Chris Holm
So was von tot
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Karin Diemerling
Knaur e-books
Michael Hendricks ist ein Auftragskiller der ganz besonderen Art: Er tötet ausschließlich andere Auftragskiller. Er weiß, wen das organisierte Verbrechen als Nächsten aus dem Weg räumen will. Er weiß, wie und wo man das rauskriegt. Sein Geschäftsmodell: Er sucht das Opfer auf, sagt ihm gnadenlos die Wahrheit – und macht ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann: Zahl mir zehnmal so viel wie dem Killer, der auf dich angesetzt ist, und ich blas dem Kerl das Lebenslicht aus. Bisher hat er noch nie danebengeschossen, vierzig Mal tödliche Präzision. Doch dann steht er plötzlich selbst auf der Abschussliste eines Auftragskillers …
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»The Killing Kind« bei Mulholland Books, NY.
© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2015 by Chris Holm
This edition published by arrangement with Little, Brown and Company, New York, New York, USA. All rights reserved.
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Viola Eigenberz
Covergestaltung: Andy Jörder / nd80.de
Coverabbildung: Andy Jörder
ISBN 978-3-426-43489-5
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Für Katrina –
wieder einmal oder
zum ersten Mal.
Das Gesetz ist billig wie keines,
dass Anstifter des Mords sterben
durch eigene Kunst.
Ovid
Wir können nicht alle Heilige sein.
John Dillinger
Die Straßen von Downtown Miami flirrten in der Abendhitze, die Sommerluft war gesättigt von Gewürzen und Gesang. Neonlichter, Rum und eine warme Meeresbrise taten ihr Übriges, um alles vor sinnlicher Erwartung vibrieren zu lassen. Es war immerhin ein Freitagabend in der aufregendsten Stadt der Welt – alles konnte passieren, und häufig genug passierte es auch. Trotzdem vermutete niemand, der an diesem Abend durch den breiten, modernen Säulenvorbau des Firmengebäudes von Morales Incorporated ging, dass er gerade an der Stelle vorbeigekommen war, an der in Kürze ein Mensch sterben würde.
Edgar Morales schob sich durch die Drehtür des schimmernden Stahl- und Glasbaus, der seinen Namen trug, und trat hinaus auf den sonnendurchglühten Asphalt. Nach einem ganzen Tag im klimatisierten Komfort seines Büros brachte ihn der heiße Atem der Stadt zum Schwitzen. Er sah auf seine Uhr. Es war dreizehn nach sechs. An den meisten Tagen wurde er pünktlich um Viertel nach sechs von seinem Chauffeur abgeholt, aber heute war keiner von diesen Tagen. Heute würde Morales’ Wagen nicht kommen, denn er war fahruntüchtig gemacht worden. Die Reparatur würde seinen Chauffeur lange genug aufhalten, damit Morales eine Weile ungeschützt dort stand und der Killer im Auftrag der »Corporation«, wie die kubanische Mafia sich nennt, seinen Job machen konnte.
Für Michael Hendricks’ Geschmack stand er jedoch nicht ungeschützt genug.
Hendricks beobachtete Morales von seinem etwa vier Häuserblocks entfernten Standort aus durch das Zielfernrohr seines M40A3-Scharfschützengewehrs. Die Sicht wurde von der abgedunkelten Scheibe leicht verfälscht, ebenso vom Vibrieren des gestohlenen Escalades, dessen Klimaanlage auf Hochtouren lief, um das geräumige Innere zu kühlen. Hendricks hatte den Wagen vor ein paar Stunden auf einem Langzeitparkplatz von Miami International gefunden. Schwarz glänzend, mit verchromten Felgen, dem großen Innenraum und den getönten Scheiben rundherum gab er den perfekten Scharfschützenverschlag für Downtown Miami ab. Eigentlich hätte er sich lieber auf einem der vielen Hochhäuser gegenüber von Morales Incorporated postiert – bei Schüssen von oben war die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sich ein Hindernis vor das Ziel schob, und man konnte sowohl Augenzeugen als auch Fluchtwege leichter einkalkulieren –, aber dieser verdammte Vorbau würde einem die Sicht auf den Eingang nehmen. Also hatte er sich anders behelfen müssen und einem Portier hundert Dollar für das Privileg zugesteckt, in der äußersten Ecke eines Boutique-Hotel-Parkplatzes parken zu dürfen, von wo sich einigermaßen gute Sicht auf den Gebäudeeingang bot. Früher hätte man in dieser Stadt für hundert Dollar ein Zimmer bekommen, aber heute nicht mehr, schon gar nicht in dieser Gegend.
Er saß schon seit einer Stunde hier und hatte dem vorbeifließenden Verkehr zugesehen, während die Klimaanlage vergeblich gegen die drückende Hitze und Feuchtigkeit anpustete. Die Luft stand dermaßen, dass die langen Stoffstreifen, die er als Windanzeiger an ein paar Straßenschildern angebracht hatte, sich nicht mal andeutungsweise bewegten. Die Windstille war jedoch von Vorteil. Wind kam gleich an zweiter Stelle nach der Schwerkraft, was den Einfluss auf die Flugbahn einer Kugel betraf, und war viel schwieriger zu berechnen, da es sich nicht um eine konstante Kraft handelte. Allerdings musste er die Luftfeuchtigkeit mit berücksichtigen. Stark wasserhaltige Luft wie hier würde das Projektil verlangsamen, und zwar in einem Maße, dass die Kugel aus dieser Entfernung um ganze acht Zentimeter tiefer auftreffen würde. Acht Zentimeter konnten den Unterschied zwischen einem Todesschuss und einem Streifschuss ausmachen.
Die Schwüle war widerlich, fand Hendricks, genauso wie der ungetrunkene Café con leche in dem Becherhalter neben ihm – zähflüssig, süßlich, klebrig. Und die Farbpalette dieser Stadt ging ihm auf die Nerven, alles war kanariengelb, korallenrosa und aquamarinblau. Er vermisste die dunklen Grün- und kalten Blautöne des nördlichen New England, wo selbst die heißeste Sommersonne die tieferen Waldsenken nicht erwärmen konnte und das Wasser das ganze Jahr über kalt strömte. Miami war schön, sicher, aber seine Schönheit war so künstlich wie die silikongepolsterten Frauen in seinen Straßen.
Alles hier wirkte falsch und oberflächlich.
Das Beste war, den Job schnell hinter sich zu bringen, und dann nichts wie weg.
Durch das Fernrohr beobachtete Hendricks, wie Morales nach links und rechts blickte, die dichtbefahrene Straße anscheinend nach seinem verspäteten Wagen absuchte, und dann die breiten Betonstufen zum Bordstein hinunterging. Männer in Businessanzügen rangelten neben braungebrannten Frauen in knapper Strandkleidung um die beste Startposition, während sie darauf warteten, dass die Fußgängerampel grün wurde.
