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Johanna Spyri

Heidi

Heidis Lehr- und Wanderjahre & Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

Johanna Spyri

Heidi

Heidis Lehr- und Wanderjahre & Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Illustrationen: Maria L. Kirk
3. Auflage, ISBN 978-3-954180-21-9

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Inhaltsverzeichnis

Au­to­rin und Werk

Hei­dis Lehr- und Wan­der­jah­re

Hei­di kann brau­chen, was es ge­lernt hat

Hei­dis Lehr- und Wan­der­jah­re

1. Zum Alm-Öhi hin­auf

2. Beim Groß­va­ter

3. Auf der Wei­de

4. Bei der Groß­mut­ter

5. Es kommt ein Be­such und dann noch ei­ner, der mehr Fol­gen hat

6. Ein neu­es Ka­pi­tel und lau­ter neue Din­ge

7. Fräu­lein Rot­ten­mei­er hat einen un­ru­hi­gen Tag

8. Im Hau­se Se­se­mann geht’s un­ru­hig zu

9. Der Haus­herr hört al­ler­lei in sei­nem Hau­se, das er noch nicht ge­hört hat

10. Eine Groß­ma­ma

11. Hei­di nimmt auf ei­ner Sei­te zu und auf der an­de­ren ab

12. Im Hau­se Se­se­mann spuk­t’s

13. Am Som­mer­abend die Alm hin­an

14. Am Sonn­tag, wenn’s läu­tet

Hei­di kann brau­chen, was es ge­lernt hat

1. Rei­se­zu­rüs­tun­gen

2. Ein Gast auf der Alm

3. Eine Ver­gel­tung

4. Der Win­ter im Dör­f­li

5. Der Win­ter dau­ert fort

6. Die fer­nen Freun­de re­gen sich

7. Wie es auf der Alp wei­ter­geht

8. Es ge­schieht, was kei­ner er­war­tet hat

9. Es wird Ab­schied ge­nom­men, aber auf Wie­der­se­hen

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Autorin und Werk

Die bei­den Kin­der­bü­cher Hei­dis Lehr- und Wan­der­jah­re und Hei­di kann brau­chen, was es ge­lernt hat der Schwei­zer Au­to­rin Jo­han­na Spy­ri (1827–1901) aus den Jah­ren 1880 und 1881 ge­hö­ren zu den be­kann­tes­ten Kin­der­bü­chern der Welt. Mit ih­ren Hei­di-Bü­chern schuf Jo­han­na Spy­ri ein noch heu­te weit ver­brei­te­tes ro­man­ti­sches und ide­al­ty­pi­sches Bild der Schweiz.

Heidis Lehr- und Wanderjahre

In dem im Jah­re 1880 im Ver­lag von Fried­rich An­dre­as Pert­hes, Go­tha, er­schie­ne­nen ers­ten Hei­di-Ro­man wird er­zählt, wie das Wai­sen­mäd­chen Hei­di zu sei­nem ein­sied­le­ri­schen Groß­va­ter auf eine Alp ober­halb von Mai­en­feld (Kan­ton Grau­bün­den) ge­bracht wird, wo es in Zu­kunft le­ben soll. Ihre Tan­te Dete hat­te bis­her die Auf­sicht, nach­dem ihre Mut­ter ge­stor­ben war. Sie bringt sie zum Al­pöhi, der zu­nächst we­nig be­geis­tert ist, sich aber dann an Hei­di ge­wöhnt und ihr das Le­ben an­ge­nehm macht. Hei­di lernt den Gei­ßen­pe­ter ken­nen, einen Zie­gen­hir­ten in ih­rem Al­ter, mit dem sie re­gel­mäs­sig hoch auf die Al­pen wan­dert, wo die Zie­gen aus dem Dorf wei­den. Eine be­son­de­re Freu­de be­rei­tet ihr das Rau­schen der Tan­nen hin­ter der Hüt­te ih­res Groß­va­ters.

Ei­nes Ta­ges er­scheint je­doch Hei­dis Tan­te Dete und nimmt Hei­di mit nach Frank­furt, wo sie die Ge­sell­schaf­te­rin der ge­lähm­ten Kla­ra Se­se­mann wer­den soll. Kla­ra ak­zep­tiert Hei­di als ihre neue Freun­din. Nur die Haus­da­me, Fräu­lein Rot­ten­mei­er, ist nicht be­geis­tert. Vor al­lem ist sie ent­setzt, als sie er­fährt, dass Hei­di nicht le­sen kann. Klar­as Groß­mut­ter schafft es, Hei­di da­von zu über­zeu­gen, le­sen zu ler­nen.

Hei­di fühlt sich je­doch im­mer schlech­ter im Hau­se Se­se­mann, sie sehnt sich nach den Ber­gen. Vor Ein­sam­keit be­ginnt sie, im Schlaf zu wan­deln. Herr Se­se­mann und sein Arzt be­schlies­sen, Hei­di zu­rück in die Ber­ge zu schi­cken. Hei­di wird in den Zug nach Hau­se ge­setzt.

Heidi kann brauchen, was es gelernt hat

Hei­di ist zu­rück­ge­kehrt zum Al­pöhi. Der ist dar­über so froh, dass er nach Jahr­zehn­ten zum ers­ten Mal wie­der die Kir­che im Dör­f­li auf­sucht, wor­über die Dorf­be­woh­ner er­staunt, aber er­freut sind. Er setzt sein Haus im Dör­f­li wie­der in­stand, da­mit Hei­di den Win­ter dort ver­brin­gen und die Schu­le be­su­chen kann. Hei­di über­zeugt den Gei­ßen­pe­ter, le­sen zu ler­nen.

Im fol­gen­den Jahr hofft Hei­di, dass Kla­ra sie end­lich be­su­chen kann. Aber erst kommt nur der Herr Dok­tor, um die Lage zu klä­ren. Es ge­fällt ihm so gut, dass Kla­ra tat­säch­lich im dar­auf­fol­gen­den Som­mer nach ei­nem Ku­r­auf­ent­halt in Bad Ra­gaz in die Hüt­te des Al­pöhi darf. Ein Die­ner trägt sie auf ei­nem Stuhl auf den Berg hin­auf.

Kla­ra wird auf dem Heu­bo­den ein­quar­tiert, auf dem Hei­di so vie­le Jah­re ge­schla­fen hat. We­nig be­geis­tert ist Pe­ter, der ei­fer­süch­tig ist, weil Kla­ra nun Hei­dis Auf­merk­sam­keit be­an­sprucht. Das führt dazu, dass er ei­nes Ta­ges Klar­as Roll­stuhl in die Tie­fe rol­len lässt, so­dass er zer­stört wird.

Ei­nes Ta­ges will Hei­di Kla­ra mit auf die Alp neh­men; der Al­pöhi trägt sie hin­auf. Auf der Alp lernt Kla­ra wie­der das Ge­hen. Eine große Über­ra­schung gibt es, als Va­ter und Groß­mut­ter Se­se­mann zu Be­such kom­men: Kla­ra kommt ih­nen auf ei­ge­nen Bei­nen ent­ge­gen. Herr Se­se­mann ver­spricht dem Al­pöhi, zu­sam­men mit dem Dok­tor für Hei­di zu sor­gen, wenn er das nicht mehr kann.

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Heidis Lehr- und Wanderjahre

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1. Zum Alm-Öhi hinauf

Vom freund­li­chen Dor­fe Mai­en­feld führt ein Fuß­weg durch grü­ne, baum­rei­che Flu­ren bis zum Fuße der Hö­hen, die von die­ser Sei­te groß und ernst auf das Tal her­nie­der­schau­en. Wo der Fuß­weg an­fängt, be­ginnt bald Hei­de­land mit dem kur­z­en Gras und den kräf­ti­gen Berg­kräu­tern dem Kom­men­den ent­ge­gen­zu­duf­ten, denn der Fuß­weg geht steil und di­rekt zu den Al­pen hin­auf.

