Hans-Peter Rodenberg
Ernest Hemingway
Rowohlt E-Book
Hans-Peter Rodenberg, Jahrgang 1952, Studium an der Hochschule für Bildende Künste und an der Technischen Universität Braunschweig, dann an der University of California in Los Angeles. 1986–1994 Redakteur beim NDR-Fernsehen, Abteilung Kultur. Seit 1994 Professor für Film, Neue Medien, Populärkultur und Kulturgeschichte der USA an der Universität Hamburg.
Rowohlt E-Book Monographie
Ernest Hemingway ist immer noch einer der populärsten Autoren der klassischen Moderne, sein Bild oszillierend zwischen Metaphysiker, Macho und medialem Selbstdarsteller von hohen Graden. Ein erneuter, frischer Blick auf seine Romane und Kurzgeschichten zeigt einen sehr viel sensibleren, sehr viel weniger machistischen Hemingway, als die feministische Kritik herausgestellt hat. Den Hemingway’schen Helden plagen weit mehr Widersprüche und Selbstzweifel, als diejenigen wahrhaben wollen, denen er als Projektionsfigur männlicher Idealbilder dient.
Diese kurze Biographie beschreibt Hemingways Leben und bietet eine Einführung in seine wichtigsten Werke.
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2014
Copyright © 1999 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier, Karolin Marhencke
Umschlaggestaltung Ivar Bläsi
(Abbildung: © Roxann E. Livingston/Earl Theisen Archives, courtesy JFK Library [Ernest Hemingway in Afrika, 1953])
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-50626 (5. Auflage 2011)
ISBN E-Book 978-3-644-53261-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-53261-8
Vgl. Baker 1969, S. VII; und Mary Welsh Hemingway 1977, S. 96 Anm.
Interview mit John Hemingway, BBC-Serie über E.H. in 4 Teilen, 1986, Teil I
Nr. 383, Ernest Hemingway Collection, John F. Kennedy Library, Boston, zit. n. Griffin 1985, S. 15
Burgess 1980, S. 11
EH an seine Familie, 19. November 1917, SL, S. 2
EH an seine Familie, 14. Mai 1918, SL, S. 6
EH an seine Familie, 18. August 1918, AB, S. 41f.
EH an seine Familie, 18. Oktober 1918, SL, S. 19
EH an William D. Horne, 13. März 1919, zit. n. Griffin 1985, S. 113f.
EH an James Gamble, 16. und 27. April 1919, zit. n. Griffin 1985, S. 119
Grace Hall Hemingway an ihren Sohn, 24. Juli 1920, zit. n. Baker, 1969, S. 72
Vgl. Interview mit A.E. Hotchner, BBC-Serie, Teil 2
Zit. n. Leo Lania: Hemingway. Eine Bildbiographie, München 1960
EH an Hadley Richardson, 23. Dezember 1920, zit. n. Griffin 1985, S. 148
Vgl. P, S. 209f.
Zit. n. einer Aussage von Malcolm Cowley, BBC-Serie, Teil 2
Vgl. Ernest Hemingway: On Writing. Hg. von Larry W. Phillips. London 1985, S. 42f., S. 75, S. 77
Baker 1969, S. 268
EH an Ezra Pound, 17. März 1924, AB, S. 88
EH an William D. Horne, 18. Juli 1923, AB, S. 70
Vgl. Nr. 193–194, Manuskript und Typoskript «The Sun Also Rises», JFK Library
Vgl. EH an Scott Fitzgerald, ca. 15. September 1927, AB, S. 211.
Vgl. Nr. 193 Manuskript «Cayetano Ordonez ‹Nino de la Palma›», JFK Library
EH an Maxwell Perkins, 26. Juli 1933, SL, S. 395f.
EH an Waldo Pierce, 15. April 1932, SL, S. 359
EH an Arnold Gingrich, 24. Mai 1933, SL, S. 391
EH an Maxwell Perkins, 5.–6. Januar 1932, SL, S. 351
EH an Archibald McLeish, 4. April 1943, SL, S. 544
EH an Robert Cantwell, 25. August 1950, AB, S. 476f.
Vgl. John Dos Passos: Die schönen Zeiten. Jahre mit Freunden und Fremden. Reinbek 1969, S. 267
EH an F. Scott Fitzgerald, 28. Mai 1934, SL, S. 407f.