»Es geht los«, sagte Hendricks. Er stellte den Motor ab, ließ aber die Zündung an. Um ihn herum wurde es still, auch das Vibrieren hörte auf. »Bist du im System?«
»Ich bin drin«, kam die Antwort durch sein Bluetooth-Headset, »aber ich sage dir, die Security ist erstklassig. Sie führt in Fünf-Sekunden-Intervallen eine Selbstdiagnose durch. Sobald ein unautorisierter Befehl entdeckt wird, löst sie einen Alarm aus. Und dann sind die Cops in Minutenschnelle an deiner Position.«
»Soll das heißen, du kriegst es nicht hin?«
»Das soll heißen, dass du drei Sekunden nach dem Startsignal hast, nicht mehr.«
»Dann sollte ich diese Sekunden gut nutzen«, sagte Hendricks. »Auf mein Signal.«
Morales stand jetzt am Straßenrand. Hendricks schwenkte sein Gewehr nach links, dann nach rechts, prüfte die Lage durch das Fernrohr.
Zufrieden nickend ließ er das Beifahrerfenster ein Stück herab und nahm sein Ziel durch den Spalt ins Visier, wobei er das Zweibein der Waffe auf der lederbezogenen Armlehne abstützte.
»Anvisiert.«
Sofort sprangen die Ampeln in der ganzen Umgebung um, so dass an den Kreuzungen für die Fahrspuren, die zu diesem Straßenabschnitt hinführten, rot war, und für die, die von ihm wegführten, grün. Als der Verkehr vor dem Morales-Gebäude ausdünnte, wurde auch die Fußgängerampel grün, und der Menschenpulk um Morales überquerte die Fahrbahn.
»Drei«, sagte die Stimme in seinem Ohr.
Hendricks atmete bewusst ein und hielt die Luft an. Sein Körpergedächtnis führte die komplexen Berechnungen für den Schuss quasi automatisch aus und nahm unter Berücksichtigung von Hitze, Luftdruck und Höhe über dem Meeresspiegel die Feineinstellungen vor. Sein Herz schlug langsam und regelmäßig.
»Zwei.«
Sonst vollkommen reglos, drückte Hendricks den Abzug – dreizehn Newton-Kraft, nicht mehr und nicht weniger.
»Eins.«
Ein Donnerkrachen hallte durch die Straße.
Als Morales den Schuss hörte, ging er in Deckung. Das musste Hendricks ihm lassen, seine Reaktionsfähigkeit war gut, er duckte sich eine volle Sekunde vor allen anderen in Sichtweite. Doch sein Selbsterhaltungstrieb hätte ihm letztendlich nichts genützt, denn sobald man den Knall hört, ist die Kugel schon da – oder vorbeigezischt.
Zum Glück für Morales war nicht er Hendricks’ Zielobjekt.
Hendricks’ Zielobjekt war Javier Cruz, der Auftragskiller, den die kubanische Mafia auf Morales angesetzt hatte. Ein Fußsoldat der Corporation schon seit ihren Anfängen, als sie noch von Little Havana aus Schiebereien mit der Bolita-Lotterie betrieb, hatte er mehr Menschen getötet, als er selbst zählen konnte.
Nicht, dass man es ihm angesehen hätte. Viele der Passanten, denen er auf seinem schlendernden Weg die Brickell hinunter auf Morales Incorporated zu begegnet war, hatten wahrscheinlich ein Lächeln für den netten älteren kubanischen Herrn mit seinem blütenweißen Guayabera-Hemd, der Naturleinenhose und dem Strohfedora übrig gehabt. Sie ahnten nicht, dass sich unter seinem stahlgrauen Schnurrbart die hässliche Narbe einer von einem Polizeischlagstock gespaltenen Lippe verbarg und dass der fragliche Polizist den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr erlebt hatte. Sie konnten nicht wissen, dass sein Hinken nicht alters- oder ischiasbedingt war, sondern durch zwei Bleikugeln verursacht, die ihm die Frau eines Lokalpolitikers verpasst hatte, dessen erklärtes Ziel es gewesen war, den Machenschaften der Corporation einen Riegel vorzuschieben. Sie war eines Nachts, als ihr Mann verreist war, aufgewacht und hatte Cruz in ihrem Schlafzimmer vorgefunden, und wenn sie nicht so schön gewesen wäre – oder so splitterfasernackt –, hätte er ihr wohl nicht die Zeit gelassen, an die Pistole in ihrem Nachttisch zu gelangen. Zwei Kugeln gruben sich in sein Bein ein, und er vergrub die Frau an einem halben Dutzend Stellen im ganzen Staat und ließ nur ein blutgetränktes Schlafzimmer und einen Ringfinger, plaziert auf einem Foto ihrer vier Töchter, für ihren Mann zurück. Der Mann erwähnte die Corporation mit keinem Wort mehr.
Die Leute, an denen Cruz vorbeikam, wussten nicht, dass sie auf Tuchfühlung mit einem Ungeheuer waren. Zum Pech für Cruz jedoch, wusste es Hendricks.
Und zum Pech für Cruz schoss Hendricks nie daneben.
Nachdem er abgedrückt hatte, explodierte der Kopf des Kubaners. Einen kurzen Augenblick lang stand der Rest von ihm noch aufrecht, eine Stahlklinge in der Hand, während sein blutiger Fedora hinter ihm zu Boden segelte. Dann brach er auf dem Bürgersteig zusammen wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren.
Als der Hall des Gewehrschusses verebbte, erfüllten Panikgeräusche den Abend. Das Kreischen von Stimmen und Quietschen von Reifen. Hysterisches Gehupe. Schnell näher kommendes Sirenengeheul. Alle Passanten in Hörweite waren durch die Fülle von Schreckensmeldungen in den Nachrichten darauf eingestellt, noch einen zweiten Schuss zu hören oder gar einen dritten, vierten. Darauf eingestellt, sich zu fragen, ob sie zu einer weiteren Markierung auf dem Kerbholz des Killers würden.
Hendricks dagegen zog ruhig das Gewehr ein und fuhr die getönte Scheibe hoch. Er wusste, dass es mehrere Minuten dauern würde, bis man festgestellt hatte, woher der Schuss gekommen war, was ihm mehr als genug Zeit zur Flucht ließ.
»Bist du sauber aus dem System raus?«, fragte er.
»Was glaubst du eigentlich, mit wem du es zu tun hast?«, erwiderte die Stimme in seinem Ohr. »Sie werden nicht mal merken, dass ich drin war.«
»Gut«, sagte Hendricks. »Ich bin weg.«
»Gute Reise.«
Auf dem Gehweg vor dem Gebäude von Morales Incorporated rappelte sich Edgar Morales aschfahl und zitternd auf die Beine. Er konnte den Blick nicht von der Leiche seines Attentäters abwenden. Wenn er auch nur im Entferntesten geahnt hätte, dass es so weit kommen würde, als er begonnen hatte, billige Wohnblocks im anrüchigen Goulds-Viertel von Miami aufzukaufen – im Hinblick auf eine Gentrifizierung der Gegend und zugleich auf eine Säuberung dieser Hochburg des Drogenhandels der Corporation –, wäre sein altruistischer Zug hinter dem gesunden Selbsterhaltungstrieb zurückgetreten. Doch er hatte nichts geahnt, genauso wenig, wie er bis zu diesem Moment gewusst hatte, dass ihm zum Töten der Mumm fehlte, und sei es auch aus Notwehr.
