Theresa Thönnissen
Mein Jahr als Säugetier
Das ehrliche Stillbuch
Knaur e-books
Theresa Thönnissen wurde in den Siebzigern geboren, als das Stillen noch als verpönt galt. Sie begann ihr Germanistik-Studium in Münster und brach es in Berlin ab. Nach einem Volontariat bei einer großen Tageszeitung arbeitet sie heute als Redakteurin. Sie ist verheiratet und Mutter eines Sohnes.
Die Brüste schwellen plötzlich auf Melonengröße an. Beflissene Milchpumpenvertreterinnen tauchen ungefragt am Bett der Wöchnerin auf. Die Hebamme klärt einen über die wundersame Wirkung von Quarkwickeln und Kohlblättereinlagen für den Still-BH auf. Und dann droht auch noch die gefürchtete Still-Demenz … Wenn man zum ersten Mal ein Baby bekommt, gibt es so einige Überraschungen: Irgendwie hatte einen niemand darauf vorbereitet, wie krass eine Geburt wirklich ist. Und auch bezüglich des Stillens scheint es eine Verschwörung der schon Eingeweihten zu geben: Welch skurrile Vorgänge damit verbunden sind, erfährt man erst, wenn man sie an der eigenen Brust erlebt …
© 2014 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
© 2014 by Droemer Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Julia Krug
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic, München
ISBN 978-3-426-42455-1
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Danke, meinem Busen geht es gut. Wieder. Er hat einiges durchgemacht, sich aber doch erstaunlich rasch gefangen.
Halten Sie mich jetzt für ziemlich übergeschnappt? Dann müssen Sie folgendes wissen:
Ich bin weder besonders schlau noch alarmierend doof; weder überdurchschnittlich hübsch noch unterdurchschnittlich hässlich; weder hochempfindlich noch dumpfbackig. Ich bin eine ganz normale Frau. Nein, wirklich jetzt!
Ich liebe meinen Mann und könnte ihn manchmal verhauen. Meine Freundinnen sind lustig, ich sehe sie nur viel zu selten. Abends lese ich gerne im Bett und schaue Serien auf DVD. Ich nehme mir immer wieder vor, nichts mehr bei Zara, H&M oder Mango zu kaufen, und schleppe das Zeug dann doch wieder tütenweise nach Hause. Von montags bis freitags gehe ich ins Büro.
Als ich vor drei Jahren schwanger wurde, fühlte ich mich eigentlich recht gut gerüstet für das, was da kommen mochte. Bis jetzt hatte ich ja auch das meiste im Leben irgendwie hinbekommen. »Das haben schon Millionen Frauen vor mir geschafft, sogar meine Mutter«, sagte ich mit, und das stimmt ja auch.
Unser Kleiner ist nun zwei Jahre alt, »terrible two«, wie es im angelsächsischen Raum so treffend heißt. Zwischen seinen Trotzanfällen kann er so wahnsinnig süß und lieb sein, dass mir beim Schreiben dieser Zeilen vor Rührung ganz warm wird.
Ich mag es, mit ihm Lego-Häuser zu bauen und ihm Geschichten zu erzählen. Unser Babysitter sagt: »Tim hat den Schalk im Nacken.« Warum freut mich das nur so?
Nach der Geburt des Kleinen nahm ich ein Jahr Elternzeit – und war auf vieles vorbereitet, aber nicht auf eines: das Stillen. Welche zentrale Bedeutung dieser Vorgang hat und was es mit dem eigenen Körper anstellen würde … mich hat kein Ratgeber, keine Hebamme und kein Arzt vorgewarnt.
Und weil es auch bei Vereinigungen wie der La Leche Liga fast nur um Stillpositionen und andere praktische Tipps geht, gewann ich den Eindruck: Stillen, das geschieht ganz von allein und läuft so nebenher. Meine Brüste selbst waren es, die mich – nach einer dramatischen Umformung durch Mutter Natur persönlich – eines Besseren belehrten.
Doch da war mehr als bloß der Körper. Schnell erfuhr ich, was es bedeutet, ein schreiendes Baby in der Öffentlichkeit, am Arbeitsplatz oder unter den Argusaugen von Onkel Theodor zu stillen. Willst du einen Menschen wirklich kennenlernen, hake vor seinen Augen den Still-BH auf.
