Hawkings Kosmos einfach erklärt

Stephen Hawkings Welt

Ein Kopf im Kosmos und den Kosmos im Kopf – der berühmteste Wissenschaftler der Welt hat das Allerkleinste und Allergrößte erforscht, von den Elementarteilchen bis zu (mutmaßlichen) anderen Universen. Auch jüngst sorgte Stephen Hawking wieder für Aufsehen: in den populären Medien sowie an der aktuellen Forschungsfront der Kosmologie und Physik.


„Wir sind das Ergebnis winziger Zufälle in der Frühzeit des Universums, ohne die sich weder Sterne noch Leben entwickelt hätten“, schrieb Stephen Hawking Ende Juli 2011 im Wissenschaftsmagazin New Scientist. Diese Entdeckung, an der der britische Kosmologe selbst beteiligt war, verbindet das Allerkleinste mit dem Allergrößten sowie mit dem Menschen dazwischen und mittendrin. Denn die Explosion des Weltraums im Urknall machte das All nicht nur groß, sondern blies auch die gespenstischen Quantenfluktuationen auf: mikroskopische, grundlose Unregelmäßigkeiten in den Energiefeldern. Sie wurden anscheinend so extrem verstärkt, dass sie sich als heute noch messbare Dichteunterschiede im glühenden Urgas abzeichneten und die Saat für das Werk der Schwerkraft bildeten, die daraus Galaxien, Sterne und Planeten schuf (dazu mehr ab hier). Mikrokosmos und Makrokosmos sind also aufs Engste und Existenziellste miteinander verknüpft. Daher ist es ganz zutreffend, dass im Schoß des Urknalls schon der Keim des Menschen heranwuchs. Ohne diese kosmische Beziehung wären wir wohl niemals entstanden.

Selbstverständlich gehen die Fragen weiter und tiefer: „Warum gibt es etwas und nicht einfach nichts? Warum existieren wir? Warum dieses besondere System von Gesetzen und nicht irgendein anderes?“ Stephen Hawking – der berühmteste Wissenschaftler der Gegenwart und seit seinem Weltbestseller Eine kurze Geschichte der Zeit von 1988 einem Millionenpublikum bekannt – hat die ganz großen Themen nie gescheut. Er gehört allerdings auch zu den wenigen, die dazu beitragen, den Antworten näher zu kommen.

Dies ist angesichts seines tragischen Schicksals eine kaum zu ermessende Leistung. Denn bereits kurz nach seinem 21. Geburtstag im Jahr 1963 prophezeiten ihm die Ärzte eine Lebenserwartung von höchstens noch ein paar Jahren. Sie hatten Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert, eine schreckliche Erkrankung, bei der nach und nach die muskulären Nervenzellen absterben. Trotzdem konnte Hawking sein Studium sowie eine Promotion abschließen und Spitzenforschung vollbringen. 1979 wurde er, längst vollständig gelähmt und an den motorisierten Rollstuhl gefesselt, sogar auf den renommierten Lucasischen Lehrstuhl der University of Cambridge berufen, den vor 300 Jahren Isaac Newton inne hatte. „Dieser Stuhl hat sich offensichtlich stark verändert. Er wird jetzt elektrisch betrieben“, kommentierte Hawking einmal seine Professur.

Aufgrund eines Luftröhrenschnitts kann sich Hawking seit 1985 nur noch mithilfe eines Sprachcomputers verständigen. Er bedient ihn buchstäblich mit seinem letzten Zucken, indem er mit noch verbliebenen absichtlichen Bewegungen der rechten Wange mühsam Buchstabe für Buchstabe in das Programm eingibt – bestenfalls zwei bis drei Wörter pro Minute.

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Oasen des Geistes: Hochkarätige Physik und Mathematik ist in Cambridge seit vielen Jahrhunderten die Regel. Auch aufgrund des Lucasischen Lehrstuhls, den unter anderem Isaac Newton, Paul Dirac und Stephen Hawking inne hatten. Oben das Trinity College (eingekreist ein Fenster zu Newtons Zimmer). Unten das 2002 eingeweihte Centre of Mathematical Science an der Wilberforce Road (hier der Haupteingang zum Hörsaalgebäude). Es ist Hawkings Wirkungsstätte.

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Mit diesem tragischen Schicksal passt Hawking perfekt zum Klischee des im regungslosen Körper gefangenen genialen Geistes, der alle Grenzen zu sprengen trachtet – zumindest die Grenzen der Erkenntnis. Denn seine Forschungen handeln von den abstraktesten, entlegensten und kompliziertesten Themen: Schwarzen Löchern, Urknall, Zeitreisen, Quantenphysik und der Suche nach einer Weltformel, die alle Teilchen und Kräfte erklärt. Kein Wunder wurde er zum Medienstar. Hawking sieht es ähnlich: „Ich bin sicher, dass meine Behinderung eine Rolle spielt, warum ich so bekannt bin. Die Menschen sind fasziniert von dem Kontrast zwischen meinen sehr eingeschränkten physischen Kräften und der gewaltigen Natur des Universums, mit der ich mich beschäftige. Ich bin der Archetypus des behinderten Genies. Doch ob ich ein Genie bin, kann bezweifelt werden.“ Seinen Intelligenzquotienten kennt er übrigens nicht. „Ich habe keine Ahnung“, meint er. „Leute, die mit ihrem IQ protzen, sind Verlierer“.

Die Kombination von kosmologischer Größe und gravierender Krankheit hat aus Hawking sogar eine Art Filmheld werden lassen. Ein TV-Spielfilm über seine Jugend bis zur Dissertation (Hawking, 2004) existiert bereits, ebenso ein Kinofilm über seine Forschungen mit vielen Interviews seiner Weggefährten (A Brief History of Time, 1991). Für die nahe Zukunft ist außerdem ein großer Kinofilm in Arbeit, Beyond the Horizon, der Hawkings Leben und Werk veranschaulichen soll – mit ihm selbst in der Hauptrolle.