Sein Handy klingelte in seiner Jackentasche. Morales zuckte zusammen wie unter einer Ohrfeige, dann ging er ran.
»H-hallo?«, meldete er sich.
»Mit Ihnen alles okay?«, fragte Hendricks.
Morales schluckte. Tatsächlich fühlte er sich alles andere als okay, aber er antwortete: »Ja. Ich nehme an, meine Zahlung ist eingegangen?«
»Wäre sie das nicht«, sagte Hendricks, »könnten Sie mich jetzt nicht danach fragen.«
Morales lachte. Abgehackt, bellend, manisch. »Das ist nicht gerade ein beruhigender Gedanke.«
»Na ja, sehen Sie es mal so: Jetzt haben Sie noch den Rest Ihres Lebens vor sich, um ihn zu verdauen. War mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«
Dann war die Leitung tot.
Es war ein kühler Augustabend am Südufer des Genfer Sees, und Jean-Luc Vians Schloss erstrahlte vor Kerzenschein – ein schimmerndes Juwel, eingeschmiegt in den Knittersamt der französischen Landschaft, deren satte Grüntöne allmählich ins Schwarze übergingen, als die Dämmerung der Dunkelheit wich. Das Anwesen war für ein prunkvolles Fest hergerichtet worden, und entlang der Auffahrt aus Natursteinplatten, die von dem schmalen Landsträßchen durch das mächtige, schmiedeeiserne Tor und vorbei am Gästehaus hinauf zum Haupthaus führte, standen lauter Luxuslimousinen. Vorwiegend BMW und Mercedes, dazwischen ein paar Jaguar, ein Bentley und sogar ein grauenvoller gelber Lamborghini, mit dem dieser rüpelhafte Fußballspieler namens Caravagas gekommen war, den Vian auf Drängen seiner Frau eingeladen hatte.
Zweifellos hatte diese betrügerische Schlampe den Kerl inzwischen in eins der zahlreichen Schlafzimmer gelockt, um ihn ihren diversen anderen Eroberungen hinzuzufügen, die für Gesprächsstoff bei jeder Dinnerparty von hier bis Paris sorgten.
Wäre sie nicht die Tochter des Außenministers, hätte sein Stolz ihm schon lange geboten, sie zu verlassen. Ihre Ehe beruhte auf politischer und gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit, wovon man zu Vians Betrübnis auch an den Schalthebeln der Macht nur allzu genaue Kenntnis hatte.
Immerhin konnte sie wenigstens die Party genießen, dachte Vian, während er sich offenbar auch heute Abend um Geschäftliches kümmern musste. Man hatte ihn per SMS aufgefordert, sich in eine höchst dringliche Telefonkonferenz einzuwählen. Was um diese späte Abendstunde so furchtbar dringlich sein konnte, hatte ihm sein Chef allerdings nicht verraten.
Vian tippte den Sicherheitscode in die Tastatur an seiner Bürotür. Ein elektronisches Surren, als das Schloss sich entriegelte, dann ging er hinein. Als er die Tür hinter sich zumachte, rastete das Schloss wieder ein, und die Musik des Streichquartetts verklang samt dem trunkenen Gelächter, abgehalten von den schallgedämmten Wänden.
Erst als er den Lampendimmer hochdrehte, merkte er, dass er nicht allein war.
»Wer sind Sie?«, fragte Vian. »Wie sind Sie …«
»… hereingekommen? Ich bitte Sie, Monsieur Vian, ein Mann Ihrer Herkunft und Ihres Intellekts wird doch nicht so banale Fragen stellen.« Der ungeladene Gast sprach ausgezeichnetes Französisch, wenn auch mit starkem Akzent. »Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass ich die erste beantworte, oder? Und was die zweite angeht, so könnten Sie mir den Verdruss einer Erklärung ersparen, indem Sie einen Augenblick darüber nachsinnen.«
Also sann Vian darüber nach. Es war ein Rätsel. Wie konnte dieser Mann die Torschranke durchbrochen haben und unbemerkt an all seinen Wachleuten vorbeigekommen sein? Ganz sicher gehörte er nicht zu den Geladenen, denn Vians Arbeitgeber, der ihm nicht nur eine eigene Wachmannschaft zur Verfügung stellte, sondern auch konsequent die Teilnehmer seiner Partys durchleutete, hatte ihm erst gestern die Dossiers geschickt, die für sämtliche Personen auf der Gästeliste zusammmengestellt worden waren, und dieser Mann war nicht darunter.
Vielleicht hatte er sich durch irgendeinen Bluff hereingemogelt. Auf jeden Fall war er für die Rolle des Partygängers gekleidet, in einen schmal geschnittenen schwarzen Anzug mit einem gestärkten taubengrauen Hemd und passender Krawatte. Er saß in Vians ledernem Schreibtischsessel, die schwarzen Anzugschuhe schräg auf die Tischkante gelegt, und trug schwarze Glacéhandschuhe an den schlanken Händen. Mit Bluffen allein jedoch hätte er keinen Zugang zu diesem Raum erhalten, denn nur Vian selbst kannte den Zugangscode. Genauer gesagt, er und sein Arbeitgeber, der die Türschlösser, das abhörsichere Telefon und die Internetverbindungen, auch die Schalldämmung, hatte installieren lassen.
Plötzlich ging Vian ein Licht auf. Die spätabendliche Aufforderung. Das fehlende Dossier über diesen Mann. Die Verletzung seines Allerheiligsten.
Anscheinend war sein Nutzen für die Firma neu bewertet worden.
Der Fremde bemerkte mit Genugtuung, wie Verwirrung in Verzweiflung umschlug. »Setzen Sie sich«, sagte er, schwang die Füße vom Schreibtisch und nahm beim Aufstehen eine schwarzglänzende Schusswaffe mit Schalldämpfer von der Schreibunterlage.
Vian gehorchte und ließ sich schwer auf einen der Stühle mit hoher Lehne vor dem Schreibtisch fallen.
»Gut«, sagte der Mann, und ein Lächeln huschte über seine Züge. »Und jetzt sagen Sie mir, weshalb ich hier bin.« Sein Gesicht war weder jung noch alt, seltsam abgeklärt und ohne Falten, als hätte er nie im Leben einen sorgenvollen Gedanken gehabt. Sein Haar war sandblond, vielleicht mit Grau durchsetzt, vielleicht auch nicht. Vian schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er diesen Mann, wenn er ihm in einem Monat auf der Straße begegnete, trotz der dramatischen Umstände ihres Zusammentreffens wahrscheinlich nicht wiedererkennen würde.
