Das Umschlagfoto stammt von Udo Bernhart.
Lektorat: Franz Schuh
Zweite Auflage
© FOLIO Verlag, Wien • Bozen 2004
Alle Rechte vorbehalten
Grafische Gestaltung: Dall’O & Freunde
Druckvorbereitung: Graphic Line, Bozen
Druck: Dipdruck, Bruneck
ISBN 3-85256-251-1
eISBN 978-3-99037-004-9
www.folioverlag.com
gewidmet
Buchingers Gasthaus »Zur Alten Schule«
und allen, die dort arbeiten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Danke!
Ein Knall. Und dann überall Rot. Decke und Arme, Kopf und Spülbecken. Ich taumle und wische mir mit dem Handrücken über die Stirn. Zwecklos. Da Rot, dort Rot.
Selbst schuld. Wer mit einem alten Druckkochtopf Tomaten zu Sauce kocht, sollte in dieser Zeit keine zwanzig Minuten telefonieren. Jetzt habe ich die Bescherung. Vesna, Putzfrau, Freundin und Partnerin in vielen schwierigen Lebenslagen, wird sauer sein. Erst vorgestern hat sie die Küchenkästen gewischt. Gismo sitzt unter dem Tisch, hat die Augen weit aufgerissen und sieht ansonsten aus wie immer: Ein orangeroter Streifen geht quer über ihre Brust, aber das ist normal, keine Spuren von explosionsartig verteilten Tomaten. Meine Katze ist das Einzige, was sauber geblieben ist.
Ich beginne herumzuwischen, registriere dann erst, dass die Gasflamme am Herd noch immer brennt, drehe sie ab. Wie können sich drei Kilo Tomaten derart gleichmäßig über zehn Quadratmeter verteilen?
Nach einer halben Stunde sind wenigstens Esstisch, Sessel und Boden halbwegs gesäubert. Die Decke wird man neu streichen müssen. Den zerstörten Druckkochtopf habe ich zur Eingangstür gestellt, er soll sofort in den Müll. Ich weiß besser denn je, warum mir diese Dinger unheimlich sind.
Ich bin keine schlechte Köchin, vor allem, wenn es um venetische Gerichte geht. In letzter Zeit aber scheine ich unaufmerksam zu sein. Dabei ist nichts los. Gar nichts. Vielleicht liegt es gerade an dieser lähmenden Routinearbeit in der Redaktion. Ein Event heute, eine Story über den neuen Salzburger Jedermann morgen, Ärger mit der Moderedakteurin, der Chefredakteur schnöselig wie eh und je. Wieder einmal überlege ich, das Ressort zu wechseln. Eigentlich habe ich nichts dagegen, Lifestylejournalistin zu sein, es ernährt mich und meine Katze, und ab und zu noch Oskar dazu. Und es ist eine Arbeit, die Platz für vieles andere lässt. Vielleicht zu viel Platz.
Ich bin gelernte Juristin, aber ausgeübt habe ich diesen Beruf nie, und ich habe auch keine Lust, es zu tun. Reiseredakteurin, das wäre etwas. Länder kennen lernen und darüber schreiben. Ich lehne mich träumerisch an einen Oberschrank und glitsche auf der Tomatenschmiere aus. Real spielt es sich in Reiseredaktionen anders ab, rufe ich mich zur Ordnung: Du fährst mit einem Pulk von Reiseredakteuren gratis irgendwohin, um dann Nettes darüber zu schreiben. Die Reise ist kurz, zum Kennenlernen eines Landes reicht die Zeit nicht, die Abende vertreibt man sich mit angetrunkenen Kollegen an der Bar, oder man hockt allein im Zimmer. Ich habe es schon erlebt.
Ich gehe weitere Möglichkeiten durch. Chronikredaktion. Du liebe Güte, bei dem Ressortleiter. Und erst die Redakteure: Sie finden sich alle so cool und sind bemüht kaltschnäuzig. Außerdem: Keiner von denen hat auf eine vierzigjährige freie Mitarbeiterin vom Lifestyle gewartet, schon gar nicht auf eine, die ihnen in den letzten Jahren einige der besten Kriminalstorys weggeschnappt hat.
Also ganz weg vom »Magazin«?
Ich höre die Klingel und weiß, dass Oskar vor der Tür steht. Wer sollte um die Zeit auch sonst kommen? Außerdem hat er eine ganz eigene Art, zu läuten. Natürlich hat Oskar seit mehr als einem Jahr einen Schlüssel für meine Wohnung, aber er ist rücksichtsvoll. Rücksichtsvolle Anwälte? Kann es die geben? Dabei ist Oskar nicht nur rücksichtsvoll, sondern in seinem Beruf auch sehr erfolgreich. Vielleicht könnte ich bei ihm Sprechstundenhilfe werden, oder wie immer das bei Anwälten heißt? Das hätte gerade noch gefehlt. Abhängigkeit ist nicht gerade mein Fall, und so soll es bleiben, auch wenn ich an diesem Riesenmannsbild ziemlich hänge.
Oskar erschrickt, als er mich sieht, vermutet aufs Erste ein Blutbad, glaubt mich einmal mehr in einen Fall verstrickt und fürchtet, er könnte schon wieder der sein, der keine Ahnung hat, was läuft. Ich kläre ihn auf, er plädiert dafür, auswärts essen zu gehen. Einem überzeugenden Anwalt sollte man nicht widersprechen. Ich habe auch schon eine Idee: »Wie wär’s mit dem Apfelbaum? Du hast deinen Weihnachtsgutschein nicht eingelöst. Beim Manninger isst man sicher noch immer großartig.«
»Zumindest im Chez Trois war’s so.«
Das Chez Trois war über Jahre das wohl beste Lokal von Wien, bis eben Manninger weggegangen ist, eine schöpferische Pause gemacht hat und dann zur Überraschung des werten Publikums außerhalb von Wien das alte Lokal seiner Tante, den Apfelbaum, übernommen hat.
Meine Sinnkrise ist fürs Erste erledigt. Ich werfe im Badezimmer meine rot verschmierten Klamotten ab und wundere mich, dass selbst die Unterhose tomatisiert ist. Oskar steht hinter mir und beobachtet, wie ich schwarze Unterwäsche, schwarze Jeans, ein schwarzes, ausgeschnittenes T-Shirt überziehe. Schön langsam werden wir wie ein altes Ehepaar. Vor einem halben Jahr noch hätte er nicht einfach zugesehen, wenn ich mich aus- und wieder anziehe. Aber wahrscheinlich hat er einen harten Tag in der Kanzlei gehabt. Auch das: Ehefrauengedanken. Ich schüttle mich.
Der Apfelbaum: Man fährt von Wien Richtung Norden, dann noch einige Kilometer die Brünner Bundesstraße entlang, abbiegen zu Weinhügeln und Sonnenblumenfeldern.
Die Abende sind lang, noch ist es hell.