Ende Oktober 2009 wurde Hawking emeritiert. Er war 30 Jahre im Amt, was bei seinem Antritt niemand gedacht hatte. Von Ruhestand kann bei Hawking freilich keine Rede sein. Er hat eine große Familie (drei Kinder und drei Enkel; mit seiner Tochter Lucy schrieb er bereits drei Kinderbücher). Er hält Vorträge, wenn seine Gesundheit es erlaubt. Er nahm 2010 eine Gastprofessur am Perimeter-Institut für Theoretische Physik in Kanada an. Er moderierte eine dreiteilige TV-Serie und veröffentlichte ein neues populärwissenschaftliches Sachbuch, Der Große Entwurf. Vor allem aber forscht er mit seinen Kollegen weiter und veröffentlichte in den letzten Jahren mehrere umfangreiche Beiträge zu diffizilen Fragen der Kosmologie – auch über jene primordialen Quantenfluktuationen im Urknall, die bis heute die Architektur des Universums prägen.

Von diesen aktuellen Forschungen berichtet das vorliegende Buch – Erkenntnissen, die Hawking in seinen populären Darstellungen noch überhaupt nicht vorgestellt hat. Darüber hinaus und hauptsächlich versuchen die folgenden Seiten, Hawkings zahlreiche Erkenntnisse und Überlegungen im Zusammenhang in den Blick zu nehmen, aber auch den Kontext zur Kosmologie insgesamt nicht aus dem Augenwinkel zu verlieren. Und dies getreu Albert Einsteins Motto, man solle die Dinge so einfach wie möglich erklären, aber nicht einfacher.

Zunächst werden die 13,7 Milliarden Jahre, die unser Universum bereits existiert, sehr gerafft zusammengefasst (ab hier). Dann werden die theoretischen Grundlagen der Kosmologie skizziert, die Relativitäts- und Quantentheorie plus die Versuche, sie in einer Weltformel zu verbinden (ab hier), und was diese Theorien – gemeinsam mit den astronomischen Beobachtungen und physikalischen Experimenten – über die ersten Sekundenbruchteile des Universums verraten (ab hier). Dies führt zum Rätsel der seltsamen Urknall-Singularität, in der die bekannten Naturgesetze zusammenbrechen und das große Fragezeichen des Weltanfangs erscheint (ab hier). Hinter den Schleier dieses Geheimnisses versuchen inzwischen raffinierte Ideen und Hypothesen zu spähen, was tiefgründige philosophische Probleme von Zeit, Nichts und Unendlichkeit aufwühlt (ab hier). Auch die Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nicht selbstverständlich, und so eröffnet sich die bizarre Möglichkeit einer Umkehr der Zeitrichtung (ab hier). Tatsächlich muss der Urknall gar nicht der Anfang von Allem gewesen sein, sondern er war vielleicht nur ein Ereignis unter unzähligen oder der Übergang von einem fremden Universum, das aus unserer Perspektive kollabierte und eine rückwärts laufende Zeit besitzt (ab hier). In Schwarzen Löchern hingegen, jenen ominösen Schwerkraftschlünden, scheint nicht nur alles auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, sondern auch die Zeit zu enden – doch das ist nur die halbe Wahrheit (ab hier). Und womöglich existieren exotische Tunnel in der Raumzeit, schillernde Pforten zu anderen Universen oder gar brisante Schleifen in die Vergangenheit, die das Gefüge von Ursache und Wirkung zu erschüttern drohen (ab hier). Zuletzt – oder zuallererst – stellt sich die Frage nach der Wahrheit wissenschaftlicher Aussagen sowie nach der Natur der Wirklichkeit und darüber hinaus, also auch nach einem göttlichen Schöpfer, Plan oder Sinn der Welt (ab hier).

Über all diese Aspekte wird hier recht konzentriert berichtet. Bereits eine Einführung in die Relativitätstheorie oder Quantenphysik würde ja leicht ein – schweres – Buch füllen. Und eine Besichtigung der Forschungsfronten, nicht selten von leidenschaftlichen Kontroversen begleitet, müsste noch viele weitere Perspektiven öffnen. Über diese aktuellen Entwicklungen der Kosmologie und Grundlagenphysik, einschließlich Hawkings Arbeiten und kritischen Stimmen seiner Kollegen, habe ich in den populärwissenschaftlichen Sachbüchern Hawkings neues Universum und Tunnel durch Raum und Zeit ausführlich berichtet. Darin ist auch sehr viel mehr über Hawkings Leben, seine Forschungstätigkeiten und seine persönlichen Ansichten zu lesen, die in der vorliegenden knappen, mehr einführend-erklärenden als journalistischen und in die Details zielenden Darstellung notgedrungen zu kurz kommen (eine aktuelle Übersicht zu Hawkings Leben und Werk gibt aber die folgende Doppelseite).

Zur Lebenseinstellung von Stephen Hawking soll hier daher nur zitiert werden, was er im Sommer 2010 gegenüber dem US-amerikanischen Fernsehsender ABC mit seiner Computerstimme gesagt hat: „Dies sind die wichtigsten Ratschläge, die ich meinen Kindern auf den Weg gegeben habe: Erstens, vergesst nicht, empor zu den Sternen zu blicken, anstatt hinab auf eure Füße. Zweitens, gebt niemals auf mit eurer Arbeit, denn sie schenkt euch Sinn, ohne den das Leben leer ist. Drittens, wenn Ihr glücklich genug seid, Liebe zu finden, dann denkt daran, dass dies selten ist, und werft sie nicht weg.“

 Leben und Werk: Eine lange Geschichte von Stephen Hawking


JahrEreignis


1942  8. Januar: Stephen William Hawking wird in Oxford geboren; seine Eltern sind die Wirtschaftswissenschaftlerin Isobel Hawking und der Tropenmediziner Frank Hawking; Kindheit in London

