Vilém Flusser
Kommunikologie
Herausgegeben von Stefan Bollmann und Edith Flusser
Fischer e-books
Vilém Flusser, geboren 1920, gestorben 1991, emigrierte 1939 über London nach Sao Paulo. 1959 wurde er Dozent für Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität Sao Paulo. Im Fischer Taschenbuchverlag sind erschienen »Kommunikologie« (978-3-596-13389-5) sowie »Medienkultur« (978-3-596-13386-4).
Covergestaltung: Buchholz/Hinsch/Hensinger
Coverabbildung: Franz & Gawron
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401628-3
Die menschliche Kommunikation ist ein künstlicher Vorgang. Sie beruht auf Kunstgriffen, auf Erfindungen, auf Werkzeugen und Instrumenten, nämlich auf zu Codes geordneten Symbolen. Menschen verständigen sich untereinander nicht auf «natürliche» Weise: Beim Sprechen kommen nicht «natürliche» Töne heraus wie beim Vogelgesang, und das Schreiben ist keine «natürliche» Geste wie der Bienentanz. Daher ist die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft, sondern sie gehört zu jenen Disziplinen, welche mit den unnatürlichen Aspekten des Menschen zu tun haben und einst «Geisteswissenschaften» hießen. Die amerikanische Bezeichnung «humanities» trifft das Wesen solcher Disziplinen genauer. Sie deutet nämlich an, daß der Mensch ein unnatürliches Tier ist.
Nur in diesem Sinn kann man ihn ein geselliges Tier, ein zoon politikon, nennen. Er ist ein Idiot (ursprünglich: eine «Privatperson»), wenn er nicht gelernt hat, sich der Instrumente der Kommunikation (z.B. einer Sprache) zu bedienen. Idiotie, unvollkommenes Mensch-sein, ist Mangel an Kunst. Zwar gibt es auch «natürliche» zwischenmenschliche Beziehungen (etwa zwischen Säugling und Mutter, oder beim Geschlechtsverkehr), und man kann von ihnen behaupten, sie seien die ursprünglichsten und grundlegenden Kommunikationsformen. Aber sie sind nicht charakteristisch für menschliche Kommunikation und zudem weitgehend von Kunstgriffen angesteckt (von «Kultur beeinflußt»).
Der künstliche Charakter der menschlichen Kommunikation – die Tatsache, daß er sich mit anderen Menschen durch Kunstgriffe verständigt – ist dem Menschen nicht immer voll bewußt. Nach Erlernen eines Codes neigen wir dazu, seine Künstlichkeit zu vergessen: Hat man den Code der Gesten gelernt, denkt man nicht mehr daran, daß Kopfnicken nur für jene «Ja» bedeutet, welche sich dieses Codes bedienen. Die Codes (und die Symbole, aus denen sie bestehen) werden zu einer Art zweiter Natur, und die kodifizierte Welt, in der wir leben – die Welt der bedeutenden Phänomene wie Kopfnicken, Verkehrszeichen und Möbel – läßt uns die Welt der «ersten Natur» (die bedeutende Welt) vergessen. In letzter Analyse ist das der Zweck der uns umgebenden kodifizierten Welt: uns vergessen lassen, daß sie ein künstliches Gewebe ist, welches die an und für sich bedeutungslose, unbedeutende Natur unserem Bedürfnis gemäß mit Bedeutung erfüllt. Der Zweck der menschlichen Kommunikation ist, uns den bedeutungslosen Kontext vergessen zu lassen, in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind, nämlich jene Welt, in der wir in Einzelhaft und zum Tode verurteilt sitzen: die Welt der «Natur».
Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. Von «Natur» aus ist der Mensch ein einsames Tier, denn er weiß, daß er sterben wird und daß in der Stunde des Todes keine wie immer geartete Gemeinschaft gilt: Jeder muß für sich allein sterben. Und potentiell ist jede Stunde die Stunde des Todes. Selbstredend kann man mit so einem Wissen um die grundlegende Einsamkeit und Sinnlosigkeit nicht leben. Die menschliche Kommunikation webt einen Schleier der kodifizierten Welt, einen Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod derer, die wir lieben, vergessen. Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein «politisches Tier», nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben.
Die Kommunikationstheorie beschäftigt sich mit dem künstlichen Gewebe des Vergessenlassens der Einsamkeit und ist daher eine humanity. Zwar ist hier nicht der Ort, den Unterschied zwischen «Natur» einerseits und «Kunst» (oder «Kultur» oder «Geist») andererseits zu erörtern. Aber die methodologische Folge der Feststellung, daß die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft ist, muß doch zu Worte kommen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde allgemein angenommen, daß Naturwissenschaften Phänomene erklären, während die «Geisteswissenschaften» sie interpretieren. (Zum Beispiel wird eine Wolke erklärt, wenn man auf ihre Ursachen verweist, und ein Buch wird interpretiert, wenn man auf seine Bedeutung hinweist.) Danach wäre die Kommunikationstheorie eine interpretierende Disziplin: sie hat es mit Bedeutungen zu tun.
Leider haben wir die Naivität verloren zu glauben, daß die Phänomene selbst entweder Erklärung oder Interpretation fordern. Wolken können interpretiert werden (Weissager und manche Psychologen tun dies), und Bücher können erklärt werden (historische Materialisten und manche andere Psychologen tun dies). Es scheint, daß eine Sache zu «Natur» wird, sobald man sie erklärt, und zu «Geist», sobald man sich entscheidet, sie zu interpretieren. Danach wäre für einen Christen überhaupt alles «Kunst» (nämlich Gottes Werk) und für einen aufgeklärten Philosophen des 18. Jahrhunderts überhaupt alles «Natur» (nämlich im Prinzip erklärlich). Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und «Geisteswissenschaft» wäre demnach nicht auf die Sache, sondern auf die Einstellung des Forschers zurückzuführen.
Aber das entspricht nicht der tatsächlichen Lage der Dinge. Zwar kann man alles «humanisieren» (beispielsweise Wolken lesen) und alles «naturalisieren» (beispielsweise die Ursachen von Büchern aufdecken). Aber man muß sich dabei bewußt sein, daß das untersuchte Phänomen bei jeder dieser beiden Vorgehensweisen andere Aspekte aufweisen wird und es daher wenig Sinn hat, vom «gleichen Phänomen» zu sprechen. Eine gedeutete Wolke ist nicht die Wolke der Meteorologen, und ein erklärtes Buch hat nichts mit Literatur zu tun.