Im Gastgarten stehen zwei große Kastanienbäume, das Haus ist alt, aber sorgfältig renoviert. Ich beginne zu verstehen, warum sich Manninger hierher zurückgezogen hat. Einen Stern hat er sich schon wieder erkocht. Dem Chez Trois hat er vier gebracht, Höchstleistung in Österreich, vielleicht schafft er es auch hier wieder. Ewig schade, dass die Gastronomiekritikerin vom »Magazin« so fest in ihrem Sattel sitzt. Diese Sparte hätte mich interessiert, und wie. Aber sie ist die Schwester des Herausgebers, da ist nichts zu machen.
Wir hätten wohl reservieren sollen. Bis auf einen Tisch sind im Garten alle besetzt. Ob mich Manninger erkennt? Ich habe mit ihm bei diversen Societyevents zu tun gehabt, ich habe ihn gut in Erinnerung, er ist ein witziger Medienprofi, auch in seiner Performance »kreativ«.
Im Inneren des Lokals gibt es zwei Gasträume: einen mit alten, blanken Holztischen und hellen Tischläufern. Der andere ist elegant weiß gedeckt, Sommerblumen auf jedem Tisch, Stoffservietten. Ich zähle drei andere freie Tische. Manninger wird in der Küche sein. Ein ehemals sehr großer Kellner kommt auf uns zu, jetzt geht er gebückt, er ist sicher über fünfundsiebzig Jahre alt.
»Wir haben nicht reserviert …«
»Kommen Sie«, sagt er, geht mit leicht ausgestellten Füßen vor uns ins Freie, weist uns den letzten Tisch unter einer der Kastanien zu. »Heute ist es heiß«, bemerkt er zutreffend und verschwindet.
Wenig später taucht ein blonder Kellner um die dreißig auf. Professionell geschäftig bringt er uns die Karte, nennt einige Tagesempfehlungen, reagiert freundlich, als wir statt des vorgeschlagenen Aperitifs einen weißen Gespritzten und ein Seidl Bier bestellen. Rundum entspannte Gesichter, leises Klappern von Besteck, Lachen. Wie gut, dass der Druckkochtopf explodiert ist. Ich lehne mich zurück und genieße die Vorfreude.
Der Alte bringt die Getränke. Er hat zweifellos Übung. Gut möglich, dass er seit fünfzig, sechzig Jahren serviert. Er könnte Manningers Vater sein oder ein Onkel, vielleicht sogar der Großvater. Ich frage nach dem Chef des Hauses und höre, dass es eine Chefin des Hauses gibt. Neugier. Soviel ich mich erinnern kann, war Manninger nicht verheiratet. Gerüchte über seine zahlreichen Affären hat es hingegen jede Menge gegeben. Aber bei welchem prominenten Koch gibt es die nicht?
»Frau Manninger?«, frage ich überrascht.
Der Alte schüttelt den Kopf. »Frau Winter.«
»Herr Manninger ist …«, lasse ich den Satz dezent verklingen.
»Herr Manninger ist in Neww York.« Er spricht es tatsächlich »Neww York« aus. »Er hat das Angebot von so einem Milliardär angenommen und soll ein ganz neues Restaurant erfinden.« Es ist deutlich zu spüren, was der Alte davon hält. »Eine Chefin hat das Lokal übernommen. Vor zwei Monaten. Trotzdem eine gute Köchin, Sie werden sehen.«
Der Alte behält Recht. Zwei Stunden später sind wir nicht nur satt und vom Wein beschwingt, sondern auch höchst zufrieden. Manninger oder die Neue, dieses Wirtshaus ist hervorragend. Eine Mischung aus lokaler Küche und allem, was internationale Kochkunst eben so hineininterpretieren kann. Ohne großes Trara, mit leichter Hand. Ich schlage Oskar vor, gleich für nächste Woche einen Tisch zu reservieren. Er lässt sich rasch überzeugen.
Die meisten Gäste sind bereits gegangen, wir bestellen noch zwei Gläser Rotwein.
Eine kleine, schlanke Frau bringt sie. Sie hat dunkle, kurz geschnittene Haare, ihre lebendigen braunen Augen scheinen alles gleichzeitig wahrnehmen zu wollen. Ich schätze sie auf Mitte dreißig. »Hat es Ihnen geschmeckt bei uns?«
»Sind Sie Manningers …«
Sie lacht. »Manningers Nachfolgerin, ja. Er ist für einige Jahre in New York unter Vertrag, ich bin über Nacht eingesprungen und hab das Lokal gepachtet. Kennen Sie Manninger?«
Ich nicke. »Nicht besonders gut, wir sind uns ab und zu über den Weg gelaufen.«
»Wir haben vor Jahren gemeinsam gearbeitet.«
»Sie waren auch im Chez Trois?«
»Nein, er war zuvor im Royal Grand, ich hab dort gelernt und bin geblieben, bis ich vor drei Monaten dieses Angebot bekommen hab.«
Ich habe wohl etwas den Mund verzogen. Das Royal Grand ist ein protziger Hotelklotz der Fünfsternekategorie. Ich weiß zwar, dass man in seinem Restaurant sehr gut essen kann, aber Hotelrestaurants sind einfach nicht mein Fall.
Sie winkt dem Alten, fragt uns, ob sie für ein Glas Wein an unserem Tisch Platz nehmen darf. »Billy Winter ist mein Name, eigentlich Sibylle, aber das war in der Küche allen zu lang. Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht vorgestellt habe. Manchmal glaub ich, ich heiße Apfelbaum.«
»Ein schöner Name«, lächelt Oskar.
»Ja. Manningers Tante hat tatsächlich so geheißen. Von ihr hat er das Lokal geerbt.«
Eine halbe Stunde später wissen wir, dass auch der Alte, dessen Name Franz Haberzettl ist, der aber von allen nur Onkel Franz gerufen wird, eine Art Erbstück ist. Der Kellner von Manningers Tante, von Manninger, und dann von Billy Winter übernommen mit dem Versprechen, ihn, solange er will und kann, arbeiten zu lassen. Mir schwirrt von den komplizierten Familien- und Pachtverhältnissen der Kopf, vielleicht liegt es auch daran, dass uns die Wirtin auf ein weiteres Glas Rotwein eingeladen hat.
Wir loben ihre Küche und das gesamte Lokal, man merkt, dass sie sich darüber freut.
»Ich hab noch nie ein eigenes Haus geführt, das heißt, zumindest nicht offiziell. Ich war Souschefin im Royal Grand, der Küchenchef war in den letzten Jahren allerdings nur selten da. Physisch meistens schon, aber … Na ja, Alkoholprobleme. Das gibt es bei uns häufig. Der Stress. Ich hätte gute Chancen gehabt, nach ihm Küchenchefin zu werden. Aber dann kam Manninger mit seinem Angebot. Und eigentlich wollte ich immer schon ein eigenes Gasthaus.« Sie sieht sich um.
»Es ist schön«, sage ich.
»Ja«, sagt sie, aber es schwingt etwas Zweifel mit.
Wegen ihrer Küche braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Auch die Weine sind hervorragend.
