Ken Follett, geboren 1949, war siebenundzwanzig, als er den Thriller Die Nadel schrieb. Seitdem hat er zahlreiche weitere Bestseller geschrieben, darunter die Welterfolge Die Säulen der Erde und Der dritte Zwilling. Ken Follett lebt wahlweise in Chelsea, London, und in Stevenage, Hertfortshire, dem Wahlkreis seiner Frau Barbara, die als Labour-Abgeordnete dem britischen Unterhaus angehört.
Ken Follet
Mitternachtsfalken
Roman
Aus dem Englischen von
Till R. Lohmeyer und Christel Rost
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2002 by Ken Follett
Titel der englischen Originalausgabe: »Hornet Flight«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2003/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: HildenDesign, München,
Johannes Wiebel und Andrea Barth
Umschlagmotiv: Eigenarchiv, Photodisc, Corbis
Illustrationen: Tina Dreher, Alfeld /Leine
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-0344-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Einiges von dem, was folgt,
ist tatsächlich geschehen.
Ein Mann mit einem Holzbein ging über den langen Flur eines Krankenhauses.
Er war dreißig Jahre alt, ein untersetzter, kräftiger Typ mit sportlich durchtrainierter Figur, und trug einen einfachen anthrazitfarbenen Anzug zu schwarzen Halbschuhen mit Zehenkappen. Er ging schnell, doch eine leichte Unregelmäßigkeit in seinem Schritt – tap-tapp, tap-tapp – gab seine Behinderung preis. Seine Miene verriet grimmige Entschlossenheit; es sah aus, als unterdrücke er eine tiefe innere Erregung.
Am Ende des Korridors blieb er vor einem Schalter stehen, hinter dem eine Krankenschwester saß. »Flight Lieutenant Hoare?«, fragte er.
Die Krankenschwester, ein hübsches, schwarzhaariges Mädchen, blickte von einer Liste auf. Als sie sprach, verriet der weiche Akzent ihre Herkunft aus der Umgebung von Cork. »Sie sind ein Verwandter, nehme ich an«, sagte sie mit freundlichem Lächeln.
Ihr Charme verfing nicht. »Der Bruder«, sagte der Besucher. »Welches Bett?«
»Das letzte auf der linken Seite.«
Er kehrte auf dem Absatz um, betrat den großen Krankensaal und steuerte zielbewusst auf die Stelle zu, die ihm genannt worden war. Auf einem Stuhl neben dem Bett, mit dem Rücken zum Gast, saß eine Gestalt in einem braunen Morgenmantel, rauchte und sah aus dem Fenster hinaus.
Der Besucher blieb unschlüssig stehen. »Bart?«
Der Mann erhob sich und drehte sich um. Er trug einen Kopfverband, und sein linker Arm lag in einer Schlinge. Dennoch lachte er. Er sah aus wie eine jüngere, größere Ausgabe des Besuchers. »Hallo, Digby!«
Digby umarmte seinen Bruder und drückte ihn fest an sich. »Ich dachte schon, du wärst tot«, sagte er.
Dann brach er in Tränen aus.
»Ich flog eine Whitley«, sagte Bart. Die Armstrong Whitworth Whitley, das »fliegende Scheunentor«, war ein schwerfälliger, lang gestreckter Bomber, der sich durch eine ungewöhnliche, leicht nach unten geneigte Fluglage auszeichnete. Im Frühjahr 1941 verfügte das Bomber Command der Royal Air Force über siebenhundert Maschinen insgesamt, darunter einhundert dieses Typs. »Eine Messerschmitt hat auf uns gefeuert und mehrere Treffer gelandet«, fuhr Bart fort. »Aber anscheinend reichte ihr der Sprit nicht für die weitere Verfolgung – jedenfalls schwang sie plötzlich ab, ohne uns den Rest zu geben. Muss irgendwie dein Glückstag sein, sagte ich mir, doch da verloren wir schon rapide an Höhe. Die Messerschmitt musste beide Triebwerke erwischt haben. Um das Gewicht zu reduzieren, warfen wir alles raus, was nicht niet- und nagelfest war, aber es half nichts. Uns blieb nur noch die Notwasserung in der Nordsee.«
Digby hatte sich auf die Bettkante gesetzt. Seine Augen waren wieder trocken. Aufmerksam beobachtete er das Gesicht seines Bruders, sah den »Tausendmeterblick«, als Bart seiner Erinnerung freien Lauf ließ.
