In diesen Verliesen herrschte vollkommene Finsternis, doch Katsa hatte einen Grundriss im Kopf. Bis jetzt hatte er genau gestimmt, so wie sie es von Olls Karten und Plänen gewohnt war. Katsa strich mit der Hand die kalten Mauern entlang und zählte im Vorbeigehen Türen und Gänge. Sie bog um die Ecke, wenn es Zeit dafür war, und blieb schließlich vor einer Maueröffnung stehen, in der eine Treppe nach unten führen sollte. Sie kauerte sich nieder und tastete sich mit den Händen vor, berührte eine Steinstufe, feucht und glatt, von Moos überzogen, und eine weitere rutschige Stufe darunter. Das also war Olls Treppe. Sie hoffte nur, Oll und Giddon, die ihr mit den Fackeln folgten, würden das schleimige Moos sehen, vorsichtig sein und die Toten in diesen Verliesen nicht durch einen Sturz auf der Treppe wecken.
Katsa glitt die Treppe hinunter. Eine Abzweigung nach links und zwei nach rechts. Sie hörte bereits Stimmen, als sie in einen Gang kam, in dem eine Fackel in der Halterung an der Wand flackerndes orangefarbenes Licht in die Dunkelheit warf. Gegenüber der Fackel öffnete sich ein weiterer Gang. Und in diesem Gang würden nach Olls Bericht zwei bis zehn Wachen vor einer bestimmten Zelle am Ende des Korridors stehen.
Diese Wachen waren Katsas Aufgabe. Ihretwegen war sie vorausgeschickt worden.
Katsa schlich auf das Licht und das Gelächter zu. Sie könnte anhalten und horchen, um eine genauere Vorstellung zu bekommen, wie vielen Männern sie gegenüberstehen würde, doch ihr blieb keine Zeit. Sie zog ihre Kapuze tief herunter und bog um die Ecke.
Fast wäre sie über ihre ersten vier Opfer gestolpert, die einander auf dem Boden gegenübersaßen und sich mit dem Rücken an die Wand lehnten. In der Luft lag der Gestank irgendeines hochprozentigen Getränks, das sie mit heruntergebracht hatten, um sich die Wachzeit zu vertreiben. Katsa trat und schlug auf Schläfen und Nacken, und die vier waren zusammengesackt, bevor sich die Überraschung in ihren Augen spiegelte.
Jetzt saß nur noch ein Wachmann vor dem Zellengitter am Ende des Gangs. Hastig stand er auf und zog sein Schwert aus der Scheide. Während sie auf ihn zuging, war sie sicher, dass er ihr Gesicht und vor allem ihre Augen wegen der Fackel hinter ihr nicht erkennen konnte. Sie taxierte seine Größe, seine Bewegungen, die Kraft des Arms, der ihr das Schwert entgegenhielt.
»Bleib stehen. Ich weiß, wer du bist.« Seine Stimme klang gelassen. Er war tapfer, dieser Mann. Warnend durchschnitt er die Luft mit seinem Schwert. »Du machst mir keine Angst.«
Er griff an. Sie duckte sich unter seiner Schwertklinge und schwang die Beine wie Windmühlenflügel. Ein Fuß traf seine Schläfe und der Mann fiel zu Boden.
Sie stieg über ihn, lief zum Gitter und spähte in die dunkle Zelle. Eine Gestalt kauerte an der hinteren Wand, ein Mensch, der zu müde oder zu durchfroren war, um sich für den Kampf im Korridor zu interessieren. Er hatte die Arme um seine Knie geschlungen und den Kopf dazwischengesteckt. Er schauderte – Katsa konnte seinen Atem hören. Sie bewegte sich und das Licht fiel auf seine gekrümmte Gestalt. Sein Haar war weiß und kurz geschoren, und sie bemerkte den Goldschimmer an seinem Ohr. Olls Karten hatten ihren Zweck erfüllt, dieser Mann war ein Lienid. Er war der, den sie suchten.