»Allein ist es nicht immer ganz leicht«, murmelt Billy Winter und hält inne. »Entschuldigen Sie, ich will Sie nicht anweinen. Ich muss ohnehin weitertun. Wenn ich nicht dahinter bin, dann beginnen meine lieben Mitarbeiter gerne zu trödeln.« Schon ist sie aufgesprungen. Sitzfleisch hat diese Frau keines. Vielleicht ist sie deswegen so klein und dünn. Oder verhalten sich Ursache und Wirkung genau umgekehrt? Ich jedenfalls mit über einssiebzig Größe und ein Paar Kilo Übergewicht kann noch gut sitzen bleiben.
Eine Viertelstunde später weiß ich, dass sich Oskars großer deutscher Wirtschaftsprozess ausgeweitet hat. Das ist gut für sein Honorar, aber schlecht für seine Zeit. Wie aus dem Nichts erscheint Billy Winter wieder im Garten. Sie verabschiedet vier Gäste, setzt sich dann erneut zu uns, aber wirkt wie auf der Flucht.
»Mahmet darf nicht vergessen, die Mistkübel an den Straßenrand zu stellen«, meint sie und schreckt dann auf. »Ich bin unmöglich, aber manchmal hab ich einfach zu viel im Kopf. Ich will, dass alles gut geht. Manninger war einer der Besten, und er hat einen hervorragenden Namen. Eine ehemalige Souschefin kennt niemand.«
»Die Leute aus der Branche doch sicher«, tröste ich.
»Ja, die schon. Aber ob einen die unterstützen? Ich will nicht die alte Mitleidsnummer spielen, aber als Frau hat man es in der Gastronomie nicht gerade leicht. Ein Wirt ist ein Wirt. Und ein Wirt ohne Frau ist einer, der Zeit hat, Karten zu spielen. Eine Wirtin ohne Mann ist bestenfalls ein Operettenklischee. Na ja. Vielleicht bin ich auch nur etwas durcheinander, weil Anfang der Woche etwas Unerfreuliches geschehen ist.«
Ich nippe an meinem Rotwein.
Billy Winter sieht sich um, entdeckt, dass der Kellner einige Gläser am Nachbartisch stehen gelassen hat, und springt wieder auf.
»Was?«, frage ich, als sie zurückkommt.
»Man hat mir die Leitungen der Kühlmaschinen durchgeschnitten.«
»Das kann wohl nur einer Ihrer Mitarbeiter …«, mutmaßt Oskar.
Die Wirtin schüttelt energisch den Kopf. »Die neuen Kühlanlagen sind in einem Zubau untergebracht, jeder kann von außen dazu. Ein Schloss hat es bis jetzt nicht gegeben. Das hier ist ein kleines Dorf. Niemand könnte, ohne aufzufallen, die schweren Maschinen davonschleppen.«
»Ein Marder?«, frage ich.
»Marder haben wir hier, das stimmt. Aber es sind ganz glatte Schnitte. Ich hatte noch Glück, die folgenden zwei Tage waren Ruhetage, aber ich war trotzdem im Wirtshaus und habe rasch bemerkt, dass die Kühlung nicht funktioniert hat. Wäre ich nicht da gewesen, alles wäre verdorben.«
»Feinde im Ort?«
Sie schüttelt zweifelnd den Kopf. »Manninger hat immer gesagt, dass die meisten Leute hier skeptisch waren, als er das Lokal übernommen hat. Aber er hat den Schankraum mehr oder weniger unverändert gelassen, und auch die Preise für den offenen Wein sind gleich geblieben, wir bemühen uns, dass auch die Einheimischen kommen. Teilweise tun sie das inzwischen auch. Feinde? Der Nachbar ist etwas lärmempfindlich, na ja, eigentlich sehr empfindlich, aber so etwas würde er nie tun.«
Probleme einer jungen Wirtin. Mit dem Versprechen, nächste Woche wiederzukommen, machen wir uns auf den Heimweg. Ein wenig Neid auf die Wirtin schwingt mit, als ich zu Oskar sage, dass diese Billy Winter wohl übernervös sei. Ein Wirtshaus aufzumachen, davon habe ich als leidenschaftliche Hobbyköchin schon oft geträumt. Nur dass zu mir eben kein Manninger kommt, um mich zu bitten, sein Lokal zu übernehmen. Okay, ich hab auch nicht Köchin gelernt.
Oskar und ich wechseln das Thema. Er rät mir, es vielleicht doch wieder mit der Juristerei zu probieren. Er könne mir helfen, ganz sicher. Aber gerade das will ich nicht. Ich habe bisher das meiste alleine geschafft, und das soll auch so bleiben.
Oskar schenkt mir einen langen, für einen, der ein Auto lenkt, beinahe zu langen Blick und seufzt dann. »Ich will dich ja nicht bevormunden, sondern bloß unterstützen.«
»Vielleicht ist meine Arbeit im Lifestyleressort ohnehin okay, sie nervt mich nur momentan. Weil so gar nichts los ist.«
Ich habe bei Oskar übernachtet. Der Geruch einer tomatengetränkten Küche wäre nach diesem wunderbaren Abendessen doppelt schlimm gewesen. Aber ich bin zumindest solidarisch genug, noch vor der Arbeit in die Wohnung zu fahren, um Vesna aufzuheitern.
Vesna schüttelt nur den Kopf, als ich mich in die Küche schleiche.
»Habe gedacht, Mord und Totschlag, Mira Valensky ist nirgendwo, aber dann merke ich, es sind massakrierte Tomaten und Mira wahrscheinlich bei geliebtem Oskar«, kommt es zur Begrüßung von der Leiter.
»Der Druckkochtopf ist explodiert«, murmle ich.
»Decke muss man neu ausmalen.«
»Tut mir Leid …«
Vesna klettert von der Leiter und seufzt. Sie ist Mitte vierzig, mittelgroß, schlank, zäh und stammt aus Bosnien. Ohne sie hätte ich manche meiner Abenteuer nicht so glimpflich überstanden. Ohne sie wäre ich in einige davon allerdings auch erst gar nicht verwickelt worden, denn eigentlich bin ich ein bequemer Mensch. Sie hingegen hat einen unbezwinglichen Hang zum Abenteuer. »Bedienerin« genannt zu werden, hasst Vesna. Sie sei »Putzfrau«, keine Dienerin. Dienerin ist sie wirklich keine. Aber eine gute Freundin. Wahrscheinlich sogar meine beste. Auch wenn ich Rankings nicht mag. Das hat wahrscheinlich mit dem »Magazin« zu tun. Unser Chefredakteur liebt Rankings. Die besten Liebhaber, die besten Schulen, die schönsten Frauen, die erfolgreichsten Männer.
Ich erzeuge auf meiner vollautomatischen original italienischen Maschine zwei extrastarke Espressi. Vesna setzt sich zu mir. »Den Tisch und die Sessel hab ich noch gestern Abend geputzt«, sage ich etwas kleinlaut.
»Ist auch besser so. Weil jetzt ist Tomatenzeug eingetrocknet.«
»Wo ist Gismo?«
»Eingesperrt in Badezimmer. Sie ist mit Tomatenpfoten ins Wohnzimmer und keine Chance, sie zu putzen.« Vesna zeigt mir einen langen Kratzer.