1943  Geburt der Schwester Mary

1946  Geburt der Schwester Philippa

1950  Umzug nach St. Albans, Hertfordshire, bei London

1955  Adoptivkind Edward stößt zur Familie

1959  Begabtenstipendium der University of Oxford, Studium der Physik

1961  Physikpreis der University of Oxford

1962  Abschlussexamen mit „sehr gut“

 Beginn der Kosmologie-Dissertation bei Dennis Sciama an der University of Cambridge

 31. Dezember: Begegnung mit Jane Wilde

1963  Diagnose: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)

1965  Abschluss der Dissertation

 erste wissenschaftliche Veröffentlichungen

 Fellowship und Forschungsstipendium am Caius College in Cambridge

 Hochzeit mit Jane Wilde

1965 bis 1970  Formulierung der Singularitätstheoreme mit Roger Penrose

1967  Geburt des Sohns Robert

1970  Geburt der Tochter Lucy

 Hawking im Rollstuhl

 Mitarbeit am Institute of Astronomy in Cambridge

ab 1971  Arbeiten zu Schwarzen Löchern (Eigenschaften, Wachstum)

1973  Buch The Large Scale Structure of Space-Time mit George Ellis

 Arbeit mit Barry Collins zur Isotropie des Universums und zum Anthropischen Prinzip

1974  komplett pflegebedürftig

 Arbeit zur Thermodynamik und Quantenphysik Schwarzer Löcher: Verdampfung durch Hawking-Strahlung

 Aufnahme in die Royal Society

1974 bis 1975  Forschungsjahr am California Institute of Technology in Pasadena bei Kip Thorne (seither viele weitere Aufenthalte dort)

1975  Informationsverlust in Schwarzen Löchern vermutet (Information-Loss Paradox)

  Ernennung zum Reader (akademische Stelle) für Gravitationsphysik

1975 bis 1976  sechs Preise, darunter die Eddington-Medaille der Royal Astronomical Society und die Pius-XII.-Medaille der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften

1976  Arbeit mit Don Page zur Gammastrahlung primordialer Schwarzer Löcher

ab 1976  Arbeiten zur Euklidischen Quantengravitation

1977  Ernennung zum Professor am Caius College

 Arbeit mit Gary Gibbons zur Strahlung Kosmischer Ereignishorizonte

 Auftritt in der TV-Dokumentation The Key of the Universe (BBC)

1978  Albert Einstein Award

1979  Geburt des Sohns Timothy

 Mitherausgeber von General Relativity: An Einstein Centenary Survey

 Berufung auf den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik des Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics (DAMTP) an der University of Cambridge

1980  29. April: Antrittsvorlesung Is the End in Sight for Theoretical Physics?

1981  Vortrag zur Keine-Grenzen-Bedingung (No-Boundary Proposal) an der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften

 Mitherausgeber von Superspace and Supergravity

 Ehrentitel „Commander of the British Empire“ von Königin Elizabeth II.

ab 1981  Arbeiten zur Kosmologischen Konstante

ab 1982  Arbeiten mit Ian Moss zur Kosmischen Inflation und zu Phasenübergängen

1982  Mitorganisation des Workshops The Very Early Universe in Cambridge

 Ehrendoktorate der Universitäten Leicester, New York, Princeton, Notre Dame (später noch acht weitere)

1983  Arbeit zur Wellenfunktion des Universums mit James Hartle

 Mitherausgeber von The Very Early Universe

1984  Entwurf für Eine kurze Geschichte der Zeit an den New Yorker Literaturagenten Al Zuckerman, der die Rechte an den Verlag Bantam versteigert

1985  Arbeit zur Zeitrichtung (später revidiert)

 August: Lungenentzündung in Genf, Luftröhrenschnitt in Cambridge, Verlust der Sprechfähigkeit; Sprachcomputer von David Mason, steuerbar mit der linken Hand

1986  Mitherausgeber von Supersymmetry and its Applications

1987  Mitherausgeber von Three Hundred Years of Gravitation

ab 1987  Arbeiten zu Wurmlöchern und Baby-Universen

1988  Buch A Brief History of Time (Eine kurze Geschichte der Zeit), wird zum Bestseller und in über 40 Sprachen übersetzt

 Wolf-Preis für Physik zusammen mit Roger Penrose

1989  Ehrentitel „Companion of Honour“ von Königin Elizabeth II.

1990  Scheidung von Jane Wilde

1991   Dokumentarfilm zu Eine kurze Geschichte der Zeit von Errol Morris, dazu das Buch A Brief History of Time. A Reader’s Companion (Stephen Hawkings kurze Geschichte der Zeit)

1992  Arbeit zur Vermutung zum Schutz der Zeitordnung (Chronology Protection Conjecture)

ab 1992  weitere Arbeiten zur Quantenphysik Schwarzer Löcher, u.a. mit Simon F. Ross, Raphael Bousso

1993  Artikel-Sammlung Black Holes and Baby Universes and Other Essays (Einsteins Traum)

  Mitherausgeber von Euclidean Quantum Gravity and other Essays

1994  Vorlesungen The Nature of Space and Time mit Roger Penrose in Cambridge

1995  Hochzeit mit seiner Krankenpflegerin Elaine Mason

1996  Buch The Nature of Space and Time (Raum und Zeit) mit Roger Penrose

 Buch The Illustrated A Brief History of Time (Die illustrierte Kurze Geschichte der Zeit), aktualisiert und neu bebildert

1998  Arbeit mit Michael Cassidy zu Chronology Selection

 Arbeiten mit Neil Turok zur Entstehung offener Universen mit Inflation

 Vortrag für Bill Clinton im Weißen Haus, Washington

ab 1999  Arbeiten zur Stringkosmologie, u.a. mit Harvey S. Reall und Thomas Hertog