Dabei wusste er genau, dass er in einem Monat niemandem mehr auf der Straße begegnen würde. Er wusste, sein Leben würde noch in dieser Nacht enden.
»Sie sind hier, um mich zu töten«, sagte er.
Der Fremde lachte. »Ja, sicher, aber wissen Sie auch, warum?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Für meinen Auftraggeber schon, also auch für mich. Sehen Sie, man hat mich gebeten, Ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Ihr Tod ist nur als Ausrufezeichen am Ende dieser Botschaft gedacht.«
»Also gut, wie lautet die Botschaft?«
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass Ihre Arbeit im Sudan inakzeptabel war. Sie würden verstehen, was gemeint ist, sagte man mir.«
Vian verstand. Sein Arbeitgeber war auf dem Papier ein privates Sicherheitsunternehmen, und zwar eines, das im französischen Verteidigungsministerium überall die Hand im Spiel hatte, etwa bei der Herstellung und Lieferung von Waffen und Rüstungsgütern, der Anwerbung von zivilem Militärpersonal und der Beratung für strategische Planungen. Unter der Hand war seine Firma für drei Viertel aller Waffengeschäfte auf dem afrikanischen Kontinent verantwortlich, einschließlich der Verkäufe an sämtliche Parteien des Darfour-Konflikts. Vian war eine Zeitlang für diese Geschäfte zuständig gewesen, bevor er feststellen musste, dass sogar seine hochbezahlte moralische Flexibilität ihre Grenzen hatte. Danach hatte er begonnen, der UN heimlich Kommuniqués zuzuspielen, aus denen hervorging, dass sein Arbeitgeber das Waffenembargo der UN und der Afrikanischen Union brach. Auch wenn nur wenig von diesen Enthüllungen öffentlich gemacht wurde – aufgrund der Verbindungen seiner Firma nicht nur zum französischen Verteidigungsapparat, sondern auch zu vielen anderen NATO-Staaten –, führten seine Handlungen doch dazu, dass das Unternehmen Verträge im Wert von sieben Milliarden Dollar verlor.
Er hatte geglaubt, seine Spuren gut genug verwischen zu können, um nie entdeckt zu werden.
Vian nickte in der Gewissheit, dass es längst zu spät war, seine Rolle bei dem Ganzen abzustreiten. Wenigstens, dachte er, will ich nicht das einzig Anständige verleugnen, das ich je zustande gebracht habe, bevor ich sterbe.
»Gut. Ich habe außerdem Anweisung, falls möglich, von Ihnen Informationen darüber zu erlangen, wer noch an dieser inakzeptablen Leistung beteiligt gewesen sein könnte.«
»Warum um alles in der Welt sollte ich mit Ihnen kooperieren?«, fauchte Vian. »Sie haben bereits zugegeben, dass Sie mich töten wollen, und meine Frau steht viel zu sehr in der Öffentlichkeit, als dass Sie ihr schaden könnten, was bedeutet, dass Sie über kein Druckmittel mehr verfügen.«
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte der Fremde und schoss ihn ins Knie.
Vian schrie auf. Jeder Muskel in seinem Körper verkrampfte sich. Er zuckte von seinem Stuhl hoch und brach auf dem Boden zusammen. Der Schmerz in seinem Knie war weißglühend, unvergleichlich. Er breitete sich aufwärts über seine Leiste aus und ließ sich bleischwer im Magen nieder. Wellen von Schwindel und Übelkeit schüttelten ihn, und eine Ohnmacht schob sich schwarzfleckig vom Rand seines Gesichtsfelds heran. Derweil ging das Fest hinter den schallgedämpften Wänden des Büros unvermindert weiter; seine Gäste amüsierten sich und ahnten nichts von seiner Qual.
Irgendwo, scheinbar in weiter Ferne, klingelte ein Mobiltelefon. Der Fremde wirkte im ersten Augenblick konsterniert, dann griff er in seine Anzugjacke und holte ein billiges Prepaid-Wegwerf-Handy heraus.
»Ja?«, meldete er sich barsch, seine Verwunderung mit Ungeduld überspielend.
»Is da Engelmann?« Derbes, ungebildetes amerikanisches Englisch.
»Woher haben Sie diese Nummer?«
»Meine Organisation hat schon mal mit Ihnen gearbeitet.«
»Sind Sie vom Rat?«, fragte Engelmann. Das waren die einzigen Amerikaner, für die er je gearbeitet hatte. Der »Rat« war ein Zusammenschluss von Vertretern aller bedeutenden Mafiafamilien in den USA – Italiener, Russen, Kubaner, Salvadorianer, Ukrainer, was auch immer. Obwohl viele der Clans miteinander rivalisierten, einigten sich die Ratsmitglieder doch gelegentlich darauf, Angelegenheiten, die im Interesse aller lagen, gemeinsam zu regeln. Das amerikanische organisierte Verbrechen war oft zu provinziell, um jemanden wie ihn anzuheuern; jede Familie herrschte über ihr eigenes kleines Reich, hatte ihre eigenen Gewohnheiten – und ihre eigenen Vollstrecker, wenn es etwas zu vollstrecken gab. Nur selten ließ die Versammlung sich dazu herab, einen Außenstehenden zu betrauen, und dann auch nur, vermutete Engelmann, um nicht entscheiden zu müssen, welche Familie den Auftrag bekam – und dazu das Risiko und die Vorwürfe, falls das Attentat fehlschlug, beziehungsweise den Ruhm, falls es gelang.
Bei diesen seltenen Gelegenheiten jedoch bezahlten sie sehr, sehr gut.
»Genau«, sagte der Amerikaner. »Wir haben einen Auftrag für Sie.« Er machte eine Pause, schien Vians gepeinigtes Stöhnen im Hintergrund zu bemerken. »Äh … ist das gerade ungünstig?«
»Nein, nein«, sagte Engelmann. »Im Gegenteil, Sie retten mich vor einer tödlich langweiligen Party.« Er hielt das Handy an seine Brust, um die Sprechmuschel zu bedecken, und sagte zu Vian: »Tut mir leid, aber das ist wichtig.«
Die schallgedämpfte Waffe ruckte dreimal in seiner Hand, jeder Schuss nicht lauter als das Knallen eines Champagnerkorkens, und Vians Schreie hörten auf. Eigentlich eine Verschwendung, dachte Engelmann. Mit etwas mehr Zeit hätte Vian ihm sicher alles gesagt. Doch der Verlust war zu verschmerzen. Vian stellte nicht gerade das würdigste Versuchsobjekt für seine ausgefalleneren Behandlungen dar, und der Bonus, der ihm für jede abgenötigte Information versprochen worden war, würde vor der Summe, die der Rat ihm bot, zweifellos verblassen.
