Nr. 2624
Todesfalle Sektor Null
Die Null-Taucher in der Katastrophenzone – Bostich greift nach der JULES VERNE
Arndt Ellmer
In der Milchstraße schreibt man das Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ) – das entspricht dem Jahr 5056 christlicher Zeitrechnung. Dramatische Ereignisse bahnen sich an, in denen eine Wesenheit namens QIN SHI eine bedeutende Rolle zu spielen scheint und gegen die Interessen der Milchstraße handelt.
Perry Rhodan kämpft an vorderster Front um die BASIS und gegen QIN SHI in einer bislang unbekannten Galaxis, in der Kriege den Alltag bestimmen, und Alaska Saedelaere sucht in einer Galaxis der Harmonie nach der verschwundenen Samburi Yura, der letzten Enthonin und Beauftragte der Kosmokraten.
Das heimatliche Solsystem indessen wurde von seinem angestammten Platz im Orionarm der Milchstraße in ein abgeschlossenes Universum entführt. Dort versuchen die geheimnisvollen Spenta oder »Sonnenhäusler«, aus der Sonnenmaterie Sols den Leichnam der Superintelligenz ARCHETIM zu extrahieren und bringen dadurch den Fimbulwinter über die Erde. Gleichzeitig entführen die humanoiden Fremden Kinder und Jugendliche, um sie »neu zu formatieren«.
In der Milchstraße hat das Verschwinden des Solsystems natürlich für einiges Aufsehen gesorgt, schließlich handelt es sich um einen politischen und wirtschaftlichen Knotenpunkt der Galaxis. Und schon bald heißt der ursprüngliche Standort der terranischen Sonne nur noch TODESFALLE SEKTOR NULL ...
Die Hauptpersonen des Romans
Bostich – Der Vorsitzende des Galaktikums sorgt sich um die Zukunft.
Wahna Porant – Der Ortungsoffizier unterbreitet einen gefährlichen Vorschlag.
Lagon Claudrin – Der Admiral der Heimatflotte Sol steht ohne das zu beschützende Sonnensystem da.
Ferenc Jigözy – Der Botschafter der LFT beim Galaktikum versucht, politischen Fallstricken auszuweichen.
Tristan Kasom – Der Kommandant der JULES VERNE wird zum Einsatz gerufen.
Monkey – Der Oxtorner spricht für die »United Stars Organization«.
1.
Zunächst war es nur wie ein kurzes Flackern in der Anzeige des Hyperorters, ein für das menschliche Auge kaum wahrnehmbarer Blitz. Cheforter Wahna Porant hielt es im ersten Augenblick für einen Reflex auf seiner Netzhaut, aber dann folgte ein zweiter Ausschlag.
»Sibana, Katarr!« Porant fixierte die Abbilder der beiden Spezialisten auf seinem Holoschirm. »Ich brauche eine komplette Analyse des Vorganges.«
»Aye, aye!« Sie grinsten ihn an. Endlich Arbeit.
Der dritte Ausschlag im Sektor Null folgte ein paar Minuten später.
Etwas war da, und es war neu. Porant zweifelte keinen Augenblick daran, dass es mit dem Verschwinden des Solsystems zu tun hatte. Nachwehen oder – ein momentan revolutionärer Gedanke – Anzeichen einer Rückkehr.
»Du wolltest informiert werden, wenn es 18.31 Uhr ist«, meldete die Steuerpositronik der GEMINI. »Das ist soeben der Fall.«
Er glaubte nicht so recht an einen Zufall, denn das war exakt die Uhrzeit, an der am 5. September das Solsystem verschwunden war. Zuerst hatten sich weit draußen im All Raumverzerrungen gebildet, waren zum Sonnensystem gedriftet und hatten sich zu einer violett pulsierenden Energieblase von knapp einem Lichtjahr Durchmesser entwickelt. Dann hatte das Gebilde immer schneller pulsiert und sich in einer Art Implosion mitsamt seinem Inhalt aufgelöst.
