich niemals einen Vorteil zu verschaffen, selbst wenn ihm dieser fast in den Schoß fiel. »Sei niemals dreist, Henry«, erklärte Mr Whittaker seinem Sohn. »Man kann das Schaf nur ein Mal schlachten. Wenn du aber vorsichtig bist, kannst du es jedes Jahr scheren.«
Was konnte Henry angesichts eines so schwachen, genügsamen Vaters vom Leben erwarten, wenn er nicht mit eigenen Händen danach griff? Ein Mann sollte zulangen, nahm er sich vor, als er gerade erst dreizehn war. Ein Mann sollte täglich ein Schaf schlachten.
Aber wo war das Schaf zu finden?
Dies war der Zeitpunkt, da Henry Whittaker zu stehlen begann.
•
Schon um das Jahr 1775 waren die Gärten von Kew eine botanische Arche Noah mit einer Tausende von Exemplaren umfassenden Sammlung, die durch wöchentliche Lieferungen ständig erweitert wurde – Hortensien aus dem Fernen Osten, Magnolien aus China, Farne von den Westindischen Inseln. Zudem hatte Kew einen neuen, ehrgeizigen Direktor: Sir Joseph Banks, frisch heimgekehrt von seiner triumphalen Weltreise als leitender Botaniker auf Kapitän Cooks Endeavor. Banks, der ohne Salär arbeitete (ihn interessierte nach eigener Auskunft nur der Ruhm des Britischen Weltreichs, wiewohl einige Zeitgenossen andeuteten, dass er sich vielleicht doch auch ein kleines bisschen für den Ruhm von Sir Joseph Banks interessierte), hatte sich mit furioser Leidenschaft dem Sammeln von Pflanzen verschrieben, um einen aufsehenerregenden botanischen Garten von Rang und Namen zu schaffen.
Oh, Sir Joseph Banks! Dieser gutaussehende, lasterhafte, ehrgeizige, wetteifernde Abenteurer! Er war alles, was Henrys Vater nicht war. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren hatte eine üppige Erbschaft von jährlich sechstausend Pfund Joseph Banks zu einem der reichsten Männer Englands gemacht. Der attraktivste dürfte er wohl auch gewesen sein. Banks hätte ein luxuriöses Leben im Müßiggang führen können, doch stattdessen strebte er danach, der verwegenste unter den botanischen Forschern zu werden – ein Ruf, dem er folgte, ohne auch nur im Geringsten auf Prunk und Glanz zu verzichten. Finanziell hatte Banks aus eigener Tasche beträchtlich zu Kapitän Cooks erster Expedition beigetragen, was ihm erlaubte, zwei schwarze Diener, zwei weiße Diener, einen zusätzlichen Botaniker, einen wissenschaftlichen Sekretär, zwei Maler, einen Zeichner und zwei italienische Windspiele mit auf das enge Schiff zu nehmen. Im Laufe seines zweijährigen Abenteuers hatte Banks tahitianische Königinnen verführt, an Stränden nackt mit Wilden getanzt und im Mondlicht jungen heidnischen Mädchen beim Tätowieren ihrer Gesäßbacken zugesehen. Er hatte einen Tahitianer namens Omai mit nach England genommen, den er dort wie ein Haustier hielt, und zudem an die viertausend Pflanzenproben heimgebracht – von denen knapp die Hälfte der wissenschaftlichen Welt bis dahin unbekannt war. Sir Joseph Banks war der berühmteste und draufgängerischste Mann Englands, und Henry bewunderte ihn ungemein.
Trotzdem bestahl er ihn.