»So«, sagte Engelmann ins Handy, »wo waren wir gerade?«
Ein einzelner Regentropfen platschte auf die Windschutzscheibe von Evelyn Walkers Jetta, als sie von der schmalen Landstraße auf die ungepflasterte, ausgefahrene Auffahrt abbog. Sekunden später ging ein Wolkenbruch nieder. Evie stellte die Scheibenwischer fluchend auf Höchststufe, aber ihre Sicht war trotzdem gleich null. Sie verlangsamte auf Schleichtempo und merkte, wie ihre Reifen einsanken, weil die Spurrillen im Nu zu einem Doppelfluss aus strudelndem Schlammwasser geworden waren. Der Regen trommelte laut wie Hagel aufs Autodach.
Es war doch noch sonnig, als ich von Warrenton losgefahren bin, dachte sie seufzend. Aber es hätte sie eigentlich nicht wundern sollen. Das Sommerwetter in Virginia neigte dazu, von einem Moment auf den anderen umzuschlagen.
Der Jetta schlingerte, als sie in die Kurve fuhr, hinter der ihr verwinkeltes, buttercremefarbenes Farmhaus in Sicht kam, und die Einkäufe auf dem Rücksitz wurden hin und her geworfen. Die dichtstehenden Bäume entlang der Auffahrt machten einem welligen Rasen Platz. Evie hielt neben Stuarts Pick-up und wartete einen Moment mit laufendem Motor darauf, dass der Regen nachließ, bevor sie sich mit ihrem Schicksal abfand. Sie drehte den Zündschlüssel, und der Motor verstummte bebend, woraufhin sofort Hitze und Feuchtigkeit in den Wagen drangen, kaum dass die Klimaanlage aus war.
Das Aussteigen fiel ihr jetzt schwerer als vor ein paar Monaten, als es ihr noch nicht anzusehen war. Drei Anläufe und ein ziemlich undamenhaftes Ächzen waren dazu nötig. Sobald sie stand, sank eine ihrer Sandaletten mit Keilabsatz in einer Schlammpfütze ein, und der Matsch, kühl und schleimig zwischen ihren Zehen, riss sie ihr vom Fuß, als sie einen Schritt auf trockenes Gelände zu machte.
Als sie endlich die hintere Wagentür aufbekommen hatte, klebte ihre Bluse schwer an ihrem geschwollenen Bauch, und die Haare hingen ihr nass ins Gesicht. Schief dastehend, mit nur einer Sandalette am Fuß, zerrte sie die Einkäufe von der Rückbank und sah zur Veranda hin, wo die Glasschiebetür offen stand. Immer noch kein Anzeichen von Stuart. Merkwürdig. Seit er vor vier Monaten dieses blaue Pluszeichen gesehen hatte, hatte Evie kein Gurkenglas mehr geöffnet oder einen Wäschekorb getragen, zumindest nicht, wenn Stu zu Hause war, um sie davon abzuhalten. Offen gestanden machte diese ständige Fürsorge sie wahnsinnig, auch wenn sie wusste, dass er es nur gut meinte. Umso mehr wunderte es sie, dass er nicht gleich herbeigeeilt war, um ihr zu helfen, sobald sie vorm Haus gehalten hatte. Sie mit zwei übervollen Einkaufstüten zu sehen sollte eigentlich Anlass genug sein, dass er herausgeschossen kam und ihr zubrüllte, sie solle sofort alles abstellen.
Typisch, dachte sie. Wenn ich echt mal Hilfe gebrauchen könnte.
»Schatz?«, rief sie zur offenen Tür hin, hinter der Licht brannte.
Keine Antwort.
»Schatz?«, rief sie erneut, während sie auf einem Schuh und mit den durchweichten Tüten auf den Armen die Verandatreppe hinaufhumpelte. An der Glasschiebetür angekommen, spähte sie durch das Fliegengitter. Das ganze Haus war hell erleuchtet – sieht ihm ähnlich, dachte sie, er scheint zu glauben, die Lichtschalter lassen sich nur in eine Richtung bewegen –, doch Stuart war nirgends zu sehen.
Evie beäugte den Riegel der Fliegengittertür und seufzte resigniert. Dann ging sie leicht in die Knie, in eine Art unbequeme Hock-Drehung, drückte die eine Tüte mit dem Unterarm an sich und verbog ihr Handgelenk, um den Riegel zu fassen zu bekommen und … Mist. Die Tüte in ihrer linken Hand riss, und die Lebensmittel verteilten sich ringsherum. Eine Tomate kullerte über die Veranda. Eiweiß sickerte aus der mit der Oberseite nach unten liegenden Eierschachtel.
Wo zum Teufel steckte Stuart eigentlich?
Evie stopfte die Sachen zurück in die kaputte Tüte und riss die Fliegengittertür auf. Sie setzte die Tüten auf der Kücheninsel ab und wandte sich wieder zur Tür, um sie zu schließen, wobei sie Schlammspuren auf den Küchenfliesen hinterließ und erst jetzt merkte, dass sie die Einkäufe einfach draußen auf den Verandamöbeln hätte absetzen können, um problemlos ins Haus zu gelangen.
Verdammte Schwangerschafts-Matschbirne.
Ein Klacken von Krallen auf dem Hartholzboden, und Abigail kam mit so viel Elan in die Küche getrottet, wie eine sechsjährige Bulldogge nur aufbringen kann.
»Abby, wo ist Stu?«, fragte Evie. Abigail blickte kurz in die Richtung, aus der sie gekommen war, bevor sie den Hals reckte, um sich von Evie den Kopf kraulen zu lassen, und dabei vor Wonne mit dem Stummelschwanz wackelte. Dann schlurfte sie zu ihrem leeren Fressnapf, Evie dabei ununterbrochen mit traurigem Hundeblick fixierend.
»Nanu, warum hat Daddy dich denn nicht gefüttert?« Evies fein geschnittene Züge verzogen sich zu einem Stirnrunzeln. Doch falls Abby die Antwort wusste, behielt sie sie für sich. Evie holte den Beutel mit dem Trockenfutter unter der Spüle hervor und schüttet etwas davon in den Hundenapf. Abby fing knirschend an zu mampfen.
»Stu?«, rief Evie und ging zum Wohnzimmer hinüber, von wo Abigail gerade aufgetaucht war.
An der offenen Tür empfing sie ein Anblick, bei dem ihr schwindelig wurde.
Stuarts Füße in weißen Sportsocken, reglos, die roten Streifen an den großen Zehen zeigten zur Decke. Evies Mund wurde trocken, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust.
»Stuart?« Ihr schriller Ruf durchdrang die Stille des Farmhauses und hallte von den Wänden wider wie die Antwort einer Spottdrossel. Sie stürzte hinein und stutzte.
Stuart, der inmitten von verstreuten Dübelstangen und Einzelteilen unter einer halb zusammengebauten Wiege auf dem Rücken gelegen hatte, fuhr bei ihrem Schrei hoch und knallte mit der Stirn gegen den Holzrahmen, so dass die wackelige Konstruktion über ihm zusammenbrach.