»Ich wies die Crew an, die hintere Luke abzusprengen und sich, fest an die Außenhaut der Maschine gepresst, auf die Notwasserung vorzubereiten.« Digby entsann sich, dass die Whitley fünf Mann Besatzung hatte. »Als wir fast unten waren, riss ich den Steuerknüppel zurück und stellte die Motoren ab, aber die Maschine ließ sich nicht mehr ganz abfangen. Es hat furchtbar gekracht, als wir auf die Wasseroberfläche aufschlugen. Ich verlor das Bewusstsein.«
Sie waren Stiefbrüder, acht Jahre auseinander. Digbys Mutter war gestorben, als er dreizehn war, worauf sein Vater eine Witwe geheiratet hatte, die einen Jungen mit in die Ehe brachte. Von Anfang an hatte sich Digby um seinen kleinen Bruder gekümmert, hatte ihn vor Rabauken in Schutz genommen und ihm bei den Schularbeiten geholfen. Beide waren sie Flugzeugnarren gewesen und hatten von einer Pilotenkarriere geträumt. Digby verlor sein rechtes Bein bei einem Motorradunfall, studierte Ingenieurwissenschaften und wurde dann Flugzeugkonstrukteur. Bart dagegen erfüllte sich seinen Traum.
»Als ich wieder zu mir kam, roch es nach Rauch. Die Maschine trieb auf dem Wasser, und der rechte Flügel brannte. Die Nacht war schwarz wie ein Grab, erhellt nur durch die Flammen. Ich kroch durch den Rumpf, fand das aufblasbare Schlauchboot, stieß es durch die Luke und sprang hinterher. Mein Gott, war das Wasser kalt!«
Er sprach leise und war sehr ruhig, sog aber zwischendurch immer wieder heftig an seiner Zigarette, inhalierte tief und blies den Rauch dann in einer dünnen Fahne durch die fest zusammengekniffenen Lippen. »Ich trug eine Schwimmweste, deshalb wurde ich wie ein Korken wieder an die Wasseroberfläche gezogen. Die Dünung war ziemlich stark, und ich ging rauf und runter wie ’n Nuttenschlüpfer. Nur mit dem Schlauchboot kam ich nicht zurecht. Es schwamm zwar glücklicherweise direkt vor meiner Nase, ich konnte also die Leine ziehen und es blies sich auch von selbst auf – nur, ich kam nicht rein, hatte einfach nicht die Kraft, mich aus dem Wasser zu hieven. Ich begriff es einfach nicht – weil mir nicht klar war, dass ich mir drei Rippen angeknackst, das linke Handgelenk gebrochen und obendrein auch noch die Schulter ausgekugelt hatte. Also hab ich mich einfach festgehalten und fing langsam an zu erfrieren.«
Es hat mal eine Zeit gegeben, dachte Digby, da hielt ich Bart für den Glücklicheren von uns zweien …
»Nach einer Ewigkeit, wie mir schien, tauchten plötzlich Jones und Croft auf. Sie hatten sich so lange ans Leitwerk der Maschine geklammert, bis es unterging. Schwimmen konnten sie beide nicht, aber ihre Schwimmwesten retteten ihnen das Leben. Es gelang ihnen, ins Boot zu klettern und mich reinzuziehen.« Bart zündete sich eine neue Zigarette an. »Pickering habe ich nirgends gesehen. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, aber ich muss wohl annehmen, dass er irgendwo auf dem Meeresgrund liegt.«
Er schwieg. Über einen hat er noch kein Wort verloren, dachte Digby und fragte nach einer kleinen Pause: »Und der fünfte Mann?«
»John Rowley, der Bombenschütze, hatte den Absturz überlebt. Ich hörte ihn schreien, war aber nicht ganz bei mir. Jones und Croft versuchten, in die Richtung zu rudern, aus der sie ihn hatten rufen hören.« Bart schüttelte den Kopf in einer Geste hilfloser Verzweiflung. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer das war. Die Dünung muss so um einen bis anderthalb Meter hoch gewesen sein, und allmählich erstarben die Flammen, sodass wir immer weniger sehen konnten. Dazu heulte der Wind wie ein Nachtgespenst. Jones brüllte – und er hat eine verdammt laute Stimme. Rowley antwortete, und gleichzeitig jagte das Schlauchboot einen Wellenkamm hoch, auf der anderen Seite wieder runter und drehte sich dabei noch um die eigene Achse. Als Rowley wieder zu hören war, schien es aus einer ganz anderen Richtung zu kommen als beim letzten Mal. Ich weiß nicht, wie lange das so ging – aber mir fiel auf, dass Rowleys Stimme jedes Mal schwächer wurde. Die Kälte.« Barts Miene erstarrte. »Er fing an – na ja, zu jammern, irgendwie. Rief den lieben Gott an und seine Mutter und all so was, weißt du. Und dann war er plötzlich still.«
Digby merkte, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte, als sähe er schon im leisen Hauch des Atemholens eine aufdringliche Störung jener grauenvollen Erinnerungen.