EH an Henry Strater, 9. Februar 1932, SL, S. 352f.
EH an Arnold Gingrich, 18. Januar 1934, SL, S. 402f.
Edmund Wilson: The Wound and the Bow. Cambridge, Mass., 1941, S. 227
EH an John Dos Passos, 11. Februar 1936, zit. n. Lynn 1989, S. 538
Interview mit Denis Zaphiro, BBC-Serie, Teil 3
EH an Familie Pfeiffer, 9. Februar 1937, SL, S. 457f.
Ernest Hemingway: Der Schriftsteller und der Krieg. In: New York 1935–1937. Reden und Dokumente der Schriftstellerkongresse. Berlin 1984, S. 261, S. 260
EH an Maxwell Perkins, 28. Oktober 1938, AB, S. 359
EH an seine Schwiegermutter, Mrs. Paul Pfeiffer, 6. Februar 1938, SL, S. 476
EH an Maxwell Perkins, 7. September 1935, AB, S. 335
EH an Iwan Kaschkin, 15. August 1935, AB, S. 329f.
Hemingway veränderte Jordans Aussage zur veröffentlichten Version hin erst in seiner Korrektur der Druckfahnen. Vgl. Nr. 83.3, S. 111, Nr. 85.3, S. 124, Nr. 86.3 Druckfahne 21, JFK Library
EH an Charles Scribner, 24. Februar 1940, AB, S. 373
Interview mit John Hemingway, BBC-Serie, Teil 3
EH an Maxwell Perkins, ca. 12. Oktober 1940, AB, S. 381
EH an Charles Scribner, ca. 21. Oktober 1940, SL, S. 519
EH an Patrick Hemingway, 15. September 1944, SL, S. 571
EH an Maxwell Perkins, 15. Oktober 1944, SL, S. 574
Erstes Gedicht an Mary in London, G, S. 127f.
Interview mit Jack Hemingway, BBC-Serie, Teil 4
EH an Charles T. Lanham, 20. April 1945, SL, S. 589
EH an Charles T. Lanham, 28. August 1946, SL, S. 611
EH an Maxwell Perkins, 14. Februar 1927, SL, S. 245
Mary Welsh Hemingway 1977, S. 129ff.
Ernest Hemingway: African Journal, zit. n. Scott Donaldson: By Force of Will. The Life and Art of E.H. New York 1977, S. 150
Villard/Nagel 1996
Nr. 422.1, Manuskript The Garden of Eden, Buch 3, Kapitel 23, S. 9, JFK Library.
Mary Hemingway 1977, S. 318
Nr. 102–103, JFK Library, zit. n. Fleming, Anm. 60, S. 58
EH an Wallace Meyer, 6. Mai 1953, SL, S. 821
EH an Berend Berenson, 2. Februar 1954, SL, S. 827f.
Interview, BBC-Serie, Teil 4
EH an Eric Edward Dorman-O’Gowan, 23. Dezember 1954, SL, S. 843
Nr. 845 «The writer himself …» (Fragment), S. 2, JFK Library
Vgl. Susan F. Beegel; Hemingway and Hemochromatosis. Hemingway Review 10:1 (1990), S. 57–65
EH an Charles Scribner, 1. April und 6. Juli 1960, SL, S. 902, S. 905
EH an Mary Hemingway, 25. September 1960, AB, S. 622
Zit. n. Baker 1969, S. 559
EH an Frederick G. Saviers, 15. Juni 1961, AB, S. 628f.