»Gestern war sie tomatenfrei.«
»Ist sicher auf Küchenkästen herumgestiegen.«
Logisch. Zumindest für alle, die Gismo kennen.
»Etwas Neues?«, fragt Vesna. Sie liebt Neues.
Ich schüttle den Kopf und erzähle ihr kurz vom Apfelbaum. Aber Gasthäuser interessieren sie nicht besonders.
»Vielleicht sollte ich auch ein Wirtshaus aufmachen«, murmle ich.
Vesna sieht mich skeptisch an. »Du hast geerbt, Mira Valensky? Und du weißt nichts Besseres, als fünfzehn Stunden Arbeit am Tag?«
Ich zucke mit den Schultern. »Aber ich koche gern.«
»Du schreibst auch gern. Wenn du immer kochst, du kochst nicht mehr gern. Ich kenne das Geschäft von Kusine Tereza. Die ist Küchenhilfe. Und andere Verwandte war Abwäscherin. Kein Geld, viel Arbeit. Danke.«
»Wahrscheinlich hast du Recht.«
»Sicher. Tomatenküche ist aber auch kein Vergnügen zum Putzen.«
»Ich … Ich muss trotzdem in die Redaktion.«
»Sage ja nicht, dass meine Arbeit immer Vergnügen sein muss. Ich mache sie schon. Manchmal aber denke ich, ich gehe zurück nach Bosnien und bin wieder Lehrerin. Jetzt ist Frieden. Zumindest so was Ähnliches.«
Ich sehe Vesna irritiert an. »Du warst nie Lehrerin in Bosnien. Das hast du nur deinen ersten Kunden erzählt, damit sie dich mit mehr Respekt behandeln.«
Vesna lässt sich, wie üblich, nicht beirren. »Ich will ja auch nicht wirklich zurück nach Bosnien. Nur das nicht.«
Ich trabe aus der U-Bahn-Station in Richtung »Magazin«. Gemeinsam mit einigen anderen Zeitschriften des Verlages ist unsere Redaktion seit kurzem in einem neuen Tower in der Wiener Innenstadt untergebracht. Von außen sehr schick und viel Glas. Von innen sind die Büros klein, und einen guten Ausblick hat man nur von den oberen Etagen. In den unteren Stockwerken werden die Fenster von den Abgasen grau. So gesehen macht es auch nichts, dass sich zum Schutz der Klimaanlage kein Fenster öffnen lässt. Auf einem mehrere Meter hohen Schild, das geschickt in die Fassade eingepasst ist, steht geschrieben: »MAGAZIN – Lesen Sie DAS!« Mein Schreibtisch befindet sich im ersten Stock.
Ich trödle etwas, obwohl es kindisch ist. Als freie Mitarbeiterin habe ich nur dann Anwesenheitspflicht, wenn ich einen Journaldienst übernommen habe. Heute habe ich keinen solchen Dienst. Trotzdem müssen bis zur nächsten Ausgabe noch einige Seiten gefüllt werden. Zum Glück ist Sommer, also ist für den Kleinkram wie Veranstaltungshinweise und die tollsten Events der Woche eine Ferienpraktikantin zuständig. Kontrollieren muss ich sie freilich schon. Das Mädel schaut drein, als könne es nicht bis drei zählen. So dünn ist diese Praktikantin, dass ich jedes Mal Angst habe, sie umzublasen. Aber irgendwie ist sie mit jemandem von der Geschäftsführung verwandt. Wie die Gastronomiekritikerin. Wenn ich schon in unserem Blatt keine Chance habe, vielleicht in einem anderen? Allerdings: In Österreich ist die Zeitschriftenszene nicht eben vielfältig, und Tageszeitungen leisten sich niemanden, der davon lebt, über Restaurants, Essen und Trinken zu schreiben. Und überhaupt: Warum sollte jemand ausgerechnet mich nehmen?
Ich grüße den Portier, er ignoriert mich wie meistens. In seiner strikten Hierarchie stehe ich so tief unten, dass sich ein Gruß für ihn nicht lohnt. Anders war es nur die paar Male, als ich im Zusammenhang mit Kriminalfällen sogar im Fernsehen vorgekommen bin. Da hat er sich verneigt. Nicht so sehr wie vor dem Herausgeber, aber fast ebenso wie vor dem Chefredakteur.
Einmal mehr bedauere ich es, dass ich in einem Großraumbüro arbeite. Gerade heute hätte ich Lust auf etwas Privatheit gehabt. So aber schiebt mir mein Kollege vom Nachbarschreibtisch einen Zettel herüber und murmelt undeutlich: »Dieser Schauspieler, den du interviewt hast, hat angerufen.« An seinem Mund hängen Brösel, die wohl von dem angebissenen Big Mac neben ihm stammen, ein Stück von der Tomate fällt auf das Blatt mit der Telefonnummer. Offenbar werde ich diese verdammten Tomaten nie wieder los.
»Was wollte er?«
»Dass irgendwas doch nicht geschrieben wird.«
Ich seufze. Leute, die im Nachhinein nicht gesagt haben wollen, was sie gesagt haben, gehen mir auf die Nerven. Außerdem ist der Seitenspiegel bereits fixiert, das Interview fertig und in der richtigen Länge eingepasst. Nehme ich jetzt etwas weg, muss ich wieder etwas anderes dazugeben.
Der neue Salzburger Jedermann entschuldigt sich vielmals. Er meint, er möchte das, was er über seine Lebensgefährtin gesagt hat, doch nicht so sagen. Ich denke nach, kann mich an die Passage aber nicht erinnern. »Was, bitte?«, frage ich.
»Dass ich mir gut vorstellen kann, mit ihr ein Kind zu haben. Heute kann ich mir das nicht vorstellen.«
Ich schlucke die Frage hinunter: »Und morgen können Sie sich das vielleicht wieder vorstellen?« Ich verspreche, den Satz zu streichen.
Droch nähert sich wie so oft völlig lautlos von hinten. Aber heute erschrecke ich nicht, er hat sich in meinem Bildschirm gespiegelt. Schuhe machen meistens ein Geräusch, Rollstühle, wenn sie gut gewartet sind, nicht. Ich schwenke auf meinem Schreibtischsessel herum und grüße ihn. Er sieht wie meistens großartig aus. Wie der Held eines Hollywoodfilms, der legendäre ältere Reporter, der in Ausübung seiner Pflicht zum Krüppel wird, aber dennoch, klug und zynisch geworden, weiterhin Erfolg hat. Vor allem bei Frauen. Die Realität sieht freilich anders aus. Droch ist viel zu distanziert, um Frauen bei ihm Glück haben zu lassen. Aus uns beiden wäre vor Jahren beinahe so etwas wie ein Paar geworden, ob das mein Glück gewesen wäre, ob das sein Glück gewesen wäre? Ich glaube, weder noch. Auf alle Fälle bin ich eine der ganz wenigen Vertrauten Drochs, und darauf bin ich stolz. Er kann zwar ein erzkonservativer, spöttischer, bösartiger Zyniker sein, aber abgesehen davon, dass er sehr attraktiv ist, erweist er sich bisweilen auch als äußerst witzig, unangepasst, ganz selten sogar als charmant und weich. Es ist die Mischung, die ich mag. Jedenfalls meistens.