»Kurz nach Anbruch der Morgendämmerung hat uns ein Zerstörer aufgefischt, der nach U-Booten suchte. Sie ließen ein Beiboot runter und zogen uns rein.« Bart starrte aus dem Fenster, wie blind für die grüne Landschaft von Hertfordshire. Vor seinem inneren Auge spielte sich eine andere, weit entfernte Szene ab. »Ich muss schon sagen, verdammtes Schwein gehabt«, erklärte er.
Eine Zeit lang saßen sie nur da und schwiegen. Dann fragte Bart: »War der Angriff überhaupt erfolgreich? Kein Mensch will mir sagen, wie viele zurückgekommen sind.«
»Eine Katastrophe«, erwiderte Digby.
»Und meine Staffel?«
»Sergeant Jenkins und seine Crew sind heil zurückgekommen.« Digby zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Desgleichen Pilot Officer Arasaratnam – wo kommt denn der her?«
»Aus Ceylon.«
»Sergeant Rileys Maschine wurde getroffen, schaffte es aber zurück.«
»Typisch Ire, die haben immer Glück«, sagte Bart. »Und der Rest?«
Digby schüttelte nur den Kopf.
»Aber bei dem Angriff waren doch sechs Maschinen aus meiner Staffel dabei!«, protestierte Bart.
»Weiß ich. Außer dir wurden noch zwei andere abgeschossen. So, wie es aussieht, gab es keine Überlebenden.«
»Dann ist Creighton-Smith also tot … und Billy Shaw auch. Und … o Gott!« Er wandte sich ab.
»Es tut mir Leid.«
Barts Stimmung schlug um, seine Verzweiflung verwandelte sich in Wut. »Das reicht mir nicht«, sagte er. »Man schickt uns da raus, damit wir verrecken!«
»Ich weiß.«
»Herrgott noch mal, Digby, du gehörst doch selber zu dieser verdammten Regierung!«
»Ich arbeite für den Premierminister, ja.« Mit Vorliebe holte sich Winston Churchill Leute aus der Privatindustrie in Regierung und Verwaltung. Digby Hoare, vor dem Krieg ein erfolgreicher Flugzeugbauer, war einer seiner Krisenmanager.