Die erste Biographie über ihn solle erst hundert Jahre nach seinem Tod erscheinen, sagte Hemingway einmal, und seinem Testamentsvollstrecker trug er 1958 auf, dass keiner der von mir irgendwann zu meinen Lebzeiten geschriebenen Briefe veröffentlicht wird[1]. Am liebsten hätte Hemingway um sein privates Leben einen undurchdringlichen Schleier gelegt, fast ein Paradox bei einem Mann, der fast sein ganzes Leben lang auf Publicity aus war, der ohne das Licht der Öffentlichkeit nicht der gewesen wäre, der er war. Die Kritik hat ihn geliebt und in den Himmel gehoben, und sie hat ihn ebenso unbarmherzig verrissen: Hier war endlich ein Schriftsteller, der nicht von des Gedankens Blässe angekränkelt war. Hemingway war Abenteurer, Großwildjäger, Hochseefischer, Stierkampfanhänger und «bon vivant» in einem, hatte Schlag bei den Frauen, heiratete viermal und bekam 1954 den Nobelpreis für Literatur – ein Autor, in dessen Leben es genauso bunt zuging wie in seinen Romanen und Kurzgeschichten. Wo immer Hemingway auftrat, war eine Filmkamera dabei, klickten die Verschlüsse der Fotoapparate, meldeten die Zeitungen am nächsten Tag, was «Papa» Aufregendes passiert war. Und der Schriftsteller, der alles andere sein wollte als ein verweichlichter Intellektueller, genoss es sichtlich und half eifrig mit, das öffentliche Bild vom Macho Hemingway zu formen.
Aber es war eine tückische Beziehung, die er mit den Medien einging. Sein Sohn John hat nach seinem Tod von ihm gesagt: «Es gab einen Augenblick in seinem Leben, in dem sein Image, sein Lebensstil, seine Persönlichkeit, die Phantasie der Öffentlichkeit mehr beschäftigten als sein Werk.»[2] Besonders gegen Ende seines Lebens wendete sich Hemingways selbst verfertigtes Image des Raubeins immer mehr gegen ihn. Die Presse begann mit Vorliebe über seine menschlichen Schwächen zu berichten, über seine Anfälligkeit gegenüber dem Berühmtsein, unter dem seine Gewissenhaftigkeit als Künstler litt, über seine Trinkerei, die zu Unfällen und sinnlosen Gewalttätigkeiten führte. Der Eindruck von Hemingway, der sich schließlich in der Öffentlichkeit festsetzte, war der eines Angebers, der die Hälfte der Zeit betrunken war, Leute zusammenschlug und großspurig auftrumpfte. Auf der Strecke blieb der andere Hemingway, der sensible Schriftsteller, dem der Alkohol nur dazu diente, seine Selbstzweifel und seine Unsicherheit zu betäuben. Dieser Hemingway war fast das Gegenteil der Person, als die er sich nach außen gab, der nach den Aussagen seiner Freunde beinahe schüchterne Mann, der den Rückhalt der Frauen brauchte, mit denen er verheiratet war, auch wenn er immer wieder gegen sie opponierte, der weiche Hemingway, der Katzen liebte und es nicht ertrug, dass er nicht so stark war, wie sein selbst erfundenes Bild es von ihm forderte.
Es macht die Tragik im Leben Hemingways aus, dass er selbst zunehmend das Gefühl gehabt haben muss, dass sein wahres Ich hinter der von ihm in die Welt gesetzten Legende mehr und mehr verschwand. Anders sind seine sich häufenden Schaffenskrisen und ist die persönliche Krise nicht zu erklären, die ihn schließlich am 2. Juli 1961 sein Leben beenden ließ. Das Leben Hemingways ist das Leben eines Mannes, der sich zeitlebens hinter seinen öffentlichen Posen versteckte, der die Frauen niedermachte, obwohl er privat gern in die Rolle des weiblichen Parts schlüpfte, der sich in den Medien als Tatmensch gab, obwohl er zutiefst von Zweifeln erfüllt war. Dieser Mann war zugleich Täter wie Opfer in einer Zeit, die einen zweifelsfrei maskulinen Helden brauchte, um die Verunsicherung durch die radikalen Veränderungen des 20. Jahrhunderts zu überdecken.