2001  Buch The Universe In A Nutshell (Das Universum in der Nussschale)

2002  Herausgeber von On the Shoulders of Giants: The Great Works of Physics and Astronomy (Giganten des Wissens)

ab 2003  Arbeiten zum Top-Down-Ansatz der Kosmologie, ab 2006 mit Thomas Hertog

2004  Informationsverlust in Schwarzen Löchern widerrufen

  Spielfilm Hawking von Philip Martin

2005  Steuerung des Sprachcomputers nun mit Zucken der rechten Wange

 Buch A Briefer History of Time (Die kürzeste Geschichte der Zeit) mit Leonard Mlodinow

 Herausgeber von God Created the Integers: The Mathematical Breakthroughs That Changed History

2006  Scheidung von Elaine Mason

2007  Kinderbuch George’s Secret Key to the Universe (Der geheime Schlüssel des Universums) mit seiner Tochter Lucy Hawking

 Herausgeber von A Stubbornly Persistent Illusion: The Essential Scientific Writings of Albert Einstein

 26. April: acht Parabelflüge mit je 30 Sekunden Schwerelosigkeit an Bord einer Boeing 727, gestartet vom Kennedy Space Center in Florida

 19. Dezember: Eröffnung des Centre for Theoretical Cosmology (CTC) am DAMTP der Cambridge University, finanziert von der Stephen Hawking Foundation

ab 2007  Arbeiten mit James Hartle und Thomas Hertog zur Quantenkosmologie, Wellenfunktion des Universums, Inflation und Zeitrichtung

2008  Hauptvortrag zum 50. Jahrestag der NASA an der George Washington University

  TV-Dokumentation und DVD Stephen Hawking, Master of the Universe (Channel 4)

2009  „Presidential Medal of Freedom“ von Barack Obama im Weißen Haus, Washington

 30. September: Emeritierung in Cambridge, seitdem Director of Research am CTC

 Kinderbuch George’s Cosmic Treasure Hunt (Die unglaubliche Reise ins Universum) mit Lucy Hawking

2010  TV-Serie und DVD Into the Universe with Stephen Hawking (Die Geheimnisse des Universums) (Discovery Channel)

 Buch The Grand Design (Der Große Entwurf) mit Leonard Mlodinow

2011  Kinderbuch George and the Big Bang (Zurück zum Urknall – Die große Verschwörung) mit Lucy Hawking


Von der Erde zum Urknall

Der Weltraum mit seinen Myriaden Galaxien – Sterneninseln wie die Milchstraße – ist nicht ewig und unveränderlich, sondern vor 13,7 Milliarden Jahren aus einem Feuerball entstanden. Seither dehnt er sich aus, kühlt ab und schuf sogar Wesen, die diese ganze Geschichte zu ergründen versuchen.


Mensch und Kosmos

„Wir leben in einem seltsamen und wunderbaren Universum. Um es in seinem Alter, seiner Größe, seiner Kraftentfaltung und seiner Schönheit zu würdigen, bedarf es einer außerordentlichen Vorstellungskraft“, begann Stephen Hawking das erste Kapitel seines Buchs Die kürzeste Geschichte der Zeit. Und diese Vorstellungskraft wird von den Entwicklungen der modernen Kosmologie und Physik aufs Äußerste beansprucht, ja überstrapaziert.

Die Größe und das Alter des beobachtbaren Universums sprengen jeden Maßstab des Alltagsverstands – auch den der Astronomen. Diese können zwar mit „astronomischen Zahlen“ rechnen, das erfordert ja ihr Beruf, aber die kosmischen Ausmaße wirklich zu begreifen, das übersteigt auch ihr Fassungsvermögen. Und dabei eröffnet selbst der Blick mit den leistungsfähigsten Teleskopen bis an den Rand des beobachtbaren Weltraums nur einen winzigen Ausschnitt unseres Universums. Möglicherweise ist es unendlich groß – und vielleicht selbst wiederum nur eines unter unzähligen.

Umso erstaunlicher, vielleicht sogar anmaßend, erscheint es, dass wir Menschen diesen gewaltigen Kosmos auszuloten und sogar zu erklären versuchen. Denn im kosmischen Maßstab sind wir nur einige kleine Kohlenwasserstoff-Aggregate auf der Kruste einer Felskugel, die um einen mittelprächtigen Stern kreist, der sich durch einen entlegenen Winkel einer spiralförmigen Zusammenballung aus Gas und Feuerkugeln in einer riesigen Leere bewegt. Dabei machen diese auf Kohlenwasserstoff-Verbindungen basierenden Organismen hochpräzise Messungen mit empfindlichen Geräten, die ihre natürlichen Sinne weit übertreffen. Und sie denken sich Theorien aus, die den Kleingeist, der auf ihrem bunten Planeten herrscht, sowie die kindischen Märchen, die allzu oft der Angst, der Sehnsucht oder dem Machtwillen geschuldet sind, weit hinter sich zurücklassen. Diese kühnen Konstruktionen, nicht selten Verzweiflungstaten eines nach Ordnung suchenden Denkens, führen häufig in die Irre. Aber sie sind kein bloßes Glasperlenspiel oder ein beliebiges Geschwätz wie vieles andere, denn sie müssen sich am Universum selbst bewähren. Darin besteht auch der Triumph der wissenschaftlichen Vernunft: nicht blindlings den Dogmen und Ideologien zu folgen, sondern in beständiger kritischer Reflektion das Wechselspiel von Erfahrung und Hypothese voranzutreiben und aus den Fehlern zu lernen.