Außerdem kennt so gut wie niemand außer mir die wahre Geschichte seines Unfalls. Sie hat, wie in den zahlreichen Legenden um ihn behauptet wird, zwar tatsächlich mit dem Vietnamkrieg zu tun. Die Querschnittlähmung hat er sich allerdings nicht bei einem Reportageeinsatz im Kriegsgebiet zugezogen, sondern als er besoffen kopfüber in einen Hotelswimmingpool gesprungen ist. Im Pool war aus Kriegsgründen kein Wasser mehr.
Droch ist einer der wenigen ernst zu nehmenden und anerkannten Journalisten beim »Magazin«. Er leitet das politische Ressort, und vor seinen ebenso bissigen wie treffenden Kommentaren fürchten sich Politikerinnen und Politiker aller Parteien.
Droch lädt mich zum Essen ein. Er hat noch eine Eigenschaft: Er ist sensibel, auch wenn er es nicht gerne zugibt. Und jetzt – beim Türken ums Eck – will er herausfinden, warum ich seit Tagen schlecht drauf bin.
Zwei Stunden und zwei Dönerkebabs später überlegt er, mich »trotz allem« in die politische Redaktion zu nehmen. Politik nervt mich. Warum glauben Männer, die man mag, einen nur in ihrem Reich retten zu können? Die Sache mit der Reiseredaktion sieht Droch ähnlich wie ich. Klingt gut, ist in der Praxis aber gar nicht gut. Als ich ihm vom Apfelbaum erzähle, verzieht er spöttisch die Lippen. Er gibt vor, feinere Küche nicht zu mögen. Schnitzel, Döner beim Türken, Würstel beim Würstelstand, das seien ehrliche Sachen. Auf das Getue rund um die Feinschmeckerei könne er gern verzichten. Dabei weiß ich, dass er viel von gutem Essen versteht. Der Apfelbaum würde ihm sicher gefallen. Unnötiges Getue gibt es dort ohnehin nicht. Plötzlich runzelt er die Stirn, überlegt. »Apfelbaum, da ist heute etwas in einer Agenturmeldung gestanden.«
»Wahrscheinlich geben sie offiziell bekannt, dass Billy Winter das Lokal von Manninger übernommen hat. Sie hat mir irgend so etwas erzählt.«
»Nein, das war es nicht. Es war eher – böse.«
»Eine Gastronomiekritik?«
»Seit wann gibt es so etwas in den Presseagenturen?«
Keine Ahnung.
»Nein, warte einmal … Genau. Eine Chronikgeschichte, dass in einem Sternewirtshaus außerhalb von Wien heute Mittag das ganze Essen verdorben war – offenbar hat die Köchin Salz mit Zucker verwechselt. Und dann stand noch etwas vom armen Manninger, der in New York sitzt und nicht weiß, was mit seinem Wirtshaus geschieht.«
»Du bist dir sicher? Manninger? Apfelbaum?«
»Sage ich es sonst?«
Ich lasse nicht zu, dass Droch noch die süßen, klebrigen türkischen Nachspeisen in sich hineinstopft, wickle sie in eine Serviette, packe diese in sein Netz am Rollstuhl, und wir starten Richtung Redaktion. Droch protestiert mehr der Form halber, er ist zumindest halb so neugierig wie ich. Und sei es nur, um mich mit meinem neuen Lieblingslokal aufziehen zu können.
Die Agenturmeldung am Bildschirm, krame ich nach der Visitenkarte von Billy Winter. Droch hat beinahe wortgetreu wiedergegeben, was hier zu lesen steht. Die Meldung stammt vom Niederösterreichkorrespondenten der Agentur. Noch nie etwas von diesem Typen gehört. Aber dass Billy Winter Salz und Zucker verwechselt, halte ich für ausgeschlossen.
Ich bekomme Onkel Franz an den Apparat. Er schimpft wie ein Rohrspatz. Bevor ich noch etwas sagen kann, faucht er: »Sie wollen auch stornieren, nur zu, bitte. Wir kriegen andere Gäste. Wenn Sie glauben, dass unsere Chefin wirklich Salz und Zucker durcheinander bringt, dann gehen Sie lieber woandershin.«
»Stop! Ich will nicht stornieren. Ich will Ihre Chefin sprechen.«
Stille in der Leitung. Dann ein misstrauisches »Warum?«.
»Genau wegen dieser Sache. Weil ich das nicht glauben kann.«
»Was geht Sie das an?«
Ich beginne zu verstehen, warum Billy Winter gemeint hat, dass Onkel Franz bisweilen auch den einen oder anderen Gast abschreckt.
Es dauert, bis ich sie dann doch am Apparat habe. Die Wirtin des Apfelbaums ist sichtlich geschockt. Die Story steht leider nicht nur in der Agenturmeldung, sondern ist bereits auch einige Male als Anekdote im Radio gelaufen.
»Es hat mir jemand Salz mit Zucker vermischt. Wir haben beides in gut unterscheidbaren Vorratsbehältern, und von dem einen wird das Salz, das wir gerade zum Kochen brauchen, in kleine Schüsseln nachgefüllt. Sowohl in den Schüsseln als auch in den Vorratsbehältern war alles vermischt. Salz und Zucker sehen einander verdammt ähnlich, auch wenn die Kristalle unterschiedlich groß sind, aber in der Mischung … Und wir haben gerade heute Mittag großen Stress gehabt. Ich musste aufs Gericht, mein Koch war allein, eine Partie deutscher Journalisten war angesagt, die hat noch der Manninger hergebracht, die Abwäscherin ist krank. Mein Koch hat nicht aufgepasst. So oft hab ich ihm schon gesagt, dass er alles kosten muss, auch die Sachen, die wir täglich machen. Ich geb zu, die erste halbe Stunde, die ich zurück war, war ich mit meinen Gedanken noch ganz woanders. Danach habe ich es gemerkt. Aber da waren mindestens dreißig Essen schon serviert … Jetzt wird bereits storniert. Es war im Radio und im Teletext. Weil das ja angeblich so witzig ist. An das Gerede in der Branche will ich noch gar nicht denken.«
»Niemand wird glauben, dass Sie selbst Salz und Zucker nicht unterscheiden können.«
»Ein Streich, ein böser Streich. Aber ich hätte es merken müssen.« Nach einer kurzen Pause: »Wahrscheinlich bin ich dem Ganzen nicht gewachsen. Ich hab es mir einfacher vorgestellt. Jedenfalls nicht schwieriger als meinen vorherigen Job.«
»Wer kann es getan haben?«
»Keine Ahnung.« Das klingt mutlos.