Wendet man das Gesagte auf das Phänomen der menschlichen Kommunikation an, dann erkennt man das methodologische Problem, von dem gesprochen wurde. Versucht man nämlich, die menschliche Kommunikation zu erklären (beispielsweise als Weiterentwicklung der Säugetierkommunikation, als Folge der menschlichen Anatomie oder als Methode, Informationen zu übertragen), dann spricht man von einem anderen Phänomen, als wenn man versucht, sie zu interpretieren (aufzuzeigen, was sie bedeutet). Die vorliegende Arbeit schlägt vor, diese Tatsache im Auge zu behalten. In der Folge wird also «Kommunikationstheorie» als eine interpretative Disziplin verstanden (zum Unterschied beispielsweise von «Informationstheorie» oder «Informatik»), und die menschliche Kommunikation wird als ein bedeutendes und zu deutendes Phänomen angesehen werden.
Das Unnatürliche an diesem Phänomen, das unter dem interpretativen Gesichtspunkt sichtbar wird, ist mit der Künstlichkeit seiner Methoden – der absichtlichen Herstellung von Codes – aber noch nicht vollends erfaßt. Die menschliche Kommunikation ist unnatürlich, ja widernatürlich, weil sie beabsichtigt, erworbene Information zu speichern. Sie ist «negativ entropisch». Man kann behaupten, daß die Übertragung von erworbener Information von Generation zu Generation ein essentieller Aspekt der menschlichen Kommunikation ist und ein Charakteristikum des Menschen überhaupt darstellt: er ist ein Tier, welches Tricks erfunden hat, um erworbene Information anhäufen zu können.
Zwar gibt es auch in der «Natur» solche negentropischen Prozesse. Beispielsweise kann man die biologische Entwicklung als eine Tendenz zu immer komplexeren Formen, zur Akkumulation von Information, betrachten – als einen Prozeß, der zu immer weniger wahrscheinlichen Strukturen führt. Und es läßt sich dann sagen, daß die menschliche Kommunikation ein vorläufig letztes Stadium in diesem Entwicklungsprozeß darstellt – jedenfalls wenn man versucht, das Phänomen der menschlichen Kommunikation zu erklären. Aber man wird dann von einem anderen Phänomen sprechen als von dem hier gemeinten.
Vom naturwissenschaftlichen, erklärenden Standpunkt aus ist das Anhäufen von Information ein Prozeß, der sich sozusagen auf dem Rücken des weit breiteren Prozesses in Richtung Informationsverlust abspielt, um schließlich in diesen zu münden: ein Epizyklus. Zwar ist die Eiche komplexer als die Eichel, sie wird aber schließlich zu Asche, welche weniger komplex ist als die Eichel. Zwar ist die Struktur des Ameisenkörpers komplexer als die Struktur der Amöbe, aber die Erde wird der Sonne näher rücken und der ganze biologische Epizyklus wird schließlich eingeäschert werden, wobei diese Asche wiederum weniger komplex sein wird als die Amöbe. Die Epizyklen der Informationssicherung sind zwar unwahrscheinlich, aber statistisch möglich, müssen allerdings, ebenfalls statistisch, laut des Zweiten Thermodynamischen Prinzips im Wahrscheinlichen münden.
Ganz anders, ja geradezu umgekehrt, erscheint diese negentropische Tendenz der menschlichen Kommunikation, wenn man versucht, sie zu deuten, anstatt sie zu erklären. Dann nämlich wird die Akkumulation von Information nicht als statistisch unwahrscheinlicher, aber möglicher Prozeß, sondern als menschliche Absicht aufgefaßt – nicht also als Folge von Zufall und Notwendigkeit, sondern von Freiheit. Die Speicherung von erworbenen Informationen wird nicht als einer der Ausnahmefälle der Thermodynamik gedeutet (wie dies in der Informatik geschieht), sondern als widernatürliche Absicht des zum Tode verurteilten Menschen, und zwar etwa folgendermaßen:
Die These, die menschliche Kommunikation sei ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode, und die These, sie sei ein Prozeß, der gegen die allgemeine Tendenz der Natur in Richtung Entropie läuft, behaupten beide dasselbe. Die stumpfe Tendenz der Natur zu immer wahrscheinlicheren Zuständen, zum Haufen, zur Asche (zum «Wärmetod»), ist nichts als der objektive Aspekt der subjektiven Erfahrung unserer stupiden Einsamkeit und unserer Verurteilung zum Tode. Sowohl vom existentiellen Standpunkt – als Versuch, gemeinsam mit anderen den Tod zu überwinden – als auch vom formalen Standpunkt – als Versuch, Informationen herzustellen und zu speichern – erscheint unsere Kommunikation als der Versuch, die Natur zu leugnen, und das betrifft nicht nur die «Natur» dort draußen, sondern auch die «Natur» des Menschen.
Deutet man unser Engagement für Kommunikation auf diese Weise, dann werden statistische (und überhaupt quantifizierende) Überlegungen unbedeutend. Die Frage, wie wahrscheinlich es ist, daß Steine und Ziegel sich zu einer Stadt gruppieren und wann sie wieder zu einem Trümmerhaufen zusammenfallen werden, ist dann eine falsche Frage. Die Stadt entsteht dank der Absicht, dem sinnlosen Dasein zum Tod eine Bedeutung zu geben. Die Frage, wieviele Affen wieviele Jahre Schreibmaschinen schlagen müssen, um die Göttliche Komödie «notwendigerweise» zu tippen, ist dann eine bedeutungslose Frage. Dantes Werk soll dann nicht aus seinen Ursachen erklärt, sondern aus seinen Absichten interpretiert werden. Dann läßt sich das menschliche Engagement für Speicherung von Information gegen den Tod auch nicht mit jenen Skalen messen, die die Naturwissenschaftler verwenden. Der Karbontest mißt die natürliche Zeit beispielsweise am Informationsverlust spezifischer radioaktiver Atome. Die künstliche Zeit der menschlichen Freiheit (die «historische Zeit») ist aber nicht durch eine Umkehrung der im Karbontest verwendeten Formel meßbar, als Kumulation von Informationen. Die Kumulation von Information ist dann nicht das Maß der Geschichte, sondern nur sozusagen der tote Abfall der die Geschichte antreibenden Absicht gegen den Tod, also der Freiheit.