Eigentlich lag es nur daran, dass sich eine Gelegenheit bot, und zwar eine unübersehbare. Banks genoss in wissenschaftlichen Kreisen nicht nur den Ruf eines großen botanischen Sammlers, sondern auch den eines großen botanischen Geizhalses. Als Gentleman teilte man in jener Zeit auch als Botaniker seine Entdeckungen höflich mit anderen Forschern, doch Teilen war nicht Banks’ Sache. Aus aller Welt kamen Professoren, Würdenträger und Sammler mit der begründeten Hoffnung nach Kew, Samen und Ableger zu erhalten und vielleicht auch Proben aus Banks’ umfangreichem Herbarium – doch Banks wies sie alle ab.
Der junge Henry bewunderte den botanischen Geiz des Joseph Banks (er hätte seine Schätze auch nicht geteilt, wenn er welche gehabt hätte), doch bald erkannte er, dass die verärgerten Gesichter der abgewimmelten internationalen Besucher seine Chance waren. Wenn er vor der Anlage von Kew darauf wartete, dass sie die Gärten verließen, bekam er mit, wie sie Sir Joseph Banks auf Französisch, Deutsch, Holländisch oder Italienisch verfluchten. Dann ging Henry auf sie zu, fragte die Männer, welche Pflanzen sie wünschten, und versprach, selbige bis Ende der Woche zu besorgen. Immer war er mit einem Papierblock und einem Zimmermannsbleistift ausgerüstet. Wenn die Männer kein Englisch sprachen, ließ Henry sie aufzeichnen, was sie brauchten. Alle waren exzellente botanische Zeichner und konnten ihm ihre Wünsche mühelos vermitteln. Am späten Abend huschte Henry dann in die Treibhäuser, vorbei an den Arbeitern, die in kalten Nächten die riesigen Öfen befeuerten, und stahl Pflanzen für Geld.
Er war genau der Richtige dafür. Pflanzenbestimmung war seine Stärke, er hatte Geschick im Umgang mit den empfindlichen Ablegern, war in den Gärten ein so vertrautes Gesicht, dass er keinen Verdacht erregte, und versiert im Verwischen seiner Spuren. Das Beste aber war, dass er offenbar keinen Schlaf brauchte. Tagsüber arbeitete er mit seinem Vater in den Obstgärten, und nachts stahl er – seltene, wertvolle Gewächse, Frauenschuh, tropische Orchideen und fleischfressende Wunderpflanzen aus der Neuen Welt. Er verwahrte die botanischen Zeichnungen, welche die distinguierten Gentlemen für ihn anfertigten, und studierte sie so lange, bis er von allen Pflanzen, nach denen die Welt verlangte, jeden Staubbeutel und jedes Blütenblatt kannte.
Wie alle guten Diebe war Henry überaus gewissenhaft, was die eigene Sicherheit betraf. Niemandem vertraute er sein Geheimnis an, und die Einkünfte vergrub er an verschiedenen Stellen in den Gärten von Kew. Niemals gab er auch nur einen Viertelpenny davon aus. Er ließ sein Silber still im Boden schlummern wie einen guten Wurzelstock. Es sollte wachsen und gedeihen und irgendwann so gewaltig hervorbrechen, dass er sich damit das Recht erkaufen konnte, ein reicher Mann zu werden.
Binnen eines Jahres hatte Henry mehrere Stammkunden. Einer von ihnen, ein alter Orchideenzüchter vom Botanischen Garten in Paris, machte dem Jungen das vielleicht erste Kompliment seines Lebens: »Du bist ein nützlicher kleiner Spitzbube, dem es nicht widerstrebt, sich die Finger schmutzig zu machen, stimmt’s?« Im zweiten Jahr betrieb Henry bereits einen schwungvollen Handel mit exotischen Pflanzen, die er nicht nur an seriöse Botaniker, sondern auch an vermögende Londoner Adelskreise verkaufte, die für ihre Privatsammlungen nach solchen Exemplaren verlangten. Im dritten Jahr schickte er illegale Pflanzenableger nach Frankreich und Italien, sachgerecht in Moos und Wachs verpackt, damit sie die Reise überstanden.
Als das dritte Jahr zu Ende ging, wurde Henry Whittaker erwischt – von seinem eigenen Vater.