Im Jahr 1899, als Ernest Miller Hemingway am 21. Juli als zweites Kind von Dr. Clarence Edmonds Hemingway und seiner Frau Grace Hall Hemingway in Oak Park, Illinois, geboren wurde, war von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts noch wenig zu spüren. In Oak Park, einem Vorort von Chicago, wohnte der bürgerliche Mittelstand, ehrbar, angesehen und ein bisschen langweilig. Allenfalls der Architekt Frank Lloyd Wright brachte etwas Unruhe in die Gemeinde mit seinen modernistischen Häusern im «Präriestil», und erst recht, als er 1909 mit einer verheirateten Frau durchbrannte. Ansonsten war in der überschaubaren Welt des amerikanischen Mittelwestens noch alles in Ordnung. Man klopfte sich gegenseitig auf die Schulter und unterhielt sich voller Optimismus über den Gang der Welt. Ab 1901 sollte Theodore Roosevelt für acht Jahre ins Weiße Haus einziehen, und die Welt, das war Amerika, das beste Land überhaupt. Man war ungeniert WASP, eben weiß, angelsächsisch und protestantisch, und wollte unter sich bleiben. Wichtig war, dass man «jemand war», ein großes Haus zum Vorzeigen hatte und dem richtigen Club angehörte. Mit einem gewissen Hochmut sah man auf das nahe «proletarische», unmoralische und korrupte Chicago herab. Umgekehrt spöttelten die Chicagoer, Oak Park, das sei dort, wo die Bars endeten und die Kirchen begännen. Es war eine Atmosphäre des vorsichtigen Konformismus, der moralischen Achtbarkeit und der gegenseitigen Überwachung, aber auch ein Klima, in dem Kinder behütet und umsorgt aufwachsen konnten.
Die Hemingways gehörten zu den Honoratioren des Ortes. Ernest Hemingways Vater, Sohn eines Bürgerkriegsveteranen, der es als Immobilienmakler in Chicago zu Wohlstand gebracht hatte und dann nach Oak Park umgezogen war, hatte am Oberlin and Rush Medical College studiert und führte in Oak Park eine angesehene Praxis als praktischer Arzt und Geburtshelfer. Mit seinen 1,83 m war Ed, wie Dr. Clarence Edmonds Hemingway nur genannt wurde, eine große, stattliche Erscheinung, mit breiten Schultern und einem schwarzen Bart. Er war ein gewissenhafter Hausarzt, der für seine Patienten stets ansprechbar war und 1911 sogar zum Präsidenten der Medizinischen Gesellschaft von Oak Park gewählt wurde. Aus einem moralisch rigiden Elternhaus stammend – sein Vater Anson hatte den Dienst in der Armee quittiert, um für eine religiöse Organisation zu arbeiten –, gab es für Ed Hemingway keinen Zweifel daran, dass Gut und Böse klar erkennbare, genau fixierte Qualitäten waren, ohne Übergang zwischen ihnen. Luzifer lauerte überall: Wenn eines der sechs Kinder sich ausfallend benahm, musste es unverzüglich auf den Knien Gott um Verzeihung bitten. Beherrschte der junge Ernest sich einmal nicht und rutschte ihm ein Schimpfwort heraus, war die Mindeststrafe, die er für diese unentschuldbare moralische Schwäche zu erwarten hatte, das Zähneputzen mit Toilettenseife. Im Haus 600 North Kenilworth Avenue, das die Hemingways 1906 bezogen, nachdem sie vorher im Haus der Eltern von Hemingways Mutter gewohnt hatten, wurden Spielkarten und Tanz nicht geduldet; Tabak und Alkohol waren in den Augen des Dr. Hemingway Werkzeuge des Teufels, und Kirchgang samt Sonntagsschule war Pflicht für die Familie. Es war eine wirklichkeitsferne, in ihrer puritanischen Strenge für die amerikanische Mittelschicht nicht untypische Einstellung, gegen die Hemingway zeit seines Lebens mit seiner äußerlichen Negation des Religiösen und Übertritt zum Katholizismus, seinem Abtauchen in Alkoholexzesse und seiner existenzialistischen Betonung des Diesseits rebellieren sollte, dies umso mehr, als sie bei seinem Vater gleichzeitig mit Schüben von Jähzorn und sexueller Prüderie einherging. Dennoch liebte Hemingway seinen Vater mit einer ambivalenten Mischung aus Bewunderung, Abgestoßensein und