Wichtig ist dabei festzuhalten, daß es keinen Widerspruch gibt zwischen der interpretativen und der erklärenden Annäherung an die Kommunikation, zwischen Kommunikationstheorie und Informatik. Ein Phänomen ist kein «Ding an sich», sondern ein Ding, das in einer Betrachtung erscheint, und es hat daher wenig Sinn, bei zwei Betrachtungsarten vom «gleichen Ding» zu sprechen. Von der Informatik her betrachtet ist die Kommunikation ein anderes Phänomen als aus der Sicht dieser Arbeit. In der Informatik ist Kommunikation ein «natürlicher» Vorgang und muß daher objektiv erläutert werden. Hier ist sie ein «widernatürlicher» Vorgang und muß intersubjektiv gedeutet werden. Irgendwo werden sich diese beiden Blickfelder schneiden: Dieses Gemeinsame der beiden Perspektiven läßt sich dann von einer dritten Perspektive aus aufnehmen. Dies liegt jedoch jenseits der Absicht der vorliegenden Arbeit. Ihr Standpunkt ist ein «humanistischer»; denn sie handelt von der menschlichen Kommunikation als Phänomen der Freiheit.
Die menschliche Kommunikation, wie sie in diesem Buch verstanden wird, geschieht in der Absicht, die Sinnlosigkeit und Einsamkeit eines Lebens zum Tod vergessen und damit das Leben lebbar zu machen. Diese Absicht versucht die Kommunikation zu erreichen, indem sie eine kodifizierte Welt aufstellt, also eine aus geordneten Symbolen gebaute Welt, in welcher sich erworbene Informationen stauen. Die Frage nach den Codes und ihren Symbolen wird im nächsten Kapitel aufgeworfen werden. Dieses Kapitel hingegen wird sich mit dem Erwerb und der Speicherung von Informationen befassen. Entsprechend der interpretativen Methode, die hier verfolgt wird, soll die leitende Fragestellung so formuliert werden: Wie entscheiden sich Menschen, Informationen herzustellen, und wie, sie zu bewahren?
Schematisch läßt sich darauf folgende Antwort geben: Um Informationen zu erzeugen, tauschen Menschen verschiedene bestehende Informationen aus, in der Hoffnung, aus diesem Tausch eine neue Information zu synthetisieren. Dies ist die dialogische Kommunikationsform. Um Information zu bewahren, verteilen Menschen bestehende Informationen, in der Hoffnung, daß die so verteilten Informationen der entropischen Wirkung der Natur besser widerstehen. Dies ist die diskursive Kommunikationsform.
Diese schematische Antwort macht zwei Dinge sofort deutlich: (a) Keine der beiden Kommunikationsformen kann ohne die andere bestehen, und (b) die Unterscheidung zwischen den beiden Formen ist eine Frage des «Abstandes» des Betrachters vom Betrachteten.
(a): Damit ein Dialog entstehen kann, müssen Informationen verfügbar sein, welche in den Beteiligten durch den Empfang vorheriger Diskurse angesammelt wurden. Und damit ein Diskurs entstehen kann, muß der Verteiler der Information (der «Sender») über eine Information verfügen, die in einem vorherigen Dialog hergestellt wurde. Die Frage nach der Präzedenz von Dialog und Diskurs ist daher sinnlos.
(b): Jeder Dialog kann als eine Serie von Diskursen betrachtet werden, die auf Tausch aus sind. Und jeder Diskurs kann als Teil eines Dialogs angesehen werden. Beispielsweise kann ein wissenschaftliches Buch, isoliert betrachtet, als ein Diskurs interpretiert werden. Im Kontext anderer Bücher kann es als Teil eines wissenschaftlichen Dialogs interpretiert werden. Und von einem weiteren Abstand aus kann man es als einen Teil jenes wissenschaftlichen Diskurses ansehen, welcher seit der Renaissance strömt und die westliche Zivilisation kennzeichnet.
Aber obwohl Dialog und Diskurs einander implizieren und obwohl die Unterscheidung zwischen beiden relativ zur Betrachtung ist, handelt es sich um eine wichtige Unterscheidung. Die Teilnahme an einem Diskurs ist eine völlig andere Situation als die an Dialogen. (Eine Frage grundsätzlicher politischer Natur.) Die allgemein bekannte Klage, «man könne nicht kommunizieren», ist hierfür ein gutes Beispiel. Was die Leute meinen, ist selbstredend nicht, daß sie an einem Mangel an Kommunikation leiden. Nie zuvor in der Geschichte hat die Kommunikation so gut, so intensiv und so extensiv funktioniert wie heute. Was die Leute meinen, ist die Schwierigkeit, echte Dialoge herzustellen, das heißt, Informationen im Hinblick auf neue zu tauschen. Und diese Schwierigkeit ist gerade auf das gegenwärtig so perfekte Funktionieren der Kommunikation zurückzuführen, nämlich auf die Allgegenwart hervorragender Diskurse, welche jeden Dialog zugleich unmöglich und unnötig machen.
Tatsächlich läßt sich behaupten, daß die Kommunikation ihre Absicht, die Einsamkeit zu überwinden und dem Leben Bedeutung zu verleihen, nur dann erreichen kann, wenn sich Diskurs und Dialog das Gleichgewicht halten. Wenn, wie heute, der Diskurs vorherrscht, fühlen sich die Menschen trotz ständiger Verbindung mit den sogenannten «Informationsquellen» einsam. Und wenn, wie vor der Kommunikationsrevolution, der dörfliche Dialog gegenüber dem Diskurs vorherrscht, fühlen sich die Menschen trotz Dialog einsam, weil von «der Geschichte abgeschnitten».
Die Unterscheidung zwischen Diskurs und Dialog und der Begriff des Gleichgewichts zwischen beiden erlauben übrigens spezifische Geschichtsperspektiven. Es läßt sich dann zwischen vorwiegend dialogischen (zum Beispiel dem Ancien régime mit seinen tables rondes und assemblées constitutionelles) und vorwiegend diskursiven Perioden (beispielsweise der Romantik mit ihren Volksrednern und ihrer Fortschrittlichkeit) unterscheiden. Und man kann die existentielle Stimmung, welche die Teilnahme am Dialog von der am Diskurs unterscheidet, dank solcher Geschichtskritik zugleich ästhetisch, politisch und epistemologisch zu erfassen versuchen.
Selbstverständlich ist jedoch eine Unterscheidung zwischen Diskurs und Dialog eine viel zu grobe Methode zum Erfassen unserer Lage. Man muß sie etwas verfeinern. Es ist klar, daß der Diskurs, der von der Kinoleinwand ausstrahlt, nicht von der gleichen Art ist wie jener, den die Großmutter beim Erzählen von Märchen sendet. Oder daß der Dialog, den Teenager über das Telefon miteinander führen, nicht demjenigen gleicht, der bei einem philosophischen Symposium vorherrscht. Versucht man deshalb, Diskurse und Dialoge zu klassifizieren, so stellt man fest, daß mindestens zwei Kriterien zur Verfügung stehen: Man kann den Unterschied zwischen dem Kinodiskurs und dem der Großmutter in der «Botschaft» suchen, die jeweils ausgesandt wird (Kriminalgeschichten gegen Märchen) oder in der «Struktur» der Kommunikation: Im Kino sitzt der Empfänger bewegungslos, hingegen können Enkel Fragen an die Großmutter richten. Die verschiedenen Kommunikationsformen lassen sich also zumindest entweder nach «semantischen» oder nach «syntaktischen» Gesichtspunkten klassifizieren.