Sie zog am Türriegel. Verschlossen. Nun, das war keine Überraschung, und es war nicht ihr Problem. Sie pfiff einmal, leise, wie eine Eule. Dann streckte sie den tapferen Wachmann auf dem Rücken aus und warf ihm eine ihrer Pillen in den Mund. Sie lief durch den Korridor, drehte die vier Unglücklichen nebeneinander auf den Rücken und gab auch ihnen je eine Pille. Gerade als sie sich fragte, ob Oll und Giddon sich im Kerker verirrt hatten, kamen sie um die Ecke und schlüpften an ihr vorbei.
»Eine Viertelstunde, nicht mehr«, sagte sie.
»Eine Viertelstunde, My Lady.« Olls Stimme klang wie Knurren. »Seien Sie vorsichtig.«
Ihr Fackellicht ergoss sich über die Wände, als sie sich der Zelle näherten. Der Lienid stöhnte und schlang die Arme enger um sich. Katsa sah, dass seine Kleidung zerrissen und beschmutzt war. Sie hörte, wie die Dietriche an Giddons Ring klimpernd aneinanderschlugen. Gern hätte sie gewartet und gesehen, wie sie die Tür öffneten, doch sie wurde anderswo gebraucht. Sie schob ihr Pillenpäckchen in den Ärmel und lief los.
Die Wachmänner vor der Zelle hatten der Kerkerwache Bericht zu erstatten und die Kerkerwache der Unterwache. Die Unterwache hatte die Schlosswache zu informieren. Die Nachtwache, die königliche Wache, die Mauerwache und die Gartenwache erstatteten ebenfalls der Schlosswache Bericht. Sobald ein Wachmann die Abwesenheit eines anderen Wachmanns bemerkte, würde Alarm geschlagen werden, und wenn Katsa und ihre Männer sich dann noch nicht weit genug entfernt hätten, wären sie alle verloren. Sie würden verfolgt, es würde zu Blutvergießen kommen, man würde Katsas Augen sehen und sie erkennen. Deshalb musste sie alle ausschalten, jeden einzelnen Wachmann. Oll hatte angenommen, es würden zwanzig sein. Prinz Raffin hatte ihr dreißig Pillen mitgegeben, für alle Fälle.
Die meisten Wachmänner machten ihr keine Schwierigkeiten. Wenn sie sich anschleichen konnte oder wenn sie in kleinen Gruppen beieinanderstanden, wussten sie gar nicht, wie ihnen geschah. Die Schlosswache war ein wenig komplizierter, weil fünf Wachmänner das Büro ihres Hauptmanns bewachten. Katsa wirbelte durch sie hindurch, trat und schlug, und der Hauptmann sprang hinter seinem Schreibtisch auf, stürzte durch die Tür und lief ins Getümmel.
»Ich erkenne einen Beschenkten, wenn ich ihn sehe!« Er stach mit seinem Schwert zu und sie rollte zur Seite. »Lass mich die Farbe deiner Augen sehen, Junge. Ich schneide sie dir heraus, das kannst du mir glauben!«
Mit einem gewissen Vergnügen schlug Katsa ihm den Griff ihres Messers auf den Kopf, packte ihn an den Haaren und zog ihn auf den Rücken. Dann warf sie ihm eine Pille auf die Zunge. Wenn sie mit Kopfweh und voller Scham aufwachten, würden sie alle sagen, der Schuldige sei ein Beschenkter gewesen, beschenkt mit der Gabe des Kämpfens, und er sei allein gewesen. Sie würden sie für einen Jungen halten, weil sie in ihren schlichten Hosen und dem Kapuzenhemd so aussah und weil bei einem Überfall nie jemand auf den Gedanken kam, ein Mädchen könne die Angreiferin gewesen sein. Und keiner von ihnen hatte Oll oder Giddon zu Gesicht bekommen, dafür hatte sie gesorgt.