Auf die­sem schma­len Berg­pfa­de stieg am hel­len, son­ni­gen Ju­ni­mor­gen ein großes, kräf­tig aus­se­hen­des Mäd­chen die­ses Ber­g­lan­des hin­an, ein Kind an der Hand füh­rend, des­sen Wan­gen so glü­hend wa­ren, dass sie selbst die sonn­ver­brann­te, völ­lig brau­ne Haut des Kin­des flam­mend rot durch­leuch­te­ten. Es war auch kein Wun­der: Das Kind war trotz der hei­ßen Ju­ni­son­ne so ver­packt, als hät­te es sich ei­nes bit­te­ren Fros­tes zu er­weh­ren. Das klei­ne Mäd­chen moch­te kaum fünf Jah­re zäh­len; was aber sei­ne na­tür­li­che Ge­stalt war, konn­te man nicht er­se­hen, denn es hat­te sicht­lich zwei, wenn nicht drei Klei­der über­ein­an­der an­ge­zo­gen und drü­ber­hin ein großes, ro­tes Baum­woll­tuch um und um ge­bun­den, so­dass die klei­ne Per­son eine völ­lig form­lo­se Fi­gur dar­stell­te, die, in zwei schwe­re, mit Nä­geln be­schla­ge­ne Berg­schu­he ge­steckt, sich heiß und müh­sam den Berg hin­au­f­ar­bei­te­te. Eine Stun­de vom Tal auf­wärts moch­ten die bei­den ge­stie­gen sein, als sie zu dem Wei­ler ka­men, der auf hal­ber Höhe der Alm liegt und ›im Dör­f­li‹ heißt. Hier wur­den die Wan­dern­den fast von je­dem Hau­se aus an­ge­ru­fen, ein­mal vom Fens­ter, ein­mal von ei­ner Haus­tür und ein­mal vom Wege her, denn das Mäd­chen war in sei­nem Hei­mat­ort an­ge­langt. Es mach­te aber nir­gends Halt, son­dern er­wi­der­te alle zu­ge­ru­fe­nen Grü­ße und Fra­gen im Vor­bei­ge­hen, ohne still zu ste­hen, bis es am Ende des Wei­lers bei dem letz­ten der zer­streu­ten Häu­schen an­ge­langt war. Hier rief es aus ei­ner Tür: »Wart einen Au­gen­blick, Dete, ich kom­me mit, wenn du wei­ter hin­auf­gehst.«

Die An­ge­re­de­te stand still; so­fort mach­te sich das Kind von ih­rer Hand los und setz­te sich auf den Bo­den.

»Bist du müde, Hei­di?«, frag­te die Beglei­te­rin.

»Nein, es ist mir heiß«, ent­geg­ne­te das Kind.

»Wir sind jetzt gleich oben, du musst dich nur noch ein we­nig an­stren­gen und große Schrit­te neh­men, dann sind wir in ei­ner Stun­de oben«, er­mun­ter­te die Ge­fähr­tin.

Jetzt trat eine brei­te gut­mü­tig aus­se­hen­de Frau aus der Tür und ge­sell­te sich zu den bei­den. Das Kind war auf­ge­stan­den und wan­der­te nun hin­ter den zwei al­ten Be­kann­ten her, die so­fort in ein leb­haf­tes Ge­spräch ge­rie­ten über al­ler­lei Be­woh­ner des ›Dör­f­li‹ und vie­ler um­her­lie­gen­der Be­hau­sun­gen.

»Aber wo­hin willst du ei­gent­lich mit dem Kin­de, Dete?«, frag­te jetzt die neu Hin­zu­ge­kom­me­ne. »Es wird wohl dei­ner Schwes­ter Kind sein, das hin­ter­las­se­ne.«

»Das ist es«, er­wi­der­te Dete, »ich will mit ihm hin­auf zum Öhi, es muss dort blei­ben.«

»Was, beim Alm-Öhi soll das Kind blei­ben? Du bist, denk ich, nicht recht bei Ver­stand, Dete! Wie kannst du so et­was tun! Der Alte wird dich aber schon heim­schi­cken mit dei­nem Vor­ha­ben!«

»Das kann er nicht, er ist der Groß­va­ter, er muss et­was tun, ich habe das Kind bis jetzt ge­habt, und das kann ich dir schon sa­gen, Bar­bel, dass ich einen Platz, wie ich ihn jetzt ha­ben kann, nicht da­hin­ten las­se um des Kin­des wil­len; jetzt soll der Groß­va­ter das Sei­ni­ge tun.«

»Ja, wenn der wäre wie an­de­re Leu­te, dann schon«, be­stä­tig­te die klei­ne Bar­bel eif­rig; »aber du kennst ja den. Was wird der mit ei­nem Kin­de an­fan­gen und dann noch ei­nem so klei­nen! Das häl­t’s nicht aus bei ihm! Aber wo willst du denn hin?«

»Nach Frank­furt«, er­klär­te Dete, »da be­komm ich einen ex­tra­gu­ten Dienst. Die Herr­schaft war schon im vo­ri­gen Som­mer un­ten im Bad, ich habe ihre Zim­mer auf mei­nem Gang ge­habt und sie be­sorgt, und schon da­mals woll­ten sie mich mit­neh­men, aber ich konn­te nicht fort­kom­men, und jetzt sind sie wie­der da und wol­len mich mit­neh­men, und ich will auch ge­hen, da kannst du si­cher sein.«

»Ich möch­te nicht das Kind sein!«, rief die Bar­bel mit ab­weh­ren­der Ge­bär­de aus. »Es weiß ja kein Mensch, was mit dem Al­ten da oben ist! Mit kei­nem Men­schen will er et­was zu tun ha­ben, jahraus, jahrein setzt er kei­nen Fuß in eine Kir­che, und wenn er mit sei­nem di­cken Stock im Jahr ein­mal her­un­ter­kommt, so weicht ihm al­les aus und muss sich vor ihm fürch­ten. Mit sei­nen di­cken grau­en Au­gen­brau­en und dem furcht­ba­ren Bart sieht er auch aus wie ein al­ter Hei­de und In­dia­ner, dass man froh ist, wenn man ihm nicht al­lein be­geg­net.«

»Und wenn auch«, sag­te Dete trot­zig, »er ist der Groß­va­ter und muss für das Kind sor­gen, er wird ihm wohl nichts tun, sonst hat er’s zu ver­ant­wor­ten, nicht ich.«

»Ich möch­te nur wis­sen«, sag­te die Bar­bel for­schend, »was der Alte auf dem Ge­wis­sen hat, dass er sol­che Au­gen macht und so mut­ter­see­len­al­lein da dro­ben auf der Alm bleibt und sich fast nie bli­cken lässt. Man sagt al­ler­hand von ihm; du weißt doch ge­wiss auch et­was da­von, von dei­ner Schwes­ter, nicht, Dete?«

»Frei­lich, aber ich rede nicht; wenn er’s hör­te, so käme ich schön an!«

Aber die Bar­bel hät­te schon lan­ge gern ge­wusst, wie es sich mit dem Alm-Öhi ver­hal­te, dass er so men­schen­feind­lich aus­se­he und da oben ganz al­lein woh­ne und die Leu­te im­mer so mit hal­b­en Wor­ten von ihm re­de­ten, als fürch­te­ten sie sich, ge­gen ihn zu sein, und woll­ten doch nicht für ihn sein. Auch wuss­te die Bar­bel gar nicht, warum der Alte von al­len Leu­ten im Dör­f­li der Alm-Öhi ge­nannt wur­de, er konn­te doch nicht der wirk­li­che Oheim1 von den sämt­li­chen Be­woh­nern sein; da aber alle ihn so nann­ten, tat sie es auch und nann­te den Al­ten nie an­ders als Öhi, was die Auss­pra­che der Ge­gend für Oheim ist. Die Bar­bel hat­te sich erst vor kur­z­er Zeit nach dem Dör­f­li hin­auf ver­hei­ra­tet, vor­her hat­te sie un­ten im Prät­ti­gau ge­wohnt, und so war sie noch nicht so ganz be­kannt mit al­len Er­leb­nis­sen und be­son­de­ren Per­sön­lich­kei­ten al­ler Zei­ten vom Dör­f­li und der Um­ge­gend. Die Dete, ihre gute Be­kann­te, war da­ge­gen vom Dör­f­li ge­bür­tig und hat­te da ge­lebt mit ih­rer Mut­ter bis vor ei­nem Jahr; da war die­se ge­stor­ben, und die Dete war nach dem Bade Ra­gaz hin­über­ge­zo­gen, wo sie im großen Ho­tel als Zim­mer­mäd­chen einen gu­ten Ver­dienst fand. Sie war auch an die­sem Mor­gen mit dem Kin­de von Ra­gaz her­ge­kom­men; bis Mai­en­feld hat­te sie auf ei­nem Heu­wa­gen fah­ren kön­nen, auf dem ein Be­kann­ter von ihr heim­fuhr und sie und das Kind mit­nahm. – Die Bar­bel woll­te also dies­mal die gute Ge­le­gen­heit, et­was zu ver­neh­men, nicht un­be­nutzt vor­bei­ge­hen las­sen; sie fass­te ver­trau­lich die Dete am Arm und sag­te: »Von dir kann man doch ver­neh­men, was wahr ist und was die Leu­te dar­über hin­aus sa­gen; du weißt, denk ich, die gan­ze Ge­schich­te. Sag mir jetzt ein we­nig, was mit dem Al­ten ist und ob der im­mer so ge­fürch­tet und ein sol­cher Men­schen­has­ser war.«

»Ob er im­mer so war, kann ich, denk ich, nicht prä­zis wis­sen, ich bin jetzt sechs­und­zwan­zig und er si­cher sieb­zig Jahr alt; so hab ich ihn nicht ge­se­hen, wie er jung war, das wirst du nicht er­war­ten. Wenn ich aber wüss­te, dass es nach­her nicht im gan­zen Prät­ti­gau her­um­käme, so könn­te ich dir schon al­ler­hand er­zäh­len von ihm; mei­ne Mut­ter war aus dem Dom­leschg und er auch.«

»A bah, Dete, was meinst denn?«, gab die Bar­bel ein we­nig be­lei­digt zu­rück; »es geht nicht so streng mit dem Schwat­zen im Prät­ti­gau, und dann kann ich schon et­was für mich be­hal­ten, wenn es sein muss. Er­zähl mir’s jetzt, es muss dich nicht ge­reu­en.«

»Ja nu, so will ich, aber halt Wort!«, mahn­te die Dete. Erst sah sie sich aber um, ob das Kind nicht zu nah sei und al­les an­hö­re, was sie sa­gen woll­te; aber das Kind war gar nicht zu se­hen, es muss­te schon seit ei­ni­ger Zeit den bei­den Beglei­te­rin­nen nicht mehr ge­folgt sein, die­se hat­ten es aber im Ei­fer der Un­ter­hal­tung nicht be­merkt. Dete stand still und schau­te sich über­all um. Der Fuß­weg mach­te ei­ni­ge Krüm­mun­gen, doch konn­te man ihn fast bis zum Dör­f­li hin­un­ter über­se­hen, es war aber nie­mand dar­auf sicht­bar.