Nimmt man «semantische» Kriterien, dann wird man die Kommunikationsarten nach der übermittelten Information einteilen, zum Beispiel in die drei Hauptklassen: «faktische» Information (Indikative), «normative» Information (Imperative) und «ästhetische» Information (Optative). Es läßt sich jedoch zeigen, daß «syntaktische» Kriterien, welche die Kommunikationsarten nach ihren Strukturen ordnen, geeignet sind, das Feld für spätere «semantische» Analysen vorzubereiten. Sie bieten sozusagen Landkarten der kommunikologischen Lage, in welche später die semantischen «Inhalte» eingezeichnet werden können. Darum soll in den folgenden Abschnitten ein Katalog der Kommunikationsformen vom strukturalen Standpunkt aus vorgeschlagen werden. Selbstredend soll dabei der intime Zusammenhang zwischen Bedeutung und Struktur, zwischen «Semantik» und «Syntax» nicht geleugnet werden: Die Form wird vom Inhalt bedingt und umgekehrt (wenngleich nicht notwendigerweise «the medium the message» sein muß). Daher wird es erforderlich sein, in den folgenden Abschnitten immer wieder auf den semantischen Aspekt der Kommunikation zurückzugreifen. Und doch wird hier nicht eine semantische Wiedergabe (eine «Fotografie»), sondern eine strukturale Analyse (eine «Landkarte») unserer Lage verfolgt.
Der Diskurs ist eine Methode, verfügbare Information zu verteilen, um sie vor der entropischen Wirkung der Natur zu bewahren. Die meisten in dieser Definition enthaltenen Probleme liegen außerhalb des Bereichs der vorliegenden Arbeit – beispielsweise das Problem der Bedeutung des Wortes «Verteilung» bei einem Prozeß, in dem der Sender nichts von der von ihm verteilten Information verliert und jeder Empfänger sie nicht nur als Teil, sondern ganz empfängt; oder das Problem der Bedeutung des Wortes «verfügbar» im Zusammenhang mit einem Prozeß, der mit der Funktion von Gedächtnissen zu tun hat. Kurz, die meisten in der Definition enthaltenen Probleme werden hier ausgeklammert, weil ihre Behandlung die Aufstellung einer vollständigen Kommunikationstheorie erfordern würde, was hier nicht beabsichtigt ist.
Aber zwei der in der Definition enthaltenen Probleme werden angesprochen werden müssen, weil sie mit den verschiedenen Diskursstrukturen zusammenhängen. Das eine lautet, daß Sender von Diskursen bei der Verteilung der Information darauf achten müssen, daß diese nicht deformiert wird – daß keine «Geräusche» in den Verteilungsprozeß eindringen und die Information verändern. Da ein Diskurs mit der Absicht geführt wird, eine Information zu erhalten, muß er, um erfolgreich zu sein, «Treue» zur ursprünglichen Information wahren. Das zweite Problem lautet, daß Sender von Diskursen bei der Verteilung von Information darauf achten müssen, daß die Empfänger die erhaltenen Informationen so im Gedächtnis lagern, daß sie sie später weitersenden können. Der Diskurs muß, um erfolgreich zu sein, seine Empfänger zu zukünftigen Sendern machen, er muß «fortschreiten» können; denn er ist mit der Absicht verbunden, einen «Informationsstrom» herzustellen und dadurch die verfügbare Information zu erhalten.
Diese beiden Aspekte sind problematisch, weil sie einander gewissermaßen widersprechen. «Treue» zur Information und «Fortschritt» der Information sind schwer miteinander zu vereinbaren. Das Problem besteht folglich darin, Diskursstrukturen auszuarbeiten, denen es gelingt, die beiden Forderungen, so gut es geht, unter einen Hut zu bringen. Betrachtet man die Sache von einem «objektiven» Standpunkt aus (zum Beispiel vom Standpunkt der Informatik), dann erscheint das Problem als die Frage nach Input und Output des Diskurses und läßt sich quantifizieren. Betrachtet man es, wie hier, aus einer «intersubjektiven» Perspektive, dann wird es zu einer politischen Frage, zu einer Frage nach Entscheidung und Absicht.
Vier Modelle von Diskursstrukturen werden hier von diesem Standpunkt aus vorgestellt werden. Jedes von ihnen löst das Problem anders. Diese Modelle sind Abstraktionen, die sich in dieser reinen Form in der Praxis nirgends finden. Aber sie sind dennoch nicht willkürlich aufgestellt worden, sondern wurden vom Phänomen der Kommunikation, so wie es uns umgibt, angeregt. Diese Modelle verändern das Phänomen nicht grundlegend, sondern fügen sich darin ein.
(a) Theaterdiskurse lassen sich folgendermaßen darstellen:
Beispiele für diese Struktur sind nicht nur das Theater selbst, sondern auch das Klassenzimmer, der Konzertsaal und vor allem ein bürgerliches Wohnzimmer. In diesen und vielen anderen Beispielen sind die oben angegebenen Strukturelemente zu erkennen (wenn auch nicht immer auf den ersten Blick): eine konkave Wand im Rücken des Senders und Kanäle, welche den Sender mit den im Halbkreis (oder mehreren Halbkreisen) verteilten Empfängern verbinden. (1) Die konkave Wand dient als Schirm gegen äußere Geräusche und als Trichter für die Sendung. (2) Der Sender ist das Gedächtnis, in dem die zu verteilende Information gelagert ist. (3) Die Kanäle sind die materiellen Träger der Codes, in denen die Information verteilt wird (im traditionellen Theater die schalltragende Luft). (4) Die Empfänger sind die Gedächtnisse, in denen die verteilte Information gelagert wird, um später weitergegeben zu werden. Die ganze Struktur hat, schematisch betrachtet, die Form eines antiken Theaters.