Auf sie würde niemand kommen. Wer die beschenkte Lady Katsa auch immer sein mochte, eine Verbrecherin, die um Mitternacht verkleidet durch dunkle Höfe schlich, war sie nicht. Außerdem war sie doch im Osten unterwegs. Ihr Onkel Randa, König der Middluns, hatte sie heute Morgen verabschiedet, die ganze Stadt hatte zugeschaut und gesehen, dass Hauptmann Oll und Giddon, Randas Adjutant, sie begleiteten. Nur ein sehr schneller Tagesritt in die falsche Richtung hätte sie in den Süden an König Murgons Hof bringen können.
Katsa lief durch den Schlosshof, an Beeten, Springbrunnen und Marmorstatuen von König Murgon vorbei. Für einen so unsympathischen König war es eigentlich ein schöner Schlosshof, es roch nach Gras und fruchtbarer Erde, dazu kam der süße Duft taufeuchter Blumen. Sie rannte durch Murgons Apfelgarten und hinterließ eine Spur aus bewusstlosen Wachleuten. Bewusstlos, nicht tot, ein wichtiger Unterschied. Oll und Giddon sowie die meisten vom geheimen Rat hatten gewollt, dass sie tötete. Doch bei der Besprechung, in der sie diesen Auftrag planten, hatte sie zu bedenken gegeben, dass sie dadurch keine Zeit gewinnen würde.
»Und wenn sie aufwachen?«, hatte Giddon gesagt.
Prinz Raffin fühlte sich angegriffen. »Du hast kein Vertrauen zu meinen Medikamenten! Sie werden nicht vorzeitig aufwachen.«
»Töten wäre schneller«, hatte Giddon gesagt und Katsa mit seinen braunen Augen eindringlich angeschaut. Die Köpfe in dem dämmrigen Raum hatten genickt.
»Ich schaffe es in der vorgesehenen Zeit«, hatte Katsa gesagt, und als Giddon widersprechen wollte, hob sie die Hand. »Genug. Ich werde sie nicht töten. Wenn ihr wollt, dass sie getötet werden, müsst ihr jemand anders schicken.«
Oll hatte gelächelt und dem jungen Adjutanten auf den Rücken geklopft. »Stell dir nur vor, Giddon, wie viel mehr Spaß es machen wird. Der perfekte Raub an allen Wachleuten Murgons vorbei, und noch nicht mal Verletzte? Das ist doch ein tolles Spiel.«
Im Raum war großes Gelächter ausgebrochen, doch Katsa hatte noch nicht einmal gelächelt. Sie würde nicht töten, wenn es nicht sein musste. Einen Mord konnte man nicht wieder rückgängig machen, und sie hatte genug getötet. Meistens für ihren Onkel. König Randa hielt sie für nützlich; er fand es sparsamer, statt einer Armee eine einzige Gesandte zu schicken, wenn es an den Grenzen Ärger gab. Aber sie hatte auch für den Rat getötet, wenn es nicht vermieden werden konnte. Diesmal war es zu vermeiden.
Am anderen Ende des Obstgartens traf sie auf einen Wachmann, der alt war, vielleicht so alt wie der Lienid. Er stand in einem Gehölz einjähriger Bäume und stützte sich auf sein Schwert, sein Rücken war rund und gebeugt. Sie schlich hinter ihn und blieb stehen. Ein Zittern schüttelte seine Hände auf dem Schwertgriff.
Katsa hielt nicht viel von einem König, der seine Wachleute nicht fürsorglich in den Ruhestand schickte, bevor sie zu alt waren, um ruhig ein Schwert zu führen.
Doch wenn sie diesen Alten unversehrt ließ, würde er die anderen finden, die sie niedergestreckt hatte, und Alarm schlagen. Sie traf ihn einmal kräftig am Hinterkopf und er sank stöhnend zusammen. Katsa fing ihn auf und ließ ihn so behutsam wie möglich auf den Boden gleiten, dann legte sie ihm die Pille in den Mund. Sie nahm sich noch die Zeit, mit den Fingern über die wachsende Beule auf seinem Kopf zu streichen. Hoffentlich hatte er einen harten Schädel.