»Haben Sie heute noch ein bis zwei Plätze frei?«
Sie lacht bitter. »Ja, habe ich.«
»Ich komme.«
Der alte Kellner begrüßt mich, als gehörte ich zur Familie. Sehr viele andere Gäste sind nicht zu sehen. Es ist schon spät. Oder hat das tatsächlich mit ein paar halblustigen Witzchen im Radio zu tun? Immerhin ist niemandem etwas passiert. An der Verwechslung von Zucker und Salz ist noch keiner gestorben.
Ganz am Rand des Gastgartens sitzt Billy Winter an einem Tisch mit einem Mann. Sie ist so ins Gespräch vertieft, dass sie mich gar nicht sieht. Anders als gestern, ist ihr Blick nur bei ihrem Gegenüber. Ich mustere den Mann. Er ist breit, aber nicht fett. Er hat braune, glatte Haare, und im Ausschnitt des offenen weißen Hemdes sieht man ein Goldkettchen. Ich tippe, er ist ein erfolgreicher Handwerker. Installateur oder vielleicht Elektriker. Mit einer eigenen Firma. Vielleicht gehört der dicke Mercedes vor dem Lokal ihm. Das könnte passen. Was fasziniert sie an dieser bestenfalls durchschnittlichen Erscheinung? Billy Winter ist zu apart für einen solchen Typen. Allerdings: Sehr glücklich sieht sie nicht aus, eher mühsam beherrscht, verkrampft. Er hat unter dem Tisch die Beine gespreizt, nicht entspannt, sondern aggressiv. Männchenverhalten.
Schade, dass ich zu weit weg sitze, um der Unterhaltung folgen zu können. Ich gebe vor, in der Speisekarte zu lesen, und versuche, von ihrem Gespräch wenigstens Wortfetzen aufzuschnappen.
»Hannes ist viel zu jung …«, höre ich und: »… in geordneten Verhältnissen …« und: »Sei ehrlich …«. Onkel Franz bringt seiner neuen Chefin das Schnurlostelefon. Er gibt deutlich zu verstehen, dass er den Mann an ihrem Tisch auch nicht leiden kann.
Jetzt lässt Billy Winter zum ersten Mal ihre Augen wandern, sie nimmt den Hörer, winkt mir zu, nimmt eine Sekunde später Blickkontakt mit dem Kellner auf, deutet auf nicht abservierte Teller und Gläser. Ihr Vis-a-vis steht auf, sie scheint nicht sicher zu sein, ob sie will, dass der Mann geht, unternimmt aber nichts. Das Telefongespräch endet schnell. Die beiden stehen einander gegenüber, dann zögert sie kurz, nickt, und das war die Verabschiedung. Es wirkt, als hätten sie kein Ritual dafür oder wüssten nicht, welches angebracht wäre.
Billy Winter kommt an meinen Tisch. »Mein Mann. Mein Exmann. Wir sind geschieden. Er will das Sorgerecht für unseren Sohn. Er ist vor Gericht gegangen.«
So einfach, so kompliziert lassen sich Dinge manchmal erklären.
»Das ist eine doppelte Misere. Die Streiche im Wirtshaus und die Gerichtsverhandlungen. Mit ihm ist nicht zu reden. Seine neue Frau ist reich. Flora Verde. Ich meine die Blumenmarktkette, die so heißt. Sie gehört ihr, sie selbst heißt Elvira Taubusch. Kindermädchen, alles wäre da. Nicht, dass er sich, als wir noch verheiratet waren, um Hannes gekümmert hätte. Aber jetzt ist der Bub dreizehn, und schön langsam bekommt er das Gefühl, dass er ihn liebt.«
Ich nicke. »Was ist Ihr Ex von Beruf?«
»Er hat eine Gärtnerei am Stadtrand. Gärtnerei Winter.«
Da bin ich mit meinen Vermutungen nur knapp daneben gelegen. Handwerker ja, Installateur nein. »Und wie steht das Gerichtsverfahren?«
Die Wirtin zuckt ratlos mit den Schultern. »Eine neuerliche Anhörung. Noch mehr Zeugen. Der Bub ist schon ganz durcheinander. Ich meine, es ist klar, ich kann mich um ihn nicht so intensiv kümmern, wie ich es möchte. Er ist teilweise im Wirtshaus und teilweise bei der Frau meines Bruders, sie haben einen Sohn, der vierzehn ist. Aber er ist an mich gewöhnt. Er will auch bei mir bleiben. Obwohl: Ein Kind in dem Alter hat nichts gegen die Verlockungen eines Luxuslebens. Sie reden ihm ein, dass er immer den neuesten Computer haben wird, Auslandsreisen und ein eigenes Pferd, eben alles, was immer er möchte. Das zieht schon auch. Deswegen war ich ja heute Mittag noch so in Gedanken, dass ich die Sache mit Zucker und Salz gar nicht bemerkt habe. Unglaublich, dass mir so etwas passiert.«
»Könnte es der Koch gewesen sein?«
»Der? Nie. Ein braver Arbeiter. Still. Nicht eben ein Star, aber ein ganz guter Handwerker. Das ist viel wichtiger in unserem Beruf, als die meisten glauben. Flink, bereit, das zu tun, was ich sage, ordentliche Grundausbildung in Tschechien. Kann aber sehr gut Deutsch, sein Vater war Österreicher. Redet nicht zurück. Nein, der war es nie.«
»Klingt nach einem introvertierten Typen.«
»Ja, das ist er. Neunundzwanzig Jahre, unverheiratet, wohnt die Arbeitswoche über in einem Zimmer in einer Pension, die freien Tage verbringt er bei seiner Mutter in Tschechien.«
»Wer kann es sonst gewesen sein?«
Billy Winter spielt mit einem Bierdeckel.