»Jetzt seh ich’s«, er­klär­te die Bar­bel; »siehst du dort?«, und sie wies mit dem Zei­ge­fin­ger weit­ab vom Berg­pfad. »Es klet­tert die Ab­hän­ge hin­auf mit dem Gei­ßen­pe­ter und sei­nen Gei­ßen. Wa­rum der heut so spät hin­auf­fährt mit sei­nen Tie­ren? Es ist aber ge­rad recht, er kann nun zu dem Kin­de se­hen, und du kannst mir umso bes­ser er­zäh­len.«

»Mit dem Nach-ihm-Se­hen muss sich der Pe­ter nicht an­stren­gen«, be­merk­te die Dete; »es ist nicht dumm für sei­ne fünf Jah­re, es tut sei­ne Au­gen auf und sieht, was vor­geht, das hab ich schon be­merkt an ihm, und es wird ihm ein­mal zu­gut kom­men, denn der Alte hat gar nichts mehr als sei­ne zwei Gei­ßen und die Alm­hüt­te.«

»Hat er denn ein­mal mehr ge­habt?«, frag­te die Bar­bel.

»Der? Ja, das denk ich, dass er ein­mal mehr ge­habt hat«, ent­geg­ne­te eif­rig die Dete; »eins der schöns­ten Bau­ern­gü­ter im Dom­leschg hat er ge­habt. Er war der äl­te­re Sohn und hat­te nur noch einen Bru­der, der war still und or­dent­lich. Aber der Äl­te­re woll­te nichts tun, als den Herrn spie­len und im Lan­de her­um­fah­ren und mit bö­sem Volk zu tun ha­ben, das nie­mand kann­te. Den gan­zen Hof hat er ver­spielt und ver­zecht, und wie es her­aus­kam, da sind sein Va­ter und sei­ne Mut­ter hin­ter­ein­an­der ge­stor­ben vor lau­ter Gram, und der Bru­der, der nun auch am Bet­tel­stab war, ist vor Ver­druss in die Welt hin­aus, es weiß kein Mensch wo­hin, und der Öhi sel­ber, als er nichts mehr hat­te als einen bö­sen Na­men, ist auch ver­schwun­den. Erst wuss­te nie­mand wo­hin, dann ver­nahm man, er sei un­ter das Mi­li­tär ge­gan­gen nach Nea­pel, und dann hör­te man nichts mehr von ihm zwölf oder fünf­zehn Jah­re lang. Dann auf ein­mal er­schi­en er wie­der im Dom­leschg mit ei­nem halb er­wach­se­nen Bu­ben und woll­te die­sen in der Ver­wandt­schaft un­ter­zu­brin­gen su­chen. Aber es schlos­sen sich alle Tü­ren vor ihm, und kei­ner woll­te mehr et­was von ihm wis­sen. Das er­bit­ter­te ihn sehr; er sag­te, ins Dom­leschg set­ze er kei­nen Fuß mehr, und dann kam er hier­her ins Dör­f­li und leb­te da mit dem Bu­ben. Die Frau muss eine Bünd­ne­rin ge­we­sen sein, die er dort un­ten ge­trof­fen und dann bald wie­der ver­lo­ren hat­te. Er muss­te noch et­was Geld ha­ben, denn er ließ den Bu­ben, den To­bi­as, ein Hand­werk er­ler­nen, Zim­mer­mann, und der war ein or­dent­li­cher Mensch und wohl­ge­lit­ten bei al­len Leu­ten im Dör­f­li. Aber dem Al­ten trau­te kei­ner, man sag­te auch, er sei von Nea­pel de­ser­tiert, es wäre ihm sonst schlimm ge­gan­gen, denn er habe einen er­schla­gen, na­tür­lich nicht im Krieg, ver­stehst du, son­dern beim Rauf­han­del. Wir an­er­kann­ten aber die Ver­wandt­schaft, da mei­ner Mut­ter Groß­mut­ter mit sei­ner Groß­mut­ter Ge­schwis­ter­kind ge­we­sen war. So nann­ten wir ihn Öhi, und da wir fast mit al­len Leu­ten im Dör­f­li wie­der ver­wandt sind vom Va­ter her, so nann­ten ihn die­se alle auch Öhi, und seit er dann auf die Alm hin­auf­ge­zo­gen war, hieß er eben nur noch der ›Alm-Öhi‹.«

»Aber wie ist es dann mit dem To­bi­as ge­gan­gen?«, frag­te ge­spannt die Bar­bel.

»Wart nur, das kommt schon, ich kann nicht al­les auf ein­mal sa­gen«, er­klär­te Dete. »Also der To­bi­as war in der Leh­re drau­ßen in Mels, und so­wie er fer­tig war, kam er heim ins Dör­f­li und nahm mei­ne Schwes­ter zur Frau, die Adel­heid, denn sie hat­ten sich schon im­mer gern ge­habt, und auch wie sie nun ver­hei­ra­tet wa­ren, konn­ten sie’s sehr gut zu­sam­men. Aber es ging nicht lan­ge. Schon zwei Jah­re nach­her, wie er an ei­nem Haus­bau mit­half, fiel ein Bal­ken auf ihn her­un­ter und schlug ihn tot. Und wie man den Mann so ent­stellt nach Hau­se brach­te, da fiel die Adel­heid vor Schre­cken und Leid in ein hef­ti­ges Fie­ber und konn­te sich nicht mehr er­ho­len, sie war sonst nicht sehr kräf­tig und hat­te manch­mal so ei­ge­ne Zu­stän­de ge­habt, dass man nicht recht wuss­te, schlief sie oder war sie wach. Nur ein paar Wo­chen, nach­dem der To­bi­as tot war, be­grub man auch die Adel­heid. Da spra­chen alle Leu­te weit und breit von dem trau­ri­gen Schick­sal der bei­den, und lei­se und laut sag­ten sie, das sei die Stra­fe, die der Öhi ver­dient habe für sein gott­lo­ses Le­ben, und ihm selbst wur­de es ge­sagt und auch der Herr Pfar­rer re­de­te ihm ins Ge­wis­sen, er soll­te doch jetzt Buße tun, aber er wur­de nur im­mer grim­mi­ger und ver­stock­ter und re­de­te mit nie­man­dem mehr, es ging ihm auch je­der aus dem Wege. Auf ein­mal hieß es, der Öhi sei auf die Alm hin­auf­ge­zo­gen und kom­me gar nicht mehr her­un­ter, und seit­her ist er dort und lebt mit Gott und Men­schen im Un­frie­den. Das klei­ne Kind der Adel­heid nah­men wir zu uns, die Mut­ter und ich; es war ein Jahr alt. Wie nun im letz­ten Som­mer die Mut­ter starb und ich im Bad drun­ten et­was ver­die­nen woll­te, nahm ich es mit und gab es der al­ten Ur­sel oben im Pfäf­fer­ser­dorf in die Kost. Ich konn­te auch im Win­ter im Bad blei­ben, es gab al­ler­hand Ar­beit, weil ich zu nä­hen und fli­cken ver­ste­he, und früh im Früh­ling kam die Herr­schaft aus Frank­furt wie­der, die ich vo­ri­ges Jahr be­dient hat­te und die mich mit­neh­men will; über­mor­gen rei­sen wir ab, und der Dienst ist gut, das kann ich dir sa­gen.«

»Und dem Al­ten da dro­ben willst du nun das Kind über­ge­ben? Es nimmt mich nur wun­der, was du denkst, Dete«, sag­te die Bar­bel vor­wurfs­voll.