Einmal hatte sie unabsichtlich getötet, eine Erinnerung, die sie sich immer wieder bewusstmachte. Damals, vor zehn Jahren, hatte sich angekündigt, worin ihre Gabe bestand. Sie war noch ein Kind gewesen, gerade acht Jahre alt. Ein Mann, ein entfernter Cousin, hatte den Hof besucht. Sie hatte ihn nicht gemocht, sein schweres Parfum, die Art, wie er lüstern die Mädchen betrachtete, die ihn bedienten, wie sein anzüglicher Blick ihnen durch den Raum folgte, wie er sie anfasste, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Als er anfing, Katsa eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, war sie misstrauisch geworden. »So eine hübsche Kleine«, sagte er. »Die Augen der Beschenkten können so hässlich sein. Aber du, glückliches Mädchen, siehst damit noch besser aus. Was ist deine Gabe, meine Süße? Geschichtenerzählen? Gedankenlesen? Ich weiß es: Du bist eine Tänzerin.«
Katsa wusste damals nicht, was ihre Gabe war. Manche Gaben brauchten länger als andere, bis sie zum Vorschein kamen. Doch selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie nicht bereit gewesen, es diesem Cousin zu verraten. Sie schaute ihn böse an und wandte sich ab, da streckte er die Hand nach ihrem Bein aus und ihre Hand flog hoch und schlug ihm ins Gesicht. So schnell und so kräftig, dass sie ihm die Nasenknochen ins Gehirn stieß.
Damen am Hof hatten geschrien, eine fiel in Ohnmacht. Als sie den Cousin aus der Blutlache am Boden hoben und feststellten, dass er tot war, wurde es still und alle wichen zurück. Ängstliche Augen waren auf sie gerichtet, jetzt nicht nur die der Damen, auch die der Soldaten, der Schwertträger unter den Höflingen. Es war gut, die Mahlzeiten vom beschenkten Koch des Königs zu essen oder Pferde zum beschenkten Pferdearzt des Königs zu schicken. Aber ein Mädchen mit der Gabe des Tötens? Das war mit Vorsicht zu behandeln.
Ein anderer König hätte sie verbannt oder getötet, auch wenn sie das Kind seiner Schwester war. Doch Randa war klug. Er sah, dass seine Nichte irgendwann einen praktischen Zweck erfüllen könnte, also schickte er sie in ihre Gemächer und bestrafte sie mit wochenlangem Hausarrest, aber das war alles. Als sie wieder herauskam, rannten ihr alle aus dem Weg. Sie hatten sie auch zuvor nicht gemocht, niemand mochte die Beschenkten, doch sie hatten ihre Anwesenheit toleriert. Jetzt gab es keine vorgetäuschte Freundlichkeit mehr. »Hütet euch vor der mit dem grünen und dem blauen Auge«, flüsterten sie Gästen zu. »Sie hat ihren Cousin getötet, mit einem Schlag. Weil er ihr ein Kompliment über ihre Augen gemacht hat.« Selbst Randa ging ihr aus dem Weg. Ein mörderischer Hund mochte für einen König nützlich sein, doch er wollte nicht, dass er zu seinen Füßen schlief.
Prinz Raffin war der Einzige, der Katsas Gesellschaft suchte. »Du machst es nicht wieder, oder? Ich glaube nicht, dass mein Vater dich jeden, der dir nicht gefällt, töten lässt.«
»Ich hatte nie vor, ihn zu töten«, sagte sie.