Zunächst hatte Wahna Porant sich geweigert, die Aufzeichnungen anzusehen. Das Ereignis hatte ihn mitgenommen, ihn zutiefst aufgewühlt. Es hatte alle längst verschüttet geglaubten Empfindungen wieder an die Oberfläche geholt, die ein Mensch von einer der ehemaligen Kolonistenwelten in sich trug.
Terra war nicht irgendeine Welt, das Solsystem nicht irgendeine Sternengegend in irgendeiner Galaxis. Sol und Terra waren die Wurzel. Radix Hominis, wie es in NATHANS Datenbänken stand, die Wurzel des Menschen.
Inzwischen hatte Wahna Porant die seelische Hemmung überwunden. Er kannte die Aufzeichnungen längst auswendig. Ein halbes Dutzend Mal hatte er sie in extremer Zeitlupe angeschaut, um kein Detail zu übersehen. Das Solsystem und seine unmittelbare Umgebung waren spurlos verschwunden. An seiner Stelle klaffte ein Loch im Normalraum, das sich nach und nach wieder mit Raumzeit füllte.
Alles weg, die Urheimat der Menschen, das Zentrum der LFT, um das alle Gedanken kreisten ... Jedes Mal, wenn er das Bild vor Augen sah, tat es in der Seele weh.
Porant hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis sich der Sektor an seine Umgebung angeglichen haben würde. Wie war das damals mit Hangay gewesen, als die benachbarte Galaxis aus einem anderen Universum gekommen war? Damals hatte eine »Materiewippe« Massen ausgetauscht, aber so etwas war im Falle des Solsystems nicht geschehen. Was er da beobachtete, war ein historisches Ereignis, auf das er aber liebend gern verzichtet hätte.
Mit herkömmlichen Hyperortern ließ sich nichts erkennen. Irgendwie kam es Porant gespenstisch vor. Das wiederum war ein Grund, hinzufliegen und nachzusehen. Diese verflixte sprichwörtliche terranische Neugier ...
Er ließ seinen Blick über das weite Oval der Kommandozentrale schweifen. An den Wänden links und rechts waren die wissenschaftlichen Sektionen sowie Reserve-Waffenleitstände und Hangarlogistik untergebracht. An der hinteren Wand ragte COMMAND auf, die Empore mit den Abteilungsleitern, Piloten und auf einem leicht erhöhten Podest in der Mitte dem Kommandantensessel. Direkt unterhalb von COMMAND arbeiteten die Ortungsspezialisten und Kanoniere.
In der Mitte zwischen allen Stationen hing überlebensgroß die zehn Meter durchmessende Holokugel, gewissermaßen das Fenster zum Sektor Null.
Wahna Porant schwenkte den Sessel herum und wandte sich an van Doberen.
»Kommandantin«, sagte er, »ich melde einen Erkundungsflug an. Auftrag: Nahbereichsvermessung zwecks Spurensuche.«
Er wollte nach Relikten Ausschau halten, nach Mikrotrümmern von Raumstationen oder Schiffen, nach kleinen Gegenständen des täglichen Lebens, etwas eben, das ihm Hinweise über das lieferte, was geschehen war.
»Abgelehnt!«, erklang die knappe, fast barsche Antwort Karliena van Doberens. »Es ist Gefahr im Verzug.«
Die Zahl der Ausschläge nahm zu, in einer halben Stunde zehn. Die beiden Leutnants an den Orterkonsolen hatten ihre Analyse längst beendet – ohne verwertbares Ergebnis. Die gemessenen Impulse lagen in einem kurzwelligen Bereich jenseits des UHF-Bandes, der von den Sensoren terranischer Schiffe nur zu einem minimalen Teil wahrgenommen werden konnte. Es war festzustellen, dass sie da waren, aber mehr nicht.
»Gut, dann später«, sagte Porant.
Gefahr im Verzug! Er spürte genau, wann Gefahr im Verzug war. Im Augenblick spürte er nichts. Die Ausschläge wurden allerdings bis zum Abend hin zahlreicher und länger, während erste Asteroiden der Oortschen Wolke die unsichtbare Grenze erreichten, an der sich vor zwei Wochen die violette Energieblase gebildet hatte.