Noch nie im Leben habe ich in kürzester Zeit so viele blöde Sprüche kassiert wie in dieser ersten Zeit mit Tim. Irgendein Klugscheißer oder Cafébesitzer oder Lifestyle-Feuilletonist war immer mit einem Kommentar zur Stelle. Ich meine, diese Hormone machen einen ja nicht unbedingt ausgeglichen und friedfertig. Und nach acht Stunden Schlaf einen tollen Humor haben, das kann jeder.
Das in entzückenden Vichy-Karo-Stoff gebundene Babytagebuch, wo ich Gewicht und Größe eintragen sollte, habe ich rasch vernachlässigt. Stattdessen griff ich mir eine alte Kladde und kritzelte frühmorgens oder spätabends meine Erlebnisse hinein.
Daraus wurde dieses Buch. Fast alles findet sich darin wieder, auch die unappetitlichen Dinge.
Wen soll das interessieren?
Sie. Das hoffe ich sehr.
Lassen Sie mich raten: Sie sind gerade in Mutterschutz und stehen im Buchladen ihres Vertrauens. Woher ich das weiß? Habe ich selbst so gemacht. Mehr als einmal. Pflichtschuldig las ich alles über Windelsoor und unkontrollierten Harndrang. Aber es war nichts übers Stillen dabei, das mich auch nur im Ansatz amüsiert und die Dinge in Relation gesetzt hätte. Pulvermilch kann eine Befreiung sein! Es geht mir nicht darum, zu erklären, warum das Stillen richtig, unbedingt notwendig und gut gegen Allergien ist. Ich bin nämlich selbst allergisch – gegen Ideologien, »Mommywars« und den unfreundlichen Ton, der in vielen Still-Foren im Netz herrscht.
Wenn es Ihnen auch so geht, dann sind Sie hier goldrichtig.
Warten auf Tim
Wie Frau Grajewski mein Nipplegate in Schaumstoff verpackt, eine Dienstreise auf dem Hotelzimmerfußboden endet und ich die allgemeinen Unwägbarkeiten einer Schwangerschaft effektiv abfedere.
Ich will ja ein Kind. Theoretisch. Doch als es wirklich, so ganz konkret, ums Kindermachen geht, kneife ich. Jetzt, in genau diesem Augenblick, die Pille absetzen? Läuft doch eigentlich alles gerade ganz gut. Soll so bleiben, wie es ist. Und überhaupt – ein Kind mit diesem Mann, dem die Urlaubsplanung für den Sommer schon zu endgültig ist? Lieber nicht.
Dann gibt es endlich einen potenziellen Kandidaten, da wollen wir erst mal in Ruhe Amerika durchqueren und nichts überstürzen. Nach dem perfekt verhüteten Sex im Motel-Bett rechne ich, wie alt ich wäre, wenn unser Kind in die Schule käme. Du liebe Zeit – über vierzig. Es ist nun wirklich an der Zeit, die Pille abzusetzen. Erol, wahrscheinlich geblendet von der Sonne Kaliforniens und der verschwommenen Aussicht auf ein Hippie-Leben in San Francisco, stimmt unbeschwert lächelnd zu. Wir fühlen es beide.
Fortan kann ich mich beim Sex nicht mehr auf das eigentliche Geschehen fokussieren. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Bilder aus einem Zeichentrickfilm, den uns der Sachkundelehrer im 3. Schuljahr gezeigt hat. Ein riesiger Schwarm zitternder Spermien schnellt auf eine große, runde Eizelle zu. Ein Spermium dringt in die Eizelle ein, und dann – zack, zack, zack – teilt sich das Ding. Und wieder. Und wieder. Und wieder …
Erol sagt, ich sei beim Sex abwesend. Er vermutet wohl, ich denke an Lionel Messi oder sonst wen. Aber nein, meine Gedanken drehen sich einzig und allein um den sich teilenden Zellhaufen. Und die Fruchtbarkeits-App, die ich auf mein Handy geladen habe. Wie bitte soll man sich auch auf seinen Sexpartner einlassen, wissend, dass man im Begriff ist, nicht nur sein eigenes Leben grundlegend zu verändern, sondern gar ein neues zu erschaffen? Das ist mir schleierhaft, ganz ehrlich.