»Was meinst du denn?«, gab Dete zu­rück. »Ich habe das Mei­ni­ge an dem Kin­de ge­tan, und was soll­te ich denn mit ihm ma­chen? Ich den­ke, ich kann ei­nes, das erst fünf Jah­re alt wird, nicht mit nach Frank­furt neh­men. Aber wo­hin gehst du ei­gent­lich, Bar­bel, wir sind ja schon halb­wegs auf der Alm?«

»Ich bin auch gleich da, wo ich hin­muss«, ent­geg­ne­te die Bar­bel; »ich habe mit der Gei­ßen­pe­te­rin zu re­den, sie spinnt mir im Win­ter. So leb wohl, Dete, mit Glück!«

Dete reich­te der Beglei­te­rin die Hand und blieb ste­hen, wäh­rend die­se der klei­nen, dun­kel­brau­nen Alm­hüt­te zu­ging, die ei­ni­ge Schrit­te seit­wärts vom Pfad in ei­ner Mul­de stand, wo sie vor dem Berg­wind ziem­lich ge­schützt war. Die Hüt­te stand auf der hal­b­en Höhe der Alm, vom Dör­f­li aus ge­rech­net, und dass sie in ei­ner klei­nen Ver­tie­fung des Ber­ges stand, war gut, denn sie sah so bau­fäl­lig und ver­fal­len aus, dass es auch so noch ein ge­fähr­li­ches Da­rin­woh­nen sein muss­te, wenn der Föhn­wind so mäch­tig über die Ber­ge strich, dass al­les an der Hüt­te klap­per­te, Tü­ren und Fens­ter, und alle die mor­schen Bal­ken zit­ter­ten und krach­ten. Hät­te die Hüt­te an sol­chen Ta­gen oben auf der Alm ge­stan­den, sie wäre un­ver­züg­lich ins Tal hin­ab­ge­weht wor­den.

Hier wohn­te der Gei­ßen­pe­ter, der elf­jäh­ri­ge Bube, der je­den Mor­gen un­ten im Dör­f­li die Gei­ßen hol­te, um sie hoch auf die Alm hin­auf­zu­trei­ben, um sie da die kur­z­en kräf­ti­gen Kräu­ter fres­sen zu las­sen bis zum Abend; dann sprang der Pe­ter mit den leicht­fü­ßi­gen Tier­chen wie­der her­un­ter, tat, im Dör­f­li an­ge­kom­men, einen schril­len Pfiff durch die Fin­ger, und je­der Be­sit­zer hol­te sei­ne Geiß auf dem Platz. Meis­tens ka­men klei­ne Bu­ben und Mäd­chen, denn die fried­li­chen Gei­ßen wa­ren nicht zu fürch­ten, und das war denn den gan­zen Som­mer durch die ein­zi­ge Zeit am Tage, da der Pe­ter mit sei­nes­glei­chen ver­kehr­te; sonst leb­te er nur mit den Gei­ßen. Er hat­te zwar da­heim sei­ne Mut­ter und die blin­de Groß­mut­ter; aber da er im­mer am Mor­gen sehr früh fort­muss­te und am Abend vom Dör­f­li spät heim­kam, weil er sich da noch so lan­ge als mög­lich mit den Kin­dern un­ter­hal­ten muss­te, so ver­brach­te er da­heim nur ge­ra­de so viel Zeit, um am Mor­gen sei­ne Milch und Brot und am Abend eben­das­sel­be hin­un­ter­zu­schlu­cken und dann sich aufs Ohr zu le­gen und zu schla­fen. Sein Va­ter, der auch schon der Gei­ßen­pe­ter ge­nannt wor­den war, weil er in frü­he­ren Jah­ren in dem­sel­ben Be­ru­fe ge­stan­den hat­te, war vor ei­ni­gen Jah­ren beim Holz­fäl­len ver­un­glückt. Sei­ne Mut­ter, die zwar Bri­git­te hieß, wur­de von je­der­mann um des Zu­sam­men­hangs wil­len die Gei­ßen­pe­te­rin ge­nannt, und die blin­de Groß­mut­ter kann­ten weit und breit Alt und Jung nur un­ter dem Na­men Groß­mut­ter.

Die Dete hat­te wohl zehn Mi­nu­ten ge­war­tet und sich nach al­len Sei­ten um­ge­se­hen, ob die Kin­der mit den Gei­ßen noch nir­gends zu se­hen sei­en; als dies aber nicht der Fall war, so stieg sie noch ein we­nig hö­her, wo sie bes­ser die gan­ze Alm bis hin­un­ter über­se­hen konn­te, und guck­te nun von hier aus bald da­hin, bald dort­hin mit Zei­chen großer Un­ge­duld auf dem Ge­sicht und in den Be­we­gun­gen. Un­ter­des­sen rück­ten die Kin­der auf ei­nem großen Um­we­ge her­an, denn der Pe­ter wuss­te vie­le Stel­len, wo al­ler­hand Gu­tes an Sträu­chern und Ge­bü­schen für sei­ne Gei­ßen zu na­gen war; dar­um mach­te er mit sei­ner Her­de vie­ler­lei Wen­dun­gen auf dem Wege. Erst war das Kind müh­sam nach­ge­klet­tert, in sei­ner schwe­ren Rüs­tung vor Hit­ze und Un­be­quem­lich­keit keu­chend und alle Kräf­te an­stren­gend. Es sag­te kein Wort, blick­te aber un­ver­wandt bald auf den Pe­ter, der mit sei­nen nack­ten Fü­ßen und leich­ten Hö­schen ohne alle Mühe hin und her sprang, bald auf die Gei­ßen, die mit den dün­nen, schlan­ken Bein­chen noch leich­ter über Busch und Stein und stei­le Ab­hän­ge hin­auf­klet­ter­ten.

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Auf ein­mal setz­te das Kind sich auf den Bo­den nie­der, zog mit großer Schnel­lig­keit Schu­he und St­rümp­fe aus, stand wie­der auf, zog sein ro­tes, dickes Hals­tuch weg, mach­te sein Röck­chen auf, zog es schnell aus und hat­te gleich noch eins aus­zu­hä­keln, denn die Base Dete hat­te ihm das Sonn­tags­kleid­chen über das All­tags­zeug an­ge­zo­gen, um der Kür­ze wil­len, da­mit nie­mand es tra­gen müs­se. Blitz­schnell war auch das All­tags­röck­lein weg, und nun stand das Kind im leich­ten Un­ter­röck­chen, die blo­ßen Arme aus den kur­z­en Hem­d­är­mel­chen ver­gnüg­lich in die Luft hin­aus­stre­ckend. Dann leg­te es schön al­les auf ein Häuf­chen, und nun sprang und klet­ter­te es hin­ter den Gei­ßen und ne­ben dem Pe­ter her, so leicht als nur ei­nes aus der gan­zen Ge­sell­schaft. Der Pe­ter hat­te nicht Acht ge­ge­ben, was das Kind ma­che, als es zu­rück­ge­blie­ben war. Wie es nun in der neu­en Be­klei­dung nach­ge­sprun­gen kam, zog er lus­tig grin­send das gan­ze Ge­sicht aus­ein­an­der und schau­te zu­rück, und wie er un­ten das Häuf­lein Klei­der lie­gen sah, ging sein Ge­sicht noch ein we­nig mehr aus­ein­an­der, und sein Mund kam fast von ei­nem Ohr bis zum an­de­ren; er sag­te aber nichts. Wie nun das Kind sich so frei und leicht fühl­te, fing es ein Ge­spräch mit dem Pe­ter an, und er fing auch an zu re­den und muss­te auf vie­ler­lei ant­wor­ten, denn das Kind woll­te wis­sen, wie vie­le Gei­ßen er habe und wo­hin er mit ih­nen gehe und was er dort tue, wo er hin­kom­me. So lang­ten end­lich die Kin­der samt den Gei­ßen oben bei der Hüt­te an und ka­men der Base Dete zu Ge­sicht. Kaum aber hat­te die­se die her­an­klet­tern­de Ge­sell­schaft er­blickt, als sie laut auf­schrie: »Hei­di, was machst du? Wie siehst du aus? Wo hast du dei­nen Rock und den zwei­ten und das Hals­tuch? Und ganz neue Schu­he habe ich dir ge­kauft auf den Berg und dir neue St­rümp­fe ge­macht, und al­les fort! Al­les fort! Hei­di, was machst du, wo hast du al­les?«

Das Kind zeig­te ru­hig den Berg hin­un­ter und sag­te: »Dort!« Die Base folg­te sei­nem Fin­ger. Rich­tig, dort lag et­was und oben­auf war ein ro­ter Punkt, das muss­te das Hals­tuch sein.

»Du Un­glücks­tropf!«, rief die Base in großer Auf­re­gung. »Was kommt dir denn in den Sinn, warum hast du al­les aus­ge­zo­gen? Was soll das sein?«

»Ich brauch es nicht«, sag­te das Kind und sah gar nicht reue­voll aus über sei­ne Tat.

»Ach du un­glück­se­li­ges, ver­nunft­lo­ses Hei­di, hast du denn auch noch gar kei­ne Be­grif­fe?«, jam­mer­te und schalt die Base wei­ter. »Wer soll­te nun wie­der da hin­un­ter, es ist ja eine hal­be Stun­de! Komm, Pe­ter, lauf du mir schnell zu­rück und hol das Zeug, komm schnell und steh nicht dort und glot­ze mich an, als wärst du am Bo­den fest­ge­na­gelt.«

»Ich bin schon zu spät«, sag­te Pe­ter lang­sam und blieb, ohne sich zu rüh­ren, auf dem­sel­ben Fleck ste­hen, von dem aus er, bei­de Hän­de in die Ta­schen ge­steckt, dem Schre­ckens­aus­bruch der Base zu­ge­hört hat­te.