Wahna Porant wusste, dass Trupps von der SAGITTARIUS X und der AQUILA XI automatische Messstationen auf den Felsbrocken verankert hatten. Über Standleitungen funkten die Aggregate ununterbrochen im Normal- und Hyperbereich und übertrugen die Daten an die LEO VIII.
Porant ließ die Asteroiden nicht aus den Augen. Nach einer halben Stunde richtete er sich in seinem Sessel steil auf.
»Hab ich's nicht gesagt, Leute?«
Das entstandene Nichts hatte sich längst reguliert. Freie Durchfahrt für freie Forscher und Asteroiden!
»Du hast es nicht gesagt«, erwiderte van Doberen und warf ihm unter ihrem ölschwarz schimmernden, wie mit einem Laserstrahl gezogenen Pony einen strengen Blick zu.
Eine Stunde später explodierte der erste Asteroid, kurz darauf der zweite.
»CORONA an EXPLORER EX-1003!«, meldete sich eine sonore Stimme. »Jede Annäherung an Sektor Null bleibt untersagt.«
Die CORONA – das Flaggschiff der Heimatflotte Sol. Ihren Anweisungen mussten sie in jedem Fall Folge leisten.
Wahna Porant kannte die Stimme nicht, die gesprochen hatte. »Wer war das?«
»Admiral Lagon Claudrin«, antwortete Katarr.
Der Ortungschef schluckte. Der Oberbefehlshaber persönlich also. Porant strich unauffällig die Segel.
Wenigstens vorerst.
*
Wie Mücken um eine Lampe schwirrten die Schiffe um den Sektor Null. Angesichts der Ungewissheit fühlten sich die Besatzungen hilflos. War das Solsystem verschwunden oder hatte es im Augenblick der Implosion aufgehört zu existieren? War es gar in eine andere Existenzform transformiert worden?
Beim letzten Gedanken bekam Wahna Porant Gänsehaut, eine Seltenheit bei der ledrigen Haut des Rumalers. Von Rumalern sagte der Volksmund, dass sie wie terranische Elefanten eine dicke Haut, aber ein sensibles Gemüt besäßen. Das stimmte zumindest bei Wahna Porant; er ertrug es nicht, sich die Auslöschung des Solsystems und seiner Milliarden Bewohner vorstellen zu müssen.
Eines nahm er immerhin mittlerweile mit Gewissheit an: Die Uhrzeit 18.31 Uhr war kein spezifischer Moment gewesen, zu dem das Solsystem womöglich automatisch zurückkehrte, so, wie es verschwunden war.
Van Doberen bezeichnete seine Überlegungen diesbezüglich als Hirngespinst. Aber Porant wollte auch nicht bis zu seiner Pensionierung tatenlos zusehen. Überhaupt, wieso bezeichneten sie das Solsystem beim Flottenoberkommando als Sektor Null? Es waren die Koordinaten des Solsystems, also konnte man es doch auch Sektor Sol nennen. Das Heimatsystem! Irgendwo dort drinnen gab es möglicherweise eine Art Übergang, durch den man der Spur folgen konnte.
Na ja, eventuell ...
Porant war Hyperphysiker genug, um sich nicht von schnellen Theorien oder bloßen Ideen leiten zu lassen. Seine Triebkraft nahm er aus einem ganz anderen Reservoir. Er verband es mit Begriffen wie Herz, Emotion, Gefühl.
Das schwarze Loch dort drüben war die Heimat, ihrer aller Heimat, egal, von welcher Menschenwelt sie stammten. Ihre Vorfahren waren einst alle von dort gekommen – mit glühenden Wangen, keuchendem Atem, schweißnasser Stirn. Fast ohne Ausnahme hatten sie sich ihre neue Welt erkämpfen müssen, über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Ohne die Unterstützung aus der Heimat hätten es viele nicht geschafft.