Das Charakteristische an dieser Struktur ist die Tatsache, daß darin Sender und Empfänger einander gegenüberstehen. «Treue» zur Information ist durch die konkave Wand gewährleistet, welche das Theater wie eine Muschel gegen die Außenwelt und deren Geräusche abschließt. «Fortschritt» ist gewährleistet, weil jeder Empfänger in der Lage ist, selbst auf die Wand zuzugehen, sich umzudrehen und zu senden, «Revolution» zu machen. Aber gerade diese Öffnung möglichen «Revolutionen» gegenüber beeinträchtigt die Tauglichkeit der Theaterstruktur, «Treue» zu bewahren. Zwar schließt sie relativ gut gegen äußere Geräusche ab, aber sie erlaubt Geräusche im Innern der Struktur, «Kontestationen». Die Empfänger sind innerhalb dieser Struktur imstande, unmittelbar auf die Sendung zu antworten, sie sind in «verantwortlicher» Position. Da der Theaterdiskurs offen für Dialoge ist und immer wieder in Dialoge ausgefaltet werden kann, läuft er ständig Gefahr, daß die ursprüngliche Information von Geräuschen infiziert wird, welche die Gedächtnisse der Empfänger aussenden.
Kurz: Theaterdiskurse sind ausgezeichnete Strukturen, falls die Funktion des Diskurses darin besteht, die Empfänger der verteilten Information für diese Information verantwortlich zu machen und sie zu künftigen Sendern zu formen. Falls jedoch mit dem Diskurs die Absicht verfolgt wird, die verfügbare Information treu zu erhalten, so müssen andere Strukturen gewählt werden.
(b) Pyramidendiskurse folgen in etwa diesem Schema:
Beispiele für diese Struktur finden sich in Armeen, Kirchen, politischen Parteien vom faschistischen und kommunistischen Typ und bei einem bestimmten Typ öffentlicher und privater Verwaltung. Die römische Republik läßt sich als Prototyp dieser Diskursstruktur verstehen. Ihre Elemente sind ein Sender, Kanäle, welche den Sender mit Relais koppeln, die Relais, Kanäle, welche diese Relais mit Empfängern verbinden, und die Empfänger. (1) Der Sender ist das Gedächtnis, in dem die zu verteilende Information gelagert ist und in dem sie ursprünglich «entstanden» ist: er ist der «Autor». (2) Die Kanäle 1, welchen den «Autor» mit den Relais verbinden, sind die Träger der Codes, in denen die Information ausgesandt wird, und der Codes, in denen diese Information von den Relais an den «Autor» zurückgestrahlt wird. (3) Die Relais sind Gedächtnisse, welche die vom «Autor» gesandte Information umkodieren, um sie von Geräuschen zu befreien, und zu Kontrollzwecken an den «Autor» zurücksenden, bevor sie an die Empfänger weitergegeben werden. Es sind «Autoritäten». (4) Die Kanäle 2, welche die «Autoritäten» mit den Empfängern verbinden, und welche, im Unterschied zu den Kanälen 1, keine Rückstrahlung gestatten, sind die Träger von Codes, in denen definitiv die Botschaft ausgesandt wird. In den meisten pyramidalen Diskursen bestehen Kanäle 1 und Kanäle 2 aus Papier. (5) Die Empfänger sind die Gedächtnisse, in denen die verteilte Information gelagert wird. Bei den meisten pyramidalen Strukturen sind zahlreiche Relaisstufen, zahlreiche Hierarchien von Autoritäten vorhanden.
Das Charakteristische an dieser Struktur ist die stufenweise Rekodifizierung der Information mit der Absicht, Geräusche zu entfernen und so die «Treue zur Botschaft» zu bewahren. Dazu wird auf jeder Stufe der Hierarchie mittels der nächsthöheren Stufe die ursprüngliche Information nach Rekodifikation zu Kontrollzwecken an den Autor zurückgesandt. Man kann dies die «religiöse» Funktion des pyramidalen Diskurses nennen (von religare = rückkoppeln). Gleichzeitig erlaubt es, die gereinigte Information mittels der «nächsttieferen» Autorität an den Empfänger weiterzusenden. Man kann dies die «traditionelle» Funktion des pyramidalen Diskurses nennen (von tradire = weitergeben).
Demnach ist der Pyramidendiskurs weit besser als der Theaterdiskurs für die Erhaltung der ursprünglich gesandten Information geeignet; weit schlechter hingegen für das Fortschreiten der Information, für die Umwandlung der Empfänger in Sender. Die Empfänger verfügen über keinen Kanal, der ihnen erlaubte, zu senden, außer sie «steigen» in der Pyramide auf und werden zu Autoritäten. Verantwortung und Revolution sind in der Pyramidenstruktur auf dem Niveau der Empfänger ausgeschlossen. Dieses Niveau ist für Dialoge geschlossen. Und selbst auf den verschiedenen Niveaus der Autoritäten läßt sich eigentlich nicht von Dialog sprechen. Die Kommunikation zwischen Autorität und Autor und zwischen den verschiedenen Stufen der Autorität beschränkt sich auf die Umkodierung der ursprünglichen Botschaft. Die ganze Struktur fußt auf dem Prinzip der Ausschaltung äußerer und innerer Geräusche, was ihren «Informationsstrom» zu einem geschlossenen System macht (zumindest der Theorie nach).
Um die Vorteile des Pyramidendiskurses zu bewahren, aber seine Nachteile zu beheben – das heißt, um die «Treue» zu erhalten, aber den «Fortschritt» zu ermöglichen –, kam es zu strukturellen Veränderungen, welche zu folgender Diskursstruktur führten, nämlich zu
(c) Baumdiskursen:
Die Skizze beabsichtigt zu zeigen, daß das Ersetzen der Autoritäten (Relais) durch Dialoge zu zwei fundamentalen Änderungen der Diskursstruktur führte, nämlich zur Kreuzung der Kanäle und zur Ausschaltung eines endgültigen Empfängers des Diskurses. Deshalb handelt es sich beim Baumdiskurs um eine radikal neue Diskursstruktur. Beispiele dafür sind vor allem der Diskurs der Wissenschaft und der Technik. Viele sogenannte «fortschrittliche», dem Dialog offenstehende Diskurstypen wie gewisse politische Institutionen, Industrieorganisationen, Kunstrichtungen usw. bemühen sich jedoch, diese Diskursstruktur mit kleinerem oder größeren Erfolg zu imitieren.
Die Baumstruktur besteht aus folgenden Elementen: (1) angeblich aus einem Sender irgendeiner in Vergessenheit geratenen Information, einer «Quelle». Diese ist nur durch Extrapolation des Diskurses ersichtlich. (2) Aus Kanälen, welche immer kompliziertere Codes tragen, in denen die Informationen von Dialog zu Dialog übertragen werden (meist sind diese Kanäle Bücher, Zeitschriften und Separata) und (3) aus Dialogen, welche aus Gedächtnissen bestehen, deren Funktion es ist, die empfangenen Informationen zu analysieren, einen Teil davon umzukodieren, mit anderen Informationsbrocken zu neuer Information zu synthetisieren und so an weitere dialogische Kreise weiterzugeben.