»Was ist geschehen?«
Katsa dachte an den Vorfall zurück. »Ich habe gespürt, dass ich in Gefahr war. Deshalb habe ich ihn geschlagen.«
Prinz Raffin schüttelte den Kopf. »Man muss seine Gabe beherrschen«, sagte er. »Besonders die Gabe zu töten. Du musst, sonst wird mein Vater nicht mehr zulassen, dass wir einander sehen.«
Das war eine beängstigende Vorstellung. »Ich weiß nicht, wie ich sie beherrschen soll.«
Raffin überlegte. »Du könntest Oll fragen. Die Spione des Königs wissen, wie man verletzt, ohne zu töten. So bekommen sie ihre Informationen.«
Raffin war elf, drei Jahre älter als Katsa, und nach ihren jungen Maßstäben sehr weise. Sie folgte seinem Rat und ging zu Oll, König Randas ergrauendem Hauptmann und Meisterspion. Oll war nicht dumm, er wusste, dass er das stille Mädchen mit einem blauen und einem grünen Auge fürchten musste. Doch er hatte auch eine gewisse Phantasie. Er fragte sich, was sich noch keiner gefragt hatte, nämlich ob Katsa über den Tod ihres Cousins nicht genauso erschrocken gewesen war wie alle anderen. Und je mehr er darüber nachdachte, umso mehr interessierte er sich für ihre Möglichkeiten.
Er begann mit ihrer Ausbildung, indem er Regeln aufstellte. Sie sollte nicht an ihm oder anderen Männern des Königs üben, sondern an Puppen, die sie aus zusammengenähten und mit Getreide gefüllten Säcken machte. Sie sollte an den Gefangenen üben, die Oll zu ihr brachte, Männer, die bereits zum Tod verurteilt waren.
Sie übte jeden Tag. Sie lernte ihre eigene Geschwindigkeit und ihre eigene explosive Kraft zu berechnen. Sie lernte alles über Winkel, Platzierung und Intensität eines tödlichen Schlags im Gegensatz zu einem Schlag, der ihr Gegenüber nur zum Krüppel machte. Sie lernte, wie man einen Mann entwaffnet, wie man ihm das Bein bricht und wie man seinen Arm so verdreht, dass er aufhört, sich zu wehren, und um Gnade bittet. Sie lernte mit einem Schwert zu kämpfen, mit Messern und mit Dolchen. Sie war so schnell und zielgerichtet und so kreativ, dass sie einen Mann ohnmächtig schlagen konnte, obwohl man ihr beide Arme an den Seiten festgebunden hatte. Das war ihre Gabe.
Mit der Zeit besserte sich ihre Kontrolle und sie begann mit Randas Soldaten zu üben – acht oder zehn auf einmal und in voller Rüstung. Ihre Übungsstunden gaben ein großartiges Schauspiel ab: Erwachsene Männer knurrten und klapperten unbeholfen umher, und ein unbewaffnetes Kind wirbelte und tauchte zwischen ihnen hin und her und schlug sie mit einem Knie oder einer Hand nieder, die sie erst sahen, wenn sie bereits am Boden lagen. Manchmal kamen Angehörige des Hofs vorbei und schauten bei ihren Übungen zu. Aber wenn Katsa ihren Blick auffing, senkten sie die Augen und eilten davon.
König Randa nahm keinen Anstoß daran, dass Oll seine Zeit dafür opferte. Er hielt es für notwendig. Katsa würde ihm nichts nützen, wenn sie ihre Gabe nicht beherrschte.
Und jetzt, in König Murgons Schlosshof, hätte ihr niemand mangelnde Beherrschung vorwerfen können. Schnell, geräuschlos bewegte sie sich über das Gras neben den kiesbedeckten Wegen. Inzwischen mussten Oll und Giddon schon fast die Gartenmauer erreicht haben, wo zwei Diener von Murgon, Freunde des Rats, ihre Pferde bewachten. Sie war selbst schon beinah dort, sah die dunkle Mauer aufragen, schwarz vor einem schwarzen Himmel.