Der Gegensatz zwischen der menschlichen Winzigkeit im Kosmos und der Größe des Anspruchs, diesen zu durchschauen, was die Einsicht ebendieser Winzigkeit zur Folge hat, ist kurios. Immerhin bekäme eine Bescheidenheit aus Bescheidwissen dem Menschen gar nicht so schlecht – und darin liegt vielleicht die größte Bedeutung der Erforschung des Weltraums. Seit Menschen vom Mond aus die Erde als blaue Murmel im tiefschwarzen All gewahrten, hat sich eine neue Perspektive eröffnet.

„Die Menschen sind nicht bereit, sich von Erzählungen über Götter und Riesen trösten zu lassen, und sie sind nicht bereit, ihren Gedanken dort, wo sie über die Dinge des täglichen Lebens hinausgehen, eine Grenze zu ziehen. Damit nicht zufrieden, bauen sie Teleskope, Satelliten und Beschleuniger, verbringen sie endlose Stunden am Schreibtisch, um die Bedeutung der von ihnen gewonnenen Daten zu entschlüsseln“, hat der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg einmal die menschliche Neugier charakterisiert und den Drang nach Erkenntnis und Grenzüberschreitung. „Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.“

Auch Stephen Hawking macht sich über die Stellung des Menschen im Kosmos keine Illusionen und relativiert damit sogar seine schwere Krankheit: „Die menschliche Spezies ist so mickrig verglichen mit dem Universum, dass eine Behinderung keine kosmische Bedeutung hat.“ Aber er betont auch die Kraft des um sich greifenden Denkens und zitiert gern aus William Shakespeares Tragödie Hamlet: „Ich könnte in einer Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten.“ In seinem Buch Das Universum in der Nussschale interpretiert Hawking dies folgendermaßen: „Obwohl wir Menschen physischen Einschränkungen unterworfen sind, können unsere Gedanken frei und ungebunden das Universum erforschen.“ So auch sein eigener reger Geist – im gelähmten Körper selbst eingesperrt wie in einer Nussschale. „Ich lebe gern. Es gibt so viel zu tun und zu entdecken.“

Das Schaumbad der Sterne

Mittel- und Schwerpunkt unseres Sonnensystems ist die Sonne. Um sie bewegen sich die Erde und die sieben anderen Planeten mit ihren Monden sowie die Abermilliarden Kleinkörper (Planetoiden und Kometen). Alle zusammen genommen haben sie eine Masse von weniger als 0,2 Prozent der Sonne. Doch der 1,4 Millionen Kilometer große und an seiner Oberfläche fast 6000 Grad heiße feurige Gasball ist nur ein Stern unter unzähligen. Allein in unserer Milchstraße, der Galaxis, scheinen über 100 Milliarden Sterne, die sich in ihrer Temperatur, Farbe, Leuchtkraft und Größe teils erheblich unterscheiden. Unsere Sonne ist ein durchschnittlicher Stern mittlerer Masse in einem der Spiralarme der Galaxis, die sich wie ein riesiger Diskus majestätisch im Raum dreht. Die Milchstraße, die wir als schimmerndes Band am Nachthimmel sehen, ist also unsere Innensicht dieser gewaltigen Sterneninsel.

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Intime Begegnung: Das Galaxien-Paar VV 340 (auch Arp 302 genannt) wird in einigen Dutzend Jahrmillionen miteinander kollidieren und verschmelzen – ähnlich wie in ein paar Milliarden Jahren auch der Andromedanebel und unsere Milchstraße, die der Spiralgalaxie rechts gleicht. VV 340 befindet sich 450 Millionen Lichtjahre entfernt im Sternbild Bootes. Das Foto des Hubble-Weltraumteleskops im sichtbaren Licht wurde mit einer Röntgenaufnahme (violett) des Chandra-Satelliten kombiniert, die Millionen Grad heißes Gas zeigt.

Obwohl die Sterne in der Milchstraßen-Scheibe, die das Sonnensystem umschließt, teilweise so dicht beieinander stehen, dass sie mit bloßem Auge nicht als einzelne Objekte aufgelöst werden können, sind die Abstände zwischen all diesen Sonnen gewaltig. Meistens viel größer als zwischen den Planeten im Sonnensystem. Daher benutzen Astronomen für kosmische Entfernungsangaben als Einheit keine Kilometer – die Zahlen wären zu gewaltig und unhandlich –, sondern Lichtjahre. Ein Lichtjahr ist also keine Zeiteinheit, sondern bezeichnet die Strecke, die das Licht – das sich im Vakuum mit fast 300.000 Kilometer pro Sekunde ausbreitet – in einem Jahr zurücklegt: 9,46 Billionen Kilometer. Das ist mehr als der 63.000-fache Abstand von Sonne und Erde.

Proxima Centauri, der sonnennächste Stern, hat beispielsweise eine Distanz von 4,3 Lichtjahren. Der Durchmesser der Milchstraße beträgt rund 100.000 Lichtjahre. Etwa 26.000 Lichtjahre ist der Abstand der Sonne vom Zentrum der Galaxis. Sie umkreist es einmal alle knapp 250 Millionen Jahre. Die Entfernung zwischen den Galaxien ist noch „astronomischer“. Selbst zur nächsten großen Galaxie, dem gerade noch mit bloßem Auge sichtbaren Andromedanebel, sind es bereits rund 2,5 Millionen Lichtjahre. Allerdings wird die Milchstraße von einigen näher gelegenen Zwerggalaxien umschwärmt, etwa den beiden Magellanschen Wolken, die als verwaschene Lichtflecken den Nachthimmel der Südhalbkugel zieren.