Wenige Tage nachdem meine Periode hätte einsetzen sollen – wir sind längst zurück in der kalten Heimat –, feiern wir abends mit Freunden in der Croc Bar. Ich nehme Connie, meine beste Freundin, beiseite und erzähle ihr aufgeregt von meiner möglichen Schwangerschaft. Connie saugt ihren Campari-Soda geräuschvoll durch den Strohhalm. Sie ist gegen ihren Willen Single und meint, sie freue sich total, wenn ich tatsächlich schwanger wäre. Gleichzeitig sei sie aber auch ein wenig traurig, weil dies sicher das vorläufige Ende unserer Ausgehabende bedeute. Dann runzelt die pragmatische Connie ihre helle Stirn:
»Sag mal, warum hast du eigentlich noch keinen Test gemacht?«
Ja, warum eigentlich nicht?
Ich verabschiede mich von der Runde, springe ins Auto und rase zum Hauptbahnhof. Auf dem Weg krame ich eine Schachtel Zigaretten aus dem Handschuhfach. Meine letzte Zigarette habe ich mir etwas feierlicher vorgestellt, aber okay. Ich werfe die brennende Kippe einfach aus dem Fenster. Wenn andere das tun, werde ich so richtig sauer. Sind das etwa die ersten Zeichen einer Persönlichkeitsveränderung? Aufgeregt trommele ich aufs Lenkrad.
Es ist gegen Mitternacht, als ich die 24-Stunden-Apotheke im Hauptbahnhof durch die Automatiktür betrete. Einen Schwangerschaftstest zu kaufen ist einen Zacken peinlicher, als Kondome zu kaufen, aber immerhin auch einen Zacken weniger peinlich, als Vaginalfeuchtcreme zu erwerben. Und: Man will den teuersten Schwangerschaftstest, was auch sonst? Einen nicht ganz so zuverlässigen Test? Nein. Ich erstehe den mit Digitalanzeige. Der Apotheker bemüht sich, unbeteiligt zu gucken, als er eine Gratispackung Papiertaschentücher in der Plastiktüte verschwinden lässt. Herzlichen Dank auch.
Nervös fahre ich nach Hause und google erst einmal, was ich da eigentlich erstanden habe. »Wussten Sie, dass eine von vier Frauen das Ergebnis eines konventionellen Schwangerschaftstests falsch ablesen könnte?«, steht auf der Website des Herstellers. »Beim Clearblue DIGITAL Schwangerschaftstest müssen keine Linien interpretiert werden. Das fortschrittliche digitale Display teilt Ihnen in Worten mit, ob Sie schwanger sind oder nicht.«
In Worten also. Ich verschwinde auf die Toilette und pinkele auf das Teststäbchen. Eine von vier Frauen pinkelt sicher daneben. Ich nicht: Nach wenigen Sekunden bildet sich das unmissverständliche Wörtchen »schwanger« im Display. Ich warte auf einen Euphorieschub, gehe ins Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf.
»Hallo, kleiner Zellhaufen«, flüstere ich und lege die Hand auf meinen Unterleib – dorthin, wo ich ihn vermute.
Als Erol endlich aus der Croc Bar nach Hause kommt, reiche ich ihm schlaftrunken den Test, und wir umarmen uns.
»Dann ist das wohl so«, sagt er und guckt etwas verkniffen.
»Mal abwarten«, erkläre ich dumpfbackig.
»Freust du dich?«
»Ja, natürlich!«
Er lächelt, zieht mein Schlaf-T-Shirt ein Stückchen hoch und betrachtet meinen Bauch. Die vielen Sonnengrüße sind nicht umsonst gewesen: Er ist flach und muskulös. Noch.
Von Anfang an habe ich starke Schicksalsbesiegelungsgefühle. Das war’s jetzt. Alles wird sich ändern. Ein kleines, menschliches Lebewesen wird schon bald unser Gespann verstärken. Ich strahle und stelle das Grübeln einfach erst mal ein.