»Dann bist du genauso schuldig wie die anderen. Was verplemperst du deine Zeit mit Krankenbesuchen? Verschwinde und tu endlich was, damit das nicht so weitergeht!«
»Ich tu ja was«, erwiderte Digby ruhig. »Mein Auftrag ist es, herauszufinden, wie das geschehen konnte. Wir haben bei diesem Angriff die Hälfte unserer Maschinen verloren.«
»Verrat auf höchster Ebene, nehme ich an. Oder irgend so ein blöder Luftmarschall hat in seinem Club das Maul zu weit aufgerissen und über den Angriff am nächsten Tag geschwafelt – und der Barkeeper war ein Nazi und hat hinterm Tresen alles mitgeschrieben …«
»Das ist eine Möglichkeit, ja.«
Bart seufzte. »Tut mir Leid, Diggers«, sagte er. »Diggers« war Digbys Spitzname aus Kindertagen. »Ist nicht deine Schuld – mir ist bloß der Kragen geplatzt.«
»Mal im Ernst – hast du vielleicht eine Ahnung, warum so viele abgeschossen werden? Du hast doch schon über ein Dutzend Einsätze hinter dir. Hast du einen Tipp?«
Bart überlegte. »Das mit den Spionen war nicht bloß so dahergeredet. Wenn wir drüben ankommen, warten die Deutschen schon auf uns. Sie wissen, dass wir kommen.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ihre Maschinen sind schon in der Luft. Sie erwarten uns. Du weißt doch, wie schwer es ist, die Abfangjäger zur rechten Zeit in der Luft zu haben. Der Alarmstart muss genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgen. Die Staffel muss vom Fliegerhorst aus den Luftraum finden, in den wir voraussichtlich einfliegen werden, muss dann höher steigen als wir und uns schließlich auch noch im Mondlicht finden. Das dauert normalerweise so lange, dass wir unsere Bomben abwerfen und wieder abhauen können, bevor sie uns erwischen. Aber so läuft’s leider nicht.«
Digby nickte. Barts Erfahrungen stimmten mit denen der anderen Piloten überein, die er befragt hatte. Er wollte es Bart gerade bestätigen, als dieser plötzlich aufsah und jemanden anlächelte, der hinter Digby stand. Als Digby sich umdrehte, stand ein Schwarzer in der Uniform eines Squadron Leaders hinter ihm. Ebenso wie Bart war er für seinen Rang noch recht jung; Digby vermutete, dass seine Beförderungen die automatische Folge seiner Kampfeinsätze war – Flight Lieutenant nach zwölf, Squadron Leader nach fünfzehn Feindflügen.
»Hallo, Charles«, sagte Bart.
»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht, Bartlett. Wie geht’s dir?« Der Besucher hatte einen karibischen Akzent, überlagert von einem unüberhörbaren Oxford-Näseln.
»Ich darf weiterleben, sagen die Ärzte.«
Charles berührte mit der Fingerspitze Barts Handrücken, genau an der Stelle, wo die Hand aus der Schlinge ragte. Seltsame Geste der Zuneigung, dachte Digby. »Freut mich riesig«, sagte Charles.
»Darf ich dir meinen Bruder Digby vorstellen, Charles? – Digby, das ist Charles Ford. Wir waren zusammen am Trinity College, bevor wir zur Air Force gingen.«
»Nur so konnten wir uns vor dem Examen drücken«, sagte Charles und schüttelte Digby die Hand.
»Wie wirst du von den Afrikanern behandelt?«, wollte Bart wissen.
Charles lächelte und erklärte Digby, was gemeint war: »Auf unserer Airbase gibt es eine Rhodesierstaffel. Erstklassige Flieger, aber sie tun sich schwer mit einem Offizier meiner Hautfarbe. Wir nennen sie ›Afrikaner‹, was sie immer leicht auf die Palme bringt – ich weiß auch nicht, warum.«
»Sie lassen sich jedenfalls nicht unterkriegen, Charles«, sagte Digby.
»Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns mit Geduld und besserer Erziehung und Ausbildung gelingen wird, solche Leute irgendwann zu zivilisieren, auch wenn sie uns gegenwärtig noch recht primitiv erscheinen.« Charles wandte den Blick ab, und Digby nahm hinter der humorigen Bemerkung einen Anflug von Zorn wahr.
»Ich habe Bart gerade gefragt, warum wir so viele Bomber verlieren«, sagte Digby. »Was meinen Sie dazu?«
»Bei dem Angriff, um den es hier geht, war ich nicht dabei«, sagte Charles. »Und nach allem, was ich so gehört habe, war das ein Riesenglück. Aber wir hatten in jüngster Zeit ja schon einige solcher Fehlschläge. Ich hab das Gefühl, dass die Luftwaffe uns durch die Wolken hindurch verfolgen kann. Haben die vielleicht irgendein Gerät an Bord, das uns selbst dann aufspürt, wenn wir gar nicht zu sehen sind?«
Digby schüttelte den Kopf. »Jede abgestürzte Feindmaschine wird peinlich genau untersucht, aber so ein Gerät haben wir bisher nicht gefunden. Wir setzen alles daran, so etwas zu erfinden, und der Feind sicher auch – doch obwohl wir vermutlich einen deutlichen Vorsprung haben, ist ein Durchbruch noch nicht abzusehen. Nein, ich glaube wirklich nicht, dass das der Grund ist.«
»Aber es kommt einem so vor.«
»Ich glaube immer noch, dass Spione dahinter stecken«, warf Bart ein.