Charakteristisch für diese Diskursstruktur ist die fortschreitende Zersetzung und Umkodierung der ursprünglichen Information und die daraus folgende ständige Erzeugung neuer Informationen. Man kann dies die «Tendenz zu progressiver Spezialisierung» nennen. Sie gewährleistet den «Informationsstrom», und zwar auf explosive Weise. Die Information «explodiert» in auseinanderfliegende Brocken, jeder Brocken ist in einem spezifischen Code verschlüsselt, und die Fluchtwege der Brocken kreuzen einander bei dieser zentrifugalen Informationsverteilung. Daher kann der Baumdiskurs als eine geradezu ideale Diskursstruktur angesehen werden, falls das Fortschreiten der Information das Ziel ist. Weniger überzeugend fällt hingegen sein Beitrag zur Lösung des Problems der «Treue zur Information» aus. Dank der ihr eigentümlichen disziplinierten Methode der Übertragung (beispielsweise der wissenschaftlichen Methode) gewährleistet die Baumstruktur zwar die Erhaltung der angeblichen «ursprünglichen Information» und aller übrigen im Diskursverlauf ausgearbeiteten Informationen. Aber das Ausarbeiten ständig neuer Informationen kann andererseits als fortschreitende Verformung der zu verteilenden Information verstanden werden.
Außer der explosionsartigen Fortschrittlichkeit ist auch das Fehlen letztlicher Empfänger für die Baumstruktur charakteristisch. Die Ursache dafür ist nicht so sehr die Zerstückelung der verteilten Information, sondern die Umkodierung der zerstückelten Information in hermetische, schwer zugängliche Codes. Kein menschlicher Empfänger kann alle Codes eines Baumdiskurses entziffern, selbst wenn er sich auf nur einen Hauptzweig dieses Diskurses beschränken wollte. Der Baumdiskurs insbesondere der Wissenschaft und der Technik kann keinen tatsächlichen Empfänger haben, weil er gegenwärtig eine Verzweigung erreicht hat, die die Lagerkapazität menschlicher Gedächtnisse weit überfordert.
Dieser hermetische Aspekt des Baumdiskurses muß zusammen mit seiner explosionsartigen Fortschrittlichkeit gesehen werden, will man sich ein Bild vom Erfolg dieser Diskursstruktur machen. Zwar ist es dieser Struktur auf geradezu wunderbare Weise gelungen, die starre Beschränktheit der Pyramidendiskurse zu durchbrechen, aber der Preis dafür ist die letztliche «Bedeutungslosigkeit» dieser Diskursstruktur: sie hat keinen tatsächlichen Empfänger, und die von ihr verteilte Information kann bestenfalls in künstlichen, kybernetischen Gedächtnissen gespeichert werden. Sie ist «unmenschlich» geworden.
Um der wachsenden Gefahr zu entgehen, daß die hermetische Spezialisierung der Informationsverteilung die eigentliche Absicht der menschlichen Kommunikation verfehlt, welche in der Überwindung der Einsamkeit zum Tod besteht, wird eine vierte Diskursstruktur immer wichtiger und beginnt sogar die Baumdiskurse zu überströmen. Es handelt sich um eine Struktur, die als Ausarbeitung des Theaterdiskurses angesehen werden kann und auch tatsächlich weitgehend diesen Diskurstyp ersetzt, die aber wahrscheinlich schon in der Vorgeschichte der Kommunikation diente.
Gemeint sind
(d) Amphitheaterdiskurse. Ihre Struktur ist folgende:
Die Skizze ist mit der Absicht entstanden, die Grenzenlosigkeit – die «kosmische Offenheit» – eines Theaterdiskurses zu illustrieren, sobald man daraus die konkave Wand entfernt. Beispiele für diese Diskursstruktur sind selbstredend die sogenannten Massenmedien wie Presse, Fernsehen und Plakate, aber ihr Prototyp ist der Zirkus, etwa das römische Kolosseum.
Im Grunde besteht diese Struktur aus nur zwei Elementen: (1) aus einem im leeren Raum schwebenden Sender, in dessen Gedächtnis die zu verteilende Information programmiert ist, und (2) aus ausstrahlenden Kanälen, welche die für diese Struktur spezifisch ausgearbeiteten Codes tragen, in denen die Information verteilt wird. Die Kanäle sind zum Beispiel Zeitungspapier, Hertzwellen oder Filmrollen. Allerdings muß noch ein drittes Element in diese Struktur einbezogen werden, obwohl es gewissermaßen nur staubartig im grenzenlosen Raum der Ausstrahlung herumschwebt, nämlich (3) Empfänger. Es handelt sich um Gedächtnisse, welche wie zufällig auf einen Kanal geeicht sind und daher dessen Information empfangen, um ihrerseits davon programmiert zu werden. Selbstredend ist dieser «Zufall» der Eichung in Wirklichkeit die Absicht dieser Diskursstruktur: Die Strukturlosigkeit der empfangenden Gedächtnisse (der «Masse») ist in den Ausstrahlungen der Amphitheaterdiskurse vorgesehen.
Gekennzeichnet ist diese Struktur dadurch, daß sich die Empfänger am Horizont, und beinahe schon außerhalb des Diskurses befinden. Die Kanäle verbinden im Grunde nicht Sender mit Empfängern – der eine ist für den anderen unsichtbar geworden. Sichtbar für beide sind nur die Kanäle. Infolgedessen erkennen sich innerhalb dieser Struktur die an der Kommunikation beteiligten Menschen untereinander nicht. Es handelt sich um eine für die Erhaltung von Informationen geradezu ideale Diskursform. Die Empfänger («die Masse») werden zu Informationskonserven: sie können nichts als empfangen. Sie sind jeder Rücksendung unfähig: sie verfügen über keine Sendekanäle. Jede Verantwortung und «Revolution» ist in dieser Struktur ausgeschlossen: die Empfänger schweben darin sozusagen im schwerelosen Raum und können sich in dieser Richtungslosigkeit nirgends «hinwenden». Im Feld der amphitheatralischen Ausstrahlung fehlt jede Orientierung, da dieses Feld nur von den Kanälen strukturiert ist. Anstatt über Orientierung verfügen die Empfänger solcher Diskurse über Programme.