Am nächsten Morgen ist eigentlich alles wie immer. Ich schlürfe bedächtig eine Tasse Milchkaffee und beiße vorsichtig ins Kirschmarmeladenbrot. War da was? Nein. Keinerlei Übelkeit, im Gegenteil, ich fühle mich prima. Mein erster bewusster Morgen als Schwangere verläuft fast schon beängstigend normal. Alles war wie immer – mal abgesehen von Erols untypisch guter Laune –, und eine Schwangerschaft ist schließlich keine Krankheit …
Au! Was ist das denn? Beim Treppenherunterhüpfen schmerzt plötzlich der Busen, am liebsten hätte ich ihn in beide Hände genommen, um ihn zu stützen. Ich brauche wohl dringend einen neuen BH, mein seidenes Princesse-Tamtam-Dingens ohne Bügel scheint nicht mehr zu genügen. Ein bisschen freue ich mich: Das erste Schwangerschaftsanzeichen, ich habe also wirklich nicht fantasiert! Und immer noch besser als Übelkeit! Dass der Bauch sich während einer Schwangerschaft verändert? Geschenkt. Aber dass der Busen als Erstes wächst? Wusste ich nicht. Echt nicht. Wie ich mich bisher überhaupt recht wenig für Details aus den Sachgebieten Schwangerschaft und Geburt interessiert habe.
Im Büro, ich arbeite bei einem Reiseveranstalter, bilde ich mir ein, dass Kollege B., ein durch und durch seriöser Familienvater, regelmäßig eben dorthin starrt. Du meine Güte, ich trage doch kein Top mit Wasserfall-Ausschnitt, sondern nur ein quergestreiftes T-Shirt, wie immer! Vor dem Toilettenspiegel merke ich endlich, was los ist. Meine Brustwarzen, sonst eher so – stehen auf einmal kerzengerade in die Luft. Sie piksen durch meinen BH und hinterlassen kleine, spitze Hügel auf meinem T-Shirt. Kollege B. muss annehmen, ich sei dauererregt. Deshalb haben Schaufensterpuppen also harte Warzen. Da guckt jeder hin, ganz automatisch.
In der Mittagspause schildere ich einer Verkäuferin der Galeria Kaufhof Dessousabteilung das Problem. Sie ist mindestens sechzig, trägt die typische Blumenkohlfrisur und wirkt, als hätte sie in ihrem langjährigen Berufsleben wirklich alles gesehen. »Frau Grajewski« steht auf ihrem Namensschildchen.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Äh, ich will nicht, dass man meine Brustwarzen sieht, wenn ich ein T-Shirt trage«, sage ich.
Mein Blick wandert verschämt zwischen dem Ständer mit den fleischfarbenen Spanx, die wie Surfanzüge auf den Kleiderbügeln hängen, und einer Passionata-Aktionsfläche hin und her.
»Na, Gratulation erst mal«, sagt Frau Grajewski, tätschelt meine Schulter und vermisst mein Nipplegate mit professionellem Blick.
»In welchem Monat sind wir denn? Noch ganz am Anfang!«
Ich staune. Woher weiß sie nur?
Sie empfiehlt einen preisgünstigen T-Shirt-Bra mit gepolsterten Schalen und breiten, weichen Gurten. Mein Busen wachse eh weiter, da lohne sich eine ernsthafte Investition nicht. Nach einigem Hin und Her reicht sie mir so ein Monstrum in Cupgröße D in die Kabine:
»Damit dürften Sie hinkommen. Bis auf weiteres.«
Ich erinnere mich an meinen ersten BH, als wäre es gestern gewesen, dass ich von meiner Mutter mit einem Maßband vermessen wurde. Ich hatte lange auf diesen Tag hingefiebert. Doch mein erster BH war erst mit fünfzehn fällig gewesen, und das eigentlich auch nur, weil meine Mitschülerinnen schon länger welche trugen und ich in der Sammelumkleide nicht blöd vor ihnen dastehen wollte. Mädchen können ja so grausam sein – und ich trug ja auch wirklich sehr lange gepunktete Sets, bestehend aus Schlüpfer und Unterhemd. Nun aber besaß ich einen jungfräulich-weißen Baumwoll-BH von BeeDees, ich war erwachsen! An die Größe erinnere ich mich nicht mehr, aber er war ganz sicher weniger als halb so klein wie das hautfarbene Monstrum, das ich gerade peinlich berührt zur Kasse trage.