Zärtlichkeit. In seiner stark autobiographisch gefärbten Kurzgeschichte Väter und Söhne sollte Hemingway Jahre später schreiben: Sein Vater war sehr nervös, wie alle Leute mit einer Fähigkeit, die menschliche Bedürfnisse übersteigt. Und sentimental war er auch, und wie fast alle sentimentalen Menschen war er beides, grausam und oft betrogen. Und dann hatte er auch viel Pech, und es war nicht alles seine Schuld. Er war in einer Falle umgekommen, an deren Aufstellung er nur wenig beteiligt war, und sie hatten ihn alle auf ihre verschiedene Art und Weise verraten, bevor er starb. Alle sentimentalen Menschen werden eins ums andere Mal verraten. Nick konnte noch nicht über ihn schreiben, er würde es später einmal tun, aber das Wachtelland rief ihn Nick ins Gedächtnis zurück so wie er war, als Nick ein Junge gewesen, und er war ihm für zwei Dinge sehr dankbar: Angeln und Jagen. Sein Vater war auf diesen beiden Gebieten so sattelfest, wie er zum Beispiel in Bezug auf alles Geschlechtliche ahnungslos war, und Nick war froh, dass es so gewesen war, denn es muss einem jemand die erste Flinte geben oder die Gelegenheit, eine zu bekommen und sie zu benutzen, und man muss dort leben, wo es Wild und Fische gibt, wenn man wirklich etwas über sie lernen will – und jetzt, mit achtunddreißig, angelte und jagte er genauso gern wie damals, als er zuerst mit seinem Vater gegangen war. Es war eine Leidenschaft, die niemals nachgelassen hatte, und er war seinem Vater sehr dankbar dafür, dass er sie in ihm geweckt hatte. (Sgla, S. 108ff.)
Dr. Hemingway hatte 1898 ein kleines Grundstück am Walloon Lake gekauft, auf das er ein Sommerhaus baute. Später kam eine 16 Hektar große Farm in der Nähe hinzu. Schon sieben Wochen nach seiner Geburt wurde Ernest hierher mitgenommen. Am Walloon Lake brachte Ed Hemingway seinem Sohn den Umgang mit Werkzeug und Waffen bei, hier lehrte er Ernest, wie man Wild ausweidete und zum Essen zubereitete, wie man mit den Fischen aus dem See umging. Es war eine männliche Welt, in der die Dinge einfach und unkompliziert schienen, jene Welt «ohne Frauen», in die auch sein Sohn Ernest immer wieder zurückkehren, in die er sich immer wieder flüchten würde, wenn er sich bedrängt fühlte. Heute muss man mit Hemingways Biographen Kenneth Lynn sagen, dass Dr. Hemingway bei aller Energie, die er besaß, wahrscheinlich ein zutiefst unglücklicher Mann war, dass seine plötzlichen, grausamen Ausfälle bei kleinsten Verstößen seiner Kinder, die er als religiöse Disziplinierung tarnte, seine fieberhafte Tätigkeit für die Gemeinde und seine sporadischen Nervenzusammenbrüche ein zusammenhängendes Muster manischer Depression ergeben. Am 6. Dezember 1928 setzte er sich die alte Smith & Wesson seines Vaters an den Kopf und drückte ab. Seiner Frau gegenüber eher weich und nachgiebig, quälten ihn, so lässt sich vermuten, Gefühle des Versagens als Ehemann und als Vater. Obwohl Ernest Hemingway sich seinem Vater sehr nahe fühlte, hat er ihm diesen Teil seines widersprüchlichen Verhaltens nie verziehen, es als Versagen gewertet. Ich werde nie vergessen wie widerlich er mir war, als ich zum ersten Mal merkte, dass er ein «cobarde» war, sinniert Hemingways Held Robert Jordan in Wem die Stunde schlägt über seinen Vater, der sich das Leben genommen hat: Los, sag es in deiner Muttersprache. Feigling! Man fühlt sich erleichtert, wenn man es ausgesprochen hat, und was soll es für einen Sinn haben, einen Lumpen nicht einen Lumpen zu nennen, sondern ihm ein fremdsprachiges Wort anzuhängen. Aber er war kein Lump. Er war einfach ein Feigling, und das ist das größte Pech, das einem Menschen widerfahren kann. Wenn er kein Feigling gewesen wäre, hätte er es mit dem Weibsbild aufgenommen und sich nicht von ihr tyrannisieren lassen. […] Er verstand seinen Vater, und er verzieh