»Interessant.« Digby erhob sich. »Ich muss zurück nach Whitehall. Danke für eure Hinweise – die sind ganz hilfreich für meine Gespräche mit den Herrschaften in den entscheidenden Etagen.« Er verabschiedete sich von Charles mit Handschlag und drückte Barts unversehrte Schulter. »Bleib still sitzen und bessere dich!«
»Man hat mir gesagt, dass ich in ein paar Wochen wieder fliegen kann.«
»Das macht mich nicht gerade glücklich.«
Als Digby sich zum Gehen wandte, sagte Charles: »Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Aber natürlich.«
»Bei Angriffen wie diesem hier sind unsere Kosten für die verlorenen Maschinen doch viel höher als die für die Bombenschäden, die der Feind reparieren muss – oder?«
»Ja, zweifellos.«
»Und …«, Charles breitete die Arme aus, um zu demonstrieren, dass er nicht mehr weiterwusste, »… warum fliegen wir sie dann? Was ist der Sinn dieser Bombenangriffe?«
»Ja«, pflichtete Bart ihm bei, »das würde mich auch interessieren.«
»Was bleibt uns anderes übrig?«, fragte Digby zurück. »Die Nazis beherrschen Europa: Österreich, die Tschechoslowakei, Holland, Belgien, Frankreich, Dänemark und Norwegen. Italien ist mit den Deutschen verbündet, Spanien ein Sympathisant, Schweden neutral, und mit Russland haben sie einen Nichtangriffspakt. Wir verfügen über keinerlei Truppen auf dem Festland. Wir haben gar keine andere Möglichkeit, uns zu wehren.«
Charles nickte. »Dann sind wir alles, was ihr habt.«
»Genau«, sagte Digby. »Wenn die Bombenangriffe aufhören, ist der Krieg zu Ende – und Hitler hat ihn gewonnen.«
Der Premierminister sah sich gerade Der Malteserfalke an. In der alten Küche des Hauses der Admiralität war jüngst ein kleines Privatkino eingerichtet worden. Es hatte fünfzig oder sechzig Plüschsitze und einen Vorhang aus rotem Samt, doch was hier gezeigt wurde, waren überwiegend Filme über Bombenangriffe und Propagandastreifen, die noch nicht für die Öffentlichkeit freigegeben worden waren.
Spätabends, wenn alle diplomatischen Noten diktiert, alle Telegramme versandt, alle Berichte studiert und mit Anmerkungen versehen und alle Protokolle paraphiert waren, saß Churchill mit einem Glas Brandy in der Hand in einem der großen Logenplätze in der ersten Reihe und verlor sich in den jüngsten Verführungen aus Hollywood.
Als Hoare den Vorführraum betrat, erklärte Humphrey Bogart gerade Mary Astor, von einem Mann, dessen Partner ermordet worden sei, werde erwartet, dass er was dagegen unternimmt. Die Luft war schwer vom Zigarrenrauch. Churchill deutete auf einen Sitz. Hoare folgte der Einladung und sah sich die letzten Minuten des Streifens an. Als vor dem Hintergrund einer schwarzen Falkenstatue der Abspann lief, berichtete Hoare seinem Vorgesetzten, dass die Luftwaffe offenbar im Voraus über die Angriffe des Bomber Command informiert sei.