Keine Frau hat ein neutral-sachliches Verhältnis zu ihrem Busen. Dass er jedoch irgendwann ein vorlautes Eigenleben führen und darüber hinaus auch ziemlich weh tun würde, darauf war ich nicht vorbereitet. Wenigstens hält der T-Shirt-Bra, was er verspricht: Meine Brustwarzen werden von den Polstern platt gedrückt. Unter meinen Klamotten zeichnet sich nichts mehr ab. Dafür wirkt meine Oberweite plötzlich seltsam kompakt und, nun ja, vor allem im Profil irgendwie fixiert. Vor dem Spiegel drehe ich mich nach links und rechts. Ich sehe seltsam zylindrisch aus, wie meine Oma in ihrer Kittelschürze. Davon nimmt auch der Kollege B. Notiz. Fortan hört er aber mit dem Starren auf und starrt auch nie wieder.
Die Frühschwangerschaft ist allgemein eine heikle Zeit. Ärzte raten, man solle in den ersten drei Monaten nicht herumerzählen, dass man ein Kind erwartet. Zu viel könne in dieser Zeit noch passieren. Der Zellhaufen, später der Embryo, kann sich zum Beispiel einfach wieder verabschieden, meistens ist das der Fall, wenn ein Konstruktionsfehler oder eine Infektion vorliegt. Dann muss die Beinahe-Mutter ins Krankenhaus und sich der Prozedur »Ausschabung« unterziehen. Der Körper erholt sich davon meist schnell, aber die Frau wird eine erneute Frühschwangerschaft als Höllenritt wahrnehmen. Ich meine, wir reden von mindestens zwei Monaten, in denen sie sich aus Angst das Freuen auf das Baby verbietet und sich von einem qualvollen Tag zum nächsten hangelt.
Doch auch wenn man vom Gynäkologen erfährt, dass alles gut aussieht, ist diese erste Zeit oft von eher anstrengenden Symptomen geprägt. Da wäre natürlich die bereits erwähnte Morgenübelkeit, die selbstverständlich auch mittags, nachmittags, abends und nachts auftreten kann. Sogar Kate Middleton war davor nicht gefeit.
Mich trifft sie aus dem Hinterhalt, auf einer Dienstreise nach Norditalien. Ich bin natürlich erst abgereist, nachdem mein glatzköpfiger Frauenarzt zugestimmt und ich ausführlich in mich hineingehorcht habe. Ach was, kein Problem, denke ich, es geht mir gut – von der dramatisch erhöhten Pinkelfrequenz und den Brustschmerzen mal abgesehen.
Im Hotelbadezimmer, man kennt das Phänomen, herrscht anderes Licht als im heimischen Bad. Ich bin gerade dabei, mich für die morgendliche Dusche auszuziehen, da bleibt mein Blick im Spiegel hängen. Es sind schon wieder meine Brüste, irgendetwas stimmt nicht. Ich gehe ganz nah vor die Scheibe – und da sind sie. Hellblaue Adern ziehen sich wie ein Spinnennetz über meinen Busen. Die Brustwarzen sind nicht mehr Erdbeer-, sondern Haselnusseis. Der Schreck fährt mir in den Magen, und ich übergebe mich zum ersten Mal während der dreitägigen Dienstreise des Grauens.
Wegen der überraschenden Übelkeit sage ich alle Termine ab. Ich will doch nicht riskieren, mitten in der Besprechung grün-blass anzulaufen! Stattdessen lege ich mich flach auf den Hotelzimmerfußboden und übe, wie ich es vom Yoga kenne, die Wechselatmung. Dazwischen kotze ich, als würde ich dafür bezahlt.