ihm alles und bedauerte ihn, aber er schämte sich seiner. (WdS, S. 327f.) Die Schuld für das Verhalten seines Vaters gab Ernest Hemingway eindeutig seiner Mutter. In einer wieder gestrichenen früheren Version von Väter und Söhne sollte er schreiben: Er war mit einer Frau verheiratet, mit der er weniger gemein hatte als ein Kojote mit einem weiblichen Pudel – denn er war kein Wolf, mein Vater. […] Wenn ein Mann mit einer Frau verheiratet ist, mit der er nichts gemein hat, bei der es nicht mehr um Gerechtigkeit geht, sondern unter dem Strich nur um Selbstsüchtigkeit und hysterische Gefühlswallungen, dann gibt es nur eins zu tun, und das ist, sie loszuwerden. […] Wer in einer solchen Ehe den ersten Zwist gewinnt, hat die Kontrolle, und der Verlierer mag noch sosehr an die Vernunft appellieren, erklärende Briefe schreiben, alles vor den Kindern noch einmal austragen – dann das unvermeidliche Erwachen, der Gewinner empfängt den Verlierer mit Großmut, alles, was den Kindern gesagt wurde, ist getilgt, ein Heim voll Liebe, Mutter hat dich an ihrem Herzen getragen, ah ja, und was ist mit seinem Herzen, wo schlug das, wo schlägt es jetzt und mit welchem hohlen Klang?[3]
Grace Hall Hemingway war in der Tat von anderem Zuschnitt als ihr Mann. War Ed Hemingway der Typ des zwanghaften, hinter seinem patriarchalischen Gehabe eher depressiven Menschen, war sie der Prototyp der dominanten, hysterischen Frau. Blauäugig, drall und schon früh mit einem beeindruckenden Busen ausgestattet, war sie eine Aufsehen und Bewunderung erregende Erscheinung. Aufgewachsen als gehätschelte Tochter von Ernest Hall aus Chicago, einem wohlhabenden, aus Sheffield in England stammenden Messer-Großhändler, und seiner eigensinnigen Frau Caroline Hancock Hall, lehnte sie die Restriktionen, die damals einer Frau auferlegt waren, entschlossen ab. Sie war früh davon überzeugt, dass ihr ererbtes musikalisches Talent und ihre schöne Stimme sie zum Ruhm als Opernsängerin führen würden. In ihrer Jugend hatte sie sich darum ganz einer musikalischen Karriere verschrieben, die jedoch jäh ein Ende fand, als sie bei ihrem Debüt im New Yorker Madison Square Garden unerklärliche Kopfschmerzen befielen. Diesen Qualen wollte sie nicht noch einmal ausgesetzt sein, und so gab die Vierundzwanzigjährige mit dem schimmernden kastanienroten Haar dem Werben des neun Monate älteren Dr. Hemingway nach und heiratete ihn im Oktober 1896 in der Ersten Kongregationalistischen Kirche von Oak Park.
Ihr erstes Kind war ein Mädchen, und die junge Mutter war begeistert. Sie schränkte den Musikunterricht ein, den sie vorher gegeben hatte, widmete sich ganz ihren musischen Neigungen und der Familie, die im Verlauf von siebzehn Jahren schließlich auf sechs Kinder anwachsen sollte: Marcelline (geb. 1898), Ernest, Ursula (geb. 1902), Madeleine «Sunny» (geb. 1904), Carol (geb. 1911) und der Nachzügler Leicester (geb. 1915). Gerade und weil sie bald ihrem Mann gegenüber ambivalente Gefühle haben sollte, ihn einerseits in seiner Fügsamkeit ihr gegenüber brauchte, aber auch dafür als Schwächling verachtete, stürzte sie sich auf die Organisation ihres sozialen und künstlerischen Lebens. Da sie hausfrauliche Pflichten weitgehend ablehnte – die Aufwendungen für Angestellte und der Lebensstil, den sie für sich als passend empfand, strapazierten das Budget der Hemingways oft empfindlich –, blieb Grace reichlich Zeit, sich auf ihre musischen Neigungen zu konzentrieren. Sie tat es mit großer Hingabe, und nicht selten musste Ed während eines Patientenbesuchs zu Hause anrufen, um dem Dienstmädchen aufzutragen, die Pastete aus dem Ofen zu nehmen. Neben ihrer musikalischen Begabung hatte Hemingways Mutter aber auch Gespür für die bildende Kunst und wurde in ihren mittleren Jahren eine regional durchaus bekannte Malerin.