Ihre Gedanken wanderten, doch sie hing keinen Tagträumen nach. Ihre Sinne waren geschärft. Sie bemerkte jedes Blatt, das im Garten fiel, jeden Ast, der knackte. Und deshalb war sie verblüfft, als ein Mann aus dem Dunkel trat und sie von hinten packte. Er schlang seinen Arm um ihre Brust und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Er setzte zum Sprechen an, doch im nächsten Augenblick hatte sie seinen Arm bereits gelähmt, ihm das Messer aus der Hand gerissen und es auf den Boden geworfen. Sie schleuderte den Mann über ihre Schulter vor sich.
Er landete auf den Füßen.
Ihre Gedanken rasten. Er war ein Beschenkter, ein Kämpfer. So viel war klar. Und wenn die Hand, die ihre Brust gestreift hatte, nicht gefühllos war, wusste er, dass er eine Frau vor sich hatte.
Er drehte sich zu ihr um. Argwöhnisch betrachteten sie einander, beide für den anderen nicht mehr als ein Schatten. Er sprach zuerst.
»Ich habe von einer Dame mit dieser besonderen Gabe gehört.« Seine Stimme war ernst und tief, er hatte einen Tonfall, einen Akzent, den sie nicht kannte. Sie musste herausfinden, wer er war, um zu entscheiden, was sie mit ihm machen sollte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Dame so fern von zu Hause vorhaben könnte, um Mitternacht hier im Schlosshof von König Murgon«, sagte er. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung stellte er sich zwischen sie und die Mauer. Er war größer als sie und geschmeidig wie eine Katze. Täuschend ruhig, zum Sprung bereit. Eine Fackel auf einem nahen Pfad ließ kleine goldene Reife in seinen Ohren schimmern. Sein Gesicht war bartlos wie das eines Lienids.
Sie veränderte ihre Stellung und schwankte leicht, ihr Körper war so angespannt wie seiner. Sie hatte nicht viel Zeit, um sich zu entscheiden. Er wusste, wer sie war. Doch wenn er ein Lienid war, wollte sie ihn nicht töten.
»Haben Sie nichts zu sagen, Lady? Sie glauben sicher nicht, dass ich Sie ohne eine Erklärung weitergehen lasse?« In seiner Stimme lag etwas Spielerisches. Sie beobachtete ihn ruhig. Er streckte in einer fließenden Bewegung die Arme, und ihre Augen entdeckten die goldenen Ringe, die an seinen Fingern blinkten. Das reichte. Der Schmuck in seinen Ohren, die Ringe – es war eindeutig.
»Sie sind ein Lienid«, sagte sie.
»Sie haben gute Augen.«
»Nicht gut genug, um die Farben Ihrer Augen zu erkennen.«
Er lachte. »Ich glaube, ich kenne die der Ihren.«
Die Vernunft riet ihr, ihn zu töten. »Sie sind der Richtige, um von fern von zu Hause zu reden«, sagte sie. »Was macht ein Lienid am Hof von König Murgon?«
»Ich nenne Ihnen meine Gründe, wenn Sie mir Ihre sagen.«
»Ich werde Ihnen gar nichts sagen, und Sie müssen mich vorbeilassen.«
»Muss ich das?«
»Wenn Sie es nicht tun, muss ich Sie zwingen.«
»Meinen Sie, dass Sie das können?«
Sie täuschte eine Rechte vor und er wich mühelos aus. Sie wiederholte es schneller. Wieder bog er sich zur Seite. Er war sehr gut. Aber sie war Katsa.
»Ich weiß, dass ich es kann«, sagte sie.
»So!« Es klang belustigt. »Aber Sie könnten Stunden dazu brauchen.«
Warum spielte er mit ihr? Amüsierte er sich immer mit illegalen Eindringlingen? Vielleicht war er selbst ein Krimineller, ein krimineller Beschenkter. Jeder andere hätte inzwischen Alarm geschlagen. Und wenn er wirklich ein Verbrecher war, machte ihn das zum Verbündeten oder zum Feind? Würde ein Lienid es nicht begrüßen, dass sie den gefangenen Lienid befreit hatte? Ja – falls er kein Verräter war. Und falls dieser Lienid überhaupt wusste, wer in Murgons Verliesen gefangen gehalten wurde. Murgon hatte das Geheimnis gut bewahrt.