Schon nach wenigen Stunden bin ich so schwach, dass ich kaum aufstehen kann. Der Brechreiz ist wirklich enorm, und mein Anblick im Badezimmerspiegel lässt mich zusätzlich würgen. Ich rufe im Büro an und presse hervor:
»Leute, ich hab mir hier was ganz Übles eingefangen. Magen-Darm, so wie es aussieht. Ich muss mindestens zwei Tage länger hierbleiben. Bin nicht reisefähig.«
Extrem unglaubwürdig – schließlich gibt es Medikamente gegen Magen-Darm, die einen schnell wieder funktionieren lassen, und Bozen ist im Frühling ein sehr attraktives Reiseziel. Ich fühle mich zusätzlich schlecht, weil ich lügen muss. Und das ist erst die achte Schwangerschaftswoche. Die achte von insgesamt vierzig.
Erol, der außer Connie und der Dessousverkäuferin Frau Grajewski der Einzige ist, der von meinem Zustand weiß, googelt über tausend Kilometer weiter nördlich, dass Ingwertee helfen soll. Beim Zimmerservice gibt es aber nur Kamillentee. Es wird ganz langsam besser, so dass ich mich imstande fühlte, den Koch anzurufen, den ich treffen muss. Er soll künftig Reisegruppen empfangen, und ich soll ihn testen. Ausgerechnet einen Koch.
Werner lebt droben auf der Alm und gilt als junger Wilder unter den Südtiroler Köchen. Wir vereinbaren einen neuen Termin: am folgenden Tag gegen Mittag.
Nach einer ereignislosen Nacht schaffe ich es tatsächlich, mit dem Mietwagen die scharfen Serpentinen hochzufahren, ohne mir auf den Schoß zu speien. Es kostet mich die größtmögliche Selbstbeherrschung. Die Welt ist eine andere, wenn man unterwegs permanent nach idealen Kotz-Orten Ausschau hält. Interessant an dieser Stelle, wie viele blumige Synonyme es für »kotzen« gibt und wie wenige für »Brustwarzen«. Überhaupt »Warzen« – handelt es sich dabei nicht um eine unattraktive, unnötige Hautverformung? Hexen haben Warzen. Sie stehen für das Alter, für Ekel, für das Böse aus dem Märchen. Diskriminierender Mist! Die einzige Alternative, »Nippel«, ist ein Lehnwort aus dem Englischen. Auch ungut, denn damit verbinde ich die Reime von Rappern, die Mädchen und Frauen für das Schwingen ihrer Popos und Brüste bezahlen.
Während ich die letzten Meter über die Alm laufe und die prachtvollen Dolomitengipfel in mein Blickfeld rücken, überlege ich. Wenn ich könnte, würde ich eine Kommission ins Leben rufen, die sich eine hübsch-neutrale Bezeichnung für die weibliche Brustspitze ausdenken müsste. Vielleicht irgendwas mit »Kofel«?
Werner begrüßt mich mit einem herrlich duftenden Kräuterschaumsüppchen. Mein Magen knurrt auf einmal wie ein Kettenhund, und ich falle hungrig über die Vorspeise her. »Ganz vorzüglich«, mampfe ich und akzeptiere gern die geschmorten Schweinebacken mit Thymian und getrockneten Bergblumen, die Werner danach auftischt. Er lobt meinen »gesegneten Appetit« und grinst. Zum Abschluss einen Kaiserschmarrn mit Puderzucker – himmlisch. Ich fresse und grunze wie ein Ferkel. Ja natürlich: Bergluft macht halt hungrig. Ich liebe meinen Beruf.
Nach diesem Tag fühle ich mich so stabil, dass ich die Heimreise antreten kann. Im Zug bekomme ich allerdings wahnsinnige Bauchschmerzen rechter Hand. Es sticht und kneift mich in die Seite. So doll, dass ich denke: »Das war’s. Meine Frühschwangerschaft ist auch wieder früh vorbei.« Ich traue mich kaum, mich zu bewegen, und bleibe mehrere Stunden wie angewurzelt sitzen, während draußen die Landschaft vorbeizieht. Ich hoffe inständig, dass mein explodierender Zellhaufen bei mir bleiben wird. Jetzt, wo ich mich gerade an ihn gewöhnt habe!