Die meisten Siedlerwelten erinnerten sich noch immer daran. Es stand in der Präambel so mancher Verfassung, damit nachfolgende Generationen es nie vergessen würden. Terra war ihre Urheimat. Wenn Terra in Not geriet, würden die Menschen aufbrechen und zu Hilfe eilen.
Dieses Mal funktionierte das nicht. Der hohe Hyperwiderstand und die Beben innerhalb des Hyperraums verhinderten einen schnellen und gefahrlosen Flug innerhalb des 5000 Lichtjahre durchmessenden Kerngebiets der LFT.
Wahna Porant erreichte den Zugang zur Kommandozentrale. Die Positronik empfing ihn mit einem Gruß und öffnete das Sicherheitsschott.
»Die Einheiten der Heimatflotte ziehen sich auf Positionen weiter draußen zurück«, informierte ihn die freundliche Automatenstimme.
Der Rumaler ging schneller. Er hastete auf COMMAND zu und die fünf Stufen hinauf. Der Holoschirm seiner Konsole schaltete sich selbsttätig ein und zeigte ihm Sektor Null stark verkleinert.
Während er sich in den Sessel fallen ließ, sog er wie ein Schwamm die Orteranzeigen in sich auf. Hunderte von Ausschlägen auf engstem Raum, die sich zu hyperenergetischen Ballungen zusammenfanden, ließen nichts Gutes ahnen. Nun verstand er, warum sich die Schiffe zurückzogen.
Porant vergaß die Welt um sich herum. Er versank in Skalen und Daten, studierte die Häufigkeit der Ereignisse aus den letzten Stunden, in denen er geschlafen hatte. Er rief Werte auf, verglich sie mit denen vom Morgen, stellte Veränderungen fest.
Die Ausschläge des Hyperorters berichteten ihm von Ereignissen, die permanent zahlreicher und stärker wurden. Nach einer Weile entdeckte er einen Rhythmus darin, eine Art Hyperoszillation, deren Tempo sich änderte. Er wurde schneller und schneller, während die Echos sich weiter aufblähten.
Wahna Porant suchte nach optischen Begleiterscheinungen, einem violetten oder orangeroten Flackern etwa. Er fand nichts, was auf eine Umkehr des Vorgangs und somit auf eine Rückkehr des Solsystems hingewiesen hätte.
»Was entsteht da?«
Er schloss die Augen, betrachtete das Gesehene in Gedanken. Das Gehirn als multifunktionale Maschine hatte er noch nie unterschätzt. Es wies ihm den richtigen Weg. Eine, höchstens zwei Minuten saß er so da, abgekapselt von der Umgebung. Dann wusste er, woran ihn der Rhythmus erinnerte.
Mit fliegenden Fingern holte er die Daten auf den Holoschirm, spielte sie im Zeitraffer ab, schaute sich wieder die Orterskalen an – die Männer und Frauen an den benachbarten Konsolen blickten erschrocken auf, als er seinen Sessel herumschwenkte und zu Karliena van Doberen hinaufsah.
»Es ist der verdammte Hypersturm«, sagte er. »Er greift nach Sektor Null.«
In der Holokugel, die mitten in der Zentrale zehn Meter hoch aufragte, tauchten die beiden Orterabbilder nebeneinander auf. Seit dem Hyperimpedanz-Schock vor fast hundertvierzig Jahren suchte der Hypersturm das Zentrum des LFT-Kerngebiets heim. Mit einem Durchmesser von zweitausend Lichtjahren erschwerte er mit seinen spontanen Ausbrüchen und zahllosen Öffnungen ins hyperdimensionale Nichts die Raumfahrt, machte sie teilweise sogar unmöglich. Tryortan-Schlünde nannte die Wissenschaft diese Öffnungen, die jede Materie fraßen. Man wusste allerdings nicht genau, ob sie entstofflicht und transitiert wurde oder sich einfach auflöste.
Mit Mittelwerten von 50 Meg hatte sich der Hypersturm dauerhaft festgesetzt, in Spitzen entwickelte er anfangs 100 bis 150 Meg. Seit Anfang 1466 NGZ allerdings erreichte er 200 Meg und mehr auf der nach oben offenen Meganon-Skala.