Ebenso wenig, wie die Erde oder die Sonne das Zentrum des Universums ausmacht, steht unsere Galaxis im Mittelpunkt oder ist außergewöhnlich. Denn es gibt allein im beobachtbaren, das heißt den besten Teleskopen zugänglichen Bereich des Weltraums ungefähr so viele Galaxien wie Sterne in der Milchstraße. Diese Galaxien sind nicht gleichförmig verteilt, sondern bilden Gruppen und Haufen aus Dutzenden bis Hunderten von Mitgliedern. Und diese Ansammlungen schließen sich zu noch größeren Strukturen zusammen, den Galaxiensuperhaufen. Sie haben eine seifenschaumähnliche Verteilung: In dieser Analogie besteht die „Haut“ der Schaumblasen aus den Superhaufen; sie umhüllen riesige Leerräume (50 bis 500 Millionen Lichtjahre im Durchmesser), in denen fast keine Materie vorkommt. Einen Mittelpunkt im Universum gibt es nicht, jeder Ort ist gewissermaßen gleichberechtigt.

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Kosmische Konturen: Im großen Maßstab über Milliarden Lichtjahre betrachtet, ist die sichtbare und Dunkle Materie im All wie Seifenschaum verteilt. Dabei ordnen sich die Galaxienhaufen aus Tausenden einzelner Galaxien um riesige blasenförmige Leerräume an. Die Abbildung zeigt einen Ausschnitt aus einer Computersimulation, in der die kosmische Strukturbildung vom einst fast gleichförmig verteilten Urgas bis heute berechnet wurde.

Ein rasendes Staubkorn

Die kosmischen Größenverhältnisse sind für unseren Alltagsverstand unvorstellbar. Daran würde sich wenig ändern, wenn man das Weltall um den Faktor eine Milliarde verkleinern könnte. Dann wäre die Erde eine Erbse von einem Zentimeter Durchmesser, die in 150 Meter Entfernung einen knapp eineinhalb Meter großen Wasserball umkreist, die Sonne. Neptun, der sonnenfernste Planet, wäre 4,5 Kilometer entfernt. Der nächste Stern würde mit einer Distanz von 40.000 Kilometern die Anschaulichkeit dieses Maßstabs schon wieder sprengen. Und der Durchmesser der Milchstraße wäre in dieser Miniaturwelt bereits so gewaltig, eine Milliarde Kilometer, dass das Licht eineinhalb Stunden vom einen Ende zum anderen bräuchte. (Zum Vergleich: In der wirklichen Welt benötigt es eine Sekunde vom Mond zur Erde und gut acht Minuten von der Sonne). Das beobachtbare Universum, das etwa 100 Milliarden Lichtjahre groß ist, hätte auch in der milliardenfach verkleinerten Spielzeugwelt einen Durchmesser von mehr als dem Zwanzigfachen der Entfernung der echten Sonne zu ihrem Nachbarstern Proxima Centauri – immer noch unvorstellbar ...

Die Erde als ein Staubkorn in dieser kosmischen Unermesslichkeit zu bezeichnen, wäre also noch eine maßlose Übertreibung. Angesichts dieser Größenverhältnisse verwundert es, wie wichtig viele Menschen oft Kleinigkeiten auf ihrem Planeten nehmen und sich immer wieder bitter bekämpfen.

Dabei sitzen wir alle buchstäblich auf demselben Boot. Denn die Erde wird oft als ein Leben spendendes Raumschiff bezeichnet. Mit 29,78 Kilometer pro Sekunde (107.200 Kilometer pro Stunde!) rast es um die Sonne. Mit dieser bewegt sich unser Heimatplanet fast 250 Kilometer pro Sekunde schnell um das Zentrum der Milchstraße, in Richtung eines Punkts südwestlich des Sterns Wega im Sternbild Leier. Mitsamt der Milchstraße und ihren Nachbargalaxien werden wir pro Sekunde rund 600 Kilometer in Richtung des Großen Attraktors gezogen, eines 200 Millionen Lichtjahre entfernten gewaltigen Galaxiensuperhaufens in den Sternbildern Wasserschlange und Zentaur. Und das alles bewegt sich zusammen relativ zur Hintergrundstrahlung (siehe hier) mit 390 Kilometer pro Sekunde in Richtung Sternbild Löwe.

Rückblickszeit und Raumausdehnung

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Die Flucht der Galaxien: Es scheint, als wäre die Milchstraße das Zentrum einer mysteriösen Explosion. Denn fast alle anderen Galaxien entfernen sich von ihr. Und zwar umso schneller, je größer ihre Distanz ist. Doch dies ist keine Folge ihrer Eigenbewegung, sondern der Ausdehnung des Alls. Der Raum zwischen den Galaxien vergrößert sich nämlich seit dem Urknall ständig. Nicht die Materie explodiert im Weltraum, sondern der Raum selbst.

Nichts steht still in der Welt. Sogar das All als Ganzes verändert sich in Raum und Zeit. Astronomische Beobachtungen zeigen, dass das Universum zwar in allen Richtungen ungefähr gleich aussieht, sich im Lauf der Jahrmilliarden jedoch gewandelt hat. Weil das Licht nicht unendlich schnell ist, sondern Zeit braucht, um Entfernungen zurückzulegen, ist ein Blick hinaus in den Raum zugleich ein Blick zurück in die Vergangenheit: Je weiter Astronomen also ins All blicken, desto älter ist der betrachtete Teil des Weltraums. Und tatsächlich sah er vor Milliarden Jahren anders aus: Die Materie war dichter; die Galaxienhaufen entwickelten sich erst; Galaxien kollidierten häufig miteinander, wuchsen, verschmolzen und setzten ungeheuere Energiemengen während ihrer feurigen Jugendstadien frei.

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Detektierbare Dynamik: Ähnlich wie Schallquellen ihre Frequenz ändern, wenn sie sich entfernen oder nähern (der schrillende Alarm von Krankenwagen wird beispielsweise tiefer oder höher), verändert sich auch die Strahlung bewegter Lichtquellen. Die Wellenlängen werden kürzer, das heißt wandern in den energiereicheren blauen Bereich des Spektrums, oder länger, das heißt rotverschoben, je nachdem, ob die Distanz ab- oder zunimmt. (Man kann das anhand charakteristischer Absorptions- oder Emissionslinien im Spektrum eindeutig identifizieren.) Aus der Spektralveränderung lässt sich sogar die Geschwindigkeit – und gegebenenfalls Rotation – der Objekte errechnen. Im All nähern sich nur wenige Galaxien der Milchstraße, etwa der Andromedanebel. Die allermeisten rasen von uns fort.