Doch wie ein Besuch beim glatzköpfigen Gynäkologen am nächsten Tag klärt, hat nur meine Gebärmutter gezwickt: Sie dehnt sich aus und bereitet sich schon mal auf ihre gewaltigen Aufgaben vor – besonders schmerzhaft bei Frauen mit trainierten Bauchmuskeln. Na toll. Aber ich bin bis auf weiteres erleichtert.
Dieses Hineinhorchen in den eigenen Körper ist etwas, das mir bis jetzt völlig unbekannt gewesen war. Der Körper machte einfach mit, meistens, ohne aufzumucken. Und wenn der Hals mal weh tat, lutschte ich eben eine Halsschmerztablette – ich wusste, was der Körper brauchte, und der gehorchte mir zum Dank. Nun ist aber alles anders. Es ist, als sprächen wir, die zusammen aufgewachsen sind, plötzlich zwei verschiedene Sprachen. Ich weiß die einfachsten Signale nicht mehr zu deuten. Ich sage nur: Verdauung. Und verschweige die Details.
Meine Frühschwangerschaft besteht also zu großen Teilen aus dem Warten auf die ärztliche Absolution. Mir fällt es wahnsinnig schwer, allen zwölf Wochen zu verschweigen, dass wir wahrscheinlich bald zu dritt sein werden. Ich kann doch auch sonst nichts für mich behalten! Umso toller ist es, als der Arzt uns nach einigen Untersuchungen versichert, es sei wirklich alles in Ordnung. Als der Herzschlag unseres Kindes auf dem Flachbildschirm vor dem Behandlungsstuhl zu sehen ist, kommen auch Erol die Tränen. Der Arzt brennt uns sogar eine CD mit dem spannendsten Film der Welt: unser Baby, wie es sich im Fruchtwasser bewegt. Wir beschließen, uns jetzt richtig, ganz von vorne, zu freuen.
Nachdem Eltern und Schwiegereltern Bescheid wissen, gehe ich auch ins Büro des Kollegen B. und schließe die Tür hinter mir.
»Du-hu«, flöte ich, »tolle Neuigkeiten: Ich bin schwanger!«
»Ach«, ruft er begeistert. »Erzähl mir mal was Neues! Ich meine, guck dir mal deinen Busen an! Da glaubst du, du kannst was verbergen?«
Völlig verdattert schleiche ich in mein Büro zurück und schreibe widerwillig und mit knurrendem Magen die Reportage über Werner und den Kaiserschmarrn. Mich interessiert nämlich gar nichts mehr – außer mir selbst und was in mir vorgeht. Meine komplette Aufmerksamkeit richtet sich auf mich, nach innen.
Connie, die sich bisher scheinbar geduldig jedes Uterus-Zwicken angehört hat, gesteht mir, bei unseren Telefonaten nebenher Zeitung zu lesen. Früher hätte ich darüber gelacht und mit einem Witz geantwortet. Nun frage ich mich, wie sie ernstlich von mir erwarten kann, in meinem Zustand in der verrauchten Croc Bar zu erscheinen.
Als Schwangere mit Kinderlosen und offensiv Nicht-Schwangeren umzugehen ist ein Drahtseilakt. Die eigene Schwangerschaft bestimmt alles. Angenommen, man verhält sich »ganz normal« und thematisiert nicht ständig die zuckersüßen Knöchelchen des Embryos: Das wirkt schnell unglaubwürdig und verkrampft. Und wenn man nur noch vom letzten Ultraschall und seinem schlappen Eisenwert erzählt, läuft man Gefahr, dass die Freundin unterm Tisch mit dem Handy bei Facebook eine Schwangeren-Hasser-Gruppe gründet. Ich finde: Man selbst verändert sich gar nicht so doll. Es sind, frei nach Jean-Paul Sartre, die anderen, die die Hölle sind.
Ich muss mich dringend mehr informieren, so viel steht fest. Und zwar nicht im Internet, wo alle von »Kugelzeit«, »Sternenkindern« und »Schmierblutung 7. SSW + 5 HILFE!!!!« reden. Mit dem Fahrrad steuere ich also eine große Buchhandlung an und schleppe mich in den dritten Stock. Wieso bin ich eigentlich jetzt schon kurzatmig? Warum muss ich schon wieder aufs Klo? Die Antworten, so hoffe ich, werde ich in der Abteilung Kinderbücher und Schwangerenratgeber finden. Da! 100 Fragen an die Hebamme. Das klingt schön sachlich. Oder doch lieber Runde Zeit – alles, was frau wissen muss? Ich stelle mir einen Stapel zusammen und steuere auf die Leseecke zu.