Schlimmer noch: Das 20 Lichtjahre durchmessende Epizentrum lag beim Antares-Riff, gerade mal 172 Lichtjahre vom Solsystem entfernt.
Das Ding im Sektor Null pendelte sich bei den hyperenergetisch messbaren Minieruptionen auf denselben Rhythmus ein wie das Epizentrum beim Riff.
Porant schwenkte den Sessel zurück und starrte wieder auf seinen Schirm. Die ungewohnte Stille in der Zentrale kam ihm seltsam vor. Als er den Kopf hob und sich umsah, schauten alle auf COMMAND in seine Richtung.
»Okay«, meinte er, »ihr habt ein Recht darauf zu erfahren, wie ich den Gedanken zu Ende gebracht habe. Im Sektor Null bildet sich ein zweites Epizentrum. Je nachdem, wie groß es wird, besteht die Gefahr, dass sich die beiden hyperenergetischen Bebenquellen zu einer einzigen großen vereinigen, zu einem Hyperorkan von galaktischen Dimensionen.«
Er brauchte ihnen nicht zu sagen, was es bedeutete. Die Auswirkungen eines solchen Orkans würden sich nicht mehr über bloß zweitausend Lichtjahre erstrecken, sondern sich potenzieren und ein paar Zehntausend Lichtjahre umfassen. Ein bedeutender Teil des Orionarms der Milchstraße als Gefahrenzone mit unberechenbaren und nicht vorhersagbaren Katastrophen könnte schnell zur Zerstörung ganzer Sternenreiche führen.
»Wir brauchen Messwerte«, fügte er hinzu. »Extrem genaue Messwerte.«
»Eine Diskussion darüber vertagen wir besser«, erhielt er von der Kommandantin zur Antwort. »Es ist noch zu früh.«
Sie behielt recht. Sektor Null entwickelte sich zu einem Hexenkessel, zur Hölle der Westside.
Tage später kapitulierte Wahna Porant angesichts der nicht mehr möglichen Auswertung der Vorgänge. Die Ortungswerte ließen sich kaum noch auseinanderhalten, geschweige denn richtig zuordnen.
Die Schiffe der Heimatflotte zogen sich bis auf eine Distanz von zehn Lichtjahren vom Sektor Null zurück. Nur ein paar Messstationen schwebten noch in der Nähe der tödlichen Zone. Andere auf den Asteroiden der Oortschen Wolke befanden sich auf Kollisionskurs mit dem Hypersturm. Hin und wieder geriet einer der Felsen in die Nähe eines Tryortan-Schlundes und wurde von ihm eingesaugt.
Nichts Neues also. Porant stampfte die Messergebnisse umgehend in die Historien-Tonne der Schiffspositronik. Abgehakt.
Eines ging ihm jedoch nicht aus dem Sinn: Wenn sich der Hypersturm in Sektor Null festsetzte, führte das bei einer plötzlichen Rückkehr des Solsystems zur Vernichtung der Sonne und ihrer Planeten. Materialisationseffekte, hyperenergetische Reizung – die Wissenschaft umschrieb die bösen Überraschungen mit fast sterilen Worten.
Der Rumaler zermarterte sich das Gehirn, wie sie dieser Katastrophe vorbeugen konnten. Den Hypersturm beseitigen – ein sinnloses Unterfangen. Das schafften sie nicht mit aller Milchstraßentechnik. Er überlegte, wer helfen konnte. ES? TALIN? Kosmokratendiener wie die Metaläufer von Evolux?
Oder konnten die Menschen selber die Rückkehr des Solsystems in einer solchen Situation verhindern?
Nein. Völlig ausgeschlossen. Rückkehr unmöglich. Der Raumsektor um Sol zählte ab sofort zu den unbewohnbaren und unbefahrbaren Regionen der galaktischen Westside.
Wie auch immer, Wahna Porant spürte Furcht in sich, Furcht vor der Wahrheit.