Mr Whittaker, der normalerweise über einen festen Schlaf verfügte, hatte eines Nachts bemerkt, dass sein Sohn nach Mitternacht das Haus verließ. Mit bangem Gefühl seinem väterlichen Instinkt folgend, war er dem Jungen bis zum Treibhaus hinterhergeschlichen und hatte alles gesehen, die Suche, den Diebstahl, das fachgerechte Verpacken. Er begriff sofort, dass hier ein Räuber sorgsam zu Werke ging.
Henrys Vater hatte seine Söhne niemals geschlagen, nicht einmal wenn sie es verdienten (und sie verdienten es oft), und auch in dieser Nacht schlug er Henry nicht. Er stellte ihn auch nicht zur Rede. Henry merkte gar nicht, dass er erwischt worden war. Nein, Mr Whittaker tat etwas sehr viel Schlimmeres. Gleich am nächsten Morgen bat er um eine persönliche Audienz bei Sir Joseph Banks. Es war eher ungewöhnlich, dass ein armer Schlucker wie Whittaker überhaupt um ein Gespräch mit einem Gentleman wie Banks ersuchen konnte, aber Henrys Vater hatte sich in dreißig unermüdlichen Arbeitsjahren so viel Respekt erworben, dass seiner Bitte ausnahmsweise stattgegeben wurde. Er war zwar ein armer alter Mann, doch immerhin war er auch der Apfelmagier – der Retter des königlichen Lieblingsbaumes –, und dieser Titel gewährte ihm Einlass.
Mr Whittaker kam Banks fast auf den Knien entgegengerutscht, mit tief gebeugtem Haupt, bußfertig wie ein Heiliger. Er beichtete die beschämende Tat seines Sohnes sowie den Verdacht, dass Henry diesen Diebstahl wahrscheinlich schon seit Jahren begehe. Als Bestrafung bot er die eigene Kündigung an, wenn dafür dem Jungen eine Verhaftung und weiteres Unheil erspart bliebe. Der Apfelmagier versprach, seine Familie aus Richmond wegzubringen und dafür zu sorgen, dass Kew wie auch Sir Joseph Banks persönlich nie wieder durch den Namen Whittaker verunglimpft würden.
Beeindruckt vom ausgeprägten Ehrgefühl des Obstgärtners, lehnte Banks dessen Kündigung ab und schickte nach dem jungen Henry. Auch dies war ein ungewöhnlicher Vorgang. Es kam selten vor, dass sich Sir Joseph Banks mit ungebildeten Gärtnern in seinem Arbeitszimmer traf, und besonders selten kam es vor, dass er sich mit den kriminellen sechzehnjährigen Söhnen von ungebildeten Gärtnern dort traf. Wahrscheinlich hätte er den Jungen einfach festnehmen lassen sollen. Doch auf Diebstahl stand die Hinrichtung durch Erhängen, und selbst Kinder, die deutlich jünger waren als Henry, wurden aufgeknüpft – für deutlich harmlosere Vergehen. Der Übergriff auf seine Sammlung war zwar ärgerlich, aber Banks hatte doch genügend Mitleid mit dem Vater, um dem Problem erst einmal selbst auf den Grund zu gehen, ehe er den Verwalter benachrichtigte.
Als das Problem kurz darauf in Sir Joseph Banks’ Arbeitszimmer erschien, entpuppte es sich als spindeldürrer, schmallippiger, breitschultriger Rotschopf mit milchigen Augen, eingefallener Brust und einer blassen Haut, die schon von Sonne, Wind und Regen gegerbt war. Der Junge war unterernährt, aber hochgewachsen, und er hatte große Hände. Banks sah, dass ein kräftiger Mann aus ihm werden konnte, wenn er nur eine anständige Mahlzeit bekam.