Die hermetische und spezialisierte Kodifizierung der Baumdiskurse ist im Amphitheaterdiskurs überwunden: er strahlt seine Information in ganz wenigen, ganz einfachen und ganz uniformen Codes aus, die an Universalität grenzen. Jeder kann diese Codes überall und immer entschlüsseln. Das Problem des «Informationsstroms» hat sich hingegen im Amphitheaterdiskurs verschoben. Es ist nicht mehr nötig (aber auch nicht mehr möglich), Empfänger in künftige Sender umzuformen, denn die Sender sind «unsterblich» und können «ewig» senden. Es sind Komplexe aus Menschen und kybernetischen Gedächtnissen wie Diskotheken, Videotheken, Bibliotheken und Computer. Daher ist der Amphitheaterdiskurs für beide Absichten der Informationsverteilung die weitaus beste Diskursform: er erhält Information, indem er seine Empfänger in Informationskonserven verwandelt, und er garantiert den Informationsstrom, da seine Sender «ewig» funktionieren. Es ist diese Perfektion der Kommunikation, welche in anderen Kontexten mit dem Begriff des «Totalitarismus» versehen wird.
Es ist jedoch unmöglich, die hier vorgestellten vier Diskursstrukturen auf ihren Erfolg hin zu beurteilen und eine Prognose für die nächste Zukunft aufzustellen, ohne zuvor auch den Dialogen Aufmerksamkeit zu schenken.
Der Dialog ist eine Methode, verschiedene vorhandene Informationen zu neuen zu synthetisieren. Wie im Fall der Diskursdefinition müssen auch hier die meisten in dieser Definition enthaltenen Probleme ausgeklammert werden, weil ihre Behandlung eine vollständige Kommunikationstheorie erfordern würde. Dies betrifft bespielsweise das uralte (und hypermoderne) Problem des «Neuen», das heißt der sogenannten «schöpferischen Erzeugung», und auch das Problem der Synthese – also das auch etymologisch im Wort «Dialog» enthaltene Problem der Dialektik. Behandelt werden nur jene Probleme, welche mit der Methode der Synthetisierung verschiedener Informationen zu neuen zusammenhängen.
Selbstredend ist die Zahl solcher Methoden groß, und einige davon befinden sich gegenwärtig im experimentellen Stadium, beispielsweise die Gruppendynamik oder das sogenannte Brainstorming. Es ist aber sonderbar, feststellen zu müssen, daß es im Grunde nur zwei Dialogstrukturen gibt, welche die menschliche Kommunikation entscheidend ordnen. Im Unterschied zu den Diskursen können hier Strukturmodelle nicht aus der Betrachtung einer komplexen Lage herausgefiltert werden. Die beiden dialogischen Modelle werden dem Betrachter sozusagen vom betrachteten Phänomen aufgezwungen, und er kann nichts tun, als sie anzunehmen.
(e) Kreisdialoge lassen sich folgendermaßen darstellen:
Das ist die Struktur der «runden Tische»; Beispiele dafür bieten Komitees, Laboratorien, Kongresse und Parlamente. Das Prinzip dieser Struktur ist einfach: Man finde einen gemeinsamen Nenner aller Informationen, die in den Gedächtnissen der am Dialog Beteiligten gespeichert sind, und erhebe diesen gemeinsamen Nenner in den Rang einer neuen Information. (Rousseau nannte dies die «raison commune», und in ähnlichen Kontexten läßt sich von «Staatsraison» sprechen.) Hinter dieser geometrischen Einfachheit verbirgt sich jedoch eine Komplexität, die jeder Beschreibung spottet. Die am Dialog beteiligten Gedächtnisse unterscheiden sich voneinander nicht nur bezüglich der zu besprechenden Information (des zu entscheidenden Problems), sondern auch hinsichtlich ihrer Kompetenzen (der jeweils verfügbaren Menge von Information), der Codes, in denen sie die Information lagern, und des Bewußtseinsniveaus. Der gesuchte «gemeinsame Nenner» ist daher in Wirklichkeit nicht eine allen Beteiligten schon vor dem Dialog gemeinsame Grundinformation, sondern eine Synthese, also tatsächlich etwas Neues. Das erklärt zugleich, warum Dialoge so schwierige Kommunikationsformen sind und warum die sogenannten «liberalen Demokratien» so schlecht funktionieren: sie beruhen nicht auf Übereinstimmungen, sondern auf Konflikten. Gerade dieser scheinbare Nachteil legitimiert jedoch diese Kommunikationsform.
Aus der Skizze geht hervor, daß eines der Grundprobleme des Kreisdialogs die Anzahl der Beteiligten ist. Kreisdialoge sind geschlossene Schaltungen (closed circuits). Sie sind eine elitäre Kommunikationsform im Sinne einer notwendigen Begrenzung der Anzahl der an ihnen Beteiligten. (Das ist der innere Widerspruch der Wahldemokratien: sie wählen, wer dialogisieren soll, aber leugnen diesen elitären Charakter.) Allem Anschein nach ist die niedrigste mögliche Zahl der am Dialog Beteiligten zwei, und viele halten diese Situation (beispielsweise zwischen Liebenden, zwischen Mutter und Kind, zwischen Meister und bevorzugtem Apostel, ja zwischen Mensch und Gott) für die grundlegende Dialogform. Plato meinte sogar, daß die wahre Schöpfung neuer Information im «inneren Dialog» stattfinde, also in der Begrenzung der Beteiligten auf einen, doch ist diese schizophrene Lage wohl als Aufteilung eines Gedächtnisses, also als Dialog zu zweit, anzusehen. Auf Grund ihres spekulativen Charakters stellt die «Reflexion» als Dialogform jedoch das Synthetisieren von Informationen in Frage und sprengt den Rahmen der hier dargelegten Sichtweise.
Die höchstmögliche Anzahl der am Kreisdialog Beteiligten ist hingegen problematisch und die Lösung dieses Problems von Fall zu Fall eine der wichtigsten politischen Fragen. Wahrscheinlich läßt sich die optimale Anzahl der Beteiligten anhand der Funktion der beabsichtigten neuen Information (der zu fällenden Entscheidung) bestimmen: Im Fall der Erforschung einer wissenschaftlichen Information wird diese Zahl anders lauten als in dem der Ausarbeitung eines neuen Gesetzes. Jedenfalls sollten diejenigen, welche «partizipieren» wollen, konkret angeben können, an welchem Typ von Kreisdialog sie teilnehmen wollen und welche Kompetenz sie für die Ausarbeitung neuer Information besitzen.