Auch der Raum ist nicht statisch, sondern er dehnt sich aus – das heißt große Abstände nehmen zu. Für diese kosmische Expansion spricht, dass fast alle Galaxien und Galaxienhaufen sich von der Milchstraße entfernen. Man kann die Expansion anhand der Rotverschiebung beziehungsweise Fluchtgeschwindigkeit von Galaxien messen (siehe Grafik oben) und mit dem Wert des Hubble-Parameters beschreiben, der 1929 von dem amerikanischen Astronomen Edwin P. Hubble eingeführt wurde. Der Wert beträgt heute – vor ein paar Jahrmilliarden war er kleiner – rund 70 Kilometer pro Sekunde und Megaparsec. Das heißt: Im kosmischen Durchschnitt wächst eine Strecke, die ein Megaparsec lang ist (das sind 3,26 Millionen Lichtjahre), in jeder Sekunde um rund 70 Kilometer. Das bedeutet, dass sich das beobachtbare Universum ungefähr um das Volumen der Milchstraße vergrößert – in jeder Sekunde.

Die fliehenden Galaxien erwecken den Eindruck, unsere Milchstraße stünde im imaginären Zentrum einer ungeheueren Explosion. Dies ist aber eine falsche Schlussfolgerung, denn von jeder anderen Galaxie aus wäre derselbe Effekt zu beobachten. Der Weltraum expandiert also im Großen und Ganzen betrachtet überall und nicht nur von einem Punkt aus. Allerdings erfolgt der Volumenzuwachs nicht an jeder Stelle, sondern vor allem im Raum zwischen den Galaxienhaufen, also den riesigen blasenförmigen Leerräumen, um die sich die Galaxienhaufen wie Seifenschaum gruppieren.

Die kosmische Expansion macht also nicht alles größer! Das All dehnt sich nur da aus, wo dem keine Kräfte entgegenstehen. Das heißt weder dort, wo die starke und schwache Kernkraft wirken – im Inneren von Atomen –, noch wo die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation eine bestimmte Stärke überschreiten. Somit expandiert das All auch nicht innerhalb der Galaxien oder zwischen benachbarten Galaxien, denn das verhindert die Schwerkraft der Massen. (Die Milchstraße und die Andromedagalaxie bewegen sich beispielsweise sogar aufeinander zu und werden in rund zwei Milliarden Jahren miteinander zusammenstoßen und später verschmelzen.) Eine harte Übergangsgrenze zwischen dynamischem und statischem Raum gibt es allerdings nicht.

Mit anderen Worten: Zwar dehnt sich der Weltraum aus, aber auf der Erde nimmt die Zahl der Parkplätze in den Städten trotzdem nicht zu. Und wer morgens vor dem Spiegel über seine Leibesfülle erschrickt, kann nicht der kosmischen Expansion die Schuld am dicken Bäuchlein geben. (Sonst hätten sich ja zudem auch Spiegel, Hose und Schlafzimmer vergrößern müssen.)

Oft wird gefragt, wohin sich der Weltraum ausbreitet. Die Antwort lautet schlicht: Nirgendwohin! Die Expansion geschieht nicht wie bei der Volumenzunahme eines Luftballons, der in einem Ballsaal aufgeblasen wird, also im Raum, sondern wie bei der Gummihaut des Ballons, die aus sich selbst heraus immer größer wird, also an Fläche gewinnt (siehe Grafik unten). Das ist ein mathematisch genau beschreibbarer Vorgang. Doch konkret vorstellen kann sich das niemand, denn auch im Fall einer Luftballonhülle denkt man sich unweigerlich einen Raum „drum herum“. Analog zur zweidimensionalen Luftballonhülle im dreidimensionalen Raum wird daher zuweilen angenommen, dass es eine vierte Raumdimension um unseren dreidimensionalen Weltraum gibt – einen Hyperraum. Das ist mathematisch möglich, physikalisch aber unnötig. Vielmehr wächst, schwer fassbar, der Weltraum gleichsam „innerlich“ wie die Luftballonhülle.

(Nebenbemerkung für speziell Interessierte: Es gibt im Rahmen der String-Kosmologie tatsächlich einige Modelle, die einen höherdimensionalen Raum „außerhalb“ unseres Weltalls annehmen, in den dieses eingebettet ist. Vielleicht kann sogar die Schwerkraft in solche Extradimensionen entweichen und ist deshalb im Vergleich zu den anderen Naturkräften so schwach – eine Möglichkeit, die gegenwärtig experimentell untersucht wird. Aber die Annahme solcher Extradimensionen hat nichts damit zu tun, dass sich der Weltraum ausdehnt; und er expandiert auch nicht in sie hinein.)

Die Luftballon-Analogie veranschaulicht noch mehr: Wie die zweidimensionale Oberfläche des Ballons hat auch der dreidimensionale Weltraum keinen Rand. (Ob er unendlich groß ist oder gleichsam in sich zurückläuft wie die Ballonhülle, ist ungeklärt.) Und klebt man kleine Punkte auf die Ballonhülle, dann entfernen sich diese beim Aufblasen alle voneinander – wie die Galaxienhaufen.

Das Innere des Ballons ist in dieser Analogie kein Raum, sondern die Zeit. Früher war das expandierende Universum kleiner (jedenfalls bezogen auf den Beobachtungshorizont) so wie die Hülle des unaufgeblasenen Luftballons näher am Mittelpunkt in ihrem Inneren war. Dieser Mittelpunkt symbolisiert den Ursprung der Zeit. Überträgt man die Analogie auf das Universum, müsste es einst in einem „Punkt“ verdichtet gewesen sein und hätte sich seither rapide vergrößert.