Henry wusste nicht genau, weshalb er in Banks’ Büroräume zitiert worden war, doch er hatte ausreichend Grips, um mit dem Schlimmsten zu rechnen, und war sehr beunruhigt. Dass er Banks’ Arbeitszimmer betreten konnte, ohne am ganzen Leib zu zittern, verdankte er einzig und allein seiner dickhäutigen Sturheit.
Aber du lieber Gott, wie schön dieses Zimmer war! Und wie blendend gekleidet dieser Joseph Banks, mit seiner glänzenden Perücke und dem schimmernden schwarzen Samtanzug, den polierten Schuhschnallen und weißen Strümpfen. Henry war noch nicht ganz durch die Tür, da hatte er schon den Preis des grazilen Mahagoni-Schreibpults taxiert, einen begehrlichen Blick auf die schönen, in Regalen gestapelten Sammelboxen geworfen und das stattliche Porträt von Kapitän Cook bewundert, das an der Wand hing. Teufel noch mal, allein der Rahmen dieses Porträts hatte bestimmt neunzig Pfund gekostet!
Im Gegensatz zu seinem Vater verbeugte sich Henry nicht vor Banks, sondern blieb aufrecht vor dem berühmten Mann stehen und sah ihm direkt in die Augen. Banks, der die ganze Zeit saß, ließ Henry schweigend dastehen, vielleicht in Erwartung einer Beichte oder einer Ausrede. Doch Henry legte weder ein Geständnis ab, noch verteidigte er sich; er ließ auch nicht beschämt den Kopf hängen, und wenn Sir Joseph Banks geglaubt hatte, Henry Whittaker wäre so dumm, in einer derart brenzligen Situation als Erster das Wort zu ergreifen, dann kannte er Henry Whittaker schlecht.
Also befahl Banks nach langem Schweigen: »Dann sag mir doch … warum sollte ich dich nicht an den Galgen von Tyburn bringen?«
Das war’s dann, dachte Henry. Man hat mich geschnappt.
Trotzdem versuchte der Junge mit aller Kraft, einen Plan zu fassen. Er brauchte eine Taktik, und zwar jetzt, in diesem Moment. Schließlich war er nicht sein Leben lang von älteren Brüdern verprügelt worden, ohne etwas übers Kämpfen gelernt zu haben. Wenn ein kräftigerer, stärkerer Gegner den ersten Schlag gelandet hat, muss man rasch das Ruder herumreißen, ehe man unter einem Hagel von Fausthieben am Boden liegt, und am besten funktioniert in solchen Fällen ein Überraschungsangriff.
»Weil ich ein nützlicher kleiner Spitzbube bin, dem es nicht widerstrebt, sich die Finger schmutzig zu machen«, sagte Henry.
Ungewöhnliche Situationen amüsierten Banks, und er lachte vor Überraschung laut auf. »Ich gestehe, dass mir nicht recht einleuchten will, worin dein Nutzen liegen sollte, junger Mann. Was hast du denn für mich getan? Doch nur meine hart erkämpften Schätze geplündert.«
Es war keine Frage, trotzdem antwortete Henry.
»Ja, vielleicht habe ich ein bisschen herumgeschnippelt«, sagte er.
»Du leugnest es also nicht?«
»Alles Geschrei der Welt würde doch auch nichts daran ändern, oder?«
Wieder lachte Banks. Vielleicht glaubte er, dass der Junge eine Masche abzog und den Mutigen spielte, aber Henrys Mut war echt. Genauso wie seine Angst. Und seine fehlende Reue. Reue empfand Henry zeitlebens als Schwäche.
Banks schlug also einen anderen Kurs ein. »Ich muss sagen, junger Mann, dass du deinem Vater in höchstem Maße Kummer bereitet hast.«
»Er mir auch«, gab Henry zurück.