»Du stehst ja doch nur und rei­ßest dei­ne Au­gen auf und kommst, denk ich, nicht weit auf die Art!«, rief ihm die Base Dete zu. »Komm her, du musst et­was Schö­nes ha­ben, siehst du?« Sie hielt ihm ein neu­es Fün­fer­chen hin, das glänz­te ihm in die Au­gen. Plötz­lich sprang er auf und da­von auf dem ge­ra­des­ten Weg die Alm hin­un­ter und kam in un­ge­heu­ren Sät­zen in kur­z­er Zeit bei dem Häuf­lein Klei­der an, pack­te sie auf und er­schi­en da­mit so schnell, dass ihn die Base rüh­men muss­te und ihm so­gleich sein Fün­frap­pen­stück über­reich­te. Pe­ter steck­te es schnell tief in sei­ne Ta­sche, und sein Ge­sicht glänz­te und lach­te in vol­ler Brei­te, denn ein sol­cher Schatz wur­de ihm nicht oft zu­teil.

»Du kannst mir das Zeug noch tra­gen bis zum Öhi hin­auf, du gehst ja auch den Weg«, sag­te die Base Dete jetzt, in­dem sie sich an­schick­te, den stei­len Ab­hang zu er­klim­men, der gleich hin­ter der Hüt­te des Gei­ßen­pe­ter em­por­rag­te. Wil­lig über­nahm die­ser den Auf­trag und folg­te der Voran­schrei­ten­den auf dem Fuße nach, den lin­ken Arm um sein Bün­del ge­schlun­gen, in der Rech­ten die Gei­ßen­ru­te schwin­gend. Das Hei­di und die Gei­ßen hüpf­ten und spran­gen fröh­lich ne­ben ihm her. So ge­lang­te der Zug nach drei Vier­tel­stun­den auf die Alm­hö­he, wo frei auf dem Vor­sprung des Ber­ges die Hüt­te des al­ten Öhi stand, al­len Win­den aus­ge­setzt, aber auch je­dem Son­nen­blick zu­gäng­lich und mit der vol­len Aus­sicht weit ins Tal hin­ab. Hin­ter der Hüt­te stan­den drei alte Tan­nen mit dich­ten, lan­gen, un­be­schnit­te­nen Äs­ten. Wei­ter hin­ten ging es noch­mals bergan bis hoch hin­auf in die al­ten, grau­en Fel­sen, erst noch über schö­ne, kräu­ter­rei­che Hö­hen, dann in stei­ni­ges Ge­strüpp und end­lich zu den kah­len, stei­len Fel­sen hin­an.

An die Hüt­te fest­ge­macht, der Tal­sei­te zu, hat­te sich der Öhi eine Bank ge­zim­mert. Hier saß er, eine Pfei­fe im Mund, bei­de Hän­de auf sei­ne Knie ge­legt, und schau­te ru­hig zu, wie die Kin­der, die Gei­ßen und die Base Dete her­an­klet­ter­ten, denn die letz­te­re war nach und nach von den an­de­ren über­holt wor­den. Hei­di war zu­erst oben; es ging ge­ra­de­aus auf den Al­ten zu, streck­te ihm die Hand ent­ge­gen und sag­te: »Gu­ten Abend, Groß­va­ter!«

»So, so, wie ist das ge­meint?«, frag­te der Alte barsch, gab dem Kin­de kurz die Hand und schau­te es mit ei­nem lan­gen, durch­drin­gen­den Blick an, un­ter sei­nen bu­schi­gen Au­gen­brau­en her­vor. Hei­di gab den lan­gen Blick aus­dau­ernd zu­rück, ohne nur ein­mal mit den Au­gen zu zwin­kern, denn der Groß­va­ter mit dem lan­gen Bart und den dich­ten, grau­en Au­gen­brau­en, die in der Mit­te zu­sam­men­ge­wach­sen wa­ren und aus­sa­hen wie eine Art Ge­sträuch, war so ver­wun­der­lich an­zu­se­hen, dass Hei­di ihn recht be­trach­ten muss­te. Un­ter­des­sen war auch die Base her­an­ge­kom­men samt dem Pe­ter, der eine Wel­le stil­le stand und zu­sah, was sich da er­eig­ne.

»Ich wün­sche Euch gu­ten Tag, Öhi«, sag­te die Dete hin­zu­tre­tend, »und hier bring ich Euch das Kind vom To­bi­as und der Adel­heid. Ihr wer­det es wohl nicht mehr ken­nen, denn seit es jäh­rig war, habt Ihr es nie mehr ge­se­hen.«

»So, was muss das Kind bei mir?«, frag­te der Alte kurz; »und du dort«, rief er dem Pe­ter zu, »du kannst ge­hen mit dei­nen Gei­ßen, du bist nicht zu früh; nimm mei­ne mit!«

Der Pe­ter ge­horch­te so­fort und ver­schwand, denn der Öhi hat­te ihn an­ge­schaut, dass er schon ge­nug da­von hat­te.

»Es muss eben bei Euch blei­ben, Öhi«, gab die Dete auf sei­ne Fra­ge zu­rück. »Ich habe, denk ich, das Mei­ni­ge an ihm ge­tan die vier Jah­re durch, es wird jetzt wohl an Euch sein, das Eu­ri­ge auch ein­mal zu tun.«

»So«, sag­te der Alte und warf einen blit­zen­den Blick auf die Dete. »Und wenn nun das Kind an­fängt, dir nach­zu­flen­nen und zu win­seln, wie klei­ne Un­ver­nünf­ti­ge tun, was muss ich dann mit ihm an­fan­gen?«

»Das ist dann Eure Sa­che«, warf die Dete zu­rück, »ich mei­ne fast, es habe mir auch kein Mensch ge­sagt, wie ich es mit dem Klei­nen an­zu­fan­gen habe, als es mir auf den Hän­den lag, ein ein­zi­ges Jähr­chen alt, und ich schon für mich und die Mut­ter ge­nug zu tun hat­te. Jetzt muss ich mei­nem Ver­dienst nach, und Ihr seid der Nächs­te am Kind; wenn Ihr’s nicht ha­ben könnt, so macht mit ihm, was Ihr wollt, dann habt Ihr’s zu ver­ant­wor­ten, wenn’s verdirbt, und Ihr wer­det wohl nicht nö­tig ha­ben, noch et­was auf­zu­la­den.«

Die Dete hat­te kein recht gu­tes Ge­wis­sen bei der Sa­che, dar­um war sie so hit­zig ge­wor­den und hat­te mehr ge­sagt, als sie im Sinn ge­habt hat­te. Bei ih­ren letz­ten Wor­ten war der Öhi auf­ge­stan­den; er schau­te sie so an, dass sie ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­wich; dann streck­te er den Arm aus und sag­te be­feh­lend: »Mach, dass du hin­un­ter­kommst, wo du her­auf­ge­kom­men bist, und zeig dich nicht so bald wie­der!« Das ließ sich die Dete nicht zwei­mal sa­gen. »So lebt wohl, und du auch, Hei­di«, sag­te sie schnell und lief den Berg hin­un­ter in ei­nem Trab bis ins Dör­f­li hin­ab, denn die in­ne­re Auf­re­gung trieb sie vor­wärts wie eine wirk­sa­me Dampf­kraft. Im Dör­f­li wur­de sie dies­mal noch viel mehr an­ge­ru­fen, denn es wun­der­te die Leu­te, wo das Kind sei; sie kann­ten ja alle die Dete ge­nau und wuss­ten, wem das Kind ge­hör­te und al­les, was mit ihm vor­ge­gan­gen war. Als es nun aus al­len Tü­ren und Fens­tern tön­te: »Wo ist das Kind? Dete, wo hast du das Kind ge­las­sen?«, rief sie im­mer un­wil­li­ger zu­rück: »Dro­ben beim Alm-Öhi! Nun, beim Alm-Öhi, ihr hör­t’s ja!«

Sie wur­de aber so maß­lei­dig, weil die Frau­en von al­len Sei­ten ihr zu­rie­fen: »Wie kannst du so et­was tun!«, und: »Das arme Tröpf­li!«, und: »So ein klei­nes Hilflo­ses da dro­ben las­sen!«, und dann wie­der und wie­der: »Das arme Tröpf­li!« Die Dete lief, so schnell sie konn­te, wei­ter und war froh, als sie nichts mehr hör­te, denn es war ihr nicht wohl bei der Sa­che; ihre Mut­ter hat­te ihr beim Ster­ben das Kind noch über­ge­ben. Aber sie sag­te sich zur Be­ru­hi­gung, sie kön­ne dann ja eher wie­der et­was für das Kind tun, wenn sie nun viel Geld ver­die­ne, und so war sie sehr froh, dass sie bald weit von al­len Leu­ten, die ihr drein­re­de­ten, weg- und zu ei­nem schö­nen Ver­dienst kom­men konn­te.