»Ich weiß nicht«, murmelt sie, und es klingt, als ob sie sehr wohl einen Verdacht hätte. Klein und verletzlich sieht sie aus, gar nicht der Typ »resche Wirtin«. Dann sieht sie mir ins Gesicht. »Vielleicht war es mein Ex.«
»Was gewinnt er damit?«
»Wenn ich mit dem Wirtshaus scheitere, hat er mehr Chancen auf das Sorgerecht. Geordnete Verhältnisse und so.«
»Er wäre dazu im Stande?«
»Ich glaube schon.«
»Aber wie kommt er ungesehen in die Küche?«
»Kein Problem. Der Schüssel zum Wirtshaus liegt in einem Blumentopf. Das ist praktisch, Onkel Franz ist Frühaufsteher und kommt oft vor mir, außerdem ist da noch die Bedienerin, die an einem der beiden Ruhetage auftaucht.«
»Ihr Exmann weiß das?«
»Ja. Vor rund zwei Monaten hatte ich den Eindruck, als wolle er einen neuen Anlauf … Nicht für unsere Beziehung, aber für ein vernünftiges, freundschaftliches Verhältnis. Das waren aber wohl nur die Vorbereitungen für den Sorgerechtsstreit. Er wollte auskundschaften, wie das mit dem Wirtshaus ist.«
»Wer kommt auf die Idee, Salz und Zucker zu vermischen?«
Billy Winter lacht etwas bitter. »Das ist an sich ein alter böser Streich unter Köchen. Man testet ab, ob der Angeführte aufmerksam genug ist. Zwei Mal haben sie es bei mir probiert. Einmal im Royal Grand in Wien, bald nachdem ich sehr jung Souschefin geworden war, und einmal in Deutschland, als ich zum Missfallen des dortigen Küchenchefs an ›sein‹ Royal Grand verliehen wurde, um Österreichische Wochen zu dirigieren. Ich hab es immer sofort gemerkt.«
»Wäre es Ihrem Ex auch zuzutrauen, dass er die Kühlleitungen durchschneidet?«
»Ja.«
»Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Das herauszufinden war auch ein Grund, warum ich ihn heute hergebeten habe. Ich hab ihn nicht gefragt, aber … Ich traue es ihm zu, mehr kann ich nicht sagen. Ohne Beweis kann ich die Vorfälle im Verfahren nicht gegen ihn verwenden, das würde nur so aussehen, als ob eine unfähige Frau ihren tüchtigen Exmann mit allen Methoden anschwärzen will.«
Ich nicke. »Wer hat die Geschichte den Medien zugespielt?«
»Das ist einfach. Bei der deutschen Journalistentruppe waren ein paar von unseren regionalen Journalisten dabei. Ich, na ja, Manninger und ich, wir haben einen großen Fehler gemacht. Als ich das Lokal übernommen habe, ist das in aller Stille geschehen. Kein großes Trara, die Idee war, es sollte weitergehen wie bisher, klar, dass ich meine persönliche Handschrift einbringe, aber langsam, es sollte zuerst gar nicht auffallen, dass nicht mehr der berühmte Manninger, sondern die weitgehend unbekannte Winter hier kocht. Aber Lokaljournalisten sind eitel, sie wollen informiert, eigentlich schon hofiert werden – zumindest gibt es einige von dieser Sorte. Essen ist freilich keiner von ihnen gekommen, und so haben sie den Wechsel nicht bemerkt. Christian Guttner, Sie wissen schon, der Gastrokritiker, ist hingegen gekommen. Also war er der Erste, der darüber berichtet hat. Seither sind ein paar Vertreter der lokalen Presse auf mich beleidigt. Manninger ist ja nicht so leicht zu erreichen. Sie haben behauptet, dass unsere Aktion ein Versuch war, zu verschleiern, dass das Lokal mit mir wieder in die Mittelmäßigkeit absinken würde. Dabei …«, sie hebt das Kinn, und endlich ist wieder etwas von ihrem Elan zu bemerken, »… so schlecht bin ich nicht.«
Ich begleite Billy Winter in die Küche und sehe mich um. Großküchen faszinieren mich seit jeher. Wann immer möglich, werfe ich einen raschen Blick durch offene Küchentüren, bestaune Edelstahl und große Töpfe, Herde, an denen ich endlich einmal Platz für mehrgängige Menüs hätte, Spülen, in die mehr passt als zwei Kaffeetassen. Jetzt endlich ist Gelegenheit, mich in einer gründlich umzusehen. Es ist halb elf, das Abendgeschäft ist weitgehend vorbei, ein farbloser, hoch aufgeschossener Koch, der deutlich jünger als neunundzwanzigjährig aussieht, wirft mir einen raschen Blick zu und beschäftigt sich dann wieder damit, Zwiebeln zu schneiden.
»Wir müssen noch einiges für morgen vorbereiten, sonst kommen wir ins Schleudern«, erklärt die Wirtin.
Vier Bretter liegen auf der Edelstahlarbeitsfläche: grün, rot, gelb, blau. Billy Winter hat meinen fragenden Blick gesehen: »Hygiene. Grün ist für Gemüse, rot für das rohe Fleisch, gelb für Geflügel, blau für den Fisch.« Ich sehe, dass der Koch die Zwiebeln auf dem roten Brett schneidet.
Die Wirtin grinst. »Die Bretter waren schon abgewaschen, er hat sich ein neues, sauberes geholt. Wenn noch nichts darauf geschnitten wurde, ist das kein großes Problem.« Trotzdem sagt sie zum Koch: »Grün – Gemüse. Du weißt es. Also bitte.«
Er räumt wortlos seine Zwiebeln auf das grüne Brett und sieht seine Chefin mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann. Vielleicht ist doch er es, der ihr böse Streiche spielt.
Gerne würde ich mir alle Geräte erklären lassen. Billy Winter aber geht zu einem Oberschrank, wie alles in der Küche ist er aus Edelstahl, sie schiebt ihn auf. Auf einem der großen Plastikschüttbehälter steht »Zucker«, auf einem anderen »Salz«. Sie zeigt mir auch einen Stapel von weißen Porzellanschüsselchen, in denen Salz ist. »Die stehen überall, wo wir sie brauchen. Beim Platz, auf dem angerichtet wird, bei der Fritteuse, beim Grill, beim Herd. Alle waren voll mit dem Zucker-Salz-Gemisch. Auch der Inhalt der beiden Nachfüllbehälter war vermischt.«
Kinderleicht, diesen Schaden anzurichten. Vorausgesetzt, man kennt sich halbwegs in der Küche aus. Und man hat Zugang zu ihr.
Onkel Franz taucht im Kücheneingang auf, ruft: »Neuer Tisch!«, und befestigt einen Bon am Magnetbrett.
»Es ist zwar verdammt spät, aber wenigstens ein paar verirren sich noch zu uns«, meint Billy Winter und liest dann lauter als notwendig vor: »Ein Salat Entenhaxerl, eine scharfe Hühnersuppe, ein Weinviertler Schinken, eine gefüllte Artischocke. Danach: eine Lammrose, einmal gebackene Pilze, einmal Bauernschmaus, ein Wildkarpfen!« Sie sieht ihren Koch an und fragt: »Kann ich dich damit allein lassen?«
Er nickt etwas mürrisch. Ist er beleidigt, weil sie ihm nicht hilft oder weil sie ihm offenbar nicht selbstverständlich zutraut, dass er die Bestellung allein bewältigt? Ich würde gerne noch in der Küche bleiben, zusehen, wie hier gearbeitet wird, aber die Wirtin lenkt mich wieder nach draußen.