Wieder das überraschte, bellende Lachen. »Tatsächlich? Welches Leid hat dir der gute Mann denn zugefügt?«
»Mich arm gemacht, Sir«, sagte Henry. Plötzlich ging ihm ein Licht auf, und er fügte hinzu: »Er war’s, oder? Hat er mich verraten?«
»Allerdings. Dein Vater ist ein hochanständiger Mensch.«
Henry zuckte die Achseln. »Mir gegenüber ja wohl nicht.«
Banks nahm die Replik nickend zur Kenntnis und gestand Henry diese Einschätzung großzügig zu. Dann fragte er: »Wem hast du meine Pflanzen verkauft?«
Henry zählte die Namen an den Fingern auf. »Mancini, Flood, Willink, LeFavour, Miles, Sather, Evashevski, Fuerele, Lord Lessig, Lord Garner …«
Banks unterbrach ihn mit einer Handbewegung. Mit unverhohlenem Erstaunen musterte er den Jungen. Seltsamerweise hätte er, wäre die Liste belangloser gewesen, vielleicht sogar zorniger reagiert. Aber diese Männer waren die angesehensten Botaniker der damaligen Zeit. Einige von ihnen bezeichnete Banks als Freunde. Wie hatte der Junge sie aufgespürt? Manche waren seit Jahren nicht mehr in England gewesen. Das Kind betrieb ganz offensichtlich Exporthandel. Was war das für ein Feldzug, den diese Kreatur hier vor seiner Nase geführt hatte?
»Woher weißt du eigentlich, wie man mit Pflanzen umgeht?«, fragte Banks.
»Ich kenne die Pflanzen, Sir, hab ich schon immer. Irgendwie weiß ich das alles schon mein Leben lang.«
»Und diese Männer? Geben sie dir Geld?«
»Sonst bekommen sie ja ihre Pflanzen nicht«, sagte Henry.
»Dann musst du gut verdienen. Wirklich, da muss in den letzten Jahren ein Haufen Geld zusammengekommen sein.«
Henry war klug genug, sich dazu nicht zu äußern.
»Was hast du mit dem Geld gemacht, junger Mann?« Banks ließ nicht locker. »Offensichtlich hast du nicht in deine Garderobe investiert. Deine Einkünfte sind ohne jeden Zweifel Eigentum von Kew. Wo ist das ganze Geld?«
»Weg, Sir.«
»Weg? Wohin?«
»Würfelspiel, Sir. Wissen Sie, das Glücksspiel ist meine Schwäche.«
Das mag wahr sein oder auch nicht, dachte Banks. Jedenfalls besaß der Junge eine furchtlose Dreistigkeit, die er bei wilderen Exemplaren der Spezies Mensch schon häufiger angetroffen hatte. Banks war fasziniert. Immerhin war er ein Mann, der sich einen Heiden gewissermaßen als Haustier hielt und der – wie man ehrlicherweise hinzufügen sollte – selbst im Ruf stand, ein halber Heide zu sein. Sein gesellschaftlicher Rang verlangte von ihm, zumindest nach außen hin alles Vornehme, Aristokratische zu bewundern, aber insgeheim war ihm das Ungebändigte, Wilde gar nicht unlieb. Und was war dieser Henry Whittaker doch für ein wilder Vogel! Sir Joseph Banks’ Bereitschaft, dieses kuriose Menschenexemplar den Konstablern zu übergeben, schwand zusehends.
Henry, dem nichts entging, merkte, dass in Banks’ Gesicht etwas geschah – ein Aufscheinen von Neugier, ein Weicherwerden der Züge, der Hauch einer Chance, doch noch sein Leben zu retten. Sein Selbsterhaltungstrieb ließ ihn, den schmalen Lichtstreif der Hoffnung vor Augen, ein letztes Mal vorpreschen.
»Bringen Sie mich nicht an den Galgen, Sir«, sagte Henry. »Sie werden es bereuen, wenn Sie’s tun.«
»Was schlägst du mir stattdessen vor?«
»Lassen Sie mich nützlich sein.«
»Warum sollte ich?«, fragte Banks.
»Weil ich besser bin als die anderen.«