»Verdammte Sch…«, entfuhr es ihm, doch er beherrschte sich schnell noch. Das machte er dauernd in letzter Zeit, als könnte sich die übergroße Erbsenschote in Evies Gebärmutter jeden Kraftausdruck in Hörweite merken und in fünf Monaten fluchend wie ein Bierkutscher herauskommen. Doch so oft Evie ihn schon wegen dieser Selbstzensur geneckt hatte, jetzt war ihr nicht nach Necken zumute.
»Du Arsch«, sagte sie, seinen vorwurfsvollen Blick ignorierend, »du hast mir einen Scheißschreck eingejagt! Nicht zu antworten, wenn ich rufe, Abby nichts zu fressen zu geben, und dann …«
Stuart riss die iPod-Ohrstöpsel heraus und rappelte sich steif auf die Beine. »Evie, tut mir leid, ich hab dich nicht kommen hören! Ich wollte dich überraschen und die Wiege zusammenbauen, ehe …« Hier erst bemerkte er den prasselnden Regen durch die offene Glastür und runzelte die Stirn. »Ehe du wieder zu Hause bist, aber die Bauanleitung ist der reinste Witz, und ich hab wohl einfach die Zeit vergessen. Und was Abby angeht – ich glaube, da hast du dich einwickeln lassen, ich habe sie nämlich gefüttert, als ich nach Hause kam. Ehrlich, ich wollte dich nicht erschrecken, verzeihst du mir?«
»Natürlich«, sagte Evie. Sie weinte und bekam kaum Luft, verstand selbst nicht, warum. Blöde Hormone, dachte sie.
»Hey, ist ja gut.« Stu nahm sie in die Arme und streichelte sie beruhigend. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie es wieder auf ihre Stimmungsschwankungen schieben würde. Und er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass es nicht daran lag. »Alles okay. Ich bin ja da. Und ich gehe nicht fort.«
Stuart hielt sie fest und wartete, bis ihre Panik nachließ. Er küsste ihre Tränen weg und führte sie hinauf ins Schlafzimmer, wo sie sich beide bemühten, nicht an den Verlobten zu denken, den Evie vor einigen Jahren durch eine Bombe am Straßenrand nördlich von Kandahar verloren hatte.
Das Farmhaus leuchtete hell vor dem Abendhimmel, als die Nacht den Tag ablöste. Stu und Evie kamen wieder herunter und machten Abendessen, beide müde, beide glücklich und zufrieden. Sie saßen noch eine Weile mit Abby zu ihren Füßen vorm Fernseher, bis ihnen die Augen zufielen. Dann schleppte sich Evie ins Bett. Stuart und Abigail folgten ihr bald nach oben, drehten nur noch ihre abendliche Runde durchs Haus, bei der Stuart alle Fenster schloss und prüfte, ob die Türen abgeschlossen waren, während Abby wachsam hinterdreintrabte.
Aus der Dunkelheit des Waldes heraus beobachtete Hendricks sie unbemerkt, wie er es schon seit Stunden tat, wie er es schon hundert Abende zuvor getan hatte. Er wachte, bis das einzige Licht im Haus das Flimmern des Fernsehers im Schlafzimmer war. Er wachte, bis auch das erlosch. Er wachte, bis der Himmel im Osten hell wurde. Dann wanderte er zurück zu seinem Mietwagen und fuhr nach Norden, nach Hause.
Der Bahnhof von Utica, New York, macht einen seltsam unzeitgemäßen und deplazierten Eindruck.
Die Stadt selbst ist ein verfallendes Industriezentrum inmitten des Mohawk River Valley, fünf Stunden und Welten entfernt vom betriebsamen Manhattan. Die Straßen sind marode und holprig, viele der Läden und Schaufenster leer. Die Fabriken, die den Bewohnern einst Arbeit gaben, sind nun mit Brettern verrammelt oder zugemauert, und in den wenigen ungeschützten Fensterscheiben klaffen Löcher von den zerstörungswütigen Steinwürfen mehrerer Jahrzehnte.
Uticas Bahnhof jedoch, wo heutzutage mehr Busse als Züge abgefertigt werden, ist ein imposantes Wunderwerk italianisierender Architektur, groß wie ein ganzer Häuserblock, mit einer Gewölbedecke, aufwendig verzierten Gesimsen und spiegelndem Marmor. Mächtige Säulen ragen zu den Oberlichtern der Decke auf, durch die das graue Licht des ewig bedeckten Himmels über dem nördlichen New York State strömt. Die langen, glänzend lackierten Holzbänke wirken etwas unproportioniert in den hohen Hallen und verleihen ihnen eine kirchenartige Atmosphäre. Neben einem echten, von einem Menschen betriebenen Schuhputzstand kann sich das Gebäude auch eines Herrenfriseurs und eines Esslokals rühmen, einer richtigen Imbisstheke mit Hausmannskost, wie es sie früher einmal in ganz Amerika an jeder Straßenecke gab.
Das Gebäude wurde einst in einem Anflug von Optimismus erbaut, zu einer Zeit, als die Eisenbahn noch etwas galt, und zwar von denselben Architekten, die auch die Grand Central Station in Manhattan entworfen haben. Uticas Stern war allerdings auch damals schon im Sinken begriffen, seinen Zenit hatte er einige Jahrzehnte zuvor während der Blütezeit des Erie-Canals erreicht. Heute wirkt der Bahnhof eher vergessen als bewusst erhalten und scheint nur noch aus Beharrungsvermögen zu existieren, wie eine Geistererscheinung, die dazu verurteilt ist, immer wieder durch dieselben Hallen zu wandeln.
In den vergangenen fünfzig Jahren hat Utica durch nichts Besonderes mehr von sich reden gemacht, es sei denn, man rechnet den brutalen Kampf vierer Verbrecherclans um die Vorherrschaft über die Stadt während der siebziger und achtziger Jahre zu etwas Besonderem.
Alexander Engelmann blickte gelangweilt aus dem Fenster des von einem Chauffeur gelenkten Lincoln, der ihn von dem privaten Flugplatz zu seinem Ziel beförderte, und konnte sich beileibe nicht vorstellen, warum zwei so mächtige Clans wie die Genoveses und die Colombos oder die Organisationen aus Buffalo und Scranton sich die Mühe machen sollten, in einem so armseligen Provinznest Blut zu vergießen. Alles Geld, das diese Stadt einmal besessen hatte, war schon vor langer Zeit von ihr abgezogen worden, schien es. Aber einen tollen Bahnhof hatten sie, das musste er zugeben. Vielleicht war Stolz das eigentliche Motiv des Blutvergießens in Utica.