Genau das ist eine der aufregendsten Entdeckungen im 20. Jahrhundert: Der Weltraum dehnt sich aus, und rechnet man diese Expansion zeitlich zurück, dann kommt man unweigerlich zu einem extrem heißen und dichten Zustand. Es scheint, als entstamme alles – Raum, Zeit, Materie und Energie – aus einer geheimnisvollen Explosion: dem Urknall (Big Bang).

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Ausdehnung des Alls: Der Weltraum expandiert und die Galaxien entfernen sich voneinander – ähnlich wie Punkte auf der Oberfläche eines Luftballons, der aufgeblasen wird. Der Urknall-Theorie (oben) zufolge war die Materie im Universum einst dicht beisammen und verdünnt sich durch die Expansion. Das Steady-State-Modell nimmt hingegen eine kontinuierliche Neuentstehung der Materie an, so dass die Dichte im Lauf der Zeit gleich bliebe und das Universum sich im Großen und Ganzen nicht ändern würde. Diese Vorstellung gilt inzwischen aber als widerlegt.

Doch wo hat sich der Urknall ereignet? In gewisser Weise überall und nirgends. Es existiert weder ein Mittelpunkt noch ein Rand des Weltraums. Es gibt auch keinen Ort im heutigen Universum, an dem man ein Denkmal platzieren könnte mit der Aufschrift „Hier hat alles begonnen!“. Denn das gesamte All ist letztlich eine Folge des Urknalls. Und somit auch der Ort genau über diesen Buchstaben. Der Urknall war also keine Explosion im Raum, sondern der Beginn einer Explosion des – oder zumindest unseres – Raums. (Von weiteren Missverständnissen und Terminologischem handelt der Exkurs Alternativen zum „Urknall“.)

EXKURS


Alternativen zum „Urknall“

Die Hypothese vom Urknall wurde in den 1920er-Jahren entwickelt, als Kosmologen die Allgemeine Relativitätstheorie auf das Universum als Ganzes angewendet hatten und entdeckten, dass es nicht unbedingt seit Ewigkeit existiert: Vor allem der belgische Kosmologe Georges Lemaître argumentierte ab 1927 für einen Beginn der Zeit. In den 1930er-Jahren spekulierte er über den Zerfall eines Uratoms und war damit der Pionier der Quantenkosmologie. Sie wurde von Stephen Hawking und anderen Forschern erst ab den 1970er-Jahren wieder aufgegriffen und erweitert.

Das Wort „Big Bang“, im Deutschen bald mit „Urknall“ wiedergegeben, hat der britische Astrophysiker Fred Hoyle geprägt. Er war ein Gegner dieser Vorstellung und argumentierte für ein Universum ohne Anfang, das sich ewig ausdehnt. Hoyle kritisierte das Szenario vom heißen Start des Universums vehement und wollte es mit einem etwas abfällig gemeinten Wort lächerlich machen. Die Bezeichnung „Big Bang“ führte er in Rundfunkvorträgen ein, zuerst am 28. März 1949 in der BBC-Sendung The Nature of Things. Seinen wissenschaftlichen Gegnern gefiel der Name so gut, dass sie ihn rasch übernahmen.

Allerdings ist „Urknall“ ein durchaus missverständlicher sowie mehrdeutiger Begriff – und vielleicht auch unnötig martialisch. Um eine treffendere Bezeichnung zu finden, hatte die American Astronomical Society daher auf ihrer Jahrestagung 1994 einen nicht ganz ernst gemeinten Wettbewerb ausgelobt, der um Vorschläge für eine Alternative zu „Urknall“ bat. Denn selbstverständlich hat es bei der Entstehung unseres Universums nur im metaphorischen Sinn „geknallt“, und hören konnte es auch niemand. Trotzdem zeigte sich bei dem Wettbewerb: Der Urknall ist nicht zu überbieten! Denn keiner der 13.000 Vorschläge war auch nur annähernd so passend. Und das, obwohl neben biblischen Anklängen („Creation“, „Cosmogenesis“) und Akronymen wie „HUGE (Hypothetical Universal Gravitation Expansion)“ oder „The NICK of Time (Nature’s Initial Cosmic Kickstart)“ („erster Kavalierstart der Natur“) auch so respektlose Bezeichnungen wie „Big Burp“ (der „große Aufstoßer“), „Jurassic Quark“ (der in ferner Vergangenheit entstandenen Elementarteilchen namens Quarks wegen), „Blast from the Past“ und „What Happens if I Press This Button“ eingereicht worden waren. Die Jury hatte großen Spaß bei der Auswertung, doch einen überzeugenden Ersatz für „Urknall“ sah sie nicht. Also wird vom „Big Bang“ wohl erst dann nicht mehr die Rede sein, wenn die Theorie widerlegt würde oder – viel wahrscheinlicher – wenn sich die Menschheit in einem großen Knall selbst aus dem Universum sprengt.


Oft hört und liest man, dass mit dem Urknall sogar der Raum überhaupt erst entstanden sei. Manchen Modellen zufolge ist dies der Fall. Sie sind jedoch nicht erwiesen. Andere Modelle erklären den Urknall hingegen als Übergang: Demnach existierte entweder ein Vorgänger-Universum – und somit bereits etwas Räumliches –, das in sich zusammenstürzte, eine minimale Größe durchlief und sich seitdem wieder ausdehnt. Oder es gab ein „Urvakuum“, einen bizarren Quantenraum, in dem lokale Verdichtungen immer wieder Big Bangs erzeugten – darunter auch jenen, aus dem unser Universum entsprang. Stephen Hawking hat sich mit all diesen Vorstellungen beschäftigt. Und davon handeln auch einige der folgenden Kapitel.

Nachhall vom Urknall