Die optimale Anzahl der Beteiligten ist darüber hinaus abhängig vom Grad der Unterschiedlichkeit zwischen den programmierenden Informationen: Je stärker sich diese voneinander unterscheiden, desto kleiner ist die optimale Anzahl der Beteiligten. Die Kehrseite davon ist, daß ein Kreisdialog zu desto reicherer Information führen kann, je größer der Unterschied der Programme der Beteiligten ausfällt. Beispielsweise ist es möglich, Kongresse von Tausenden von amerikanischen Industriellen oder von Millionen von Rotgardisten in China zu veranstalten, aber da deren jeweilige Programme sehr stark koinzidieren, wird die in diesen Kreisdialogen ausgearbeitete neue Information wahrscheinlich nicht sehr reich sein (nicht «überraschen»). Hingegen ist es schwierig, einen Kreisdialog selbst zwischen einem amerikanischen Industriellen und einem chinesischen Rotgardisten durchzuführen. Sollte dies aber gelingen, dann kann er zu reicher neuer Information führen. Kreisdialoge stellen ihre Veranstalter vor strategische Probleme, da es sich um in starkem Maße geschlossene Strukturen handelt, welche andererseits für Geräusche offen sein müssen, um die Herstellung neuer Information zu ermöglichen. Darum sind Kreisdialoge selten erfolgreich. Wenn sie aber dennoch gelingen, dann stellen sie eine der höchsten Kommunikationsformen dar, zu welcher Menschen fähig sind.
(f) Netzdialoge haben folgende Struktur:
Diese diffuse Kommunikationsform bildet das Grundnetz (reseau fondamental), welches alle übrigen menschlichen Kommunikationsformen stützt und letztlich alle von Menschen ausgearbeiteten Informationen in sich aufsaugt. Beispiele dafür sind Gerede, Geschwätz, Plauderei, Verbreitung von Gerüchten. Die Post und die Telefonsysteme stellen die «entwickelteste» Form dieser Kommunikationsstruktur dar. Man kann dabei eigentlich nicht von einer Absicht sprechen, neue Information aus vorhandenen zu synthetisieren. Vielmehr entstehen die neuen Informationen spontan, und zwar als Verformung der verfügbaren Information durch das Eindringen von Geräuschen. Diese sich ständig verändernden neuen Informationen nennt man die «öffentliche Meinung», und sie lassen sich neuerdings teilweise messen.
Im Unterschied zu Kreisdialogen sind Netzdialoge «offene Schaltungen» (open circuits) und in diesem Sinne auf authentische Weise demokratisch. Während Kreisdialoge selten erfolgreich sind und zu neuer Information führen, sind es Netzdialoge immer. Unsere elitäre Tendenz, den «gesunden Menschenverstand» im Vergleich zur «allgemeingültigen menschlichen Vernunft» zu verachten und etwa wie Trotzki zu behaupten, daß die Mehrheit immer unrecht habe, ist daher kein guter Ausgangspunkt zur Untersuchung der Netzdialoge. Aber auch die umgekehrte, ebenso elitäre Tendenz, wie sie etwa in der Vox-populi-vox-Dei-These oder der Erhebung der stillen Mehrheit zur entscheidenden Instanz zum Ausdruck kommt, ist kaum geeignet, die Funktion von Netzdialogen zu erfassen.
Netzdialoge sind das Reservoir, in das letzten Endes alle Informationen, wenn auch manchmal auf komplexen Umwegen, münden. Sie sind der letzte Staudamm, der Informationen vor der entropischen Tendenz der Natur bewahrt: das «kollektive Gedächtnis». Allerdings kommen die Informationen im dialogischen Netz bereits etwas abgeschliffen und vergröbert an (vulgarisiert, popularisiert usw.) und werden im Hin und Her des Dialogs immer weiter vereinfacht und verformt. Angesichts seiner Offenheit für Geräusche ist der Netzdialog selbst weitgehend der Entropie unterworfen, obwohl seine Funktion gerade darin besteht, die Entropie einzudämmen. Dieser innere Widerspruch des Netzdialogs ist im Grunde nichts anderes als eine Manifestation des Widerspruchs der menschlichen Bedingung überhaupt: zugleich in der Welt zu sein und ihr entgegen zu stehen.
Selbstredend waren sich die Menschen seit jeher bewußt, daß die Netzdialoge die Basis aller Kommunikation und damit des menschlichen Engagements gegen den Tod bilden. Darum kann das «politische Engagement», das ja eine Form des Engagements für Kommunikation ist, als ein Engagement für Netzdialoge angesehen werden. Das Ziel der Politik muß im Grunde sein, den Netzdialog zu «informieren», ihn zu «formen» und damit zu neuen Informationen (zum «neuen Menschen») beizutragen. In diesem Sinne ist Demagogie das genaue Gegenteil von politischem Engagement, weil es ihr darauf ankommt, durch Wiederholung bestehender Information (durch Redundanz) das Eindringen neuer Informationen in den Netzdialog und daher eine Veränderung des Menschen zu verhüten.
Aber obwohl sich die Menschen seit jeher der Bedeutung der Netzdialoge bewußt waren, läßt sich doch behaupten, daß tatsächlich erst seit der technischen Ausarbeitung der Amphitheaterdiskurse zu Massenmedien ein methodisch diszipliniertes Bearbeiten der Netzdialoge (der «öffentlichen Meinung») möglich wurde. Dabei ist der seltsame Umstand zu berücksichtigen, daß der technische Fortschritt (der äußere Aspekt der sogenannten «Kommunikationsrevolution») sich beinahe ausschließlich auf den Amphitheaterdiskurs beschränkte und den Netzdialog kaum berührte: Während das Fernsehen ganz anders als der Zirkus funktioniert, schwätzen die Menschen durchs Telefon noch fast genauso wie in der Steinzeit.
Versucht man, die vorgeschlagene strukturelle Ordnung der menschlichen Kommunikationsformen auf die gegenwärtige Lage zu beziehen, dann kann man zu folgendem Urteil gelangen: Theaterdiskurse und Kreisdialoge scheinen nicht mehr richtig funktionieren zu können, sie befinden sich in einer «Krise». Pyramidale Diskurse sind immer noch wichtige Kommunikationsformen, obwohl man vor einer Generation den Eindruck gehabt hat, sie «überwunden» zu haben. Baumdiskurse (vor allem aus Wissenschaft und Technik) scheinen die Szene zu beherrschen, aber es melden sich Vorgänge an, die daran zweifeln lassen. Charakteristisch für unsere Lage ist jedoch vor allem die Synchronisation von technisch hochentwickelten Amphitheaterdiskursen mit archaisch gebliebenen, aber immer besser bearbeitbaren Netzdialogen – eine totalitäre Entpolitisierung bei scheinbar allgemeiner Partizipation. Inwieweit dieses (leicht apokalyptische) Urteil berechtigt ist, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.