  1. On­kel  <<<

2. Beim Großvater

Nach­dem die Dete ver­schwun­den war, hat­te der Öhi sich wie­der auf die Bank hin­ge­setzt und blies nun große Wol­ken aus sei­ner Pfei­fe; da­bei starr­te er auf den Bo­den und sag­te kein Wort. Der­wei­len schau­te das Hei­di ver­gnüg­lich um sich, ent­deck­te den Gei­ßen­stall, der an die Hüt­te an­ge­baut war, und guck­te hin­ein. Es war nichts drin. Das Kind setz­te sei­ne Un­ter­su­chun­gen fort und kam hin­ter die Hüt­te zu den al­ten Tan­nen. Da blies der Wind durch die Äste so stark, dass es saus­te und braus­te oben in den Wip­feln. Hei­di blieb ste­hen und hör­te zu. Als es ein we­nig stil­ler wur­de, ging das Kind um die kom­men­de Ecke der Hüt­te her­um und kam vorn wie­der zum Groß­va­ter zu­rück. Als es die­sen noch in der­sel­ben Stel­lung er­blick­te, wie es ihn ver­las­sen hat­te, stell­te es sich vor ihn hin, leg­te die Hän­de auf den Rücken und be­trach­te­te ihn. Der Groß­va­ter schau­te auf. »Was willst du jetzt tun?«, frag­te er, als das Kind im­mer noch un­be­weg­lich vor ihm stand.

»Ich will se­hen, was du drin­nen hast, in der Hüt­te«, sag­te Hei­di.

»So komm!«, und der Groß­va­ter stand auf und ging vor­an in die Hüt­te hin­ein.

»Nimm dort dein Bün­del Klei­der noch mit«, be­fahl er im He­r­ein­tre­ten.

»Das brauch ich nicht mehr«, er­klär­te Hei­di.

Der Alte kehr­te sich um und schau­te durch­drin­gend auf das Kind, des­sen schwar­ze Au­gen glüh­ten in Er­war­tung der Din­ge, die da drin­nen sein konn­ten. »Es kann ihm nicht an Ver­stand feh­len«, sag­te er halb­laut. »Wa­rum brauchst du’s nicht mehr?«, setz­te er laut hin­zu.

»Ich will am liebs­ten ge­hen wie die Gei­ßen, die ha­ben ganz leich­te Bein­chen.«

»So, das kannst du, aber hol das Zeug«, be­fahl der Groß­va­ter, »es kommt in den Kas­ten.« Hei­di ge­horch­te. Jetzt mach­te der Alte die Tür auf und Hei­di trat hin­ter ihm her in einen ziem­lich großen Raum ein, es war der Um­fang der gan­zen Hüt­te. Da stand ein Tisch und ein Stuhl dar­an; in ei­ner Ecke war des Groß­va­ters Schlafla­ger, in ei­ner an­de­ren hing der große Kes­sel über dem Herd; auf der an­de­ren Sei­te war eine große Tür in der Wand, die mach­te der Groß­va­ter auf, es war der Schrank. Da hin­gen sei­ne Klei­der drin und auf ei­nem Ge­stell la­gen ein paar Hem­den, St­rümp­fe und Tü­cher und auf ei­nem an­de­ren ei­ni­ge Tel­ler und Tas­sen und Glä­ser und auf dem obers­ten ein run­des Brot und ge­räu­cher­tes Fleisch und Käse, denn in dem Kas­ten war al­les ent­hal­ten, was der Alm-Öhi be­saß und zu sei­nem Le­bens­un­ter­halt ge­brauch­te. Wie er nun den Schrank auf­ge­macht hat­te, kam das Hei­di schnell her­an und stieß sein Zeug hin­ein, so weit hin­ter des Groß­va­ters Klei­der als mög­lich, da­mit es nicht so leicht wie­der zu fin­den sei. Nun sah es sich auf­merk­sam um in dem Raum und sag­te dann: »Wo muss ich schla­fen, Groß­va­ter?«

»Wo du willst«, gab die­ser zur Ant­wort.

Das war dem Hei­di eben recht. Nun fuhr es in alle Win­kel hin­ein und schau­te je­des Plätz­chen aus, wo am schöns­ten zu schla­fen wäre. In der Ecke vor­über des Groß­va­ters La­ger­stät­te war eine klei­ne Lei­ter auf­ge­rich­tet; Hei­di klet­ter­te hin­auf und lang­te auf dem Heu­bo­den an. Da lag ein fri­scher, duf­ten­der Heu­hau­fen oben, und durch eine run­de Luke sah man weit ins Tal hin­ab.

»Hier will ich schla­fen«, rief Hei­di hin­un­ter, »hier ist’s schön! Komm und sieh ein­mal, wie schön es hier ist, Groß­va­ter!«

»Weiß schon«, tön­te es von un­ten her­auf.

»Ich ma­che jetzt das Bett!«, rief das Kind wie­der, in­dem es oben ge­schäf­tig hin und her fuhr; »aber du musst her­auf­kom­men und mir ein Lein­tuch mit­brin­gen, denn auf ein Bett kommt auch ein Lein­tuch, und dar­auf liegt man.«

»So, so«, sag­te un­ten der Groß­va­ter, und nach ei­ner Wei­le ging er an den Schrank und kram­te ein we­nig dar­in her­um; dann zog er un­ter sei­nen Hem­den ein lan­ges, gro­bes Tuch her­vor, das muss­te so et­was sein wie ein Lein­tuch. Er kam da­mit die Lei­ter her­auf. Da war auf dem Heu­bo­den ein ganz ar­ti­ges Bett­lein zu­ge­rich­tet; oben, wo der Kopf lie­gen muss­te, war das Heu hoch auf­ge­schich­tet, und das Ge­sicht kam so zu lie­gen, dass es ge­ra­de auf das of­fe­ne, run­de Loch traf.

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»Das ist recht ge­macht«, sag­te der Groß­va­ter, »jetzt wird das Tuch kom­men, aber wart noch« – da­mit nahm er einen gu­ten Wisch Heu von dem Hau­fen und mach­te das La­ger dop­pelt so dick, da­mit der har­te Bo­den nicht durch­ge­fühlt wer­den konn­te – »so, jetzt komm her da­mit.« Hei­di hat­te das Lein­tuch schnell zu­han­den ge­nom­men, konn­te es aber fast nicht tra­gen, so schwer war’s; aber das war sehr gut, denn durch das fes­te Zeug konn­ten die spit­zen Heu­hal­me nicht durch­ste­chen. Jetzt brei­te­ten die bei­den mit­ein­an­der das Tuch über das Heu, und wo es zu breit und zu lang war, stopf­te Hei­di die En­den eil­fer­tig un­ter das La­ger. Nun sah es recht gut und rein­lich aus, und Hei­di stell­te sich da­vor und be­trach­te­te es nach­denk­lich.

»Wir ha­ben noch et­was ver­ges­sen, Groß­va­ter«, sag­te es dann.

»Was denn?«, frag­te er.

»Eine De­cke; denn wenn man ins Bett geht, kriecht man zwi­schen das Lein­tuch und die De­cke hin­ein.«

»So, meinst du? Wenn ich aber kei­ne habe?«, sag­te der Alte.

»Oh, dann ist’s gleich, Groß­va­ter«, be­ru­hig­te Hei­di, »dann nimmt man wie­der Heu zur De­cke«, und eil­fer­tig woll­te es gleich wie­der an den Heu­stock ge­hen, aber der Groß­va­ter wehr­te es ihm.

»Wart einen Au­gen­blick«, sag­te er, stieg die Lei­ter hin­ab und ging an sein La­ger hin. Dann kam er wie­der und leg­te einen großen, schwe­ren, lei­ne­nen Sack auf den Bo­den.

»Ist das nicht bes­ser als Heu?«, frag­te er. Hei­di zog aus Lei­bes­kräf­ten an dem Sa­cke hin und her, um ihn aus­ein­an­der zu le­gen, aber die klei­nen Hän­de konn­ten das schwe­re Zeug nicht be­wäl­ti­gen. Der Groß­va­ter half, und wie es nun aus­ge­brei­tet auf dem Bet­te lag, da sah al­les sehr gut und halt­bar aus, und Hei­di stand stau­nend vor sei­nem neu­en La­ger und sag­te: »Das ist eine präch­ti­ge De­cke und das gan­ze Bett! Jetzt wollt ich, es wäre schon Nacht, so könn­te ich hin­ein­lie­gen.«

»Ich mei­ne, wir könn­ten erst ein­mal et­was es­sen«, sag­te der Groß­va­ter, »oder was meinst du?« Hei­di hat­te über dem Ei­fer des Bet­tens al­les an­de­re ver­ges­sen; nun ihm aber der Ge­dan­ke ans Es­sen kam, stieg ein großer Hun­ger in ihm auf, denn es hat­te auch heu­te noch gar nichts be­kom­men als früh am Mor­gen sein Stück Brot und ein paar Schlu­cke dün­nen Kaf­fees, und nach­her hat­te es die lan­ge Rei­se ge­macht. So sag­te Hei­di ganz zu­stim­mend: »Ja, ich mein es auch.«

»So geh hin­un­ter, wenn wir denn ei­nig sind«, sag­te der Alte und folg­te dem Kind auf dem Fuß nach. Dann ging er zum Kes­sel hin, schob den großen weg und dreh­te den klei­nen her­an, der an der Ket­te hing, setz­te sich auf den höl­zer­nen Drei­fuß mit dem run­den Sitz da­vor hin und blies ein hel­les Feu­er an. Im Kes­sel fing es an zu sie­den, und un­ten hielt der Alte an ei­ner lan­gen Ei­sen­ga­bel ein großes Stück Käse über das Feu­er und dreh­te es hin und her, bis es auf al­len Sei­ten gold­gelb war. Hei­di hat­te mit ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit zu­ge­se­hen; jetzt muss­te ihm et­was Neu­es in den Sinn ge­kom­men sein; auf ein­mal sprang es weg und an den Schrank und von da hin und her. Jetzt kam der Groß­va­ter mit ei­nem Topf und dem Kä­se­bra­ten an der Ga­bel zum Tisch her­an; da lag schon das run­de Brot dar­auf und zwei Tel­ler und zwei Mes­ser, al­les schön ge­ord­net, denn das Hei­di hat­te al­les im Schrank gut wahr­ge­nom­men und wuss­te, dass man das al­les nun gleich zum Es­sen brau­chen wer­de.