Der Rat würde ihr empfehlen, ihn zu töten. Der Rat würde sagen, sie bringe alle in Gefahr, wenn sie einen Mann am Leben ließ, der ihre Identität kannte. Aber dieser Mann war anders als jeder Gauner, dem sie je begegnet war. Er kam ihr weder brutal vor noch dumm oder bedrohlich.
Sie konnte nicht einen Lienid töten, während sie einen anderen rettete.
Sie war verrückt und würde es wahrscheinlich bereuen, aber sie würde es nicht tun.
»Ich vertraue Ihnen«, sagte er plötzlich. Er gab den Weg frei und winkte sie weiter. Sie fand ihn sehr sonderbar und impulsiv, doch sie merkte, dass er nicht mehr so wachsam war, und sie versäumte nie eine Gelegenheit. Sofort schleuderte sie den Fuß hoch und traf ihn mit dem Stiefel an der Stirn. Er riss überrascht die Augen auf und fiel zu Boden.
»Vielleicht war das unnötig.« Sie streckte seine schweren, betäubten Gliedmaßen aus. »Aber ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, und ich habe schon genug riskiert, indem ich dich am Leben lasse.« Sie holte die Pillen aus ihrem Ärmel und legte ihm eine in den Mund. Dann drehte sie sein Gesicht zum Fackellicht. Er war jünger, als sie gedacht hatte, nicht viel älter als sie, höchstens neunzehn oder zwanzig. Ein wenig Blut lief ihm über die Stirn am Ohr entlang. Sein Hemdkragen war offen und das Licht spielte auf der Linie seines Schlüsselbeins.
Was für ein seltsamer Mann. Vielleicht wusste Raffin, wer er war.
Sie schüttelte sich. Die anderen warteten schon.
Sie rannte.
Sie ritten schnell. Den alten Mann hatten sie aufs Pferd gebunden, er war zu schwach, um sich aufrecht zu halten. Einmal hielten sie an und hüllten ihn in weitere Decken.
Katsa war ungeduldig und wollte weiter. »Weiß er nicht, dass Mittsommer ist?«
»Er ist durchfroren, My Lady«, sagte Oll. »Er zittert, er ist krank. Unsere Rettung ist sinnlos, wenn er dabei umkommt.«
Sie überlegten anzuhalten, ein Feuer zu machen, doch dafür hatten sie keine Zeit. Sie mussten Randa City vor Tagesanbruch erreichen, sonst würden sie entdeckt.
Vielleicht hätte ich ihn töten sollen, dachte Katsa, während sie durch dunkle Wälder jagten. Vielleicht hätte ich ihn töten sollen. Er wusste, wer ich bin.
Aber er hatte weder bedrohlich noch verdächtig gewirkt. Und vor allem war er neugierig gewesen. Er hatte ihr vertraut.
Andererseits hatte er von der Fährte betäubter Wachleute, die sie hinterlassen hatte, nichts gewusst. Und er würde ihr nicht mehr vertrauen, sobald er mit diesem Striemen am Kopf aufwachte.
Wenn er König Murgon von dieser Begegnung erzählte und Murgon die Geschichte an König Randa weitergab, konnte es sehr schwierig werden für Lady Katsa. Randa wusste nichts von dem gefangenen Lienid, und noch weniger von Katsas Nebenbeschäftigung als Retterin.
Katsa schüttelte sich unbehaglich. Diese Gedanken halfen nichts, jetzt war es zu spät. Sie mussten den Alten in Sicherheit und ins Warme bringen, und vor allem zu Raffin. Sie duckte sich tiefer in ihren Sattel und drängte ihr Pferd nach Norden.