»Unser Lehrling ist schon weg, der hilft, wo Hilfe nötig ist. Mahmet ist gerade draußen, er kümmert sich um den Müll, man glaubt gar nicht, wie viel davon anfällt, auch wenn ich aufpasse. Er ist für die kalten Vorspeisen und für die Nachspeisen zuständig. Manninger hat ihn angelernt. Ein tüchtiger Typ, auch wenn wir immer noch nicht wissen, welchen Beruf er in der Türkei ausgeübt hat. Egal. Peppi wird das schon schaffen. Er hat ohnehin wegen der Salz-Zucker-Geschichte noch ein schlechtes Gewissen. Völlig zu Recht. Im ersten Moment wollte ich ihn feuern. Aber es ist heutzutage ziemlich schwer, Leute für die Küche zu bekommen.«
»Der Streich wird bald vergessen sein.«
»Hoffentlich. Ein guter Einstieg ist es jedenfalls nicht. Ausgerechnet mit dieser Geschichte ist bekannt geworden, dass ich nach Manninger den Apfelbaum führe.« Sie seufzt. »Und in den nächsten Wochen werden Sterne und Hauben vergeben. Gastronomieführer sind wichtig. Alles ist wichtig. Wenn ich den Stern verliere, hab ich verloren.«
»Mir ist es egal, ob ein Wirtshaus irgendwelche Sterne oder Hauben oder Mützen hat. Hauptsache, es ist gut.«
»Ich kenn Leute, bei denen das nicht so ist. Die wollen erzählen, dass sie gut essen waren – je mehr Auszeichnungen ein Lokal hat, desto mehr fühlen sie sich selber ausgezeichnet.«
»Auf die sind Sie aus?«
»Ich bin auf alle angewiesen. Außerdem weiß ich vom Royal Grand, dass auch unter denen sehr nette Menschen sein können. Jedenfalls: Man kocht für jeden, der so nett ist und kommt. Beinharte Dienstleistung.«
Ich glaube, ich möchte doch kein eigenes Restaurant. Nicht, dass ich so blauäugig gewesen wäre, die Kocherei in einem Wirtshaus mit meiner privaten Kocherei zu vergleichen. Mir ist klar, dass Gastronomie eine Menge harter Arbeit bedeutet. Die könnte ich in Kauf nehmen. Aber zu irgendwelchen aufgeblasenen Schnöseln freundlich zu sein, das wäre nicht meine Sache. Oder doch? Vielleicht macht Schauspielerei Spaß?
»Wie gesagt, die meisten Gäste sind in Ordnung. Sie wollen gut essen, entweder möglichst schnell oder langsamer, mit Pausen und Genuss, sie verlangen einfach etwas Aufmerksamkeit für ihr Geld.«
»Woher weiß man, wer schnell essen will und wer Pausen möchte?«
Billy Winter grinst. »Wenn sie’s nicht sagen, weiß man es nicht. Außer man hat Personal mit enormem Einfühlungsvermögen. Wenn Onkel Franz gut drauf ist, hat er es. Aber er ist zweiundachtzig. Und manchmal ziemlich schwierig. Hans-Peter ist tüchtig, hat aber dieses Talent nicht. Er ist wahrscheinlich etwas zu eitel dazu. Und unsere Praktikantin ist gerade siebzehn.«
Essen. Apropos. Zum Glück habe ich beim Türken nicht sehr viel gegessen, ich bekomme wieder Appetit. Oskar habe ich nicht erreicht, ich konnte ihm nur auf seiner Sprachbox und via Sekretärin Botschaften hinterlassen. Seine Sekretärin mag mich nicht. Aber vielleicht haben es Sekretärinnen an sich, dass sie ihren Chef – so oder so – für sich alleine wollen. Wohl zwecklos, auf ihn zu warten. Ich hätte Droch mitnehmen können.
Die Wirtin murmelt: »Ich denke, ich sollte jetzt doch in die Küche«, und verschwindet.
Wie lässt sich herausfinden, ob ihr Ex tatsächlich hinter den bösen Streichen steckt? Man müsste mit den Journalisten reden. Hat ihnen jemand einen Tipp gegeben, oder haben sie selbst die Idee gehabt, das Missgeschick auszuschlachten?
Ich eile ihr nach, halte dann aber vor der Küche. So einfach darf man da nicht eindringen. Andererseits: Ich will Billy Winter helfen, da kann man die eine oder andere Schwelle schon einmal ignorieren.
Zuerst werde ich gar nicht wahrgenommen. Sie richtet an. Einen Streifen Sauce um das Fleisch gezogen, Steinpilze zur Garnitur, mit knappen Bewegungen schnell verteilt, wie zufällig und trotzdem exakt. Eine Lavendelblüte.
»Gleich«, sagt sie, ohne aufzusehen.
Onkel Franz und Hans-Peter kommen, nehmen die Speisen.
»Ja?«
»Wie kann ich die Journalisten erreichen?«
»Ich hab ihre Visitenkarten, glaube ich. Sie müssen in einer Lade sein … Warum?«
»Wir müssen klären, ob sie jemand aufgestachelt hat.«
Ein voller Blick. »Was sind Sie eigentlich von Beruf?«
Jetzt erst wird mir klar, dass Billy Winter so gut wie gar nichts von mir weiß.
»Auch Journalistin. Beim ›Magazin‹. An sich Lifestyle. Aber ich bin einfach neugierig.«
»Oberste Lade, rechte Seite, Schank.« Schon ist sie am Herd, fährt mit dem Finger in eine dampfende Pfanne, kostet und hat sich offensichtlich nicht verbrannt.
Schankraum, rechte Seite, oberste Lade. Ich stoße tatsächlich auf einen Berg von Visitenkarten. An den Namen des Agenturjournalisten kann ich mich vage erinnern. Irgendetwas mit »Z« und dahinter »mann« oder so. Zaumann, Zwermann, Zuschmann? Ich grabe mich durch die Visitenkarten. Jürgen Zwernhof. Das ist er. Mein Namensgedächtnis ist miserabel, aber wenn ich einen Namen wiederfinde, dann weiß ich es. Meistens. Stimmt, dieser Jürgen Zwernhof arbeitet bei der Nachrichtenagentur.
Ich gehe in den Gastgarten und wähle am Mobiltelefon seine Nummer. Er hebt schon nach dem zweiten Läuten ab. Entweder Zufall oder er hat wenig zu tun.
»Mira Valensky, ich bin vom ›Magazin‹. Ich bin auf Ihre witzige Meldung mit Salz und Zucker im Apfelbaum gestoßen, wirklich eine unglaubliche Sache. Vielleicht mache ich eine kleine Geschichte für die nächste Ausgabe darüber, Klatsch und Tratsch, Sie wissen schon. Da möchte ich natürlich noch etwas mehr …«
Ich bekomme mehr, als ich hören will. Der Typ lässt sich gründlich darüber aus, dass Frauen als Topköchinnen nicht geeignet seien und schon gar nicht das Zeug hätten, ein Wirtshaus zu führen. Er tut so, als ob Manninger sein bester Freund gewesen wäre. Nach dem, was ich von Billy Winter weiß, dürfte das nicht ganz stimmen. Aber drittklassige Journalisten schmücken sich eben ganz gerne mit Promis. Ich lache nur wie dämlich und lasse ihn reden. Ob noch jemand außer ihm gemerkt habe, was da vorging?
»Na alle. Die Vorspeisen waren ein Totalverhau, extrem peinlich, auch unseren Kollegen aus Nordrhein-Westfalen gegenüber. Die Niederösterreichische Tourismuswerbung hat sie eingeladen, und dann das … Na ja, man hat sich damit entschuldigt, dass es eine Neuübernahme gegeben hat, von der keiner etwas gewusst hat. Und das, was sie uns nach dem Malheur serviert hat, war dann ja gar nicht so übel. Zumindest für ihre Verhältnisse.«
Soviel ich weiß, war mein Kollege noch nie zuvor im Apfelbaum essen. »Hat sich sonst noch wer beschwert? War es Ihre Idee, das in die Agentur zu stellen?«