Engelmanns Kalbsleder-Ferragamos klackten auf dem Marmorboden, als er die Halle durchschritt. Trotz der Sommerhitze trug er ein anthrazitfarbenes Kammgarnsakko, frisch gebügelte Chinos und ein blütenweißes Hemd mit offenem Kragen. Er hatte weder Tasche noch Waffe bei sich – sein einziges Gepäckstück, eine kleine Reisetasche, stand im Charterjet des Rates, und er reiste nie bewaffnet, sondern zog es vor, sich alles Nötige vor Ort zu beschaffen und nach Gebrauch zu entsorgen. Der Bahnhof war wie ausgestorben, bis auf zwei Hippie-Studenten mit Dreadlocks und grässlichen Klamotten, die auf einen Bus warteten, und einen massigen, steroidgefütterten Mafia-Schläger, der in einem engen schwarzen Anzug steckte wie in Schrumpffolie verpackt und verdächtige Ausbeulungen unter der Achsel, am Rücken und am Fußgelenk aufwies. Warum dieser Gorilla gleich drei Schusswaffen brauchte, war Engelmann ein Rätsel, ebenso, wie jemand mit so viel Muskelmasse noch gelenkig genug sein sollte, um an ein Knöchelhalfter zu gelangen.
Nicht, dass die Einschätzung seines Gegenübers von Bedeutung gewesen wäre, sie geschah aus reiner Gewohnheit. Dieser Termin erforderte keinen Einsatz von Gewalt. Was beinahe schade war, denn steif und reizbar, wie er sich nach diesem überstürzten Trip um die halbe Welt fühlte, hätte er gut einen Muntermacher gebrauchen können.
Als er auf den Gorilla zuging, deutete dieser mit einem Kopfrucken auf den Barbierladen hinter sich. Ohne aus dem Tritt zu geraten, ging Engelmann an ihm vorbei, drückte die Schwingtür aus Glas auf und betrat das Jahr 1953.
Münzgroße sechseckige Mosaikfliesen, ehemals weiß, jetzt von der Farbe alten Pergaments, bildeten den Fußbodenbelag, dessen Fugenkitt längst schwarz geworden war. Die Marmortäfelung ringsum reichte bis auf Hüfthöhe, darüber strebten die Wände ein sonniges Gelb an, verfehlten es jedoch. Ovale Spiegel hingen über kleinen Frisiertischen, auf denen sich Produkte stapelten, von denen Engelmann vermutete, dass sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr hergestellt wurden. An jedem Platz gab es ein Sockelwaschbecken sowie einen Barbierstuhl aus schwarzem Vinyl mit weißen Kedernähten und einem verschnörkelten, angelaufenen Bronzegestell.
In einem davon saß ein Mann, neben ihm stand ein betagter Friseur. Ob der Kunde groß oder klein war, dick oder dünn, konnte Engelmann nicht erkennen, denn er war fast vollständig unter einem schwarzen Frisierumhang verborgen und sein Gesicht zur Vorbereitung auf die Rasur von dampfenden weißen Handtüchern bedeckt, so dass nur seine Nase und das volle schwarze Haar herausschauten. Sein Kopf war zurückgelehnt, die Nase himmelwärts gerichtet. Die Haare waren so stark mit Pomade angeklatscht, dass ihnen die Schwerkraft nicht einmal bei dieser Kopfhaltung etwas anhaben konnte.
Beim Geräusch von Engelmanns Schritten hob der Mann im Stuhl einen Finger, woraufhin der Friseur, ein dünnes Männchen mit grauen Haaren, grauen Augen und einem zerfurchten grauen Gesicht, sich wortlos zurückzog.
»Hab Sie mir irgendwie größer vorgestellt«, sagte der Mann, dessen rauher, ungehobelter Ton ihn als denselben auswies, der Engelmann vor zwei Tagen angerufen hatte.
Das war natürlich ein Scherz, denn mit dem warmen Handtuch über den Augen konnte der Mann ihn genauso wenig erkennen wie umgekehrt. Doch Engelmann lachte nicht. »Irgendwann«, sagte er, »müssen Sie mir mal verraten, wie Sie an die Nummer eines Prepaid-Handys gelangt sind, das ich bis zu dem Abend noch nie benutzt hatte.«
»Nee, wohl eher nicht. Setzen Sie sich.«
Engelmann setzte sich nicht.
Der Mann zuckte die Achseln. Engelmanns Weigerung war nicht mehr als ein symbolischer Akt des Widerstands, eine kleine Trotzreaktion. Er war gekommen, als man ihn gerufen hatte. Er mochte einer der besten Auftragskiller weltweit sein, aber in diesem Raum, in diesem Moment, war er mehr Hauskatze als Löwe.
»Wir haben einen Job für Sie«, sagte der Mann. »Ein Ungeziefer, das vernichtet werden muss.«
»Und wie, wenn ich fragen darf, nennt sich dieses Ungeziefer?«
»Wenn ich das wüsste, verdammt«, brummte der Mann. »Aber dann hätte ich Sie nicht zu rufen brauchen.«
»Verstehe. Ich gehe demnach davon aus, dass Sie nicht wissen, wo der Betreffende zu finden ist, oder auch nur, wie er aussieht.«
Der Mann reagierte gereizt. »Nicht genau, nein.«
»Dann sollten wir vielleicht mit dem beginnen, womit er Sie so verärgert hat.«
Der Mann deutete auf den Frisiertisch hinter sich. »Sehen Sie in der linken Schublade nach.«
Engelmann tat es. Darin lag ein brauner Umschlag mit einem Verschluss aus Knopf und Faden, dick gefüllt mit Unterlagen. Er wickelte den Faden ab und klappte ihn auf. Keine Unterlagen, stellte er fest, zumindest nicht überwiegend.
Überwiegend handelte es sich um Fotos.
Mehrere hochglänzende Schwarzweißaufnahmen vom Format zwanzig mal fünfundzwanzig. Außerdem Farbkopien von Polizeiberichten, so stark vergrößert, dass die Pixel der Fotos zu sehen und die getippten Buchstaben darum herum fünfmal so groß waren wie üblich. Auf der Rückseite standen mit enger, exakter Schrift jeweils ein Ortsname und ein Datum. Die Datumsangaben gingen bis auf drei Jahre zurück. Das jüngste war vor zwei Tagen – dasselbe, an dem Engelmann per Anruf hierher bestellt worden war.
Jedes Foto zeigte den Tatort eines Mordes.
Nein, nicht einfach eines Mordes. Einer Hinrichtung. Eiskalt. Wohlkalkuliert. Professionell.
Engelmann blätterte die Aufnahmen fasziniert durch. Manche Anschläge, wie der in San Francisco im Oktober 2010 oder der in Wichita im vergangenen Januar, waren präzise Distanzschüsse, nadelöhrfein und aus einer Entfernung von schätzungsweise 1200 Metern. Andere, wie in Poughkeepsie oder Montreal, waren brutal und aus nächster Nähe ausgeführt worden – der erste eine Erstechung auf einem Flughafen, hinter der Sicherheitskontrolle, der zweite eine Erdrosselung mit einer dünnen Schlinge in der Oper, während einer Aufführung von Gounods »Faust«. Von den Morden aus nächster Nähe war es der erste, der Engelmann am meisten beeindruckte. Eine Waffe an der Sicherheitskontrolle vorbeizuschmuggeln war zwar nicht unmöglich, stellte aber schon einen gewissen Schwierigkeitsgrad dar, und dann noch jemanden umzubringen und unerkannt zu entkommen, das war eine reife Leistung. Die der Betreffende offenbar vollbracht hatte, denn wenn seine Visage von den Überwachungskameras erfasst worden wäre, hätte der Rat sich garantiert das Bildmaterial beschafft. Schließlich hatten sie auch ihn, Engelmann, ohne Schwierigkeiten aufgespürt.