In einem Sessel sitzt eine junge Frau mit einem ganz kleinen Baby auf dem Arm. Wie alt mag es sein? Wieder zeigt sich: Ich habe keine Ahnung. Ich lächele, die Frau lächelt, da beginnt das Kleine zu quengeln. Was soll ich sagen, sie zieht einfach ihren Kapuzenpulli hoch und drückt dem Neugeborenen ihre riesige Brust ins Gesicht. Mitten im Buchladen. Vor meinen Augen und den Augen der Weltöffentlichkeit. Ich nehme gerade an etwas teil, das ich eigentlich gar nicht sehen will. Ein bisschen fühlt es sich so an, wie in einem vollen Club an der Frauenschlange vorbei aufs Männerklo zu gehen, weil da weniger los ist, aber man muss halt an den Typen vor den Pissoirs vorbei.
Warum bin ich beim Anblick dieser Stillenden peinlich berührt, finde aber das riesige H&M-Plakat im Hauptbahnhof, auf dem eine Blondine in Spitzenunterwäsche posiert, weniger anstößig? Ich schiebe den Gedanken weg und fange an zu blättern. Bereits das erste Kapitel eines Ratgebers beunruhigt mich. Die Autorin schreibt, man könne sich gar nicht früh genug um eine Geburtsklinik kümmern. Und ich sitze hier rum! Alarmiert trage ich den Buchstapel zur Kasse und bezahle.
Als mir also klarwird, dass ich das Baby nicht nur irgendwann, sondern auch irgendwo auf die Welt bringen muss, beginnt die fieberhafte Suche nach einem geeigneten Ort. Die beliebteste Klinik ist selbstverständlich bereits ausgebucht. Angespannt recherchierte ich weiter Termine von Informationsabenden. Organisation ist alles, denke ich. Wenn schon so viel Geheimnisvollneues in mir vorgeht, kann ich es ja vielleicht durch effektives Management abfedern.
Zuerst ist das Uniklinikum an der Reihe. Im Prinzip handelt es sich um einen bröckelnden Rohbau hinter grasgrünen Tarnnetzen. Die Renovierung ist in vollem Gange, bereits seit zwölf Jahren, damals, als wir nach Berlin gezogen waren. Erol und ich also kurz geschluckt und rein. Großer Hörsaal.
Doch keiner der anwesenden Weißkittel hält eine Vorlesung. Stattdessen heißt es: Film ab! Ich fasse zusammen:
Eine Hochschwangere mit Köfferchen wird an der Tür zum Kreißsaal von einer Schwester empfangen.
»Tach, ick bin Schwester Moni!«
Schnitt.
Die Hochschwangere watschelt hinein und stellt ihr Köfferchen neben einem verstaubten Ficus Benjaminus ab.
O-Ton Schwester Moni: »Sooo, ick rasiere Sie jetze, und dann mach ick Ihnen ’nen schönen Einlauf …« Der Rest versickerte im ungläubigen Murmeln des Premierenpublikums.
Hammerdialog, starke Frauen, Blut und Ekel: Quentin Tarantino hätte sich keine bessere Eröffnungsszene ausdenken können. Ich bekomme Appetit auf Nachos mit Käse und Nogger.
Das Thema »Geburt« beginnt mich zu elektrisieren. Die Erfahrungsberichte von Betroffenen im Internet werden meine tägliche Splatter-Lektüre. Besonders interessant finde ich die Presswehen-Passagen: »Es zerriss mich förmlich«, ist eine der milderen Formulierungen.
Der nächste Besichtigungstermin ist im Gemeinschaftskrankenhaus der Anthroposophen. Die Freundin von Erols bestem Freund Lars, Bettina, auch schwanger, zeigt sich interessiert. Also hole ich sie mit meinem Kleinwagen ab. Bettina ist Mathematikerin und schlägt aus guten Gründen vor:
»Ich stoppe die Fahrtzeit!«