»So, das ist recht, dass du selbst et­was aus­denkst«, sag­te der Groß­va­ter und leg­te den Bra­ten auf das Brot als Un­ter­la­ge; »aber es fehlt noch et­was auf dem Tisch.«

Hei­di sah, wie ein­la­dend es aus dem Topf her­vord­ampf­te, und sprang schnell wie­der an den Schrank. Da stand aber nur ein ein­zi­ges Schüs­sel­chen. Hei­di war nicht lang in Ver­le­gen­heit, dort hin­ten stan­den zwei Glä­ser; au­gen­blick­lich kam das Kind zu­rück und stell­te Schüs­sel­chen und Glas auf den Tisch.

»Recht so; du weißt dir zu hel­fen; aber wo willst du sit­zen?« Auf dem ein­zi­gen Stuhl saß der Groß­va­ter selbst. Hei­di schoss pfeil­schnell zum Herd hin, brach­te den klei­nen Drei­fuß zu­rück und setz­te sich drauf.

»Ei­nen Sitz hast du we­nigs­tens, das ist wahr, nur ein we­nig weit un­ten«, sag­te der Groß­va­ter; »aber von mei­nem Stuhl wärst auch zu kurz, auf den Tisch zu lan­gen; jetzt musst aber ein­mal et­was ha­ben, so komm!« Da­mit stand er auf, füll­te das Schüs­sel­chen mit Milch, stell­te es auf den Stuhl und rück­te den ganz nah an den Drei­fuß hin, so­dass das Hei­di nun einen Tisch vor sich hat­te. Der Groß­va­ter leg­te ein großes Stück Brot und ein Stück von dem gol­de­nen Käse dar­auf und sag­te: »Jetzt iss!« Er selbst setz­te sich nun auf die Ecke des Ti­sches und be­gann sein Mit­tags­mahl. Hei­di er­griff sein Schüs­sel­chen und trank und trank ohne Auf­ent­halt, denn der gan­ze Durst sei­ner lan­gen Rei­se war ihm wie­der auf­ge­stie­gen. Jetzt tat es einen lan­gen Atem­zug – denn im Ei­fer des Trin­kens hat­te es lan­ge den Atem nicht ho­len kön­nen – und stell­te sein Schüs­sel­chen hin.

»Ge­fällt dir die Milch?«, frag­te der Groß­va­ter.

»Ich habe noch gar nie so gute Milch ge­trun­ken«, ant­wor­te­te Hei­di.

»So musst du mehr ha­ben«, und der Groß­va­ter füll­te das Schüs­sel­chen noch ein­mal bis oben hin und stell­te es vor das Kind, das ver­gnüg­lich in sein Brot biss, nach­dem es von dem wei­chen Käse dar­auf ge­stri­chen, denn der war, so ge­bra­ten, weich wie But­ter, und das schmeck­te ganz kräf­tig zu­sam­men, und zwi­schen­durch trank es sei­ne Milch und sah sehr ver­gnüg­lich aus. Als nun das Es­sen zu Ende war, ging der Groß­va­ter in den Gei­ßen­stall hin­aus und hat­te da al­ler­hand in Ord­nung zu brin­gen, und Hei­di sah ihm auf­merk­sam zu, wie er erst mit dem Be­sen säu­ber­te, dann fri­sche Streu leg­te, dass die Tier­chen dar­auf schla­fen konn­ten; wie er dann nach dem Schöpf­chen ging ne­ben­an und hier run­de Stö­cke zu­recht­schnitt und an ei­nem Brett her­um­hack­te und Lö­cher hin­ein­bohr­te und dann die run­den Stö­cke hin­ein­steck­te und auf­stell­te; da war es auf ein­mal ein Stuhl, wie der vom Groß­va­ter, nur viel hö­her, und Hei­di staun­te das Werk an, sprach­los vor Ver­wun­de­rung.

»Was ist das, Hei­di?«, frag­te der Groß­va­ter.

»Das ist mein Stuhl, weil er so hoch ist; auf ein­mal war er fer­tig«, sag­te das Kind, noch in tie­fem Er­stau­nen und Be­wun­de­rung.

»Es weiß, was es sieht, es hat die Au­gen am rech­ten Ort«, be­merk­te der Groß­va­ter vor sich hin, als er nun um die Hüt­te her­um­ging und hier einen Na­gel ein­schlug und dort einen und dann an der Tür et­was zu be­fes­ti­gen hat­te und so mit Ham­mer und Nä­geln und Holz­stücken von ei­nem Ort zum an­de­ren wan­der­te und im­mer et­was aus­bes­ser­te oder weg­schlug, je nach dem Be­dürf­nis. Hei­di ging Schritt für Schritt hin­ter ihm her und schau­te ihm un­ver­wandt mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit zu, und al­les, was da vor­ging, war ihm sehr kurz­wei­lig an­zu­se­hen.

So kam der Abend her­an. Es fing stär­ker an zu rau­schen in den al­ten Tan­nen, ein mäch­ti­ger Wind fuhr da­her und saus­te und braus­te durch die dich­ten Wip­fel. Das tön­te dem Hei­di so schön in die Ohren und ins Herz hin­ein, dass es ganz fröh­lich dar­über wur­de und hüpf­te und sprang un­ter den Tan­nen um­her, als hät­te es eine un­er­hör­te Freu­de er­lebt. Der Groß­va­ter stand un­ter der Schopf­tür und schau­te dem Kind zu. Jetzt er­tön­te ein schril­ler Pfiff. Hei­di hielt an in sei­nen Sprün­gen, der Groß­va­ter trat her­aus. Von oben her­un­ter kam es ge­sprun­gen, Geiß um Geiß, wie eine Jagd, und mit­ten­drin der Pe­ter. Mit ei­nem Freu­den­ruf schoss Hei­di mit­ten in das Ru­del hin­ein und be­grüß­te die al­ten Freun­de von heu­te Mor­gen einen um den an­de­ren. Bei der Hüt­te an­ge­kom­men, stand al­les still, und aus der Her­de her­aus ka­men zwei schö­ne, schlan­ke Gei­ßen, eine wei­ße und eine brau­ne, auf den Groß­va­ter zu und leck­ten sei­ne Hän­de, denn er hielt ein we­nig Salz dar­in, wie er je­den Abend zum Empfang sei­ner zwei Tier­lein tat. Der Pe­ter ver­schwand mit sei­ner Schar. Hei­di strei­chel­te zärt­lich die eine und dann die an­de­re von den Gei­ßen und sprang um sie her­um, um sie von der an­de­ren Sei­te auch zu strei­cheln, und war ganz Glück und Freu­de über die Tier­chen. »Sind sie un­ser, Groß­va­ter? Sind sie bei­de un­ser? Kom­men sie in den Stall? Blei­ben sie im­mer bei uns?«, so frag­te Hei­di hin­ter­ein­an­der in sei­nem Ver­gnü­gen, und der Groß­va­ter konn­te kaum sein ste­ti­ges »Ja, ja!« zwi­schen die eine und die an­de­re Fra­ge hin­ein­brin­gen. Als die Gei­ßen ihr Salz auf­ge­leckt hat­ten, sag­te der Alte: »Geh und hol dein Schüs­sel­chen her­aus und das Brot.«

Hei­di ge­horch­te und kam gleich wie­der. Nun melk­te der Groß­va­ter gleich von der Wei­ßen das Schüs­sel­chen voll und schnitt ein Stück Brot ab und sag­te: »Nun iss und dann geh hin­auf und schlaf! Die Base Dete hat noch ein Bün­del­chen ab­ge­legt für dich, da sei­en Hemd­lein und so et­was dar­in, das liegt un­ten im Kas­ten, wenn du’s brauchst; ich muss nun mit den Gei­ßen hin­ein, so schlaf wohl!«

»Gut Nacht, Groß­va­ter! Gut Nacht – wie hei­ßen sie, Groß­va­ter, wie hei­ßen sie?«, rief das Kind und lief dem ver­schwin­den­den Al­ten und den Gei­ßen nach.