*
Sibana und Katarr meinten seit Tagen, sein aschblondes Haar sei aschgrau geworden. Aber sooft sich Porant auch im Spiegel betrachtete – er konnte keine Veränderung feststellen. Auf den Arm nehmen wollten sie ihn ganz bestimmt nicht, also redeten sie es sich ein.
Der Rumaler ließ es auf sich beruhen, weil die Besatzungen in allen Schiffen der Heimatflotte unter starker nervlicher und psychischer Belastung standen. Es gab Fälle von leichter Paranoia, nicht in der GEMINI, aber in anderen EXPLORERN der 1500-Meter-NEPTUN-Klasse.
Der Bordkalender zeigte inzwischen den 9. Oktober 1469 NGZ. Seit dem Verschwinden des Solsystems war über ein Monat vergangen. Das zweite Epizentrum des Hypersturms stabilisierte sich. Täglich entstanden Dutzende Tryortan-Schlünde in einem Gebiet von zwei, drei Lichtjahren Durchmesser um Sektor Null.
Das Navigieren in diesem Bereich war unmöglich. Schiffe, die sich hineinwagten oder aus Versehen in diesem Gebiet materialisierten, hatten keine Chance, unbeschadet herauszukommen. Jeden Augenblick konnte an jedem Ort einer dieser Schlünde entstehen und alles zerquetschen.
Wahna Porant ertrug die Ungewissheit äußerlich mit stoischer Ruhe. Innerlich kochte er wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Die Ausschläge der Ortungsanzeigen registrierte er, aber er blockte die Informationen ab, die ihn nur unnötig anstachelten. Wieder vier zerstörte Asteroiden, acht zerfetzte Raumtorpedos und eine platt gequetschte Robot-Space-Jet, die der Kommandant der BURNORRAL in die Todeszone geschickt hatte.
»Die Anzahl der Ereignisse im Sektor Null ist in dieser Stunde um sechs gesunken«, teilte Sibana ihm mit.
Er starrte ihr Holoabbild an, ohne die Information richtig aufzunehmen.
»Wahna?«
Porant zuckte zusammen. »Was ...?«
»Hast du mich verstanden?«
Er spielte sich die Aufzeichnung vor. »Jetzt ja. Wir beobachten das. Vielleicht ...«
Er ließ den Satz offen und fragte sich Augenblicke später, was er eigentlich hatte sagen wollen.
Vom Oberkommando traf die Meldung ein, dass soeben 5000 Schiffe der Mobilen Einsatzflotte abgestellt wurden, um Sektor Null zu bewachen.
Wahna Porant pfiff durch die Zähne. »Dieser Claudrin muss Hellseher sein. Kaliena, es darf nicht bei dieser einen Entscheidung bleiben. Die nächste muss uns gelten.«
Er fixierte die Darstellung auf dem Holoschirm, die den Raumsektor im Umkreis von 500 Lichtjahren zeigte. Im Zentrum der Darstellung lag das Epizentrum Antares-Riff, ein Stück daneben das Epizentrum Sektor Null. In der dreidimensionalen Wiedergabe erinnerte es an die zwei Brennpunkte einer Ellipse. Wenn er mit dem 3-D-Pointer den Raumsektor mit den meisten Beben und Schlünden der letzten zehn Jahre umriss, entstand tatsächlich eine Ellipse oder zumindest ein annähernd eiförmiger Körper.
»Du kennst das doch, Wahna«, lautete die leicht belustigte Antwort der Kommandantin. »Mit solchen Entscheidungen lassen sich die Strategen gern Zeit bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.«
Er wollte nicht so lange warten. Spuren hyperenergetischer Vorgänge folgten denselben Gesetzen der Vergänglichkeit wie Spuren eines Verbrechens. Irgendwann verblassten sie und konnten nicht wiederhergestellt werden. Der Hypersturm sorgte zusätzlich für eine »Verschmutzung« des Tatorts, an dem sie die ursprünglichen »Fingerabdrücke« des Solsystems nur schwer würden rekonstruieren können.