Einige der Ideen, die Grace hatte, waren allerdings im besten Fall ungewöhnlich zu nennen. Als Ernest neun Monate alt war, zog sie ihm ein rosa Baumwollkleidchen an und setzte ihm ein Blumenhäubchen auf, wie seiner achtzehn Monate älteren Schwester Marcelline. Nun war das Kleidchentragen bei Babys beiderlei Geschlechts um die Jahrhundertwende nichts Ungewöhnliches, bei Ernest hielt dieser Zustand jedoch an, bis er über zwei Jahre alt war. Auch die Haare wurden ihm wie bei einem Mädchen weit über das übliche Alter hinaus lang gelassen. Grace hatte sich in den Kopf gesetzt, Marcelline und ihn wie gleichgeschlechtliche Zwillinge aufzuziehen. Sie schulte Marcelline sogar ein Jahr später ein, damit beide in derselben Klasse sein konnten. Hemingways Bruder Leicester wurde erst geboren, als Ernest fast sechzehn Jahre alt war, zu spät, um Gegengewicht und Verbündeter zu sein. Ein Teil der Lebensängste, die Hemingway nachts begleiten sollten, auch wenn er selbst sie auf seine Kriegserlebnisse zurückführte, haben wahrscheinlich hier ihren Ursprung und sind als Angst vor einer Art psychischem Erstickungstod zu deuten. Unter der erdrückenden Allmacht der Mutter, die ihn einerseits als Mädchen verhätschelte, ihm andererseits aber auch abforderte, ein richtiger Junge zu sein, und umgeben von Schwestern hatte es der junge Ernest schwer, eine normale männliche Identität zu entwickeln. Der Schriftsteller Anthony Burgess hat hierzu scharfsichtig bemerkt: «Man konnte bis zuletzt beobachten, dass Hemingway in Gesellschaft von Frauen seiner eigenen Generation instinktiv in die Rolle des hänselnden, rechthaberischen, aber leicht einzuschüchternden Bruders schlüpfte. Auch von seinen Frauen verlangte er die kameradschaftlichen Eigenschaften einer Schwester. Er wünschte sich eine Tochter, die er aber nie bekam, und schuf sich daher gern einen Tochterersatz in Gestalt von jungen hübschen Frauen wie Ava Gardner und Ingrid Bergman.»[4] Die weibliche Dominanz im Hause Dr. Hemingway wog umso schwerer, als der Vater nur während der Ferienzeiten am Walloon Lake zur Verfügung stand, und auch dies nur, bis Ernest elf Jahre alt war. Danach sah sich Dr. Hemingway gezwungen, sich noch stärker beruflich zu engagieren, um den anspruchsvollen Lebensstandard seiner Frau weiter finanzieren zu können.
Insgesamt war Grace Hall Hemingway für ihre Kinder, dies muss man festhalten gegen die Ressentiments, die ihr Sohn Ernest später ihr gegenüber entwickeln sollte und die ihn sogar dazu bewegten, von einer unglücklichen Kindheit zu sprechen, zwar eine überaus dominierende, aber auch anregende Mutter. Auf ihrem Rosenholzklavier komponierte sie viele Melodien, die hinterher im Hause Hemingway gesungen wurden. Ihr Geltungsdrang ließ sie gesellschaftliche Anlässe zur Öffnung ihres Hauses suchen und so ein Gegengewicht gegen die puritanische Lustfeindlichkeit des Vaters schaffen. Sie war es, die es schließlich durchsetzte, dass Vergnügungen wie Tanzen nicht ganz aus dem Hause Hemingway verbannt werden konnten. Bei aller Strenge und frommen Sentimentalität unterstützte Grace ihre Kinder nachdrücklich in ihren Neigungen und ermutigte sie, ihren Gefühlen und Wünschen zu folgen. Dem musikalischen Talent seiner Mutter verdankt Hemingway zweifelsohne sein Gefühl für Rhythmus, jenes Gefühl für Melodie und Klang von Sprache, das später in seinem verknappten und auf das Wesentliche reduzierten Stil meisterhaft zum Ausdruck kommen sollte.
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