»Die Wei­ße heißt Schwän­li und die Brau­ne Bär­li«, gab der Groß­va­ter zu­rück.

»Gut Nacht, Schwän­li, gut Nacht, Bär­li!«, rief nun Hei­di noch mit Macht, denn eben ver­schwan­den bei­de in den Stall hin­ein. Nun setz­te sich Hei­di noch auf die Bank und aß sein Brot und trank sei­ne Milch; aber der star­ke Wind weh­te es fast von sei­nem Sitz her­un­ter; so mach­te es schnell fer­tig, ging dann hin­ein und stieg zu sei­nem Bett hin­auf, in dem es auch gleich nach­her so fest und herr­lich schlief, als nur ei­ner im schöns­ten Fürs­ten­bett schla­fen konn­te. Nicht lan­ge nach­her, noch eh es völ­lig dun­kel war, leg­te auch der Groß­va­ter sich auf sein La­ger, denn am Mor­gen war er im­mer schon mit der Son­ne wie­der drau­ßen, und die kam sehr früh über die Ber­ge her­ein­ge­stie­gen in die­ser Som­mers­zeit. In der Nacht kam der Wind so ge­wal­tig, dass bei sei­nen Stö­ßen die gan­ze Hüt­te er­zit­ter­te und es in al­len Bal­ken krach­te; durch den Schorn­stein heul­te und ächz­te es wie Jam­mer­stim­men, und in den al­ten Tan­nen drau­ßen tob­te es mit sol­cher Wut, dass hier und da ein Ast nie­der­krach­te. Mit­ten in der Nacht stand der Groß­va­ter auf und sag­te halb­laut vor sich hin: »Es wird sich wohl fürch­ten.« Er stieg die Lei­ter hin­auf und trat an Hei­dis La­ger her­an. Der Mond drau­ßen stand ein­mal hell leuch­tend am Him­mel, dann fuh­ren wie­der die ja­gen­den Wol­ken dar­über hin und al­les wur­de dun­kel. Jetzt kam der Mond­schein eben leuch­tend durch die run­de Öff­nung her­ein und fiel ge­ra­de auf Hei­dis La­ger. Es hat­te sich feu­er­ro­te Ba­cken er­schla­fen un­ter sei­ner schwe­ren De­cke, und ru­hig und fried­lich lag es auf sei­nem run­den Ärm­chen und träum­te von et­was Er­freu­li­chem, denn sein Ge­sicht­chen sah ganz wohl­ge­mut aus. Der Groß­va­ter schau­te so lan­ge auf das fried­lich schla­fen­de Kind, bis der Mond wie­der hin­ter die Wol­ken trat und es dun­kel wur­de, dann kehr­te er auf sein La­ger zu­rück.

3. Auf der Weide

Hei­di er­wach­te am frü­hen Mor­gen an ei­nem lau­ten Pfiff, und als es die Au­gen auf­schlug, kam ein gol­de­ner Schein durch das run­de Loch her­ein­ge­flos­sen auf sein La­ger und auf das Heu da­ne­ben, dass al­les gol­den leuch­te­te rings­her­um. Hei­di schau­te er­staunt um sich und wuss­te durch­aus nicht, wo es war. Aber nun hör­te es drau­ßen des Groß­va­ters tie­fe Stim­me, und jetzt kam ihm al­les in den Sinn: Wo­her es ge­kom­men war und dass es nun auf der Alm beim Groß­va­ter sei, nicht mehr bei der al­ten Ur­sel, die fast nichts mehr hör­te und meis­tens fror, so­dass sie im­mer am Kü­chen­fens­ter oder am Stu­be­nofen ge­ses­sen hat­te, wo dann auch Hei­di hat­te ver­wei­len müs­sen oder doch ganz in der Nähe, da­mit die Alte se­hen konn­te, wo es war, weil sie es nicht hö­ren konn­te. Da war es dem Hei­di manch­mal zu eng drin­nen, und es wäre lie­ber hin­aus­ge­lau­fen. So war es sehr froh, als es in der neu­en Be­hau­sung er­wach­te und sich er­in­ner­te, wie viel Neu­es es ges­tern ge­se­hen hat­te und was es heu­te wie­der al­les se­hen könn­te, vor al­lem das Schwän­li und das Bär­li. Hei­di sprang ei­lig aus sei­nem Bett und hat­te in we­nig Mi­nu­ten al­les wie­der an­ge­legt, was es ges­tern ge­tra­gen hat­te, denn es war sehr we­nig. Nun stieg es die Lei­ter hin­un­ter und sprang vor die Hüt­te hin­aus. Da stand schon der Gei­ßen­pe­ter mit sei­ner Schar, und der Groß­va­ter brach­te eben Schwän­li und Bär­li aus dem Stall her­bei, dass sie sich der Ge­sell­schaft an­schlos­sen. Hei­di lief ihm ent­ge­gen, um ihm und den Gei­ßen gu­ten Tag zu sa­gen.

»Willst mit auf die Wei­de?«, frag­te der Groß­va­ter. Das war dem Hei­di eben recht, es hüpf­te hoch auf vor Freu­de.

»Aber erst wa­schen und sau­ber sein, sonst lacht einen die Son­ne aus, wenn sie so schön glänzt da dro­ben und sieht, dass du schwarz bist; sieh, dort ist’s für dich ge­rich­tet.« Der Groß­va­ter zeig­te auf einen großen Zu­ber voll Was­ser, der vor der Tür in der Son­ne stand. Hei­di sprang hin und patsch­te und rieb, bis es ganz glän­zend war. Un­ter­des­sen ging der Groß­va­ter in die Hüt­te hin­ein und rief dem Pe­ter zu: »Komm hier­her, Gei­ßen­ge­ne­ral, und bring dei­nen Ha­ber­sack mit.« Ver­wun­dert folg­te Pe­ter dem Ruf und streck­te sein Säck­lein hin, in dem er sein ma­ge­res Mit­ta­ges­sen bei sich trug.

»Mach auf«, be­fahl der Alte und steck­te nun ein großes Stück Brot und ein eben­so großes Stück Käse hin­ein. Der Pe­ter mach­te vor Er­stau­nen sei­ne run­den Au­gen so weit auf als nur mög­lich, denn die bei­den Stücke wa­ren wohl dop­pelt so groß wie die zwei, die er als eig­nes Mit­tags­mahl drin­nen hat­te.

»So, nun kommt noch das Schüs­sel­chen hin­ein«, fuhr der Öhi fort, »denn das Kind kann nicht trin­ken wie du, nur so von der Geiß weg, es kennt das nicht. Du melkst ihm zwei Schüs­sel­chen voll zu Mit­tag, denn das Kind geht mit dir und bleibt bei dir, bis du wie­der her­un­ter­kommst; gib Acht, dass es nicht über die Fel­sen hin­un­ter­fällt, hörst du?« –

Nun kam Hei­di her­ein­ge­lau­fen. »Kann mich die Son­ne jetzt nicht aus­la­chen, Groß­va­ter?«, frag­te es an­ge­le­gent­lich. Es hat­te sich mit dem gro­ben Tuch, das der Groß­va­ter ne­ben dem Was­ser­zu­ber auf­ge­hängt hat­te, Ge­sicht, Hals und Arme in sei­nem Schre­cken vor der Son­ne so er­staun­lich ge­rie­ben, dass es krebs­rot vor dem Groß­va­ter stand. Er lach­te ein we­nig.

»Nein, nun hat sie nichts zu la­chen«, be­stä­tig­te er. »Aber weißt was? Am Abend, wenn du heim­kommst, da gehst du noch ganz hin­ein in den Zu­ber, wie ein Fisch; denn wenn man geht wie die Gei­ßen, da be­kommt man schwar­ze Füße. Jetzt könnt ihr aus­zie­hen.«

Nun ging es lus­tig die Alm hin­an. Der Wind hat­te in der Nacht das letz­te Wölk­chen weg­ge­bla­sen; dun­kel­blau schau­te der Him­mel von al­len Sei­ten her­nie­der, und mit­ten­drauf stand die leuch­ten­de Son­ne und schim­mer­te auf die grü­ne Alp, und alle die blau­en und gel­ben Blüm­chen dar­auf mach­ten ihre Kel­che auf und schau­ten ihr fröh­lich ent­ge­gen. Hei­di sprang hier­hin und dort­hin und jauchz­te vor Freu­de, denn da wa­ren gan­ze Trüpp­chen fei­ner, ro­ter Him­mels­schlüs­sel­chen bei­ein­an­der, und dort schim­mer­te es ganz blau von den schö­nen En­zia­nen, und über­all lach­ten und nick­ten die zart­blät­te­ri­gen, gol­de­nen Cys­tus­röschen in der Son­ne. Vor Ent­zücken über all die flim­mern­den win­ken­den Blüm­chen ver­gaß Hei­di so­gar die Gei­ßen und auch den Pe­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­