Als er mit seiner Erklärung zu Ende war, starrte Churchill sekundenlang die Leinwand an, als warte er immer noch auf die Aufklärung, wer denn nun den Bryan gespielt habe. Manchmal war der Premierminister ausgesprochen charmant, lächelte gewinnend und seine blauen Augen funkelten, doch an diesem Abend schien er in Trübsal versunken zu sein. Endlich sagte er: »Was meint die Royal Air Force dazu?«
»Die machen schlechtes Formationsfliegen dafür verantwortlich. Wenn die Bomber im engen Verband aufschließen, müssen ihre Geschütze theoretisch den gesamten Luftraum abdecken und jede feindliche Maschine, die sich in ihre Nähe wagt, sofort abschießen.«
»Und was meinen Sie dazu?«
»Das ist Quatsch. Nur mit Formationsfliegen hat das noch nie geklappt. Da gibt’s doch immer wieder neue Faktoren in der Gleichung.«
»Meine ich auch. Aber woran liegt’s dann?«
»Mein Bruder glaubt, dass Spione dahinter stecken.«
»Alle Spione, die uns ins Netz gegangen sind, waren Amateure – aber darum haben wir sie ja auch erwischt. Kann sein, dass uns die wahren Könner bisher durch die Lappen gegangen sind.«
»Vielleicht ist den Deutschen ein technischer Durchbruch gelungen.«
»Unser Geheimdienst sagt mir, dass der Feind in der Entwicklung der Radartechnologie meilenweit hinter uns herhinkt.«
»Halten Sie diese Einschätzung für glaubwürdig?«
»Nein.« Die Deckenlichter gingen an. Churchill trug einen Abendanzug, hatte allerdings das Jackett abgelegt. Er war immer nach der Mode gekleidet, doch sein Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet. Aus seiner Westentasche zog er einen zusammengefalteten Bogen aus dünnem Durchschlagpapier. »Hier«, sagte er und reichte Hoare den Zettel, »das ist ein Hinweis.«
Hoare studierte den Text. Es handelte sich allem Anschein nach um die dekodierte Abschrift eines Funkspruchs der Luftwaffe, auf Deutsch und auf Englisch. Die neue Strategie der Luftwaffe – »Dunkle Nachtjagd« – sei von einem triumphalen Erfolg gekrönt worden, hieß es in der Botschaft, und zwar »dank der hervorragenden Informationen von Freya«. Hoare las die Nachricht noch einmal durch, erst die englische und dann die deutsche Version. »Freya« war ein Wort, das ihm in keiner der beiden Sprachen etwas sagte. »Was soll das heißen?«, fragte er.
»Finden Sie ’s raus. Das ist genau das, was ich von Ihnen will.« Churchill erhob sich und schlüpfte in sein Jackett. »Begleiten Sie mich zurück«, sagte er und rief, als sie den Kinosaal verließen: »Vielen Dank!«
Aus der Kabine des Filmvorführers antwortete eine Stimme: »War mir ein Vergnügen, Sir!«
Auf dem Weg durchs Haus schlossen sich ihnen zwei Männer an und folgten ihnen: Inspektor Thompson von Scotland Yard und Churchills persönlicher Leibwächter. Auf dem Paradeplatz vor dem Haus kamen sie an einer Gruppe von Leuten vorbei, die damit beschäftigt waren, einen Fesselballon startklar zu machen. Durch ein Tor in dem Stacheldrahtverhau, der das Gelände umschloss, erreichten sie die Straße. London war verdunkelt, doch das Licht der aufgehenden Mondsichel war so stark, dass sie sich problemlos orientieren konnten.
Über die Horse Guards Parade gelangten sie zu Nr. 1, Storey’s Gate. Der rückwärtige Teil von Number Ten, Downing Street, dem traditionellen Wohnsitz der englischen Premierminister, war durch einen Bombentreffer beschädigt worden; deshalb lebte Churchill jetzt in einem nahe gelegenen Anbau über dem Lagezentrum des Kabinetts. Den Eingang schützte eine bombensichere Mauer. Durch eine Schießscharte ragte der Lauf eines Maschinengewehrs.
»Gute Nacht, Sir«, sagte Hoare.
»So kann es nicht weitergehen«, sagte Churchill. »Bei diesen Verlustraten ist das Bomber Command bis Weihnachten erledigt. Ich muss wissen, wer oder was Freya ist.«
»Ich werde es herausfinden.«
»Tun Sie das – und zwar so schnell wie möglich.«
»Jawohl, Sir.«
»Gute Nacht«, sagte der Premierminister und betrat das Haus.