»Sie glauben, das alles ist die Arbeit ein und desselben Mannes?«
»Ja.«
»Großartig«, murmelte er.
»Sie klingen erstaunt.«
»Die meisten Profis in meinem Gewerbe haben eine bevorzugte Methode, oft erprobt, altbewährt, von der sie nicht abweichen. Dieser hier dagegen beherrscht offensichtlich mehrere Techniken. Nur wenige auf der Welt können sich solcher Fähigkeiten rühmen. Und noch weniger sie unter Beweis stellen.«
»Sie schon«, sagte der Mann mit einem stahlharten Unterton. Unwillkürlich schnappte Engelmann nach Luft und fragte sich, ob das Ganze nur eine ausgeklügelte Falle war. Doch unter den Handtüchern lachte es. »Ganz ruhig, Al, ich hab Sie nicht hierher geholt, um Sie abzuservieren. Wir haben ein Auge auf Sie seit diesem Job in Reno vor ein paar Monaten. Daher wissen wir, dass Sie vor zwei Tagen nicht mal in der Nähe von Miami waren, wo dieser Kerl zuletzt zugeschlagen hat. Er hat jemanden aus vier Blocks Entfernung auf einer belebten Straße in der City erledigt, vom Boden aus, nicht zu glauben. Hat das arme Schwein zu einer Schmierspur auf dem Bürgersteig gemacht.«
»Seine Opfer«, fragte Engelmann, »gehörten sie zur Cosa Nostra?«
»Einige«, räumte der Mann auf dem Stuhl ein. »Ein paar waren Salvadorianer. Ein paar Russen. Einer ein Ire aus Südboston. Fakt ist, es gibt keine Organisation im ganzen Land, die nicht betroffen ist. Was ein verdammtes Glück ist, wie ich es sehe, denn wenn eine Familie verschont geblieben wäre, würden die anderen auf sie losballern, es für ’ne Art Machtkampf halten. Scheiße, es ist sowieso nur eine Frage der Zeit, bis ein Clan anfängt, mit dem Finger auf einen anderen zu zeigen, bloß weil denen die Fressen von den andern nicht passen. Die ganze Situation ist … wie sagt man noch … das reinste Pulverfass.«
»Daher das Eingreifen des Rats.«
»Ja«, sagte der Mann spöttisch, »daher. Die Stimmung zwischen den Familien ist verflucht angespannt. Wenn das nicht bald geklärt wird, gibt’s Krieg. Weshalb wir bereit sind, Ihnen eine Million bar auf die Hand zu zahlen, damit Sie diesen Kerl finden und ausschalten. Plus alles an Ressourcen, was dem Rat zur Verfügung steht.«
Eine Million.
Eine Million Dollar und dazu die vereinten Ressourcen sämtlicher Mafiaclans in Amerika.
Engelmann konnte seine Erregung kaum bezähmen. Aber man erwarb sich keinen Ruf wie den seinen, ohne seine Gefühle im Griff zu haben.
Er grinste breit. »Euro«, sagte er.
»Wie?«
»Eine Million Euro.«
Der Mann auf dem Stuhl schwieg einen Moment. Dann nickte er zustimmend, so dass die Handtücher wackelten.
»Sehr gut«, sagte Engelmann. »Betrachten Sie mich als engagiert. Ich schicke Ihnen die Nummer meines Kontos auf den Caymans, dann können Sie das Geld überweisen, sobald es Ihnen beliebt.«
»Nicht nötig«, sagte der Mann. »Die Nummer haben wir.«
Nun doch aus der Ruhe gebracht, schluckte Engelmann und wechselte das Thema. »Seine Opfer«, fragte er, »gibt es da irgendwelche Gemeinsamkeiten? Mal abgesehen vom außergesetzlichen Status ihrer Arbeitgeber, meine ich?«
»Ja. Sind alles Profis. Und jeder von ihnen war gerade mitten bei der Arbeit, als es ihn erwischt hat.«
Engelmann traute seinen Ohren kaum. Dass ein Einzelner auf so vielfältige Art getötet hatte, war an sich schon beeindruckend. Aber dass die Opfer selbst alle Profikiller waren, machte seinen Erfolg umso erstaunlicher.
»Sie sagen also, Sie haben es mit einem Auftragskiller zu tun, der Auftragskiller erledigt, und jetzt heuern Sie einen Auftragskiller an, um ihn zu erledigen?«
»Ich sage, ich habe ein Problem, und Sie haben eine Million Gründe, um es zu lösen.«
Engelmann lächelte, denn er hatte tatsächlich noch mehr als das. Zum ersten Mal in zehn Jahren hatte er einen Auftrag, der ihn vor eine echte Herausforderung stellte, würde er hinter einer Beute her sein, die es wert war, gejagt zu werden. Zum ersten Mal in zehn Jahren hatte er Grund, um seine eigene Sicherheit zu fürchten, Grund, sich zu fragen, ob er der Aufgabe gewachsen war. Natürlich, der andere würde nicht über die Ressourcen aller Mafiaclans in Amerika verfügen können, aber bislang war er offenbar ausgefuchst genug gewesen, um sich dagegen zu behaupten.
Das war ein Mann, den man nicht unterschätzen durfte, sagte sich Engelmann.
Das war ein Mann, wer er auch sein mochte, mit dem sich zu messen eine Ehre wäre.
Das war ein Mann, den er sogar gratis getötet hätte.
Special Agent Charlotte Thompson zuckte zusammen, als ihr Handy Laut gab. Noch ehe sie einen Blick darauf warf, wusste sie, dass die SMS von ihrer Schwester kam, es war schon die fünfzehnte heute. Jess war Charlies kleine Schwester, die erst vor drei Jahren das College abgeschlossen hatte. Eine Kellnerin, die sich für eine Künstlerin hielt und hartnäckig behauptete, ihre Medikamente würden ihre Muse ruhigstellen.
Wenn Jess in einer manischen Phase war, fiel normalerweise Charlie die Aufgabe zu, sie mit gutem Zureden wieder auf den Boden herunterzuholen. Heute jedoch hatte sie weder die Geduld noch die Zeit dazu. Sie hatte die letzten sieben Stunden hinten in einem Überwachungswagen zugebracht, eingezwängt zwischen drei anderen FBI-Agents und einem wirren Haufen audiovisueller Ausrüstung. Sieben Stunden metallisches albanisches Geplapper über die Kopfhörer, das der Dolmetscher des FBI